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Die Götter gönnen der jungen Eifelgräfin Alienor, ihrem geliebten Mann Erik und ihren Töchtern keinen Frieden. Auch Eriks Vaterland im finsteren Norden Europas kann ihnen nicht zur Heimat werden, und sie müssen sich erneut auf den Weg machen. Einen Weg, der sie zurück führt in Eriks Vergangenheit, an den Hof des Guilleaume von der Normandie, von dem Erik einst den Ritterschlag erhielt. Ihm folgen sie nach England, und das Schicksal will es, dass sie schon bald die Willkür der normannischen Eroberer am eigenen Leib erfahren müssen. Alienors einzige Stütze in diesen dunklen Tagen ist Lionel, ein Mönch, dessen Leben eine geheimnisvolle Verbindung zu ihrem eigenen zu haben scheint. Als Erik bei einer Belagerung König Guilleaume die Gefolgschaft verweigert und fliehen muss, ist Alienor mit ihren Töchtern in einem fremden Land ganz auf sich gestellt ...
Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Die Tage des Raben".
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Seitenzahl: 863
Die Götter gönnen der jungen Eifelgräfin Alienor, ihrem geliebten Mann Erik und ihren Töchtern keinen Frieden. Auch Eriks Vaterland im finsteren Norden Europas kann ihnen nicht zur Heimat werden, und sie müssen sich erneut auf den Weg machen. Einen Weg, der sie zurück führt in Eriks Vergangenheit, an den Hof des Guilleaume von der Normandie, von dem Erik einst den Ritterschlag erhielt. Ihm folgen sie nach England, und das Schicksal will es, dass sie schon bald die Willkür der normannischen Eroberer am eigenen Leib erfahren müssen. Alienors einzige Stütze in diesen dunklen Tagen ist Lionel, ein Mönch, dessen Leben eine geheimnisvolle Verbindung zu ihrem eigenen zu haben scheint. Als Erik bei einer Belagerung König Guilleaume die Gefolgschaft verweigert und fliehen muss, ist Alienor mit ihren Töchtern in einem fremden Land ganz auf sich gestellt …
Das Buch erschien vormals unter dem Titel »Die Tage des Raben«.
Über Dagmar Trodler
Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de
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Dagmar Trodler
Die Flucht der Waldgräfin
Historischer Roman
Ein dreizehntes kann ich, soll ich ein Degenkind
In die Taufe tauchen,
So mag er nicht fallen im Volksgefecht,
Kein Schwert mag ihn versehren.
(Hâvamâl 159)
Inhaltsübersicht
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15. Kapitel
16. Kapitel
Nachwort
Glossar
Quellen
Impressum
Schweigsam und vorsichtig sei des Fürsten Sohn
Und kühn im Kampf.
Heiter und wohlgemuth erweise sich Jeder
Bis zum Todestag.
(Hâvamâl 14)
England.«
»England«, wiederholte ich und versuchte, den merkwürdigen Laut nachzuahmen, den mein Lehrer so perfekt beherrschte. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, England. Ihr müsst Eure Zunge mehr einsetzen. Englllland. Versucht ein anderes Wort. Jorvik.« Das bereitete mir keine Schwierigkeiten, wie ich überhaupt die neue Sprache auf unserer Reise gut gelernt hatte, aber Cedric war mit meiner Aussprache nicht zufrieden und feilte bei jeder Gelegenheit daran herum. An den Tagen auf See hatte mir das so manche langweilige Stunde vertrieben, aber jetzt wurde es mir doch ein bisschen lästig. Der Spielmann spürte, wie ich bockig wurde, und setzte eine strenge Miene auf.
»Konzentriert Euch. Wer weiß, wofür es einmal gut ist.« Ich seufzte, zu träge, um wirklich verärgert zu sein. Es war so ein friedlicher, sonniger Tag, und selbst die Möwen, die uns begleiteten, kreischten nicht so laut wie sonst. Cedric scharrte mahnend mit dem Fuß.
»Also gut. Jorvik. Jorrrrr-viiik. Und die Angelsachsen sagen York. Yorrrrk.« Irgendwie klang dieser Name finster. York …
»York. Mit runder Zunge, York. Hier« – er fummelte sich so umständlich am Mundwinkel herum, dass ich lachen musste – »hier muss es rund sein. York. England. Ihr lernt sehr schnell, Alienor von Uppsala.« Damit setzte er sein Spielmannsgesicht auf und begann zu dichten.
»Eine leichte Zunge ziert ihren Mund,
Worte perlen heraus, fein und rund,
tropfen in mein Ohr,
perlen in mein Herze,
machen süßen Schmerze …«
Und mein Lehrer sah mich keck lächelnd an. Seine albernen Verse hatten mich schon öfter aufgeheitert. Die Sonne schien warm auf sein braunes und – wie bei Spielleuten üblich – kurz gehaltenes Haar, das der Seewind verwirbelt hatte. Entspannt lehnte er sich gegen die Reling, rieb sich das bartlose Gesicht und löste beiläufig den Knoten seines Hemdverschlusses, den nächsten seiner drolligen Verse schon auf der Zunge.
»Der Schmerz streicht mir die Brust …«
»Wenn du mit meiner Frau tändelst, werf ich dich über Bord.« Die ruhige Stimme hinter uns verjagte das Lächeln aus Cedrics Augen. Hastig sprang er auf, stolperte über die Ruderbank, auf der wir uns niedergelassen hatten, und entfernte sich auf allen vieren in Richtung Laderaum, wo die Kinder mit Ringaile und Hermann ein geschütztes Plätzchen gefunden hatten.
Ich drehte mich um. Erik stieg über die Ruderbank, und mit einem weiteren langen Schritt stand er bei mir. Der Wind spielte mit seinem offenen Haar, und in seinen Augen blitzte es mutwillig. Als er besitzergreifend meine Schulter umfasste, strahlte ich ihn an.
»Ist dieser Platz noch frei, dame chière?« Erik ließ sich so dicht neben mir nieder, dass keine Feder mehr zwischen uns passte.
»Ich erlaube keinem Lehrer, mit meiner Frau zu tändeln«, brummte er und schob seinen Arm zielstrebig durch unsere Mäntel hindurch, bis er meine Taille fand. »Wir brauchen keinen Lehrer, schon gar keinen zerlumpten Verseschmied, und dieser da hat obendrein falsche Augen.«
Ich küsste ihn auf den Hals. »Hat er nicht.«
»Hat er doch.«
»Ich kann ihm ja sagen, er soll mich nicht anschauen.« Und damit sah ich in die himmelfarbenen Augen des Mannes, dem ich aller Angst zum Trotz wieder auf ein Schiff und aufs Meer gefolgt war, um Heimat in einem Land zu finden, von dem ich nur den Namen kannte. England. Englllland.
»Du nimmst mich nicht ernst«, beschwerte er sich, ein Lächeln in den Augen, und auch um seinen Mund zuckte es verräterisch.
»Nicht immer«, flüsterte ich und suchte den Platz an seiner Schulter, wo es sich so gut träumen ließ.
Welch unermessliches Glück, dort liegen zu dürfen! Ich ließ meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Erik mein Stallknecht gewesen und ich die junge Gräfin von Sassenberg, und derartige Vertraulichkeiten waren undenkbar gewesen. Damals, in dem Jahr, welches die Klosterschreiber 1065 nannten, hatte mein Vater, der Freigraf zu Sassenberg in der Eifel, ihn als Wilderer auf der Jagd gefangen und in den Kerker gesperrt. Als alle peinlichen Verhöre nach seiner Herkunft nichts ergaben, hatte er ihn mir als Knecht geschenkt in der Hoffnung, dass ich herausfand, woher der Fremde kam. Zärtlich strich ich über seinen Arm.
»Du willst dich also entschuldigen?«, flüsterte er.
»Wofür?«, fragte ich zurück.
»Naaa, für … hm, dafür, dass du anderen Männern erlaubst, mit dir zu tändeln. Ich werf ihn über Bord.« Er hatte den Arm so selbstverständlich um meine Hüfte geschlungen, dass mein Herz hüpfte vor Glück. Ja, ich hatte am Ende herausgefunden, wer der schöne Fremde war – ein Prinz aus schwedischem Königsgeschlecht. Doch da war es schon zu spät gewesen, ich hatte ihm das Leben gerettet und mich in ihn verliebt … das eine so unstandesgemäß wie das andere: Man verliebt sich nicht in einen Reitknecht. Man verliebt sich auch nicht in einen Prinzen. Doch der Prinz hatte mich mitgenommen – entführt, kurz vor meiner vom Vater arrangierten Hochzeit mit einem seiner Vasallen. Und so war ich ihm ins Land seiner Ahnen gefolgt, nach Schweden, wo die Winternächte lang und dunkel sind und wo man heidnische Götter unter Bäumen und an Hausaltären verehrt.
