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Die mit dem mutigen Herzen« – so nennt man sie im Land der Nordmänner: Alienor von Sassenberg, die junge Eifelgräfin, die für einen Gefangenen ihres Vaters Leib, Leben und Heimat riskierte. Und die nun hochschwanger über die winterlich-wilde Ostsee nach Schweden fährt, damit der Mann ihres Herzens sein Land wieder sieht. Doch Erik, der letzte Sohn des großen Königs, war einer anderen versprochen, und nun muss eine alte Rechnung beglichen werden – in einem Kampf, der nicht nur die Götter fordert, sondern Alienors ganzes Glück bedroht …
Das Buch ist vormals unter dem Titel "Freyas Töchter" erschienen.
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Seitenzahl: 753
Die mit dem mutigen Herzen« – so nennt man sie im Land der Nordmänner: Alienor von Sassenberg, die junge Eifelgräfin, die für einen Gefangenen ihres Vaters Leib, Leben und Heimat riskierte. Und die nun hochschwanger über die winterlich-wilde Ostsee nach Schweden fährt, damit der Mann ihres Herzens sein Land wieder sieht. Doch Erik, der letzte Sohn des großen Königs, war einer anderen versprochen, und nun muss eine alte Rechnung beglichen werden – in einem Kampf, der nicht nur die Götter fordert, sondern Alienors ganzes Glück bedroht …
Das Buch ist vormals unter dem Titel »Freyas Töchter« erschienen.
Über Dagmar Trodler
Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de
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Dagmar Trodler
Die Liebe der Waldgräfin
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Nachwort
Glossar
Quellen
Impressum
Zeit ists zu reden vom Rednerstuhl.
An dem Brunnen Urdas
Saß ich und schwieg, saß ich und dachte
Und merkte der Männer Reden.
Von Runen hört ich reden und vom Ritzen der Schrift
Und vernahm auch nütze Lehren.
Bei des Hohen Halle, in des Hohen Halle
Hört ich sagen so:
(Hâvamâl 111-112)
Jemand trat mir mit aller Macht in den Bauch. Ein kleiner Fuß beulte herausfordernd die Bauchdecke nach außen und verschwand wieder, als ich meine Hand darüberlegte. Schwerfällig drehte ich mich auf die Seite und suchte mir eine für meinen Leibesumfang bequemere Stellung auf dem verwanzten Strohsack.
Mein Blick glitt durch den düsteren Raum. Jede Kleinigkeit hatte ich schon unzählige Male betrachtet: den sorgfältig zugebundenen Getreidesack; die Holzkiste mit schwerem Schloss; darauf, irgendwann einmal abgestellt und vergessen, eine wurmstichige Jungfrau Maria, in deren Arm an Stelle eines Christuskindes ein bemalter Sack klemmte; die kleine Luke, durch die der Wind hereinpfiff und die den Blick auf einen morastigen Hof freigab. Zwei Schweine grunzten dort in ihrem Verschlag, der Gestank von Exkrementen zog so unbeirrt durch das Fensterchen, als gäbe es keine andere Richtung. Ich konnte mich nicht entscheiden, was übler roch, die Schweine oder das Loch gleich daneben, das sie hier »Latrine« nannten. Wann hatte ich zuletzt meinen Topf dort entleert? Ich lag schon eine halbe Ewigkeit hier oben.
Heulend fuhr der Wind um das Haus, es zog durch die nur notdürftig mit Lehm und Stroh zugestopften Ritzen – wie in den allermeisten Herbergen, in denen wir übernachtet hatten. Dieses Haus jedoch war das schmutzigste von allen – und ausgerechnet hier musste ich es am längsten aushalten. Außer Schankweibern und der fettleibigen Wirtin schien es keine Frau weit und breit zu geben. Wer auch immer das Essen zubereitete, konnte nicht viel vom Handwerk verstehen, denn die Eintöpfe schmeckten nach zerkochten Gemüseabfällen und ranzigem Fett, und das Fleisch hätte selbst ein Hund verschmäht. Jeden Abend fiel lärmend neues Volk von den Straßen und vom Hafen in den Schankraum ein, man soff, sang und feierte, bis man von den Bänken fiel, und schlief dann ein, wo man lag, über oder neben der Dirne, die manch einer trotz der gezahlten Taler nicht mehr zu besteigen in der Lage war. In der Nacht hörte ich die Mädchen dann kichern und hicksen, wenn sie sich sammelten, manchmal auf die Letzte wartend, die vielleicht mit flinken Fingern ihr Geschäft am Kunden noch verrichtete oder heimlich eine Tasche leerte, bevor der Spuk gemeinsam auf der Straße verschwand.
Für einen Beutel Silber war der Wirt bereit gewesen, meinen Strohsack auf den Dachboden des Wirtschaftshauses zu legen, wo in Tongefäßen und Säcken die Vorräte lagerten und wo in ruhigeren Zeiten die Dienstboten schliefen. Jeden Abend kam die Hausfrau persönlich ihre Krüge inspizieren, und manchmal, wenn ich mich schlafend stellte, hörte ich, wie sie in meinen Bündeln kramte und nach gestohlenen Bohnen oder Äpfeln suchte.
Doch heute Abend hatte auch die Freiheit der eigenen Kammer ein Ende gefunden, als eine Reisegruppe aus Hamburg in der Herberge eintraf und sie bis in den letzten Winkel füllte. So lag ich nun inmitten von erschöpften, ungewaschenen Männern, umhüllt vom Dunstgemisch aus Alkohol, Aufgestoßenem und feuchten Fürzen, lauschte dem Schnarchen und Grunzen und fragte mich, wie lange Erik mich hier noch festzuhalten gedachte.
Ein Regenschauer prasselte auf das Dach. Ich beobachtete, wie die Tropfen durch ein kleines Loch herunterfielen und den Boden zwischen den Schlafenden netzten. Als die Pfütze größer wurde, begann es zu spritzen, einem der Reisenden ins Gesicht, worauf der sich mit Fäusten die Augenhöhlen rieb und auf die andere Seite rollte, mit dem Kopf auf meinen Strohsack. Ich wich ihm aus, wickelte mich enger in das Bärenfell, das Erik mir heute Morgen gebracht hatte, und lehnte mich an die Wand. Das Kind in meinem Bauch bewegte sich wieder, unwirsch, dass ich es geweckt hatte. Ich atmete, wie man es mir gezeigt hatte, und strich mir über den Bauch, von rechts nach links, wieder und wieder, bis endlich Ruhe einkehrte. Wenn es sich doch nur noch ein wenig gedulden würde!
Unsere Reise hatte viel länger als erwartet gedauert. Nach der geglückten Flucht aus Köln, wo wir nach Meister Naphtalis Flammentod den Häschern des Erzbischofs und meinem zornigen Vater um Haaresbreite entwischt waren, hatten wir uns auf den Weg nach Norden gemacht. Zunächst ging es zu Pferd, dann per Schiff nach Flandern, doch bald merkte ich, dass Erik es mit dem Heimkehren nicht mehr so eilig zu haben schien. Wir reisten kreuz und quer durch Flandern, besuchten bedeutende Handelsstädte, wo er Kaufleute traf und nächtelang in ihren Warenlagern verschwand, ohne mir zu erklären, was er dort trieb, während ich mir Marktplätze ansah und mich langweilte, weil doch alle gleich aussahen. Und während unser Gepäckberg anwuchs und auf ein zweites Packpferd verteilt werden musste – Erik, so ging mir irgendwann auf, war auf die Idee verfallen, eine Aussteuer wie für eine reiche Dame zusammenzukaufen –, setzten in Brügge verfrüht die Wehen ein. In der heißesten Zeit des Jahres war ich einige angsterfüllte Wochen lang ans Bett gefesselt. Nur der Geschicklichkeit einer alten Hebamme, die mein Diener Hermann im Judenviertel auftrieb, war es zu verdanken, dass ich mein Kind behielt. Sie riet uns dringend, die Reise bis zur Geburt zu unterbrechen, doch davon wollte Erik nichts hören. Sein Sohn sollte in seiner Heimat geboren werden. Kopfschüttelnd sah die Alte zu, wie er mich in eine mit Kissen und Decken ausgepolsterte Sänfte verfrachtete und die Stadt Richtung Norden verließ.
In Bremen entgingen wir nur mit knapper Not den Verzweifelten einer Hungersnot, die nach Missernten über die Stadt hereingebrochen war. Immer noch lähmt mich das Entsetzen, wenn ich an die lüsternen Blicke dieser vom Hunger ausgezehrten Menschen denke, als wir an den Toren ihrer Stadt vorbeiritten, auf Pferden, deren Fleisch man essen konnte… Eine waghalsige Flucht rettete uns und unseren Tieren das Leben. Es folgten hungrige Tage in den Wäldern, denn auch unsere Vorräte waren zur Neige gegangen. Hermann versorgte uns mit Pilzen und Beeren – zu jagen wagten wir nicht, hatten wir doch keine Ahnung, auf wessen Grund und Boden wir uns befanden. Mittlerweile war es Anfang Oktober, und der Sommer verabschiedete sich. Die Strahlen der Sonne wurden schwächer, und der Wind brachte Kunde von einem kalten Winter. Erik wickelte mich in alle verfügbaren Umhänge und zwang mich aufzuessen, was er mir gab. Seine Rationen müssen dabei gewesen sein, denn als wir die Küste erreichten, war sein Gesicht schmal geworden.
