Die Highland Schwestern - Dagmar Trodler - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Highland Schwestern E-Book

Dagmar Trodler

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Schwestern kämpfen um ihr Glück – und um die Liebe.

Schottland im 11. Jahrhundert. Bedingt durch schicksalhafte Umstände verschlägt es die ungleichen Schwestern Margaret und Christina an den Hof des schottischen Königs Malcolm. Die schöne Margaret zieht sogleich das Interesse des Königs auf sich, während sich die jüngere Christina allein gelassen fühlt und immer mehr in sich zurückzieht. Als die Margaret einem Fluch zum Opfer fällt, der auf einem geheimnisvollen Stundenbuch liegt, erwachen Christinas Lebensgeister. Um der Schwester zu helfen, nimmt sie das Buch an sich und flieht von der Burg. Gemeinsam mit dem jungen Mönch Niall begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise bis zum Ursprung des Fluches. Doch um das Leben Margarets retten zu können, muss Christina eine schwere Entscheidung treffen und ein großes Opfer bringen …

Farbenprächtig, fesselnd, dramatisch – eine abenteuerliche Reise zweier ungleicher Schwestern.

Dieser Roman ist vormals unter dem Titel "Die Stunde der Seherin" erschienen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 600

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Zwei Schwestern kämpfen um ihr Glück – und um die Liebe …

Schottland, 11. Jahrhundert: aufgrund schicksalhafter Umstände verschlägt es die ungleichen Schwestern Margaret und Christina an den Hof des schottischen Königs Malcolm. Die schöne Margaret zieht sogleich das Interesse des Königs auf sich, während sich die jüngere Christina allein gelassen fühlt und immer mehr in sich zurückzieht.

Doch als die Margaret einem Fluch zum Opfer fällt, der auf einem geheimnisvollen Stundenbuch liegt, erwachen Christinas Lebensgeister. Um der Schwester zu helfen, nimmt sie das Buch an sich und flieht von der Burg. Gemeinsam mit dem jungen Mönch Niall begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise bis zum Ursprung des Fluches. Doch um das Leben Margarets retten zu können, muss Christina eine schwere Entscheidung treffen und ein großes Opfer bringen …

Farbenprächtig, fesselnd, dramatisch – eine abenteuerliche Reise zweier ungleicher Schwestern!

Dieser Titel ist vormals unter »Die Stunde der Seherin« erschienen.

Über Dagmar Trodler

Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Dagmar Trodler

Die Highland Schwestern

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Glossar

Nachwort

Impressum

Für Johannes

Erstes Kapitel

Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht immer: man kann nichts dazutun noch abtun; und solches tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.

(Prediger Salomo 3,14)

Der Ton in ihrem Ohr veränderte sich. Als der Sturm sie über Bord gezogen und ins Wasser geworfen hatte, war der Ton quälend schrill gewesen. Peinigend hatte er ihren ganzen Kopf ausgefüllt, hatte sie wie eine Fadenpuppe an der aufgewühlten Wasseroberfläche entlanggezogen. Sie konnte sich daran erinnern, wie ihr Salzwasser ins Gesicht spritzte, aber nicht daran, untergetaucht zu sein oder Wasser geschluckt zu haben.

Der Ton wurde weich.

So weich wie die Kuhle, in die Christina sich dankbar hatte sinken lassen, nachdem sie durch hartes Schilfrohr gekrochen war und sich die Hände an scharfen Blattkanten aufgeschnitten hatte. Das Schilf wogte immer noch drohend vor ihrer Nase, doch es konnte ihr nichts mehr anhaben.

Der Ton nahm Gestalt an.

Er verließ die ausgetretene Spur, auf der er sich sonst bewegte und sie peinigte, und schmiegte sich stattdessen in ihr Ohr, wo er feine Schnörkel formte, Wohlklänge, wunderbare Klänge … Christina legte beide Hände auf die Ohren, um die Töne darin zu behalten, damit sie ihren Kopf ausfüllten und sie aus der Kälte davontrugen.

»Allmächtiger Gott, lieber Herr, willst du mich auf die Probe stellen, dass du mir so etwas Schönes in den Weg legst? Ganz bestimmt willst du mich strafen …«

Christina runzelte die Stirn. Ihr war entsetzlich kalt, aber die Melodie in ihrem Kopf half gegen die Kälte. Sie half ihr immer, sich über Schmerz und Kälte zu erheben, sie half ihr, den Körper eine Stufe höher zu heben, dorthin, wo die Kälte zwar nach ihr griff, sie aber nicht erreichen konnte – wenn niemand störte. Hier aber störte jemand den Ton und ihre innige Zweisamkeit mit ihm, hier verhinderte jemand, dass sie sich entfernen konnte …

»Herr, hab Erbarmen, prüfe mich nicht so …«

Sanft streifte ein Atemzug ihr Gesicht. Dann kam eine Hand, die mit großer Zartheit über ihre Wange strich und wie ein bloßer Gedanke ihre Lippen berührte. Christina schlug die Augen auf. Der Ton verschwand, es wurde still in ihrem Ohr. Nur das Schilf wogte im immer noch böigen Wind an diesem düsteren Tag im Jahre des Herrn 1069. Der Sturm hatte sich beruhigt, und das große Meer hatte endlich seine Wellen eingeholt. Über ihnen schrien Möwen. Es roch nach fauligen Algen – aber nicht nach Salz. Und der Finger war von ihren Lippen verschwunden.