Schwermut durchflutete mein Herz, als ich den Kopf drehte und sein edles Profil betrachtete. Alles hatte so vielversprechend begonnen. Man hatte ihn begeistert willkommen geheißen, und auch der König der Svear, Stenkil Ragnavaldsson, hatte ihn sogleich in seine Runde aufgenommen. Einzig seine Mutter hatte sich geweigert, mich in ihrem Haus zu begrüßen. Damit hatte das Schicksal seinen Lauf genommen, denn der Grund dafür war eine vor Jahren vereinbarte Verlobung, die für Erik längst ihre Gültigkeit verloren hatte. Inzwischen teilte er ja mit mir sein Leben. Die Intrigen, die gegen ihn gesponnen wurden, gipfelten nach dem Tod König Stenkils in einem Kampf um Thron und Ehre, den er verlor. Eine Orgie von Blut und Gewalt schwappte über das Land, stolze und tapfere Männer verloren ihr Leben, Christen wurden nach Jahren des Friedens wieder verfolgt und sogar ein Bischof des Landes verwiesen. Mit den beiden Kindern, die ich im Svearland geboren hatte, war ich nach Norden in eine Berghütte der Familie geflohen, wo wir uns beinahe drei Jahre lang versteckt hielten, während Erik in die Verbannung gegangen war – in dem Glauben, ich hätte sie ihm eingebrockt. Das hatte ich in gewisser Weise auch – und Schuldgefühle plagten mich ob meiner unüberlegten Handlungen bis heute. Die Jahre seiner Verbannung waren die schwersten meines Lebens gewesen …
Ich schlang die Hand um seinen Unterarm, wo die tätowierten schwarzen Schlangen immer noch auf der Haut saßen und wachten. Manchmal, wenn wir beieinander lagen, erwachten sie zum Leben … Möwen umkreisten schreiend den hohen Mast, und das Segel knatterte geschwätzig im Wind. Die Schwermut wich ein wenig. Meine dritte Schiffsreise war friedlich verlaufen. Viele sonnige Tage waren an uns vorübergezogen, auf einem friedlichen Nordmeer, das spielerisch seine Wellen gegen den gewergten Bug unseres Schiffes klatschen ließ und kein einziges Mal die Finger nach einem von uns ausstreckte. Trotzdem vermied ich es, zu oft über die Reling zu blicken. Immerhin hatte ich das Meer auch schon anders erlebt, damals, als wir ins Land der Svear gezogen waren. Damals, am Strand von Schleswig, von wo aus wir nach Eriks Heimat aufgebrochen waren, war es gierig, grau und ungestüm gewesen, und als das Land verschwunden war, hatte es sich in eine wilde Bestie verwandelt, im Sturm drei der Seeleute verschlungen, unser Schiff fast zum Kentern und mich beinahe um den Verstand gebracht, hätte Gisli mich nicht hinter einer Kiste festgebunden, wo ich das Unwetter heil überstehen konnte.
Gisli Svensson. Zärtlich strich ich über den Hermelinschal, den Eriks bester Freund mir zum Abschied geschenkt hatte – ein Geschenk, einer Königin würdig. »Du bist ja eine Königin, augagaman«, hatte er gemurmelt und sich rasch abgewandt, um nicht ebenso zu weinen wie Erik, der seine Abschiedstränen an der Mähne seines schwarzen Hengstes trocknete. Es hatte viele Tränen gegeben in jenen Tagen. Tränen um zerstobene Träume, um eine verlorene Heimat, Tränen der Hoffnungslosigkeit. Viel mehr als unser nacktes Leben hatten wir nicht retten können, als Eriks Verfolger uns in den Bergen Svearlands aufgespürt hatten. Gisli, unser lieber Freund aus Sigtuna, der unsere halsbrecherische Flucht aus Schweden ermöglicht hatte, war mit uns bis in die Normandie gesegelt, und sein letzter Freundschaftsdienst bestand darin, uns mit Birger dem Weinmann bekannt zu machen, einem alten dänischen Handelskollegen, der im Frühjahr voll beladen mit Weinfässern aus Frankreich und dem Rheinland nach England aufbrechen wollte. England hieß Eriks Ziel, England, wo Wilhelm von der Normandie seit nun gut vier Jahren König war. Erik hatte einst als junger Mann am Hof des Normannen gedient und erhoffte sich in England ein neues Leben und neue Aufgaben, in deren Dienst er seinen Schwertarm stellen konnte. Er war ein Krieger, er konnte nichts anderes. Gott kannte meine Gebete, er möge ihm hier Glück schenken, sicher schon auswendig …
Birger erklärte sich bereit, uns bis zu unserer Abreise in seinem Haus aufzunehmen. Und es tat gut, sich den ganzen Winter lang in seinem munteren Kaufmannshaushalt ablenken zu lassen. Eine Schar Kinder und Enkelkinder lebte und arbeitete dort unter seinem Dach, sie nahmen uns in ihre Mitte auf, behandelten uns wie Familienmitglieder und begegneten Erik, dem geflüchteten Königssohn, mit der ihm gebührenden Hochachtung, ohne ihn je nach seiner Geschichte zu fragen. Es gab genug zu essen, jeden Abend eine Karaffe guten Weines und lustige Geschichten am Feuer. Angst und Not schienen für immer ein Ende gefunden zu haben, alle schöpften wir neuen Mut.
Langsam verblasste sogar der Schmerz. Und während sich die Narben vom letzten schrecklichen Kampf am Ufer von Uppland unter meinen massierenden Händen glätteten, kehrte Glanz in Eriks fast erloschene Augen zurück. Die Düsternis, die ihn wie eine bedrohliche Wolke umgab, verzog sich, und als es Frühling in Caen wurde, konnte er mit den Kindern wieder lachen. Dass die Verbitterung sich dennoch einen Platz in seinem Herzen erobert hatte, wusste nur ich …
»Er sieht zu gut aus, dein Cedric. Er provoziert, sieh nur – warum muss er sich das Hemd aufreißen! So heiß ist es überhaupt nicht, was muss er halb nackt dasitzen! Gleich wird er sich noch die Hose ausziehen und allen seine Flöte zeigen! Schau dir das an. Und schau dir die Augen deines Mädchens an! Ungehörig, er ist ein eitler Bastard«, zischte er da plötzlich neben mir. »Schau dir das an. Sag doch was!«
Die ungehörigen Handlungen meines Lehrers beschränkten sich darauf, dass er seinen Mantel ablegte und das Hemd öffnete, weil die Sonne heute wirklich ungewöhnlich warm herabstrahlte. Ringaile, meine lettische Dienerin, wandte ihm den Rücken zu und hatte im Übrigen wie immer nur Augen für Hermann, der mich seit unserem Weggang von zu Hause begleitete und der in den kalten Nächten am Mälar sein Herz für das halb blinde Mädchen aus Ladoga entdeckt hatte. Sie war nun guter Hoffnung und würde ihr Kind in England zur Welt bringen – für mich ein Zeichen, dass Gott uns vielleicht doch nicht vergessen hatte.
»Er ist aber Angelsachse, Erik.«
»Das gibt ihm nicht das Recht, sich ungehörig zu benehmen!« Ich lachte ihn an, dachte an den gut aussehenden Diener, der mir vor vier Jahren geschenkt worden war und der im März schon mit imponierend nacktem Oberkörper herumgelaufen war, mein weibliches Gesinde betört und mich um den Verstand gebracht hatte … Erik verzog die Lippen, hob die dichten Brauen, und ich wusste, dass er meine ungehörigen Gedanken erriet. Wir waren das ungehörigste Paar überhaupt, und das Wissen darüber kribbelte sanft und angenehm im Bauch. Sein versöhnliches Lächeln machte die Sonne noch wärmer. Doch bevor mir das Thema »Cedric« wieder entglitt, packte ich es und zog es zu uns zurück. »Ist es nicht besser, einen Führer zu haben, wenn man ein neues Land betritt?«
Er murmelte irgendetwas von »Frauenverführer« und »Schönauge« und dass Cedric ein eitler, habgieriger heimatloser Gockel sei – womit er nicht ganz Unrecht hatte, denn der Angelsachse hatte für seine Dienste ein stolzes Entgelt gefordert. Wir hatten ihn in Caen im wahrsten Sinne des Wortes gefunden, ein Gaukler und Possenreißer, der sich in den Gasthäusern mit Lautenspiel und Schreibarbeiten durchschlug und eines Abends fiebernd und zähneklappernd vor der Tür unseres Gastgebers gelegen hatte. Gerburga, die Hausfrau, hatte ihn hereinbringen lassen und mit heißen Getränken und allerlei Kräuterumschlägen dafür gesorgt, dass das Fieber sank. Als Cedric hörte, dass uns unser Weg nach England führen würde, hatte er sich sogleich als Lehrer und Diener angeboten. Und da ich unserer Reise mit Sorge entgegensah, war ich auf seinen Vorschlag eingegangen, ohne Erik groß zu fragen. Der sah jedes männliche Wesen in meiner Nähe als überflüssig an, ganz gleich, welche Dienste ich in Anspruch nahm. Den Beteuerungen des Spielmanns, gerne einmal sesshaft zu werden, schenkte er keinen Glauben, und Birger lachte den Mann sogar aus, weil es schließlich keine sesshaften Spielleute gibt – ich hingegen konnte zumindest den Wunsch verstehen, auch wenn ich ihn ebenfalls für illusorisch hielt, weil die Possenreißer doch überall außerhalb der Gesellschaft standen und bei mir daheim sogar weniger Rechte als Henker oder Abdecker hatten. Geldgierig waren sie alle – ich erinnerte mich an die Sänger daheim in Vaters Halle, deren Augen so unchristlich geglänzt hatten, wenn sie für ihre Lieder entlohnt wurden. An guten Tagen hatte mein Vater mit Pelzen nicht gegeizt und nicht nur Geldstücke verteilt. An schlechten Tagen jedoch hatte er sie hungrig hinausgeworfen, und danach hatten im Rheinland wieder üble Gerüchte die Runde gemacht. Spielleute kamen viel herum, hörten viel und sahen viel, und sie zerrissen sich das Maul über den, der ihre Lieder nicht würdigte. Viele von ihnen waren gebildet und weit gereist. Cedric war so einer – zumindest als Übersetzer würde er uns von Nutzen sein.