Er wurde blass, als wir Haithabu erreichten, jene Stadt, in der wir ein Schiff nach Norden finden wollten, denn an Stelle der lebhaften Handelsniederlassung, die dort im Frühjahr noch gestanden hatte, ragten nun schwarz verkohlte Stümpfe aus dem sandigen Boden. Stechender Brandgeruch durchzog selbst jetzt noch die Seeluft und verursachte mir Übelkeit.
Brand – Feuer – Brennen – brennendes Fleisch – Erik hielt mich fest, bevor ich würgend zu Boden sinken konnte, ohne Atem, ohne Tränen, immer noch leer vor Entsetzen über das, was in Köln geschehen war und mich nicht losließ…
Ein Fallensteller, der in den Ruinen Kaninchen jagte, erzählte uns die Geschichte von Haithabu, von dem verheerenden Feuer, das die Slawen im Frühling gelegt hatten, von dem tagelangen Wüten der Flammen, von flüchtenden Händlern, beladen mit Sack und Pack, Frauen, die ihre Kinder auf dem Rücken trugen und Hab und Gut zurückließen, von dem Lärm der berstenden Holzbalken, und er erzählte von der neuen Stadt am Ufer der Schlei – Schleswig genannt –, wo wir Schiffe und Herbergen finden würden. Mit Hermanns Hilfe brachte Erik mich zur Sänfte zurück und schlug den Weg nach Osten ein.
Unser treuer Diener wartete mit mir außerhalb von Schleswigs Umwallung, harrte stundenlang im Regen bei den Pferden aus, während das Leder des Sänftendachs sich langsam mit Wasser voll sog und Erik sich auf der Suche nach einer Bleibe von Haus zu Haus durchfragte.
Ich riss etwas Stroh aus meiner Matratze und stopfte es mir in den Rücken, wo es durch ein Loch in der Wand beharrlich zog. Was für eine Bleibe. Was für eine Stadt!
Als es mir wieder besser ging, hatte Erik mich zum Schleiufer mitgenommen, um mir zu zeigen, wo wir in See stechen würden. An jenem stürmischen Morgen war ich vollauf damit beschäftigt, einen Weg durch all die Menschen zu finden, und achtete nicht darauf, wie wir dem Wasser immer näher kamen. Und so schlug mir die Bö wie eine Faust ins Gesicht, als wir den Schutz der Häuser hinter uns ließen, sie brannte mir in den Augen, bis mir die Tränen kamen, und brannte aufs Neue, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, um was für eine ernste Angelegenheit es sich bei der Schiffsreise handelte.
»Niemals gehe ich auf dieses Wasser, Erik!«
Vor uns verbreiterte sich die Schlei zu einem mächtigen Strom, aschgrau und voller gefräßiger Wellen, die, vom Wind aufgepeitscht, drohend auf uns zuritten, eine nach der anderen, die Böschung heraufleckten, wo sie flach wurden wie Pfannkuchen und geduckt ins Grau zurücktauchten, um Kraft zu schöpfen und dann, mit Schaum gekrönt, den nächsten Angriff zu wagen. Und irgendwo dahinter lag das Meer, von dem ich gehört hatte, dass man an seiner Endlosigkeit irre werden konnte und dass es Seeschlangen und schuppige Ungeheuer barg, die nur darauf warteten, umherirrende Opfer zu verschlingen.
»Könnte man nicht doch zu Fuß… einen Umweg…?«
Erik zog mich unter seinen Umhang, um mich vor den Sturmböen zu schützen. Hinter uns hörte ich Hermanns Zähne klappern.
»Es gibt nur den Weg über das Wasser, meyja. Hab keine Angst.«
»Aber – aber werden wir uns nicht verirren?«
»Vertrau dich dem Meer an, kærra, es ist eine große Macht, die dich freundlich tragen wird.« Seine Stimme klang rau, als er meinen Kopf an seine Brust drückte. »Dieses Wasser ist grenzenlos, ewig, sanft und gleichzeitig voller Gewalt…« Ich hörte ihn kaum noch. »Das Meer hat etwas Göttliches. Es lehrt den Menschen Demut…«
Der Mann auf dem Strohsack neben mir brabbelte vor sich hin und polsterte seinen Kopf mit meiner Decke. Ich rutschte zur Seite, brachte mich in Sicherheit vor seiner nach Wärme suchenden Hand.
Demut. Dieses Wort aus seinem Mund. Ich schüttelte den Kopf. Erik war mir ein Rätsel. Mit jedem Tag, den wir in dieser unruhigen Stadt verbrachten, schien er sich nicht nur körperlich weiter von mir zu entfernen. Wohin wanderten seine Gedanken, wenn er auf das Wasser blickte, was machten sie für Bocksprünge, wenn er an Schiffen vorbeiging, die Platz für uns hätten, ohne sie zu betreten?
Hermann hatte mir erzählt, dass Erik scheinbar ziellos in der Stadt herumstreifte. Fast vier Wochen waren wir nun schon in Schleswig, und er verlor kein Wort über unsere Abreise. Jetzt, wo der Herbst mit seinen Stürmen vor der Tür stand, wurde es doch immer schwieriger, ein Schiff zu finden, das groß genug war, um Pferde und Gepäck aufzunehmen, und auch die weite Fahrt in den Norden würde sich immer riskanter gestalten. Ich begriff es einfach nicht. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo wir allein waren, gelang es mir nicht, hinter seine Pläne zu kommen, und ich begann mich zu sorgen, dass ich mein Kind in dieser entsetzlichen Absteige zur Welt bringen müsste.
»Mach dir keine Sorgen, meyja, alles wird gut werden.« Und während ich mich beim Versuch, der versteckten Trauer in seinen Augen auf den Grund zu gehen, in ihrem Blau verlor, wünschte ich mir, die Quelle seiner Zuversicht entdecken zu können. Wieder biss mich eine Wanze ins Bein. Wo schlief er heute Nacht? Nachdenklich kratzte ich an der Bissstelle herum. Eine Erkältung, die ich mir bei einem Spaziergang geholt hatte, zwang mich nun schon seit einer Woche, dieses stinkende Bett zu hüten. Hermann hantierte mit Kräuteraufgüssen gegen Fieber und Schnupfen, legte heiße Umschläge gegen das Gliederreißen an, getreu das Wissen seines Meisters anwendend… Naphtali. Ich biss mir auf die Handknöchel und verbot mir, weiter an ihn zu denken, aus Angst, die Beherrschung zu verlieren. Auch Erik vermied es, seinen Namen zu erwähnen, doch wenn er seine Nägel über das Ledersäckchen voller Goldstücke zog, das der Jude ihm als Mitgift anvertraut hatte, dann wusste ich, wie sehr ihn die Erinnerung quälte.
Ich stieß mit dem Fuß gegen eine irdene Schale. Hermann hatte sie mir am Abend gebracht. »Herrin, Ihr müsst essen. Vom Hungern werdet Ihr nicht gesund.«
»Wo ist Erik? Hast du ihn gesehen?«
»Nein, Herrin, er ging am Mittag fort, ohne zu sagen, wohin. Wahrscheinlich schaut er wieder das Wasser an…« Und der kleine Diener hatte mir mitleidig zugeblinzelt. Ihm war bei dem Gedanken, in einer hölzernen Nussschale auf den Wellen zu tanzen, ebenso unwohl wie mir. Wir gaukelten uns gegenseitig frohen Mut vor, wohl wissend, dass Erik uns auch gewaltsam aufs Schiff bringen würde.
Nach drei Löffeln der widerlichen Fischpampe war Hermann gegangen, voller Freude, doch noch meinen Appetit geweckt zu haben, und ich war über meinen Überlegungen eingeschlafen, was ich mit dem Rest anstellen sollte. Es gibt nichts Ekelhafteres als zerkochten Seefisch.
Der Lärm im Haupthaus, wo Händler und Seefahrer beim Bier ihre Geschäfte abwickelten, hatte etwas nachgelassen. Ich hörte, wie sie einander zuprosteten und laut über ihre Zoten lachten, hörte Mädchen quietschen und Männer lallen. Manches von dem Sprachsalat verstand ich sogar, hatte Erik unsere lange Reise doch genutzt, Hermann und mir seine Muttersprache, die lingua danica, beizubringen. Meine Versuche, mich verständlich zu machen, waren zwar armselig geblieben, und Erik, dem keine Sprache fremd zu sein schien, grinste oft genug amüsiert. Trotzdem versuchte ich, jedem noch so dummen Gespräch heimlich zu folgen, belauschte Seemannsgarn, Kaufverhandlungen und Ehestreitigkeiten, Klatsch und Tratsch in den Gassen und das Gejammere von Bettlern, um mein Gehör für die seltsame Sprache zu schärfen. Und hier in Schleswig wimmelte es nur so von Nordleuten, großen, bärtigen Mannsbildern mit dröhnenden Stimmen, die, in dicke Pelze gehüllt, scheinbar mühelos über die Planken ihrer elegant geformten Schiffe liefen. Sie hatten viel zu erzählen, und sie waren so ganz anders als die Männer, die ich von zu Hause kannte. Kraftstrotzend und energiegeladen, mitunter von abstoßender Hässlichkeit und oft genug schmutzstarrend nach der langen Seefahrt, verlangten sie beim Erzählen Bierkrug um Bierkrug, und wenn ihr Begehr nicht schnell genug erfüllt wurde, schlugen sie auch schon mal um sich. Erik hatte schnell eingesehen, dass ich in einer Stadt, in der es kaum Frauen gab, in meiner Unterkunft besser aufgehoben war. Trotz der Tatsache, dass ich hochschwanger war, hatten die Blicke so mancher Männer keinen Zweifel an ihren Wünschen gelassen.