Aber unser Wortgeplänkel um den hübschen Angelsachsen war nicht das erste gewesen …
»Mama, schau, da ist ein Land!« Snædís, die ältere unserer beiden Töchter, kam über die Ruderbank geklettert und setzte sich auf Eriks Schoß. »Bald sind wir da. Sind wir bald da? Wo sind wir dann? Sind wir dann zu Hause? Zu Hause, zu Hause …« Erik wollte etwas sagen, doch ich sah, wie seine Augen sich verdüstert hatten, und so legte ich ihm rasch die Hand auf den Arm und bat ihn damit zu schweigen. Unsere Reise ging zu Ende, ich wollte das neue Land mit guten Gedanken betreten. Protege me, dachte ich, beschütze mich, Herr, und sei bei uns … mehr verlange ich gar nicht. Doch einen Blick an den Himmel zu werfen wagte auch ich nicht. Er hatte sich uns schon so viele Male verweigert …
Gespannt verfolgten wir, wie unser mit Wein beladenes Handelsschiff in eine riesige Bucht einbog. Birger hieß seine Männer die Segel einholen.
Das Leintuch flatterte ärgerlich und schlug mit Zipfeln um sich, wie um den Seeleuten klar zu machen, dass es nichts Schöneres gab, als sich in voller Fahrt im Wind zu blähen. Selbst ich hatte mich dieses Anblicks irgendwann erfreuen können und dem Treibem am Mast gern zugesehen. Doch nun war Schluss damit, das Land würde uns am Ende dieses Tages – hoffentlich für immer – wiederhaben.
»Ein wenig müsst ihr euch noch gedulden.« Birger schien meine ungestümen Gedanken erraten zu haben, denn er kam herbeigestiefelt, schädelkratzend wie immer, wenn er verlegen war, und hockte sich zu uns. »Ein Lotsenboot brachte Nachricht, dass in Jorvik die Ebbe andauert. Man rät mir, zwei Tage zu ankern …« Verständnislos sah ich ihn an. Ebbe? Ankern?
Er lachte gutmütig. »Das Wasser, das du hier siehst, Frau, nennen die Angelsachsen den Fluss Humbre. Die Gezeiten laufen hier hinein und auch wieder heraus, ganz wie an der Küste. Aber manchmal, alle paar Monde, zieht sich das Wasser sehr weit zurück aufs Meer. Dann gibt es auf dem Humbre nur eine schmale Fahrrinne, so dass man den Hafen von Jorvik nicht erreicht. Manches Schiff ist schon im Sand des Humbre stecken geblieben. Sieh selbst, hier braucht es einen guten Steuermann und Gottes Hilfe …« Er bot mir seinen Arm und zog mich zur Reling. Die Bucht verjüngt sich zusehends; rechts und links konnte man nun gut ein sanft gewelltes Ufer erblicken. Dort, wo eigentlich Wasser sein sollte, wölbten sich glatte Sandhügel empor. Fasziniert beobachtete ich, wie sie aufglänzten, wenn eine Welle sie benetzte, und wie schnell das Wasser aus ihnen wieder verschwandt und den Hügel glanzlos und sandig zurückließ.
Birgers Steuermann saß hochkonzentriert am Ruder und lotste das schmale Schiff durch die Rinne. Viel Platz blieb ihm nicht. Vier der Seeleute ruderten auf sein Kommando.
»Wir werden vor Axholme ankern. Dort vorne, seht ihr? Das ist eine Insel, dort kann man übernachten …« Die Insel sah zwar aus wie Festland, doch war mir alles gleich, wenn ich nur das Schiff verlassen konnte – jetzt war es genug. Jetzt wollte ich genau wie meine Tochter ankommen.
Axholme streckte die Arme nach uns aus und zog das Schiff in ihren Sand. Munter wogten kurze Bäume im Abendwind, und das Seegras verneigte sich anmutig vor uns. Bevor Erik mir an der Reling herunterhalf, zog er sein Schwert.
Birger lachte gutmütig. »Das brauchst du hier nicht, Nordmann. Auf dieser Insel mag niemand freiwillig leben, es sei denn, er liebt Sumpf, Nebel und die Geister der Dänen. Hier sind wir sicher, Mann.« Der alte Däne lachte spitzbübisch. Nicht ganz überzeugt steckte Erik die Waffe wieder in die Scheide. Sein Blick indes blieb wachsam.
»Benedic, anima mea, Domino, et omnia quae intra me sunt, nomini sancto eius! Benedic, anima mea, Domino, et noli oblivisci omnes retributiones eius …«
Ziemlich falsch, aber glücklich sangen zwei Seeleute den Psalm zur Ehre Gottes. So gut tat es, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, dass wir alle dankbar in den weichen Sand sanken, und selbst die hartgesottensten unter den Seeleuten warfen einen kurzen Blick zum Himmel, murmelten vielleicht ein Dankgebet zu Dem, der Wellen und Sturm von uns fern gehal- ten hatte, und bekreuzigten sich, als sie Englands Erde betraten. Ich ließ mich ganz in den weichen Sand fallen und betrachtete den Himmel hinter den Bäumen von Axholme.
»England«, murmelte ich. »Engllland. Ænglandi …«
»Und, gefällt es Euch?«, fragte Cedric da hinter mir. Seine Augen glänzten vor Freude, wieder daheim zu sein. Ich lachte nur. »Mir gefällt es, nicht mehr umzufallen. Mir gefällt es, gleich ein Stück warmes Brot essen zu können …« Zwei der Seemänner warfen nämlich bereits Holz und Reisig auf einen Haufen, während ein dritter mit dem Feuerstein hantierte. Und mein Magen knurrte ungeduldig, als ich den lang entbehrten Duft ihres frisch entzündeten Feuers roch, auf dem wir gleich Mehlfladen backen würden, und vielleicht einen Fisch oder einen Vogel braten, wenn wir einen fingen, und wo wir uns heute Nacht in warme Decken hüllen und zur Ruhe legen konnten, ohne Schwanken, ohne jenes merkwürdige Gefühl im Magen, das mich immer noch befiel, wenn die Wellen zu hoch wurden und mir jeden Appetit auf die See nahmen …
»Mama, guck mal, hier wohnt einer! Guck!«
Die klare Kinderstimme ließ Erik hochschrecken. Ich warf mich herum. Ljómi wuselte zwischen den Männern am Strand herum und schleppte Holzstücke zum Feuer, doch Snædís war nirgends zu sehen. Erik schlug den Mantel in den Sand und zog erneut sein Schwert. Mein Herz begann zu klopfen.
»Was …«
»Still!« Er schubste mich zurück und schlich geduckt auf die Stelle zu, von der er unsere Tochter gehört hatte, alarmiert, auf der Hut, selbst hier, in dieser scheinbaren Idylle am Meer, wo doch niemand leben wollte. Beunruhigt folgte ich ihm. Der Wind verschluckte die Stimmen der anderen, als wir die ersten Bäume erreichten.
Ein Vogel zwitscherte unbekümmert, es raschelte im Unterholz. Erik blieb stehen, drehte sich um, sah mich an. Ich entdeckte tatsächlich Furcht in seinem Blick, tiefe, schwarze Furcht, mitgebracht aus einem anderen Leben, das er immer noch mit sich herumschleppte und das ihn bis ans Ende seiner Tage quälen würde … Ich griff nach seiner Schwerthand.
»Komm«, flüsterte ich. Und zog den Krieger, der sich seines Zögerns furchtbar schämte, wie ich deutlich spürte, hinter mir her, in die Büsche, wo ich unsere Tochter vermutete. Und dort fanden wir sie auch.
»Mama, guck!« Schmutzstarrend, aber übers ganze Gesicht strahlend, stand sie vor uns und hielt eine Schatulle in der Hand.
»Guck, was ich gefunden habe!«
Ein leiser Seufzer hinter mir. Erik hatte sich wieder gefasst. Flüchtig strich er über den strubbeligen Blondschopf, drückte sie kurz an sich. Snædís sah zu ihm hoch; ihr Blick ging mir durch Mark und Bein. Du bist da – hab keine Angst – ich pass schon auf …
Das Kind schien Zugang zur verdüsterten Seele seines Vaters zu haben. Es gab da ein Band zwischen den beiden, das niemand zerschneiden konnte und das in einer eisig kalten Schneenacht hoch im Norden geknüpft worden war. Es war eine Nacht voller Brutalität und Missverständnisse gewesen, die uns drei beinahe das Leben gekostet hätte. Wochenlang hatte Erik sein Kind damals getragen, gefüttert, gewiegt, während ich im Fieber dagelegen hatte, auf der Schwelle zum Tod – niemand hatte die Kleine damals auch nur anfassen dürfen, denn durch seine Schuld wäre sie um ein Haar erfroren. Schuld hat viele Gesichter, und niemals kann man sie tilgen, doch Snædís nahm seither einen besonderen Platz in seinem Herzen ein. Die Narben dieser schrecklichen Nacht hatten Erik und mich gezeichnet …
Ich riss mich zusammen. Vorbei, wir hatten es hinter uns gelassen. Wir wollten neu anfangen, wir mussten, denn nach dem Mälar gab es keine Rückkehr. »Meinst du, hier ist noch jemand?«, wisperte ich. Er legte mir die Hand auf den Arm, bedeutete mir, mich ruhig zu verhalten, und schlich, das Schwert in beiden Händen haltend, an den Büschen entlang. Gespannt bis in den kleinsten Muskel, spähte er ins Unterholz, hielt inne, lauschte und hieb schließlich einen der Büsche kurz und klein, als könnte der etwas dafür, dass alles nur blinder Alarm gewesen war.
»Hast du jemanden gesehen?«, fragte ich Snædís. Ihre Kleider waren von Asche geschwärzt, weil sie wohl an den verlassenen Feuerstellen herumgekrochen war.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber hier wohnt doch einer. Da ist ein Feuerplatz, und ganz viele Sachen …«
»Das alte Dänenlager.« Erik war zu uns zurückgekommen. Das Schwert steckte wieder in seiner Scheide, doch sein Träger war blass geworden. »Birger hat mir erzählt, dass auf dieser Insel im vorigen Jahr die Dänen lagerten. Soweit ich weiß, beanspruchte König Svein Estridsen Englands Krone und wollte hier mit seinen Leuten den richtigen Zeitpunkt abwarten, an dem man Guilleaume angreifen konnte. Guilleaume jedoch hat sie mit Gold bestochen, und statt gegen ihn zu kämpfen, sind sie wieder heimgesegelt.« Diese unrühmliche Wikingerepisode schien ihn zu bekümmern, denn er wandte sich ab und stocherte in den Haufen herum, den die käuflichen Dänen zurückgelassen hatten.
Zerrissene Kleiderreste, in denen Tiere genistet hatten, Scherben, ein ganzer Berg abgenagter, verwitterter Knochen, vergessene Krüge, Näpfe und Scherben, verrottendes Holz, wo einst die Feuer gebrannt hatten, unter den Bäumen lag das Skelett eines Pferdes, sauber abgenagt von Aasfressern und Krähen – die Lichtung war ein einziger muffiger Müllplatz, und seine ehemaligen Bewohner schienen immer noch präsent. Ein Wispern und Brummen um uns herum, wackelnde Blätter, die selbst Erik genarrt hatten, aufkreischende Vögel und ein Sirren in der Luft …
»Wohnt denn keiner mehr hier?«, fragte Snædís und drückte sich an meine Beine. Da kniete er vor ihr nieder und legte seine Hand an ihre rosige Wange.
»Birger sagt, sie sind alle fortgesegelt. Jetzt ist niemand mehr hier, ástin mín.« Es klang, als wollte er vor allem sich selbst davon überzeugen.
Sie lachte ihn an und hob das Kästchen, das sie keinen Moment losgelassen hatte. »Dann haben sie aber was vergessen und werden sich bestimmt ganz doll ärgern. Schau doch mal, was ich gefunden habe!« Und im Gegensatz zu mir durfte er das Kästchen nehmen und öffnen – und der Inhalt verschlug uns beiden den Atem.
Auf kostbare Seide gebettet, lag ein blitzendes Messer mit goldenem, reich verziertem Griff, ein weit gereistes Geschenk für einen Fürsten. Ehrfürchtig nahm Erik das Messer in die Hand, drehte es nach allen Seiten, und die letzten Sonnenstrahlen des Tages verrieten uns zwinkernd, dass der dänische Besitzer sich vor Wut über den Verlust sicher die Haare ausgerissen hatte, denn die Klinge war von meisterhaft gefertigtem Damaszenerstahl und schimmerte in einem Muster, wie es nur die besten Messerschmiede erwirken können.
»Aber jetzt gehört es mir, nicht wahr? Ich hab’s gefunden, und dann gehört es mir auch.« Ängstlich streckte Snædís die Hand nach ihrem Fund aus. Wir wechselten einen kurzen Blick. Gib’s ihr – ich liebe dich – gib’s ihr …
»Du bist ein Glückskind, ástin mín.« Seine warme Stimme rief mir für den Moment die Stunde ihrer Geburt in Erinnerung und die Freude, die er bei ihrem Anblick empfunden hatte, obwohl sie nur ein Mädchen war … »England hat ein Geschenk für dich bereitgehalten, kaum dass du deinen Fuß in dieses Land gesetzt hast! Halte es in Ehren, und danke dem Mann, der es für dich hier gelassen hat.« Damit legte er die Schatulle zurück in ihre Arme und stand auf. Snædís sah ihren Schatz verliebt an und trennte sich fortan nicht mehr von diesem Messer; die Schatulle lag zwischen ihren Fellen oder steckte in ihrem Bündel, als es wieder auf Reisen ging.
Und die Geister der Dänen – oder wer auch immer uns dort zuschaute – grummelten wohlwollend über unseren Köpfen.
Wir kehrten trotzdem an diesen Platz zurück, abends, als die Kinder ruhig und sicher bei Ringaile schliefen und die Lieder am Feuer verstummt waren. Erik hatte mich schweigend an der Hand genommen und zu der Lichtung geführt, in seinem Kupfernapf hatte er etwas Glut mitgebracht und entfachte nun ein kleines Feuer für uns, während ich auf einer vergessenen Zeltplane aus Decken unser Lager bereitete. Nach den beengten Tagen auf See sehnten wir uns beide nach ein bisschen Stille und Zweisamkeit. Das dänische Durcheinander verschmolz mit der Dunkelheit, und die Geisterstimmen, die ich zuvor noch gespürt hatte, verstummten endgültig. Axholme erschien mir fast wie eine Klausur, die unsere Sinne auf das neue Land vorbereiten sollte, eine Station zwischen dem schrecklichen Gestern und dem unbekannten Morgen, für das wir stark sein wollten. Wir tranken ein wenig von Birgers Wein, schoben uns gegenseitig Brotkrumen und Trockenfischstücke in den Mund, und als der Mond am höchsten stand, kam Erik zu mir, so jugendlich und unbeschwert, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte, und wusch mich von jeglicher Erinnerung frei, damit nichts anderes Platz dort habe als er, er und nochmals er, für alle Zeit …
Die Flut sollte zwei Tage auf sich warten lassen – das gab uns Zeit genug, die Gegend um den Ankerplatz zu erkunden. Birger erlaubte uns, die Pferde zu satteln, lachte jedoch über unseren Plan. Und wirklich – sehr weit kamen wir nicht mit ihnen, denn Axholme entpuppte sich als ziemlich nasse Insel voller Moore, kleiner Tümpel und Bäche, die ins Nirgendwo führten. Binsen und Schilf wuchsen, wo man auch hinschaute. Erdiger Torfgeruch lag in der Luft, feucht quatschte der Boden unter den Pferdehufen, und – als wir zu Fuß weitergehen mussten – auch in unseren Stiefeln. Der torfige Morgennebel legte sich schwer auf die Lunge. In den Tümpeln blubberte und plätscherte es, Enten flogen erbost schnatternd über unsere Köpfe, langschnäbelige Sumpfrallen flüchteten durch den Schlick. Menschen jedoch schien es hier kaum zu geben. Und trafen wir mal einen, saß er in einem schmalen, mit Tierhaut bezogenen Boot und stakte es mit einer langen Stange durch den Schlamm, finster, wortlos, und sah, dass er fortkam, um sich durch das Schilf unseren Blicken zu entziehen. Jeder Fremde schien hier ein Eindringling zu sein, der nur Schlechtes im Schilde führen konnte. Hinter einer Umwallung aus schilfdurchflochtenem Erdreich lag ein Dorf, Rauch zeugte von einigen Herdfeuern – doch wir zogen es vor, unerkannt daran vorüberzureiten, weil schon die Umwallung keinen gastfreundlichen Eindruck machte.
Als zwei Tage später die Flut den Humbre endlich wieder schiffbar machte und wir das Schiff bestiegen, um die letzten Meilen nach Jorvik in Angriff zu nehmen, sah Erik zum Waldrand der Axtinsel zurück, wo uns ein paar zärtliche Nachtstunden vergönnt gewesen waren. Doch waren es nicht diese Stunden, die ihn umtrieben …
»Ein gutes Versteck«, murmelte er, »beim Thor, was für ein Versteck für einen Mann, der nicht gefunden werden will …«
Erschrocken sah ich ihn von der Seite an. Wie weit wir auch reisten, er schien nicht mit seiner Vergangenheit abschließen zu können. Ich wollte mich nie wieder verstecken müssen, ich wollte normal leben, zeigen, was ich besaß und was ich konnte, ich wollte meine Kinder normal aufziehen, ich wollte mit noch mehr Kindern gesegnet sein, ich wollte mit Gottes Hilfe endlich glücklich sein. Was redete er da für düsteres Zeug! Seine Stirn war gerunzelt, und als hätten die Bäume von Axholme seine Worte verstanden, neigten sie sich zum Abschied und schirmten die nebelige Insel, die, von Flüssen umgeben, mitten im Herzen von England lag, noch ein bisschen mehr vor neugierigen Blicken ab. Ich wandte mich ab und ging nach vorne zu Birger, um der Zukunft ein wenig näher zu sein.