»He, du hast mir auf die Füße gepinkelt! Da vorne ist das Loch, bist du blind?«
»Man sieht ja die Hand vor Augen nicht, beim Thor.« Ich fuhr hoch. Erik.
»Hier gab es doch immer einen Balken, wo man… aaah, hier ist er.« Der Balken über der Latrine knarrte unter dem Gewicht eines Mannes.
»Du hast Recht – der Fischfraß hat nichts Besseres verdient, als in diesem Loch zu landen.« Seine Stimme klang so verändert. Und wieder knarrte der Balken. »Den ganzen Abend schon hätte ich davon kotzen mögen…«
»Hier kannst du das in aller Ruhe tun, mein Freund.«
»Wohlan. Wo ist der Krug? Gib mir meinen Krug!« Er hatte getrunken. Ich stahl mich an den Schlafenden vorbei zum Fenster. Draußen rauschte der Regen und setzte langsam die Stadt unter Wasser. Die beiden Gestalten auf dem Balken unter meinem Fenster hatten eine Laterne zwischen sich gestellt, und als einer von ihnen sein Gesicht den Regentropfen darbot, erkannte ich Eriks hagere Züge.
»Ooooh«, seufzte der andere, »jetzt geht’s mir besser, verflucht…«
»Auf dein Wohl, Gisli, und darauf, dass ich dich gefunden habe.«
»Auf dich, mein Junge. Seit wann tändelst du hier mit Weibern herum? Man schwängert doch keine –«
»Hüte deine verdammte Zunge, Mann!« Es platschte, und der Unbekannte fand sich neben der Latrine im Matsch, von Eriks Faust dorthin befördert. »Sie ist keine Dirne, beim Thor, wie kannst du es wagen, wie –«
»Hehehe, komm zu dir!« Unbeholfen rappelte sich der andere hoch und fand sich einer blitzenden Messerklinge gegenüber. »Erik, verdammt!«
»Sie ist keine Dirne, verstehst du?«
»Keine Dirne, gut. Erzähl mir von ihr.« Ich sah, wie das Messer langsam verschwand. Beide hockten sich wieder auf den Balken, der ächzend protestierte. Eine Windbö trug frischen Latrinengestank zu meinem Fenster, und fast wäre ich vor ihm geflohen.
»Ooh, beim Thor, ist mir schlecht…«, stöhnte Erik vor sich hin.
»Aber nicht nur vom Fisch, nicht wahr? Ich seh’s dir an, obwohl ich dich so lange nicht gesehen habe. Hier, trink. Und dann erzähl mir von dieser Frau.« Die Bierkannen klapperten. Ich kauerte mich vorsichtig neben die Luke, bemüht, den Reisenden, der sich dort zur Ruhe gebettet hatte, nicht zu wecken. Die anderen Gäste ahnten nicht, dass sie den Raum mit einer Frau teilten, denn als sie sich zum Schlafen niederließen, hatte ich mich tief in meine Decken vergraben.
»Erzähl mir, wo du sie herhast. Der Pelz, den sie trug, muss ein Vermögen wert sein. Welchem Fürsten hast du sie geraubt?«
»Keinem Fürsten«, brummte Erik und stellte den Krug auf den Balken. Das Herz wurde mir schwer, als ich ihn seufzen hörte.
»Gisli – ich habe einen Fehler gemacht. Odin sei mir gnädig, ich kann weder vor noch zurück. Verstehst du mich?«
»Nein, mein Freund. Aber ich versuch’s. Was hat sie dir getan?«
»Was sie mir getan hat – o Gisli, alles, alles hat sie, sie ist alles, alles – ihr Götter…«
»Du bist betrunken«, stellte Gisli mit schwerer Zunge fest. Vorsichtig wagte ich wieder einen Blick aus dem Fenster. Die beiden hingen vornübergebeugt auf dem Balken, zwei blanke Hinterteile schimmerten im Laternenlicht, während der Regen auf sie niederprasselte. »Gisli, Alienor ist nicht das, was sich meine Familie unter einer guten Heirat für mich vorstellt, verstehst du?« Ich griff mir an den Hals.
»Keine gute Heirat?«
»Nein. Kein Name, kein Geschlecht, kein Vermögen, nichts. Ihr Vater war ein Niemand, ein kleiner Graf in der Wildnis Lothringens.« Das Herz schlug mir bis zum Hals – Vater ein Niemand, was bildete er sich ein?
»Hat sie wenigstens eine Mitgift?«
»Ja und nein.«
»Hä?«
»Sie war einem anderen anverlobt.«
Gisli pfiff durch die Zähne. »Du hast eine Braut geraubt?«
»Entehrt, Gisli. Ich habe sie entehrt, und sie ging mit mir, weil sie nicht anders konnte…«
»Und du musstest sie gleich mitnehmen? Also, wenn ich alle Frauen mitgeschleppt hätte, die ich dick gemacht habe, hätte ich daheim einen Harem wie der Kalif von Bagdad!« Er rülpste laut und kicherte. Wie erschlagen lehnte ich am Fenster. Ich war der Grund für Eriks Zögern, für seine Schwermut – ich! Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte meine Sachen gepackt, fort aus dieser kalten Stadt, fort aus seinem Leben… Nur mühsam konnte ich den Impuls unterdrücken.
Das Kind war wach geworden und trommelte mit den Füßen gegen meine Bauchdecke, als wollte es gegen das dumme Gerede da draußen protestieren. Neben mir raschelte ein Umhang. Kurz sah ich zwei Augen aufblinken, als der Besitzer sich umdrehte. Eine Tonsur schimmerte im spärlichen Licht.
»Ach lass mich doch in Ruhe, verfluchter Hurensohn, was weißt du schon …«
»Erik, du musst mir die Geschichte von Anfang an erzählen.« Gislis Stimme hatte sich verändert, sie klang so weich, dass es mir Tränen in die Augen trieb. »Wir haben alle Zeit der Welt, mein Freund.«
Leise und stockend begann Erik zu berichten, wie es ihn, den Sohn des alten Schwedenkönigs, nach den Jahren am Hof Wilhelms von der Normandie ins Rheinland verschlagen und wie übel das Schicksal ihm dort mitgespielt hatte. Er erzählte von den Tagen der Sklaverei in meines Vaters Burg, von den Qualen der Unfreiheit und der körperlichen Pein, durch die er seine Ehre und damit allen Lebensmut verloren hatte. Bei der Erinnerung überwältigte mich die alte Schuld. Tränen versengten mir die Wangen und flossen zusammen mit dem Regen in mein Haar.
»Zeig es mir. Zeig mir, was er getan hat.« Für einen Moment verschluckte der Regen alle Geräusche, begrub sie mit Wasser, damit kein Mensch erahnte, was das hochgeschobene Hemd preisgab – einen rosig vernarbten Doppeladler, das Wappen meines Vaters, einst von glühend heißem Eisen in Eriks Brust gefressen, um die Unterwerfung lebenslänglich zu besiegeln. Ein Bierkrug fiel in den Matsch, das Platschen zerriss die Stille.
»Beim Hammer des Thor«, murmelte Gisli. »Einen Yngling so zu demütigen – du hast ihm hoffentlich den Schädel gespalten.« Regentropfen plapperten dadadamm, dadadamm gegen die Hauswand, plauderten geschwätzig von ungesühnten Verbrechen.
»Ich habe ihn nicht getötet.«
Dadadamm, dadadamm, eine offene Rechnung, lebenslänglich.
»Du… du hast ihn nicht getötet?«
»Nein.«
Aus Regentropfen wurden Fragen, die wie Fallbeile vom Himmel sausten. Eine Wehe kam heran, nahm mich in die Zange und raubte mir die Luft.
»Du… du hattest das Recht, ihn zu töten. Jedes Thing der Welt hätte dir das zugestanden.«
»Und jeder Mann hätte sein Recht wahrgenommen…« Ein Würgen, dann erbrach sich einer von beiden.
»Kotz doch nicht in meinem Bierkrug, Erik.«
»Ich bring ihn um, diesen Wirt…«
»Dafür, dass er seinen Gästen mehr Bier verkauft, als sie vertragen?« Eriks Freund schnaubte leise.