Der Humbre wurde zusehends schmaler, bis er nur noch ein Flüsschen war und in den Ouse überging. Immer mehr Schiffe und kleine Boote sahen wir, das Land winkte uns zu, man konnte Menschen am Ufer erkennen, blühende Wiesen und erfrischend grüne Bäume, eine kleine Kirche auf einer Anhöhe und liebliche Hügel, auf denen der Weißdorn blühte. England gab sich große Mühe, sich von seiner besten Seite zu zeigen, und so war ich angenehm angespannt, als wir in Jorvik vor Anker gingen.
Eine muntere Stadt, vornehm mit einer Mauer gesichert, auf der Speere auf und ab wanderten. Wir passierten die Stadtgrenze im Fluss. Am Ufer und auf Booten zeigten sich finstere Wächter, deren Gesichter sich jedoch erhellten, als sie Birger erkannten.
»Na, bringst du was Gutes?« – »Wir verdursten ja beinah, lange warst du nicht hier!« – »Ist euch da unten der Wein ausgegangen?« Birger schwenkte einen Weinschlauch, und sie lachten.
Ich musste meinen Platz an der Reling leider verlassen, weil hinten die Kinder zu streiten begonnen hatten, Gepäckstücke nicht mehr auffindbar waren und die Pferde nervös wurden. Das Schiff ruckelte unter schweren Tauen, Männer brüllten, es schleifte und schabte, und dann lagen wir am neu gebauten Kai fest vertäut. Eine Planke wurde ans Ufer geschoben, und wir luden aus, erst die Kinder und Ringaile, dann das Gepäck, dann die Pferde, während über eine weitere Planke Birgers Waren an Land gebracht wurden.
»Na, Birger, ist das jetzt die neue Mode, Pferde übers Meer zu schaffen? Der Eroberer hat dich wohl inspiriert, was?« Der Sprecher lachte zwar, doch war das ganz offensichtlich nicht lustig gemeint. Nichts, was Wilhelm den Eroberer betraf, war hier in England lustig gemeint, das sollte ich noch merken.
»Na ja, immerhin hat er uns vorgemacht, wie einfach es ist, Pferde zu transportieren«, meinte Birger versöhnlich und schüttelte dem Mann die Hand. »Die, die man von dort unten holt, sind besser als alles, was hier auf der Insel herumläuft, und die, die eine Überfahrt nicht schaffen, die schmecken immer noch gut mit Pflaumen und Soße!« Er lachte schallend und winkte uns, ihm zu folgen, während ein ganzer Schwarm Leute den schwarzen Hengst begutachtete, der so wohlerzogen seinem Herrn folgte. Kári trug spanisches Blut und war eines der feinsten Pferde, die ich je gesehen hatte. Und er gehörte meinem Mann – das machte mich an meinem ersten Tag in England stolz.
Ein bisschen fühlte ich mich wie in Sigtuna, jenem wohlhabenden Handelsflecken am Mälar, wo Kaufleute ihren Reichtum zur Schau stellten, und wo König Stenkil sich so gerne aufgehalten hatte. In Jorvik wehte ein ähnlicher Wind: Freiheit und wohlgenährte Bürger, gekleidet in gutes Tuch, die sich von niemandem etwas sagen lassen wollten. Das Selbstbewusstsein der Leute, denen wir am Hafen begegneten, wirkte stark und ehrlich, und ihr Lachen kam aus der Tiefe des Herzens. Ich war mir sicher, dass Erik sich hier wohl fühlen würde.
»Na, junge Frau – gefällt es dir?«, fragte Birger lächelnd. »Du schaust jedenfalls glücklich drein. Hier sind wir auch schon bei euren Gastgebern.« Überschwänglich begrüßte er einen hageren Mann mit schütterem Haar, der aus einem der Häuser hinter den Anlegestellen heraustrat. Björn Ketilsson wurde er genannt, ein gebürtiger Norweger, den die Abenteuerlust nach England verschlagen hatte. Birgers Wein hatte er schon sehnsüchtig erwartet, daher nahm er uns einfach mit in Kauf. Der Name Gisli Svensson rief zumindest eine Erinnerung in ihm wach. »Der sitzt doch so gerne im Schwitzbad, nicht wahr? Und das tat er selten alleine, wenn ich mich recht entsinne. Ein wirklich sündiger Mensch, dieser Gisli Svensson …« Erik und ich sahen uns augenzwinkernd an und enthielten uns jeglichen Kommentars, während wir das Haus unseres Gastgebers betraten.
»Was hast du also vor in unserem Land?«, fragte Björn und schenkte von Sæunns wunderbarem Bier nach. Der Wein war, nachdem die halbe Schiffsmannschaft ihn hergerollt hatte, in den Hinterräumen des großen Lagerhauses verschwunden. Birger hatte mir zugeflüstert, dass Björn Ketilsson die Ehre hatte, den Bischofspalast mit Wein zu beliefern. Und da der neue Bischof von Jorvik Thomas von Bayeux hieß, wusste man im Palast guten Wein wohl zu schätzen. Wir bekamen von diesen feinen Tropfen allerdings nichts zu sehen, sondern das frisch gebraute Bier der Hausfrau kredenzt – immerhin. Björns säuerlich-asketisches Gesicht hatte mich schon fast mit Wasser rechnen lassen.
»Du bist in der besten und größten Stadt Englands an Land gegangen – was hast du vor, womit willst du dein Glück machen?« Gespannt setzte sich der Hausherr auf seinem Lehnstuhl zurück. Sæunn verschränkte die Hände im Schoß und lächelte mich aufmunternd an.
Erik straffte die Schultern und holte tief Luft. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, kniff ich ihn in den Arm, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass wir vor einem einfachen Kaufmann saßen und nicht vor einem Adeligen – und dass der König hier sehr weit weg war – dass Björn vielleicht nicht verstehen würde …
Vergebens.
»Ich möchte in den Dienst des Königs treten.«
Niemand sagte etwas. Ich kniff mich selber – was war los, was geschah hier? Ein Irrtum, vielleicht hatten sie seine Zunge, seinen Akzent nicht verstanden.
»Ich möchte in den Dienst des Königs treten«, wiederholte er mit Nachdruck, »und ich möchte helfen, das Land zu verwalten und zu befrieden.«
Hilflos sah ich von einem zu anderen. Ihre Mienen waren zu Eis erstarrt. Der Kaufmann hatte durchaus verstanden. Aber womit um Himmels willen hatte Erik diese Reaktion heraufbeschworen? Sag etwas, flehte ich Sæunn stumm an, was hat er falsch gemacht?
»Nun, dieser König …«, begann sie heiser.
»Schweig, Weib, von Dingen, von denen du nichts verstehst!«, fauchte da Björn, der aus seiner seltsamen Erstarrung erwacht war und langsam rot anlief. Die kleine Hilda steckte verängstigt den Kopf unter Sæunns Schürze. Doch Sæunn ließ sich nicht so schnell einschüchtern.
»Björn, diese Leute wissen doch nicht …«
»Ich werde es ihnen sagen!« Man konnte deutlich sehen, wie er Wut pumpte, wie sein Blut zu kochen begann. Ich rang die Hände im Schoß.
»Dann tu es gleich – sag es ihnen, und lass sie nicht zappeln wie Fische an der Angel!« Ihre Augen funkelten. »Sie kommen den weiten Weg übers Meer gesegelt und können nicht wissen, was hier geschehen ist – du weißt genau, das Meer ist ein schlechter Barde für Landgeschichten!«
Unauffällig glitt Eriks Hand von seinem Dolch am Gürtel wieder zurück zu seinem Knie. Seine Wachsamkeit ließ keinen Moment nach, seit wir Englands Boden betreten hatten …
»Ich wäre dir dankbar, wenn du mich aufklären könntest, womit ich dich verärgert habe«, sagte er mit aller Ruhe, die man bei solch einem Ausbruch aufbringen konnte.
Björn beugte sich vor. »Du willst in die Dienste des Königs treten? Was für ein König? Unser König ist tot, und in Winchester hockt ein Eroberer wie die Spinne im Netz und lässt dieses Land systematisch verwüsten und aushungern …«
»Krieg geht selten ohne Blutvergießen vor sich …«
»Dummes Geschwätz!« Wütend sprang Björn auf und rannte in der kleinen Halle auf und ab. »Ich kenne sehr wohl den Unterschied zwischen Krieg und … und … und dem, was dieser Bastard uns hier angetan hat! Das war kein Krieg, das war« – er ruderte wild mit den Armen – »das war Sünde, das war Gotteslästerung! Das ist der Teufel, der da über unser Land hergefallen ist …« Damit sank er auf seinen Stuhl zurück, ganz erschöpft von seinem Ausbruch, und trank den Becher, den Sæunn ihm reichte, in einem Zug leer.
»Der Normanne ließ im vorletzten Winter den Norden verwüsten«, sagte sie so ruhig, als beträfe sie es nicht. »Er schickte Todesreiter in das Land des alten Danelag und der Northumbrier und ließ sie zwischen den Ufern von Humbre, Tyne und Derwent alles kurz und klein schlagen – alles. Sie vernichteten nicht nur die Ernte, sondern auch die Felder, sie erschlugen Mensch und Tier, sie legten Feuer an Haus, Hof und Wald, sie pflügten das Land zehn Klafter tief – sie fielen über uns her wie die Reiter der Apokalypse …« Sie verstummte und blickte auf ihre Hände. »Sie zerstörten unsere Stadt, einmal, zweimal, dreimal, und jedes Mal kam der Bastard hinterdrein, sicherte seine kostbare Festung, feierte sein Weihnachtsfest oder das Osterfest, ließ sich feiste Braten servieren und zog wieder ab, und jedes Mal ließ er die Menschen wütender und fassungsloser zurück … Ein König, der seinem Volk die Lebensgrundlage zerstört, ist kein guter König.« Sie sah mir fest in die Augen. »Er ist der Teufel in Person. Wir wollen ihn nicht. Und seine Vasallen wollen wir auch nicht.«
An diesem Abend wurde nicht mehr viel geredet. Sæunn blies zeitig die Lampen aus und zeigte uns unsere Schlafplätze. Als ich mich in Eriks Arm unter die Decke kuschelte, hörte ich, wie unsere Gastgeberin leise mit ihrem Mann sprach.
»… wussten doch nicht … sei doch gnädig … konnte nichts dafür …« – »… soll sehen, wo er bleibt mit seinem … ein Bärendienst, den Gisli mir da …« – »… du kannst deine Hilfe nicht verweigern …«
»Was denkst du?«, wisperte ich. Er zog mich näher an sich, ohne jedoch zu antworten. Durch die Dunkelheit hindurch spürte ich seine Verunsicherung. Wo waren wir hier gelandet, was würde uns noch erwarten?
»Schlaf«, sagte er schließlich und bettete meine Hand auf seine Brust. »Morgen werden wir sehen, wie viel von seinem Gerede wahr ist. Wer lässt sich schon gerne erobern.«
Dennoch lagen wir beide die halbe Nacht wach nebeneinander, starrten in die Dunkelheit und versuchten vergebens, die Sorge vor der Zukunft abzuschütteln, ohne es den anderen spüren zu lassen.
Die Bürger von Jorvik gaben sich alle Mühe, die Brandspuren des Eroberers zu beseitigen, doch waren es einfach zu viele in zu kurzer Zeit gewesen. Vom Hafen aus hatte man es nicht sehen können, doch Sæunn zeigte uns den Fußabdruck des Eroberers in allen Einzelheiten. Ganze Straßenzüge lagen immer noch in Schutt und Asche, und der Geruch nach Verbranntem hing in der Luft, obwohl es seitdem viele Male geregnet hatte. An allen Ecken wurde gebaut und repariert, doch das Klopfen und Hämmern der Handwerker hallte unangenehm in meinen Ohren wider. Es hatte nichts Heiter-Unternehmungslustiges wie damals in Schleswig, sondern etwas Verbissenes, beinahe Verbittertes, ein Wir zeigen es dir, Bastard! und Komm bloß nicht wieder her!, und die Gesichter der Bauleute spiegelten etwas von der Unbeugsamkeit, mit der sie sich den Wünschen des Eroberers widersetzt hatten. Die Jorviker schienen alles andere als einfache Untertanen zu sein …
»Vielleicht haben sie ihre Stadt ja auch selbst in Brand gesetzt«, murmelte Erik und wich einem Holzbalken aus, der beinahe seinen Kopf getroffen hatte. Ein unflätiger Fluch fuhr vom Dach des Hauses auf uns herab. Man schien hier nicht zimperlich zu sein, und ich war froh, dass wir die Kinder in Björns Haus gelassen hatten. Die finsteren Gesichter hätten ihnen sicher Angst eingejagt.
»Hier hat meine Schwägerin gewohnt.« Sæunn deutete auf einen Trümmerhaufen, als wir am Burgberg vorbeikamen. Björn hatte sich geweigert, uns auf dieser makabren Besichtigungstour zu begleiten, er hatte nicht einmal mehr das Wort an Erik gerichtet, und seit dem Morgen sehnte ich mich danach, diese Stadt wieder verlassen zu können. »Die Normannen bezichtigen die Einwohner von Jorvik, den northumbrischen Rebellen geholfen zu haben. Ihre Truppen gaben sich daraufhin große Mühe, alles zu zerschlagen, was von Wert sein könnte.«
»Und – haben sie?«, fragte ich neugierig. »Haben sie den Rebellen geholfen?« Rebellen … War England also doch nicht erobert, wie uns in der Normandie erzählt worden war? Rebellen. Das klang sogar gefährlich.
»Wer mit der Axt in der Hand auf den braven Kaufmann einschlägt, macht sich keinen Freund, und wenn der Kaufmann sich wehrt, wird er Rebell genannt«, sagte sie gleichmütig, ohne meine Frage direkt zu beantworten, und setzte ihren Weg ins Zentrum fort. Erik und ich sahen uns an. Die Leute, die uns hier in Jorvik begegnet waren, sahen nicht unbedingt alle wie brave Kaufleute aus, und beide vermuteten wir, dass diese Wahrheit vielleicht noch eine andere Seite hatte.
»Vielleicht findet Cedric etwas heraus«, flüsterte ich. »Er ist schon früh auf den Markt gegangen.«
»Hmm«, brummte Erik und drängte mich zur Seite, um mich vor ein paar schwer bewaffneten Jorvikern zu schützen, die scheppernd und grölend unseren Weg kreuzten. »Wozu sollte er das? Sicher wird er stattdessen Possen reißen, Geld einsammeln und den Frauen schöne Augen machen. Er hockt ja wohl versorgt im Nest.« Ich beschloss, es aufzugeben, meinen Mann vom Wert dieses findigen Angelsachsen zu überzeugen, und zum Thema Cedric forthin den Mund zu halten. Letzten Endes war er ja mein Diener und Lehrer, nicht seiner …
»Hier ist das nahrhafte Herz der Stadt«, verkündete Sæunn mit leuchtenden Augen und breitete die Arme aus. »Hier wohnen alle Metzger, und hier riecht es so gut, dass man sich wünscht …« Was genau sie sich wünschte, ließ sie offen und strebte stattdessen auf eins der hutzligen Häuschen zu, in deren Eingängen die Händler ihre Ware feilboten. Es roch nach frisch zerlegtem Fleisch, nach Blut, irgendwo kochte jemand Fett, und der Geruch der Holzkohlefeuer kroch in jeden Winkel der engen Gasse. Wir drängten uns an den Menschen vorbei, um Sæunn nicht aus den Augen zu verlieren. Der Magen knurrte mir, ich lechzte nach gebratenem Fleisch und fetten Eierspeisen, nach süßen Kuchen und Biersuppe, lauter Dingen, die es im Haushalt des biederen Kaufmanns nicht zu geben schien. Verlegen schielte ich nach Björns wohl genährter Hausfrau, die nach solch kargem Essen gar nicht aussah. Sæunn war an einem Verkaufshaus stehen geblieben. Der Duft nach Gesottenem brachte mich fast um.
»John Hammelschlachter – wie schööön, dich zu sehen!«, gurrte da meine Gastgeberin und presste ihren Busen aufreizend gegen die Holzbrüstung, um seine Auslagen zu bewundern. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass ihr Hemd wie zufällig verrutschte, die Schleife sich einfach selbstständig machte, ganz frech von selber auflöste und den Blick auf appetitlich weißes, pralles Frauenfleisch freigab.
»Ei Sææunn, dich hab ich ja lang nicht geseeeeehen«, grinste das feiste Gesicht hinter den Auslagen. »Was kann ich dir bieten, mein Herz, mein gutes?« Sæunn drängte sich noch näher an die Brüstung und reckte den Oberkörper, bis die erdbraunen Brustwarzen halb zu sehen waren und der Busen bequem auf die Brüstung gebettet war – und ich konnte mich kaum beherrschen, weil die Augen des Metzgers überliefen wie die eines Hengstes beim Anblick einer rossigen Stute. Beide erlösten mich zum Glück, denn sie lachten albern los, und John begann, ihr in blumigen Worten seine Auslage näher zu bringen, ohne natürlich die Augen aus ihrer Auslage zu nehmen, die wie selbstverständlich auf der Brüstung liegen blieb.
»Hast du mir je solche Augen gemacht?«, wisperte ich Erik kichernd zu und ließ meine Hand angeregt um seinen Körper wandern. »Solche … Metzgeraugen? Naa?«
»Hmm«, brummte er stirnrunzelnd.
»Naa?«, beharrte ich.
»Hast du mir deinen Busen jemals derart vor die Nase gelegt?«, fragte er zurück, und für einen Moment erhellte ein Lächeln sein finsteres Gesicht.