»Hier nimm das Tuch. Und dann erklär mir endlich, warum du den Alten nicht zur Hölle geschickt hast.«
»Ich bin noch mal zur Burg zurückgekehrt –«
»Du wolltest ihn töten.«
»Ich wollte Alienor holen. Ich… wochenlang hab ich versucht, sie zu vergessen, Gisli – ich konnte nicht ohne sie sein.«
»Wusstest du, dass sie schwanger war?«
»Nein.«
»Und jetzt hängt sie dir das Kind an oder wie?«
»Das hat nichts damit zu tun, verdammt. Ich ertrug es nicht, dass ein anderer sie bekommen sollte! Aber unsere Flucht wurde zu früh entdeckt, und dann kam es zum Kampf.«
»Und du hast den Alten nicht getötet? Hast du das Kämpfen verlernt, Erik Emundsson?«
»Glaubst du im Ernst, dass sie mitgekommen wäre, wenn ich ihn getötet hätte?«
Der Regen verebbte langsam, so wie die Wehe, die ging und nicht wiederkam. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
»Sein Tod hätte nichts gelöst, Gisli. Niemand kann mir meine Ehre wiedergeben, und das Leben dieses Grafen wiegt sie lange nicht auf. Hätte ich ihn trotzdem getötet, die Schmach wäre immer noch da gewesen, dazu hätte ich sie, Alienor, verloren … Beim Thor, ich hasse ihn wie noch keinen Menschen zuvor, das kannst du mir glauben! Allein der Hass hat mich dort am Leben erhalten und das Warten auf den Tag, an dem ich mit ihm abrechne!« Der Regen trommelte Beifall. »Bis sie zu mir kam, Gisli, mitten im Krieg, ihre Hand auf mein Gesicht legte und alles veränderte. Ihr verdanke ich mein Leben – wie kann ich da zum Richter ihres Vaters werden? Verflucht hätte sie mich, noch mehr, als ich ohnehin schon bin!« Ein Geldbeutel klimperte, als der Besitzer sich die Hose hochzog.
»Zeig mir die Frau, die dich so verändert hat, Erik Emundsson. Ich muss sie kennen lernen.«
»Sie ist das Liebste, das ich habe auf der Welt.« Auch der zweite zog seine Hose hoch und schob den Latrinendeckel über das Loch.
»Es war ein Fehler, dich an Wilhelms Hof zu schicken, Erik Emundsson. Sie hätten dich in Kiew erziehen lassen sollen, statt dich den römischen Christen zum Fraß vorzuwerfen. Stenkil wird nicht gefallen, was er zu sehen bekommt.« Der Balken knarrte erneut, als sich beide dagegenlehnten, ohne sich vom Geruch in der Ecke stören zu lassen. Mich störte er schon lange nicht mehr, ich hing am Fenster, wie betäubt von dem, was ich gehört hatte.
»Was soll ich nur tun, Gisli? Ich habe zu lange unter diesen Christen gelebt, die besten Jahre meines Lebens! Ich weiß, wie sie denken, was sie fühlen – ich bin ja fast einer von ihnen! Und nun sind da so viele Lügen und Narben –«
»Bist du Christ geworden?«, fragte Gisli. Ich hörte Erik schnaufen, wie immer, wenn er erregt war. Und dann hörte ich, was er sagte, und der Regen verstummte endgültig.
»Ja, was denkst du, ich musste mich taufen lassen, sonst hätte man mich doch nie an Wilhelms Hof aufgenommen!«
Die Arme fielen mir herab – getauft!
Erik war Christ, und er hatte mich in dem Glauben gelassen, er sei Heide! Alles gelogen. Alles umsonst, die Angst, die Qualen meiner Seele, dass Gott mich für die Liebe zu einem Ungläubigen bestrafen würde – sogar die endlosen Bußpsalmen, bei denen ich mir seinetwegen die Knie wund gescheuert hatte, waren umsonst gewesen, denn er hatte die Klosterkirche nicht entweiht, keine von den Kirchen, in denen er stumm neben mir gesessen hatte… Ich atmete tief ein, um den Schwindel zu bekämpfen, der sich meiner bemächtigen wollte.
»Weißt du, viele in den Nordlanden sind in den letzten Jahren Christen geworden, und die Königin will sogar ein eigenes Gotteshaus bauen. Für uns Kaufleute macht es vieles einfacher – wenn du Christ bist, erkennen sie dich hier als gleichwertigen Händler an. Also habe ich mir auch ein weißes Hemd angezogen und bin ins Wasser gegangen. Was soll’s, deine Mutter immerhin wird sich freuen.«
»Beim Thor, jemand hat mir Wasser über den Kopf geschüttet und dazu ein paar Sprüche gemurmelt. Stell dir vor, ich wäre zurückgekehrt, ohne das hohe Waffenhandwerk gelernt zu haben!«
»Und nun kommst du mit Ritterschlag und einer ganzen Familie zurück.« Der zweite Bierkrug war leer und flog in eine Pfütze. »Das Bier schmeckt wirklich wie Pisse…«
»Die Christen sagen, dass man nur einen einzigen Gott anbeten kann. In Caen habe ich zu den Göttern gebetet, um stark zu bleiben, jeden Tag, und es gab mir Kraft. Doch dann war da an Wilhelms Hof ein Mönch, ein Chronist, der oft mit mir sprach. Er war neugierig, und er war der Einzige, der mich nicht wie einen Wilden behandelte. Er wollte alles von den Göttern hören, und dann erzählte er mir Geschichten vom Weißen Krist, über seine Geburt und wie er gestorben ist. Wir haben zusammen in seinem Buch studiert…«
Es wäre so einfach gewesen, zu meinem Lager zurückzugehen und mich schlafen zu legen – im Morgengrauen wäre vielleicht alles nur ein böser Traum gewesen… Doch ich war tot, gestorben an einer Lüge, die jemand im Regen erwähnt hatte.
»Und trotzdem hast du weiter zu Thor und Odin gebetet?
Haben sie dich dafür nicht verprügelt?« Gisli lachte leise.
»Dem Weißen Krist war es doch egal. Und allen anderen Göttern auch. Wie sie auch heißen – Allah, Jahwe, Odin –, am Ende sind sie so wie wir und haben vom Saufen einen Kater und die Scheißerei von zu altem Fisch. Muss man sich da für einen Gott entscheiden, wenn sie alle gleich sind und dir nicht zu Hilfe kommen, wenn du sie brauchst? Aber sie haben mir fünf Jahre lang vom Weißen Krist erzählt und dass er Töten verdammt – irgendwann glaubst du es selber, dass Töten schlecht ist –«
»Schlecht – so ein dummes Zeug! Und was ist mit der Gerechtigkeit? Sollen wir uns vielleicht alles gefallen lassen? Die Götter helfen uns nicht, da muss man sich selber helfen. Oder willst du einfach nur zusehen, wie dein Nachbar deinen Knecht erschlägt, dir die Kuh raubt –«
»Oder ihr Vater mir die Ehre? Da sind wir wieder bei Alienor angelangt, Gisli. Vor fünf Jahren hätte ich ihn erschlagen, noch bevor er Gelegenheit gehabt hätte, mich zu demütigen.«
»Wiegt sie etwa deine Ehre auf, Erik? Tut sie das?«
Gislis Stimme zitterte leicht, als er diese Frage stellte. Und der Wind trug die Antwort hoch zu meinem Fenster, leise, aber fest.
»Ja. Das tut sie.«
Die Schankraumtür quietschte. Ein bezechter Gast kam herausgestolpert auf der Suche nach der Latrine. Der Deckel polterte herunter. Ich verbarg mein verheultes Gesicht vor den Geräuschen und dem Gestank, die in die Kammer drangen, und bohrte mir die Fingernägel in die Wangen. Der da unten rülpste laut, als er fertig war, und schlurfte ins Haus zurück. Jemand legte den Deckel wieder auf das Loch.
»Sie werden sehr überrascht sein, wenn sie dich sehen«, stellte Gisli irgendwann fest und hockte sich wieder auf den Balken.
»Überrascht, ja!«, stieß Erik hervor. Ich hörte, wie er durch die Pfützen stapfte. »Da schicken sie ein Kind weg und wundern sich, wenn ein Mann zurückkehrt! Es war hartes Brot am Normannenhof, das kann ich dir sagen! Sie halten sich für die Krone der Schöpfung, diese Normannen, und sie fluchen auf die Barbaren, von denen sie doch alle abstammen. Aber ich habe mich durchgebissen, Gisli, aus eigener Kraft, ich habe es geschafft, ich bin Ritter des Herzogs der Normandie – ich habe an seiner Seite gekämpft, habe seinen Rücken mit meinem Leib geschützt, ich habe sein ganzes Wohlwollen! Ich habe gelernt, Entscheidungen für mich zu treffen, und ich will, verflucht noch mal, keine Angst haben müssen, nach Hause zu kommen, nur weil ich mir ein Weib genommen habe, das mir gefällt.«
Gisli ließ die Beine baumeln und klopfte die Schuhsohlen gegeneinander. »Und Svanhild?«
Erik blieb stehen. Jemand spuckte ausgiebig in eine Pfütze.