»Soll ich das tun?«, flüsterte ich lockend. Er brummte etwas. Seine Hand an meiner Hüfte sprach davon, dass man es ja immerhin einmal versuchen könnte.
»Vielleicht kann man das nur, wenn man zusammen Fleisch isst?«, mutmaßte ich anzüglich und beobachtete staunend das vielsagende Getändel des Metzgers mit der Kaufmannsfrau.
»Vielleicht …«
»Ich komme gleich wieder, elskugi.« Er strich mir flüchtig über die Wange, dann war er fort, verschwunden im Gedränge, und nur sein blonder Schopf mit den zusammengebundenen Haaren leuchtete über den Jorvikern, die sich durch die Metzgergassen schoben und von denen viele blonde Nordleute waren, doch keiner so schön wie er. Lächelnd und ein bisschen schmollend blieb ich mit meinen sündhaften Gedanken und dem Getändel meiner Gastgeberin zurück.
Da Erik so offensichtlich wichtigere Dinge zu schaffen hatte, wandte ich mich ganz Sæunn zu, die sich nach langem Herumschnüffeln, Über-die-Theke-Beugen und neckischem Verhandeln für eine Pastete entschieden hatte. Breit grinsend packte der Händler das gute Stück in das mitgebrachte Leintuch, schob es in Richtung ihrer halb entblößten Auslage, fasste mit geübtem Griff in die Pracht und lohnte ihr gleich darauf den Kauf mit zwei Stücken Hammelkuchen zum Probieren.
»Oooooh, vorzüüüglich«, zwitscherte Sæunn und leckte sich mit langer, rosiger Zunge jeden fetttriefenden Finger so hingebungsvoll ab, dass der schmierige John gleich noch ein Stück von der Pastete abschnitt und es seiner Freundin zwischen die prallen Brüste schob. Und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass die schlaue Sæunn es offenbar liebte, sich für einen kurzen – oder vielleicht auch ausgiebigeren – Blick auf ihre üppige Brust im Metzgerviertel den Bauch voll zu schlagen, während ihr Björn daheim bei in jeder Beziehung magerer Kost gehalten wurde …
»Weißt du«, schmatzte sie mit vollem Mund, »weißt du, mir ist da was eingefallen. Alienor von Uppsala.« Bedächtig platzierte sie ihren ausladenden Hintern auf dem Hocker, den Hammelschlachter-John beiläufig unter der Theke hindurchgeschoben hatte, nicht ohne das Körperteil mit Kennermiene ausführlich abgetastet zu haben. Ganz kurz nur hob sie beglückt die Brauen, bevor sie sich wieder mir und der Pastete zuwandte. »Irgendwo müsst ihr ja bleiben – du und dieser wilde Krieger und eure Mädchen.« Ich sah mich verstohlen nach dem blonden Schopf um: Der wilde Krieger probierte gerade sein Angelsächsisch am Brunnen gegenüber aus, wo sich ein paar Jorviker die Sonne aufs Haupt scheinen ließen.
»Wundervoll, dieses Zeug …« Sæunns Lecken und Schmatzen machte mich noch hungriger. John schien es zu ahnen, wahrscheinlich kannte er Sæunn rundum besser, als es Björn lieb war, jedenfalls lag auch für mich wie von Zauberhand ein Stück Pastete auf der Theke. Dankend und mit langen Fingern nahm ich es, darauf achtend, der Theke nicht zu nahe zu kommen, weil man ja nicht wusste, welche Art der Bezahlung John wünschte. Doch ganz offensichtlich hatte er nichts übrig für magere Exemplare wie mich.
»Also, hier wird dein Krieger keine Bleibe finden, so viel ist mal klar. Ich glaube kaum, dass der Normannenbastard in dieser Stadt auch nur einen Menschen seinen Freund nennen kann. Und wenn man hier zu laut erzählt, dass man in seinen Diensten steht, kann es einem schlecht ergehen.« Das hatten wir gemerkt. Finster sah sie ihr Pastetenstück an, bevor sie herzhaft hineinbiss, als handelte es sich dabei um den Arsch des vermaledeiten Bastards aus Caen. »Halb Yorkshire hat er verwüstet, in Schutt und Asche gelegt, dass die Kinder heute noch Alpträume haben. Ich habe einen Hof, das Gut meiner Eltern« – ein flüchtiger Blick zum Himmel, wo die beiden der Schlemmerei ihrer Tochter sicher wohlwollend beiwohnten – »Hm. Sicher steht dort kein Stein mehr auf dem anderen. Er hat ja alles zerstört, was irgendwie nach bescheidenem Auskommen aussah. Aber ihr könnt euch das Haus wiederaufbauen. Früher gab es sogar eine Mühle, aber nicht mal die hat der Bastard stehen lassen. Ein paar Felder, guter Flachs wuchs dort einst, ein Waldstück, das er niederbrannte. Wir hatten Schafe, als ich jung war, ein paar Ziegen und eine Kuh. Meine Eltern waren nicht arm, als sie von Norwegen herüberkamen, um ihr Glück zu machen …« Die Erinnerung an bessere Zeiten schien die Pastete mit einem Mal schal schmecken zu lassen, und sie hörte auf zu kauen. »Jetzt lebt nur noch der alte Osbern dort, alle anderen sind fort, tot, verhungert, auf dem Schlachtfeld gestorben oder vor Gram in die Grube gefahren … Wird Zeit, dass dort wieder Kinder lachen. Geh dorthin« – sie sah mich an und wirkte mit einem Mal älter, als sie war –, »geh dorthin mit deinen Leuten, bau den Hof wieder auf und bete, dass das Blutvergießen in England für immer ein Ende hat.«
Ein Straßenköter pflückte den Pastetenrest vorsichtig aus meinen herabhängenden Händen. Ein Haus aufbauen. Felder bewirtschaften, vielleicht die Mühle restaurieren. Ein Neuanfang, von Grund auf. Keinen Hunger, keine Angst haben müssen. Friede und ein sicheres Zuhause für die Kinder. Was für ein schöner Traum. Froh lächelte ich Sæunn an.
Sie stellte uns nicht nur ihren Hof zur Verfügung, sondern überließ uns auch einen Wagen voll Baumaterial und setzte sich zum Ärger ihres Mannes zu den Kindern in den Wagen, um uns nach Scachelinge zu begleiten. Neben ihr hockte Margyth, ein Mädchen aus Northumbria im Norden, die Sæunn mir mitgab, da Ringaile wegen ihrer Schwangerschaft kaum noch eine Hilfe war. Ich verstand zwar kein Wort von dem seltsamen Dialekt, den sie sprach, doch hatte sie ehrliche Augen und zupackende Hände – genau das, was wir brauchen würden.
Und als ich neben diesem kleinen Zug herritt, überfiel mich plötzlich die Erinnerung, nahm mich brutal in den Schwitzkasten … War es damals in Svearland nicht genauso gewesen, als wir heimkommen wollten und niemand uns hatte aufnehmen wollen, als Eriks Mutter uns mitten in der Nacht abgewiesen hatte und wir zum Hof seiner Schwester weiterziehen mussten, wo nur wenige Wochen später unser erstes Kind das Licht dieser feindlichen Welt erblickte … Das Schicksal wollte mich wohl narren! Ich ballte die Fäuste, und Sindri hob, erstaunt durch den Zügelruck, den Kopf. Nein, noch einmal sollte es uns nicht so ergehen, dafür wollte ich sorgen. Ich hatte die Nase voll vom Herumziehen, ich wollte endlich ein Zuhause haben, das mir niemand streitig machte. Sæunns Freundschaft war der erste Schritt. Grimmig wanderte mein Blick über Eriks Rücken.
Sæunn folgte meinem Blick. »Er ist kein Bauer, nicht wahr?«, fragte sie mit unterdrückter Stimme. Ich schüttelte den Kopf. Sie schwieg eine Weile und studierte mein Gesicht.
»Du wirst das schon machen, Alienor.«
Zweifelnd sah ich sie an. Er würde mir keine große Hilfe sein, das spürte ich. Wahrscheinlich gar keine Hilfe. Allen Liebesschwüren zum Trotz – er war einfach kein Landmann. Keiner, der Felder bestellte, keiner, der Häuser errichtete und Mühlen reparierte. Ich wusste, wie widerwillig er mitritt, war mir sicher, dass er die erstbeste Gelegenheit beim Schopf ergreifen würde, eine Waffe zu packen und das zu tun, wozu er geboren war: kämpfen. Doch würde es eine gerechte Sache sein? Oder würde man ihn ausnutzen, ihn, den Ausländer, den Glückssucher, den mittellosen Krieger?
Ein Kinderfuß schlenkerte an seinem Bein vorbei. Snædís hatte es wieder einmal durchgesetzt, mit ihrem Vater reiten zu dürfen.
»… und wo reiten wir jetzt hin?«, hörte ich sie fragen, während sie angelegentlich mit seinen Haaren spielte.
»Nach Westen reiten wir.«
»Das hast du letztes Mal auch schon gesagt. Was ist Westen, Papa?«
»Westen ist da, wo die Sonne untergeht.«
»Ich mag lieber, wenn sie aufgeht. Können wir nicht dahin reiten, wo die Sonne aufgeht? «
Ich sah, wie er kaum wahrnehmbar in sich zusammensank.