»Svanhild.« Eins der Schweine grunzte im Schlaf. Der Mönch neben mir bewegte sich wieder, und ich sah, dass seine Augen weit geöffnet waren. Erik schnaubte. »Svanhild. Was soll mit ihr sein?«
»Geir Thordsson wird nicht gerade erbaut davon sein, dass du seine Tochter sitzen lässt.«
»Sitzen lassen! Ich hätte tot sein können nach all den Jahren!«
»Bist du aber nicht. Und Svanhild ist außer dir noch keinem versprochen, obwohl Thorleifs Sohn sein Interesse immer wieder angemeldet hat. Geir blieb standhaft, er ist fest davon überzeugt, dass du heimkehren wirst.« Etwas flog mit lautem Krachen gegen die Hauswand. Die Erschütterung fuhr durch meinen zu Stein gewordenen Körper. Wie viel Wahrheit kann ein Mensch ertragen?
»Du wirst Geir Thordsson Entschädigung leisten müssen, wenn du diese Fränkin als deine Frau nach Uppsala bringen willst. Und was willst du machen, wenn er die Heirat trotzdem einfordert?« Wieder flog ein Stein gegen die Wand.
»Verstehst du jetzt zum Henker endlich, was mich quält? Verflucht sei der Tag, an dem ich durch Lothringen ritt und in die Hände dieses Wahnsinnigen fiel! Seither ist alles… verkehrt, schlecht – der Weg, den ich gehen musste, die Frau, die ich mehr als alles auf der Welt liebe, das Kind, das ich gezeugt habe – alles schlecht, wenn ich nach Hause gehe! Wer soll das aushalten, beim Thor! Ich bin vor Heimweh fast gestorben, und jetzt kann ich nur daran denken, was sie sagen werden, wenn sie hören –«
»Erik«, unterbrach Gisli ihn. »Niemand wird etwas hören.
Du willst diese Frau mitnehmen?«
»Ich gab ihr mein Wort. Sie hat mir das Leben gerettet und dabei alles verloren, was ein Mensch verlieren kann, Gisli, sie ist es wert, dass man Wort hält.«
»Zeig sie mir, Erik.«
Als niemand mehr etwas sagte, begriff ich, dass sie, betrunken, wie sie waren, im Begriff schienen, mein Lager aufzusuchen, und mühsam rappelte ich mich auf, um meinen zugigen Platz zu verlassen. Ich hatte mich gerade neben dem Gast, der inzwischen meinen halben Strohsack okkupiert hatte, in die Decken gewickelt, als sich die Tür öffnete.
»Was tut dieser Kerl im Bett meiner Frau?« Erik hastete herbei.
»Was lässt du dein Weib auch mit lauter Kerlen in einem Raum?« Kaum gelang es Gisli, den Flüsterton zu halten. »Bist du von Sinnen, wie –«
»Schsch. Sie wissen es doch gar nicht.« Die Schritte kamen näher, nach all dem Alkohol erstaunlich vorsichtig, und schließlich schaukelte eine Laterne über mir. »Bitte weck sie nicht.« Bierdunst hüllte mich ein, als einer der Männer neben mir niederkniete.
»Du meinst, er weiß nicht, dass er neben einer schönen Frau schläft? O Yngling, wenn sie meine wäre –«
»Ist sie aber nicht, Kaufmann.«
»Hm. Aus gutem Hause kommt sie wohl…«
»Ihre Mutter war eine Montgomery.«
»Schau an, schau an, das ist doch gar nicht so schlecht. Diese Frau muss ein Löwenherz haben, wenn sie dir bis hierher gefolgt ist – es stinkt bestialisch, verflucht!« Er ging an ein paar murrenden Schläfern vorbei und trat ans Fenster. »Beim Thor, wo hast du diese Blume einquartiert, Erik Emundsson, gleich über dem Scheißhaus…«
Stille. Langsam kam er zurück und kniete wieder neben mir nieder. Und als ich dachte, ich könnte keinen Moment länger still liegen, zog er eine zerdrückte Locke lang und fing dann behutsam eine Träne ein, die sich von der Wimper gelöst hatte und verloren über meine Wange rollte.
Und ich wusste, dass Gisli Svensson wusste, dass ich wach war, dass ich bei ihnen gesessen hatte und dass meine Welt in Trümmern lag.
Eine Träne folgte der ersten, und noch eine, und Gislis Hand fing sie alle ein, ohne dass Erik es sah. Dann schaute er auf.
»Niemand außer uns weiß von diesem Gespräch, Erik Emundsson. Und so soll es auch bleiben, für alle Zeit, das schwöre ich dir. Und diese schöne greifinna werden wir in die Halle deiner Mutter bringen, mit allen Ehren, wie es sich gehört, und ich will der Ziehvater eures Sohnes sein. Nur Mut, mein Junge.« Und dann strich er mir sacht über die Wange und ließ seine Hand wie ein Versprechen kurz auf meiner Schulter ruhen.
Irgendwann in dieser Nacht kehrte Erik an mein Lager zurück. Ich lag immer noch wach, steif vor Schmerz, und lauschte seinen vorsichtigen Schritten. Er gürtete sein Schwert ab, von dem er sich niemals trennte, und legte es neben den Strohsack. Dann schob er meinen Bettgenossen behutsam von mir weg, um sich in die entstandene Lücke zu kauern. Leicht wie eine Feder lag seine Hand auf meinem Arm, wie um mich zu halten, zu behüten vor dem Volk, das mit uns die Kammer teilte. Seine Augen waren hellwach, nichts konnte der Schlaf ihnen anhaben. Und in dem Bewusstsein, für dieses Mal vor allen bösen Mächten und Gedanken beschützt zu sein, schlief ich ein und ließ die Lügen hinter mir.
»Herrin, schaut her! Wacht auf und schaut, was ich habe.« Hermanns Stimme, die zumeist ergatterte Leckereien ankündigte, erklang neben mir. Leckereien, in dieser Stadt? Ich bohrte das Gesicht in mein Fell.
»Wollt Ihr nicht wenigstens anschauen, was ich für Euch habe?«, schmeichelte die Stimme. Und wirklich, der Duft von frischer, heißer Milch zog mir in die Nase, von Eierkuchen mit Süßem…
»Wo hast du das her?« Ein Blick genügte. Erik war fort, nichts deutete auf seine nächtliche Anwesenheit hin, rein gar nichts auf das Treffen, das ich belauscht hatte – hatte ich es geträumt? Nein, ich wusste es noch. Erik war Christ, und daheim wartete eine Frau auf ihn. Vor mir stand ein Tablett mit Schalen aus Alabaster, gefüllt mit allem, was ich liebte und so lange entbehren musste – und kein Fisch! Stattdessen eine Frucht, die ich nicht kannte, die aber einen betörenden Duft verströmte, und eine Karaffe blutroten Weines.
»Wo hast du das her, Hermann?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Von jemandem, der Euch wohl will. Lasst es Euch schmecken, Herrin.«
Jemand, der mir wohl wollte. Eine weiche Stimme, kräftige Finger, aber zart wie Seide in meinem Gesicht – Gisli Svensson, der in einer Nacht aus mir eine Gräfin gemacht hatte und der Pate meines Sohnes werden wollte. »Wo ist der Herr?«
»Er hat ein Schiff gefunden und macht letzte Besorgungen für die Reise. Ich fürchte, es geht bald los, Herrin.« Beide dachten wir an die gefräßigen Wellen, die ein Schiff verschlingen konnten, und daran, dass das Meer vielleicht doch am Horizont zu Ende war…
Der Eierkuchen war süß und so weich, dass er mir über die Finger lief, genau wie ich es liebte. Hermann polsterte mir den Rücken aus und schob das Tablett näher.
»Wenn dieser Dachboden heute nicht geräumt worden wäre, hättet Ihr in die Unterkunft Eures edlen Spenders ziehen dürfen. Das hat er verfügt, als die Speisen gebracht wurden. Ihr kennt ihn wohl nicht?« Ich folgte seinen hungrigen Augen und schob ihm einen Teil meines Eierkuchens hin.
Dankbar stürzte sich der kleine Diener auf die unerwartete Gabe und vergaß darüber, dass ich ihm die Antwort schuldig blieb. Den restlichen Morgen verbrachte ich mit meinem Äußeren, kämmte das Haar, das doch niemand sah, kratzte in den Zähnen und massierte den Bauch, der nach der durchwachten Nacht wieder zuckte und tobte. Bald, dachte ich, bald, kleiner Mann, kann ich dich auf meinem Arm in den Schlaf wiegen. Bald. Aber noch nicht. Lass uns erst über das Wasser gehen, in das Land, wo Gisli Svensson auf uns Acht geben wird, ein Land, wo es morgens heiße Milch gibt und wo es nirgends nach Latrine und ungewaschenen Männern stinkt…
Aber erst das Wasser.