Niemals konnten wir dorthin zurück, wo die Sonne aufging.
»Die Sonne geht immer dort auf, wo du bist, ástin mín – da ist es doch egal, wo wir hinreiten …«
»Hm. Und wo du bist, geht sie unter?« Meine Ohren vernahmen seinen stummen Schrei: Wo ich bin, ist ewige Nacht!
»Ich bin genau in der Mitte.« Seine Schultern strafften sich.
Temperamentvoll flog daraufhin der Fuß in die Höhe.
»Dann kannst du die Sonne anhalten? Kannst du’s, Papa?
Kannst du sie für mich anhalten?«
Er schlang die Arme um sein Kind. »Ich kann sie nehmen und in dein Herz setzen, elskugi…«, hörte ich ihn leise sagen. Da lachte sie glücklich. Und ich wünschte mir, er würde die Wahrheit sprechen.
Cedric maulte, weil er zu Fuß neben dem Wagen herlaufen musste. Doch die begehrlichen Blicke, die er Margyth zugeworfen hatte, ließen mich hart bleiben. Der Fußmarsch würde ihm nicht schaden, als Spielmann hatte er sicher schon längere Strecken bewältigt. Eine Tändelei meiner Dienstboten gleich am ersten Tag hatte mir gerade noch gefehlt. Sæunn warf mir einen überraschten Blick zu. Besonnen zügelte ich daraufhin meinen Ärger und bot ihm an, sich unterwegs auf Sindris Rücken auszuruhen. Wie schwer es doch war, einem eigenen Haushalt vorzustehen, auf alles ein wachsames Auge zu haben und die Angelegenheiten der Diener mitzugestalten – denn wenn man das nicht tat, ging es bald drunter und drüber. Ich seufzte in Erinnerung an meinen turbulenten Haushalt daheim auf Sassenberg.
Wir hatten York noch nicht lange verlassen, da begriff ich, dass wir tatsächlich mitten in das Land der Apokalypse reisten, von der Sæunn gesprochen hatte. Als das erste verbrannte Haus in Sicht kam, setzte Erik Snædís in den Wagen zurück und bedeutete Ringaile, die Kinder abzulenken.
Ein vertrockneter Leichnam vor einem Haus hing an einem blühenden Apfelbaum und wehte im Wind leicht hin und her, denn er hatte ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Ab und zu machte der Wind sich einen Spaß daraus, den Leichnam so zu drehen, dass er die Trümmer seines Hauses vor Augen hatte – so wie er vielleicht auch im Sterben die Flammen aus dem Dach hatte emporsteigen sehen. Die Hauswände lagen zerstört am Boden und waren vom Regen wieder zu einem Teil der Erdkrume gewaschen worden, gnädig bedeckt von den Blättern eines langen, stillen Herbstes. Hausrattrümmer lagen verstreut, ohne dass sie einer würde zusammenräumen können. Niemand würde hier je wieder etwas anfassen, wegräumen, aufbauen oder gar begraben … Voller Grauen zog ich mir den Mantel über den Kopf. Den Haufen aus Kleidern und Knochen hinter den Holunderbüschen nahm ich nur aus dem Augenwinkel wahr, ich ließ mich von Sindri daran vorbeitragen, den Blick starr zwischen seine gespitzten Ohren gerichtet, die Hände tief in seiner Mähne vergraben, am warmen Fell seines mächtigen Halses, so wahrhaftig und lebendig … Niemand sprach ein Wort, niemand fasste einen klaren Gedanken, keiner hatte ein Gebet für die Ermordeten, Mann, alte Frau, Säugling, doch nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil das Entsetzen uns lähmte – es hätte auch uns treffen können, hätte das Schicksal uns ein halbes Jahr früher hierher verschlagen.
Das Haus des Apfelbaums war nicht das einzige. Gehöft um Gehöft lag niedergebrannt am Wegesrand, überall zerstörte, verunkrautete Felder und brutal abgeholzte Obstwiesen, allgegenwärtig die Spur des Feuers – am Boden und in der Luft, und der Geruch nach Verbranntem fraß sich durch die Seele, obwohl doch ein Winter bereits seine kühlende Hand auf das Land gelegt hatte. Die Lieder, mit denen die Frau aus Ladoga die Kinder zu fesseln versuchte, während sie ängstlich über den Karrenrand spähte, klangen wie eine traurige Totenklage für dieses Land, dessen einziges Vergehen darin bestanden hatte, dass nicht alle Einwohner den Eroberer mit offenen Armen empfangen hatten. Ich vergrub das Kinn im Mantel, sank tiefer in meinen Sattel und dachte, dass Björn vielleicht doch Recht hatte mit seiner Wut und dass ich diesen Guilleaume von der Normandie lieber gar nicht erst kennen lernen wollte.
Ein kleines Waldstück nahm uns auf. Behutsam schirmten die Bäume unsere Blicke ab, strichen mit niedrigen Ästen über unsere Köpfe und versuchten zu erzählen, wie es in friedlichen Zeiten einmal gewesen war. Es fiel so schwer, ihnen zu glauben, denn auch in diesem Wäldchen herrschte eine geradezu gespenstische Stille, so als hätten sogar die Vögel und Käfer das Land auf immer verlassen. Ringailes klare Stimme war wie eine Laterne, die wir in Yorkshires Dunkelheit hineintrugen.
Als wir das schweigende Wäldchen verließen, kamen Ruinen in Sicht. »Das war früher Scachelinge«, erklärte Sæunn traurig.
»Hier bin ich geboren worden.« Die Überbleibsel der kleinen Siedlung waren sauber abgetragen und aufgeräumt worden – ein Zeichen, dass hier noch jemand lebte? Trotzdem sah das, was vor uns lag, mehr als trostlos aus. Erik lenkte sein Pferd neben Sindri und fasste nach meiner Hand. Sein Blick war düster. Was würde nun kommen? Hatten wir nicht schon genug gesehen? Ich wollte gerade Luft holen, um ihn aufzumuntern, als –
»Wenn ihr mich töten wollt, dann tut es endlich, zum Henker, und lasst mich nicht scheibchenweise verhungern!«, hörten wir auf einmal eine brüchige Stimme. Nach der nächsten Biegung kam Sæunns Elternhof in Sicht – oder vielmehr das, was Guilleaumes Todesreiter davon übrig gelassen hatten. Ein alter Mann humpelte aus dem Verschlag heraus, seinen Stock wie eine Waffe in der Hand, und strafte damit seine Worte Lügen. Schlohweißes Haar umgab sein zerknittertes Gesicht, der zahnlose Mund zitterte in ständiger Bewegung, und seine Augen schleuderten Blitze, denn ganz offensichtlich erkannte er die korpulente Dame nicht, die sich vom Karren hangelte und auf ihn zustrebte. Sæunn beeindruckte das nicht. Ungerührt schloss sie den Alten in die Arme und drückte ihn an ihre Brüste, zwischen denen sein Kopf beinahe verschwand, und man hörte nichts weiter als sein gedämpftes Schluchzen.
Osbern von Scachelinge lud uns in seine Halle ein – das waren ein paar Baumstümpfe und ein Findling in ihrer Mitte, darauf ein Krug mit Wasser und eine halb zerbrochene Schale mit Brotstücken. Mein Magen knurrte gefährlich, doch diesem klapprigen Männlein das letzte Brot wegzuessen – da verging mir doch der Hunger, und so drückte ich mich um die Schüssel herum, während Cedric gedankenlos zugriff.
Margyth begann, Teile des aus Jorvik mitgebrachten Hausrates auszupacken, und bald standen auch Zinnbecher, eine Karaffe Wein, Trockenfisch und Erbsenmus vor dem Hüter von Scachelinge. Wieder weinte er bitterlich und bedankte sich hundertfach bei Sæunn, dass sie ihm junge Menschen geschickt hatte, die seine Einsamkeit beenden und seine letzten Tage auf Erden versüßen würden.
Erik hatte die ganze Zeit geschwiegen. Zusammen mit Hermann hatte er die Pferde ausgeschirrt und abgesattelt und den Karren geleert. Unser Gepäck lehnte an einer knorrigen Eiche, die Kinder hockten verschüchtert daneben und schwiegen, was höchst ungewöhnlich war. Ringaile versuchte ihnen Essen aufzunötigen, doch beide hatten vor Aufregung keinen Hunger.
Der Alte jedoch hatte vom Wein getrunken und wurde zutraulich. »Du wirst mir also mein Haus wieder aufbauen«, nuschelte er und stieß Erik mit seinem Stock gegen das Bein. »Hast du schon mal ein Haus gebaut? He? Weißt du, wie ein Haus aussehen muss? Es war groß, das Haus von Scachelinge, man konnte es von weitem sehen, mit einem Dach aus Ried und einer großen Feuerstelle, deren Rauch hoch in den Nachthimmel stieg … He, du siehst nicht aus, als könntest du ein Haus bauen.« Eine rot angelaufene Nase näherte sich Eriks Gesicht, verkrümmte Finger betatschten seine sehnigen Hände. »Du siehst nicht aus, als ob –« Da packte Erik zu, hielt die Arme des Alten im Würgegriff.
»Wo willst du es hinhaben, alter Mann?«