Der Gedanke trieb mich endgültig von der Matratze. Hermann hatte sich zu den Pferden aufgemacht, und Erik blieb verschwunden. Ich überlegte, dass ich nicht stark genug war, um ihn zu sehen, ihn also auch nicht suchen sollte. Und so schlüpfte ich in meinen Zobelpelz aus Köln, zog die Kapuze hoch und stand bald darauf auf einem der Bohlenwege Schleswigs. Es roch nach frischem Holz und Werg, und gleichmäßiges Hämmern verriet, dass bald wieder ein Haus fertig gestellt sein würde. An beinahe jeder Ecke wurde hier gebaut, und täglich kamen Menschen an, die in dieser neuen, aufstrebenden Handelsstadt leben und arbeiten wollten.
Um mich herum wuselte der gleiche Verkehr wie in allen Städten, in denen ich gewesen war – Holzkarren mit Ochsengespannen, turmhoch mit Holz beladen, Pferdekarren, auf denen Fässer gegeneinander rumpelten, schreiende Fuhrleute, Peitschengeknalle, fluchende Händler, die mich anrempelten und kein Wort der Entschuldigung fanden. Fischhändlerinnen priesen mit kehlig-schriller Stimme ihre Ware an, Fische in allen Größen und Farben, Fische, die zum Himmel stanken, mit groben Köpfen und Zähnen, die ihnen wie aufgepflanzte Spieße aus den Mäulern herausragten, die Augen gebrochen, blicklos. Katzen strichen um die Tische herum, balancierten hungrig maunzend auf den Hinterbeinen in der Hoffnung, ein toter Fisch würde ihnen ins Maul wehen, und als tatsächlich ein Fischkopf zu Boden fiel, abgetrennt durch den Beilhieb der Händlerin, waren die, die am Boden gekauert und auf Beute gewartet hatten, schnell zur Stelle. Wie Ratten stoben sie heran, geduckt, die Schwänze wie von unsichtbaren Fäden waagrecht gehalten. Zwei schlugen bösartig fauchend mit den Pfoten aufeinander ein, schnelle, gemeine Schläge auf Augen und Nase – während eine dritte Katze die Beute wegschleppte.
Neben dem größten Fisch türmte sich ein Berg Muscheln, die im fahlen Licht grünlich-feucht schimmerten. Wenn die Fischfrau die Hände in den Berg stieß, klapperten die Muschelschalen wie Goldstücke, trotzdem wollte niemand davon kaufen.
Am Tischende versuchte ein kleiner Junge, einem hellroten Krebstier die Zange auszureißen.
Zwei andere Knaben drückten sich gegen die Hauswand, nahmen die Mutprobe kichernd und flüsternd in Augenschein. Der Junge riss und zerrte, doch so billig wollte der Krebs seinen Arm nicht verkaufen. Das erregte die Aufmerksamkeit der Katzen. Sie ließen ab von der Händlerin und scharten sich um die zerlumpten Hosenbeine – eine barmherzige Seele, die gleich Almosen verteilen würde. Als es zu lange dauerte, fing die erste an, ungeduldig zu schreien, was wiederum die Fischfrau auf den Plan rief. Ihr Kopf fuhr herum, Tücher und Bänder schwirrten wie Flügel, sie schwang ihr Beil durch die Luft, Rächerin des armen Krebses, dessen Zange traurig über den Tischrand baumelte, und keifend und kreischend jagte sie Kinder und Katzen zum Teufel. Das Letzte, was ich sah, war ein Fischschwanz, der zwischen den Lumpen eines Bettlers verschwand. Eine Straße weiter hatten ausländische Kaufleute die Tür ihres Vorratshauses aufgezogen und luden Handelsgüter von einem Karren ab. Unter braunem Leinen leuchtete zitronengelbe Seide hervor, die wie ein Schmetterling über die Schulter des Händlers flatterte. Ein anderer prüfte gerade den Inhalt einer Schatulle, grub seine Finger in einen Haufen von silbernen Knöpfen, als er meinen Blick bemerkte. Er hielt mir die Schatulle hin, überschüttete mich mit einem Schwall fremder Laute und zog einladend die Planen von den Stoffballen. Mit den Händen fuhr ich an den Ballen entlang, ertastete erstklassige Ware, flandrische Webkunst, weich wie Samt, und der Duft von Färbemitteln und Lavendel stieg mir in die Nase.
Der Kaufmann suchte ein Tuch aus dem Durcheinander heraus und drapierte es mir um die Schultern. Mit Vögeln bestickte Seide fiel über meinen Busen, kostspielig wie eine ganze Mitgift, doch als ich bedauernd die Schultern hob, lachte er nur freundlich und nahm die Kostbarkeit wieder an sich.
Vor den Häusern saßen Kleinkinder zwischen Pfützen und Furchen, aßen Unrat und schmierten sich Matsch in die Haare, ohne dass es jemanden kümmerte – die wenigen Frauen, die ich zu Gesicht bekam, waren krumm von harter Arbeit und bleich vom schlechten Essen. Manche trugen Säuglinge auf dem Rücken, wenn sie aus den trutzig wirkenden Häusern auf den Bohlenweg traten, den Schweinen Küchenabfälle hinwarfen oder einen Stapel Holz auf die Arme luden. Ihre Gesichter waren unbewegt, wie der ewig graue Himmel über uns, der ihnen auferlegte, hier zu leben, der ihnen die Männer nahm und sie auf den Grund der See sinken ließ – ein Himmel, dem Gott sehr fern zu sein schien.
Keins der Gebäude, an denen ich vorbeigegangen war, hatte wie eine Kirche ausgesehen. Hatte Gott überhaupt den Weg bis hierher gefunden, oder waren diese Menschen alles Heiden? Von Gott verlassene und vergessene Menschen….
Eine Gerberin entleerte ihren Laugenbottich auf die Bohlen. Im letzten Moment konnte ich mich vor der beißenden Flüssigkeit in Sicherheit bringen. Unsere Blicke trafen sich – erschrocken, dann erleichtert. Sie kniff die Augen zusammen, tat einen Schritt auf mich zu. Grobe, blaurote Finger mit abgesplitterten Nägeln befühlten vorsichtig meinen Pelz, fuhren unter das Haarkleid, um die Qualität der Tierhaut zu ertasten. Anerkennend nickte die Frau und sagte etwas mit stark rollender Zunge. Ihre Arme waren tiefrot und übersät mit schwärenden Wunden, deren Ränder von Gerbflüssigkeit verfärbt waren. Als sie meinen Blick bemerkte, versteckte sie die Arme unter der Schürze und verschwand hinter der Bretterwand ihrer Werkstatt.
Das Haus der Gerberin lag am Wall, der die Stadt schützend umschloss und am Eingang von einem Bewaffneten bewacht wurde. Er würdigte mich keines Blickes, weil mein Weg mich aus der Stadt herausführte, vorbei an einer Schlange Menschen, die mit Handwagen, Fuhrwerken oder bepackten Pferden Einlass begehrten. Ich wandte mein Gesicht dem Wind zu und marschierte ihm entgegen.
Da lag es vor mir, das Wasser. Ein riesiger, grauer Teppich mit unzähligen kleinen Schaumkrönchen, die sich mir, vom steifen Wind getrieben, in raffiniertem Tanz entgegenreckten, eins nach dem anderen. Es roch nicht nach verfaultem Fisch, sondern nach Salz, das tief in die Lunge eindrang und meinen Körper von innen ausfüllte… Nun, da ich das Wasser zum zweiten Mal sah, fand ich es nicht mehr so einschüchternd.
Und du willst uns tragen, dachte ich. Du willst uns und ein ganzes Schiff tragen, du Wasser. Ein Schiff, viele Leute, unsere Pferde und all die Gepäckstücke, die Erik in den letzten Monaten so emsig für mich zusammengestellt hatte. Ich wagte mich einen Schritt näher ans Wasser. Es krabbelte die Böschung hoch, glättete emsig, was in Unordnung war, und hinterließ eine feucht schimmernde Oberfläche, die sich der nächsten Welle erwartungsvoll entgegenwölbte. Und während der Wind an meinen Haaren zerrte, zog ich Stiefel und Strümpfe aus und grub die Füße in die nasse, schwere Erde, deren Kälte mir bis in die Knochen drang, sie biss und stach wie ein wildes Tier, aber ich zwang mich, das auszuhalten. Und die Wellen kamen angetanzt, angriffslustig wie alle ihre Vorgängerinnen, und begruben meine Füße bis zu den Knöcheln, stiegen an den Beinen hoch, über das Schienbein und die Wade und weiter empor, bis sie schließlich aufgaben und erschlafften. Ich sah ihnen zu, sah, wie sie einander abwechselten, wie sie sich gemeinsam stark machten, meine Beine zu erobern, mich am Ende zu sich zu holen. Meine Füße waren im Uferschlick versunken, verschwunden, ich war ein fußloses Wesen, mit dem Schlick verwachsen, würde hier stehen bis in Ewigkeit, bis mein Prinz kam und mich rettete …
Zumindest die Sonne kam, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich schleuderte Pelz und Kapuze ins hohe Gras und schüttelte meine Haare im Wind. Er nahm sie bereitwillig und zauste sie in alle Richtungen, und ich vergaß, wie lange ich sie nicht mehr hatte waschen können. Das kalte Wasser hatte meine Beine gefühllos gemacht. Ich hob die Tunika und schritt den Wellen entgegen.
Du, Wasser, willst mich tragen. Zeig mir erst, dass du mir nichts tust.
Es leckte an meinen Beinen. Mich schauderte unter der eiskalten Berührung, gleichzeitig hätte mich nichts auf der Welt bewegen können, die Kälte zu verlassen. Sie legte sich wie ein Schleier auf das Gemüt, dämpfte die Gedanken, wie es einst die Wunden an meinen Händen getan hatten, an die nur noch Narben erinnerten.
Ein Schiff wurde um die Biegung gerudert. Es ertönte ein Befehl, und wie die Beine eines Tausendfüßlers schwangen sechs – nein, acht Ruder nach vorne und verschwanden im Bootsinneren. Zwei Männer sprangen auf – einer von ihnen warf mir lachend eine Kusshand zu – und bückten sich in der Mitte des Schiffs über etwas, das wie ein dicker Lindwurm aussah. Gespannt beobachtete ich, wie sich der Wurm, am Mast hochgezogen, würdevoll zu einem rot gefärbten Segel entfaltete. Wind fuhr hinein, das Segel begrüßte ihn mit heftigem Rütteln, blähte sich bereitwillig, das Schiff nahm Fahrt auf, um hinter dem Horizont dem Meer zu begegnen. Als es kaum noch zu sehen war, winkte das Segel mir Lebewohl – sieh her, wie einfach es ist! Hab keine Angst!
Sanft schien die Sonne mir ins Gesicht. Das Segel war zu einem roten Punkt geworden und verschwunden. Ich tat noch ein paar Schritte vorwärts. Das Wasser schmeichelte die Schenkel entlang, kitzelte mich spielerisch, während alles, was unter der Wasseroberfläche verschwunden war, nicht mehr zu mir zu gehören schien. Beine – hatte ich einmal Beine gehabt? Füße? Vielleicht war da jetzt ein Nixenschwanz, wenn ich nur mit der Hand danach suchte, vielleicht war ich schon verwandelt, weil mein Prinz nicht gekommen war, vielleicht zog es mich deshalb ins Wasser, tiefer und tiefer, wie damals im See, als ich den Kampf aufgegeben hatte, vielleicht spürte ich deswegen die Kälte nicht, die schon am Bauch angekommen war und die Tunika längst an sich gezogen hatte… Wellen zupften, stupsten, leckten von vorne, von hinten, von den Seiten, spielerisch wie Kätzchen, tippten mich an die Brust – he du –, gegen den Rücken, und trugen meine Arme über das Wasser wie zwei Königinnen in der Sänfte; sie gingen nicht unter, sosehr der Stoff sie auch zog.
Im nächsten Moment wurde ich aus der Umarmung der Wellen gerissen, es spritzte und platschte um mich herum, mein Gesicht wurde nass, Wasser rann mir in den Mund – igitt –, ich spuckte, schlickiges Wasser auf der Zunge, am Gaumen. Erde musste ich schlucken, während es in rasendem Tempo rückwärts auf den Strand zuging.
»Was – was tust du da, bei allen Göttern, was tust du, Alienor – beim Thor, was–«
Ich war keine Nixe. Ich hatte zwei Beine, und als die auf den Wind trafen, wurde mir bewusst, wie mörderisch kalt das Wasser war, durch das Erik mit mir ans Ufer stürmte. Ein paar Schritte noch über nassen Boden, die Böschung hinauf, weg vom Wasser, weit weg, dann knickten ihm die Beine weg, und er sank mit mir zu Boden, keuchend vor Anstrengung und Angst, und seine Arme quetschten mich wie schmiedeeiserne Klammern.
»Au, du tust mir weh!«
Er starrte mich an, sprachlos vor Entsetzen. Ganz langsam ließ er mich los, legte mich ins Gras und stand schwankend auf. Seine Gestalt verdunkelte die Sonne. Als er den Mund öffnete, kamen Fetzen der lingua danica heraus, Bruchstücke von Flüchen, Verwünschungen oder was auch immer, ich verstand kein Wort davon, wollte es auch nicht, er hatte gelogen, mich angelogen – hatte mich aus dem Wasser geholt und mich angelogen, an der Nase herumgeführt.
Als er schließlich schwieg, schimpfte der Wind für ihn weiter, traktierte meine Haut mit peitschenden Gräsern und kalten Bissen. Die Sonne verbarg sich diskret hinter düsteren Wolken, als wollte sie bloß nicht Zeugin dieses Streits werden.
»Willst du denn nicht mit mir gehen, kærra? Viltu leita bana, til ađ leita undan …?« Er kniete neben mir nieder und zog seinen Dolch. »Wenn du mich verlassen willst, Alienor, dann töte mich zuerst. Ich kann nicht leben ohne dich.« Eiskalt berührte der Dolchgriff meine Finger. »Ich will nicht leben ohne dich.«
»Es ist den Christen verboten zu töten, das weißt du doch.« Meine Stimme klang barscher als beabsichtigt. Erik erstarrte. Der Dolch verschwand.
»Sich selbst zu töten ist ihnen noch viel mehr verboten, wenn sie nicht ewige Verdammnis riskieren wollen«, sagte er eisig. Dann stand er auf und warf das Messer in den Sand. »Verzeih, dass ich dich dabei gestört habe.« Ich rollte herum und bohrte die Nase zwischen die Grashalme. Die feuchte Erde schmatzte neben mir. Er ging fort.
In mir wuchs eine Leere heran, breitete sich aus wie eine böse Krankheit, von der Brust zu den Armen und den Beinen. Ich wollte weinen, hatte aber keine Tränen. Wo waren die Wellen, die mich davongetragen hatten, als wäre ich die Königin von Saba, wo die Sonne, die mich eben so liebevoll gewärmt hatte?
»Wenn du so liegen bleibst, holst du dir endgültig den Tod.« Erik zog mich auf den Rücken, wo der Pelz schon unter mir lag. Er hatte Hemd und Tunika ausgezogen und versuchte mich von den nassen Kleidern zu befreien, die hartnäckig an meiner Haut klebten. Als eine Windbö auf die nasse Haut traf, fuhr ich zähneklappernd zusammen. Die Leere verschwand.
»Zieh das an, kærra. Deine Lippen sind ganz blau …«
Kaum konnte ich seine Berührungen ertragen, die Art, wie er mir seine Sachen über den Kopf stülpte, im Rücken herunterzog, den Gürtel locker band und dann über meinen Bauch strich, unsicher und nervös, als täte er es zum ersten Mal – ich mochte ihn nicht ansehen und wusste doch ganz genau, wie blass sein Gesicht und wie dunkel seine Augen jetzt waren, da er mich ratlos betrachtete.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du getauft bist!«
Keine Frage, eine Anschuldigung. Ich spürte sofort, wie er sich zurückzog.
»Woher weißt du das?« Der Wind gab ihm zur Antwort, wie unerheblich das war. Langsam drehte ich mich um. Sein Mantel, den er über mich gebreitet hatte, fiel mir von den Schultern. Erik saß neben mir, beide Hände im Gras vergraben, und starrte mich an. Seine Haut begehrte gegen die Kälte und erste Regentropfen auf, doch das schien er nicht zu spüren.
»Warum hast du’s nicht gesagt?«, wiederholte ich.
»Weil es nicht wichtig war.«
»Nicht wichtig?« Ich fuhr hoch. »Du glaubst, es war nicht wichtig?«
»Es ist immer noch nicht wichtig.« Er hob den Kopf, begegnete meinem Blick. »Alienor, eine Kelle voll Wasser macht noch keinen Christen.«
Ich hieb meine Faust in den Boden. »Du hättest mich nicht belügen dürfen.«
»Belügen!« Seine Augen schleuderten Blitze, sprachen von wachsender Wut. »Sag du mir, was eine Lüge ist – dir vorzugaukeln, ich glaube an den Weißen Krist, nur weil sie mich mit Wasser bespritzten, oder dir diesen Tag ganz zu verheimlichen, weil er für mich keine Bedeutung hat?«
»Und was ist mit der Strafe, die sie mir auferlegten, weil ich Umgang mit einem Heiden hatte?«
»Einer von ihnen hat bereits dafür bezahlt! Glatzköpfige Schlangenbrut, sie durften dich nicht verurteilen –«
»Sie durften, weil ich dir geglaubt habe, weil ich überzeugt war, Unrecht getan zu haben!«
»Unrecht? Dass du das Lager mit mir geteilt hast, nennst du Unrecht? Warum bist du hier, wenn alles Unrecht war?«
Ich eilte hinter ihm her, verstellte ihm den Weg, atemlos, zitternd vor Zorn über seine verdammte Selbstgerechtigkeit.
»Warum hast du’s mir nicht gesagt?« Erik blieb stehen. Und dann griff er nach meinen Händen.
»Ich – ich hatte nicht den Mut, Alienor. Als die Zeit gekommen war, dir mein Leben zu Füßen zu legen, hatte ich keinen Mut mehr. Jeden Totschlag, jeden Frevel hätte ich dir gestehen können – aber nicht den Tag mit dieser Wasserkelle. Nach allem, was sie dir meinetwegen angetan hatten…«
»Lüg mich nicht an, Erik. Ich kann alles ertragen, nur keine Lügen.«
Erik kniete sich hin, um mir den Pelz um die Schultern zu legen. Der Wind hatte aufgefrischt und pfiff uns um die Ohren, während Regentropfen einen feuchten Schleier auf seine bloße Haut legten.
»War es Unrecht, bei mir gelegen zu haben?«
Ich sah in seine Augen, zwei Spiegel, die von jener Nacht erzählten, von der heiligen Stille in Naphtalis Garten und vom Schmerz der letzten Umarmung… Das Unrecht hatte seine Wurzeln an ganz anderer Stelle. »Nein, Erik. Nein.«
Und nur die Gräser wurden Zeugen des Versöhnungsaktes, den wir dort am Strand vollzogen, und der Regen, der irgendwann auf uns niederrauschte und sogar die Mäntel, unter die wir uns geflüchtet hatten, schwer und kalt machte.
»Halt mich noch ein bisschen warm.« Erik schlang den Arm um meinen Bauch und kroch noch ein Stück näher. »Du bist meine Feuerstelle.«
»Ich bin ja auch zwei.« Der Zweite protestierte gegen den Arm. Fasziniert befühlte Erik die Beulen, die sich auf meiner Bauchdecke abzeichneten.
»Er wird ungeduldig, Erik.« Ich lupfte den Mantel ein wenig und spähte hinaus in die nasse Welt. Regen und Grau, soweit das Auge reichte. »Wie lange müssen wir noch in dieser Stadt bleiben?«
»Noch genau einen Tag, kærra.« Seine Hand legte sich warm auf meine Wange. »Ich habe einen lieben Freund gefunden, der uns auf seinem Schiff nach Hause bringt. Er hat ein großes Handelsschiff, da wirst du es bequemer haben als auf den Booten, die ich mir bisher angesehen habe.«
Ein lieber Freund. Gisli Svensson, der heimlich meine Tränen aufgefangen hatte und der Pate meines Sohnes werden wollte. Plötzlich konnte ich es kaum noch erwarten aufzubrechen, meine Sachen zu packen, fort von hier, von Gestank, Unrat, Fischgeruch und schmutzigen Menschen, von Geschrei, Seemannszoten und Dirnengelächter…
Die langen Atemzüge verrieten mir, dass Erik eingenickt war. Unser Mantelzelt war erfüllt von seiner Gegenwart, sie drang mir wie feiner Nebel in die Poren wie zum Beweis, dass ich nicht träumte: Ich lag neben dem Mann, dem mein Herz gehörte. Und er hatte mir immer noch nicht die Wahrheit gesagt. Zu Hause wartete seit fünf Jahren eine Svanhild auf ihn.
Svanhild. War sie schön, schön wie ein Schwan? Reich? Und vielleicht auch noch gescheit? Konnte sie lesen, schreiben, rechnen, auf Lateinisch disputieren, und das mit einer glockenhellen Stimme, die den Vögeln das Singen vergällte, hatte sie blonde Locken, zarte Finger … aber da musste ich lachen. Adelheid von Jülich, Vaters zweite Frau, kam mir in den Sinn, jene wohlerzogene, blutjunge, engelsgleiche Dame, deren Ankunft auf Burg Sassenberg mir damals solche Angst gemacht hatte. Bei näherem Hinschauen hatte sie sich als verwöhnte Göre entpuppt, die es vorzog, sich von hübschen Dienerinnen in den Garten der Wollust entführen zu lassen, statt meinem Vater auf dem Ehebett zu Willen zu sein. Aber Svanhild, Svanhild war etwas anderes. Instinktiv spürte ich durch ihren Namen Gefahr auf mich zurollen.
»Woran denkst du?« Zwei Finger legten sich auf die Falte über meiner Nasenwurzel.
»An –« Ich war zu überrascht, um mir etwas auszudenken.
»An Adelheid.« Die Finger glitten über meine Nase und klemmten sie ein.
»Du denkst in meiner Gegenwart an andere Frauen?« Damit hatte er sich auf den Ellbogen gestützt und legte Besitz ergreifend sein Bein über meine Schenkel.
»Besser, ich denke an sie als du.« Er lachte nicht, wie ich erwartet hatte. Stattdessen umschloss er mit beiden Händen mein Gesicht, und seine Stimme klang so rau wie vorhin, als er den Mantel über uns gebreitet hatte. »Was für Frauen? Es gibt keine anderen Frauen, dróttning mína…«
Hermann staunte nicht schlecht, als er das durchnässte Paar erblickte, das mit einem Regenschauer in die Herberge hereinwehte, niesend und lachend, Haare und Kleidung voller Erdkrümel. Zum ersten Mal schmeckte die Suppe nicht nach fauligem Wasser – vielleicht war sie durch die Kunde von unserer Abreise auch geläutert –, und ich hatte sogar Appetit auf das Brot, das mich sonst so anwiderte.
Morgen!
»Pass mit den Bündeln auf, du Trottel, oder du darfst eine Nase Wasser nehmen! Ich werd dir gleich helfen!« Ein Schrei ertönte, und Hermann kicherte schadenfroh. Frierend drückte ich mich noch näher an Eriks Rücken, als der, dessen Stimme so mächtig über den Anlegeplatz geklungen war, auf uns zustapfte und der Palisadenwand, die den Kai umgab, einen kräftigen Tritt verpasste.
»Dummes Pack, verfluchtes, lässt meine Pelze ins Wasser hängen! Überleg es dir gut, ob du Kaufmann werden willst, Erik, man hat es den lieben langen Tag mit Narren zu tun, und –« Er verstummte.
Unter buschigen, rötlichen Brauen blickten mir zwei wache Augen entgegen, rotbraun glänzend wie polierte Karneole. Ein dichtes Netz aus Krähenfüßen umgab die Augenwinkel, feine weiße Striche, die mit dem nächsten Lächeln in der wettergegerbten Haut versinken würden. Sie versanken nicht, und auch die vollen Lippen, die sich vorwitzig aus dem rötlichen Bartgestrüpp heraushoben, bewegten sich kaum. Allein seine Wangen, rund wie kleine reife Äpfel, schienen noch ein wenig dunkler zu werden, als er die Hand hob und sie mir entgegenstreckte. Ein Windstoß fegte das rotblonde, kinnlange Haar aus seiner Kapuze und wirbelte es vor seinem Gesicht auf. Ungeduldig wischte er sich die Strähnen über den Kopf, und als seine Augen wieder sichtbar wurden, lag ein Lächeln in ihnen.
»Kom heill ok sæll – die Frau meines Freundes wohnt in meinem Herzen, möge sie sich in meiner Halle wohl fühlen.«
Ich tat einen Schritt auf ihn zu, legte meine Finger in die dargebotene Hand. »Dank dir, Gis-«
»Gisli nennt man mich«, unterbrach er mich, während sein Händedruck warnend fester wurde. »Gisli, Sohn des alten Sven aus Sigtuna, und ich heiße dich willkommen, Alinur Greifinna.« Er strahlte mich an. »Hast du je ein schöneres Schiff gesehen?« Damit zog er mich, ohne meine Hand loszulassen, neben sich und wandte sich dem Strand zu. »Der ›Windvogel‹ wird dich so sicher wie in einer Sänfte tragen, und in einer Woche, wenn die Götter es zulassen, werden wir das Bier in meiner Halle trinken.«
Erik trat zu uns. »Der Wind frischt auf. Wollt ihr heute noch aufbrechen?«
»Und ob! In dieser Jahreszeit soll man keinen Tag verschenken. Euer Gepäck ist bereits an Bord, nur deinem Pferd hat sich keiner meiner Männer nähern wollen – das musst du schon selber machen.« Gisli Svensson zwinkerte Erik zu. »Geh schon, ich werde deinen Schatz hüten wie meinen Augapfel. Geh nur.« Und Erik verschwand in der Menge, um Kári zu holen, das einzige Pferd, das wir behalten hatten und von dem er sich nicht trennen mochte.
»Bist du schon einmal auf einem Schiff gewesen?« Ich schüttelte den Kopf und verbiss mir die Bemerkung, dass ich nichts dagegen gehabt hätte, Eriks Heimat zu Fuß zu erreichen, wenn man mir nur dieses graue Wasser ersparen könnte. Als hätte er meine Angst gespürt, legte mir der Sohn des alten Sven den Arm um die Schultern und drückte mich kurz an sich. »Wir werden es dir so bequem wie möglich machen. Du sollt als Letzte an Bord gehen und in Sigtuna als Erste das Schiff verlassen.«
Die Kisten und Fässer, die vor dem Schiff gestanden hatten, waren verschwunden, der Reihe nach im flachen Bauch von Gisli Svenssons Schiff verstaut, und seine Leute eilten über die Planke an Bord auf ihre Plätze. Gisli überflog mit den Augen seine Mannschaft. Dann wandte er sich an die Menschenmenge hinter uns.
»Zwei Plätze habe ich noch – zwei Plätze! Wer will mit nach Sigtuna in die Nordlande? Zwei Plätze, Leute, zwei.«