»Vergebt …«

Seine Stimme erstarb. Er war jung und schlecht rasiert, das Haar hing ihm in unordentlichen Strähnen über die schmalen Schultern. Seine Augen schimmerten in sanftem Braun … schimmerten ein wenig zu sehr, wie Christina fand. Und er hockte auch ein wenig zu dicht bei ihr. Zumindest ließ seine einfache Kleidung darauf schließen, dass sein Abstand sehr ungehörig war. Vor allem aber wandte er den Blick nicht von ihr. Auch das gehörte sich nicht, doch ihr wurde plötzlich ganz heiß. Einen langen Moment versank sie in diesem Blick.

Die Kälte hatte es nicht gewagt, an ihr hochzukriechen. Christinas Kleider klebten ihr immer noch nass am Körper, und auch an ihrer Lage im schlammigen Schilf hatte sich nichts geändert. Außer dass der Mann sie anschaute und mit seinen Blicken umfing und wärmte. Sie schloss die Augen. Es war gut so.

»Ich bringe Euch, gleich bringe ich Euch … vergebt mir – Herr, womit prüfst du mich hier … ich will Euch sagen … der Herr vergebe mir, Er sendet mir Prüfungen …« Sein Stammeln wurde immer wirrer, und dann fasste er sie an. Christina riss die Augen wieder auf. Alle Töne in ihrem Kopf waren nun verstummt, als wollten sie lautem Geschrei Platz machen, weil er Hand an sie legte. Doch er drapierte nur seinen Mantel um ihre schmalen Schultern. Das tat er ziemlich ungeschickt. Dann entschied er sich zu einem weiteren Schritt und grub ihren Oberkörper aus dem Schlammloch. Sie versuchte instinktiv, sich zu wehren, obwohl das närrisch war, denn er tat ihr ja nichts.

»Vergebt mir.« Der Mann fuhr zurück. Bis zu den Knien hockte er im Schlamm vor ihr. Mit einem zerfetzten Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn – und das brachte Christina zum Lachen. Wieso schwitzte der Mann? Es war eiskalt, und es hatte angefangen zu regnen.

»In Eurer Welt ist es sicher so warm, dass es auch für mich noch reicht«, neckte sie den Fremden, der ihr die schützende Melodie genommen und ihr dafür seine Wärme gebracht hatte. Und weil er über diese Worte zu strahlen begann, streckte sie die Arme aus und ließ sich von ihm aus dem Schlamm ziehen. Als er versuchte, sie hochzuheben, landete sie halb auf seinem Rücken.

»He!«, protestierte sie, worauf er sie umgehend freigab und in den Schlamm zurückgleiten ließ.

»Vergebt … vergebt, vergebt …« Er versuchte es erneut, diesmal anders, einen Arm in ihrem Rücken, den anderen um ihre Beine, doch sie rutschte ihm aus den Händen und landete ein weiteres Mal im Schlamm. Sein entsetztes Gesicht nahm ihr den Ärger. Ihr hilfloser Retter rührte ihr Herz, und so streckte sie wie ein Kind die Hände nach ihm aus, und diesmal fand er den richtigen Griff. Sie war viel kleiner als die meisten Frauen und fügte sich perfekt in das schützende Nest seiner Arme.

»Vergebt meine Ungeschicklichkeit, ich habe so etwas lange nicht mehr gemacht«, murmelte er. Auf seiner Stirn erschienen Falten, weil er die Brauen zur Mitte hochzog, vielleicht weil er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Einem Impuls folgend, streckte Christina die Hand aus und strich über diese Falten. »Ihr denkt zu viel.« Sie lächelte. »Rettet mich doch einfach.« Die Falten vertieften sich. Sein Antlitz färbte sich tiefrot, dann hastete er ohne Erwiderung los. Statt zu fragen, wohin er eilte, umfasste sie ihn und legte den Kopf an die kräftige Schulter, während er wie ein Storch durch den fast knietiefen Uferschlamm stakste. Inzwischen keuchte er vor Anstrengung, umklammerte sie aber immer fester. Und seltsam … sie war froh, so fest gehalten zu werden. Es fühlte sich gut an, nachdem sie so viele Stunden alleine gewesen war. Waren es Stunden gewesen? Sie wusste es nicht. Und jetzt spielte es auch keine Rolle mehr. Verstohlen steckte sie die Nase an seinen Hals, wo unter feinen Falten seine Ader wild pochte.

»Ich sah das Schiff, die zerstörten Reste, ich sah Eure Leute – das sind doch Eure Leute?« Er schluckte hastig, bevor er weitersprach. Ihr Finger hatte ein Brandmal in seinem Gesicht hinterlassen, ob ihr das klar war? Jeder würde es sehen, würde auch sein schamloses Begehren sehen, welches er fühlte, seit er das Mädchen in diesem Schlammloch entdeckt hatte … er verbot sich weitere Gedanken. »Der Sturm … der Sturm letzte Nacht hat Bäume umgeknickt, und die Wellen brandeten bis weit in die Bucht hinein, sie fraßen tiefe Löcher ins Ufer und rissen Teile unserer Hütten hinweg.« Wieder hielt er an und holte tief Luft, weil ihn das Reden beim Laufen anstrengte. Er war kein Held, der Frauen mühelos über Felsschluchten trug, und sie sah aus, als wüsste sie das. »Ich … ich hörte auch, wie Euer Schiff zerbrach. Doch Gottes Zorn war so groß, dass ich nicht wagte nachzusehen …« Er hastete weiter. Plötzlich schämte er sich für dieses feige Versäumnis, weil sie ja wohl auf dem Schiff gewesen war.

»Ihr habt aber doch nachgesehen«, unterbrach das Mädchen ihn lächelnd. »Und Ihr habt mich gefunden.« Ihre Augen waren so nah und merkwürdig vertraut, obwohl sie sich doch gerade erst kennengelernt hatten. Ihr Angelsächsisch hatte einen hinreißend rollenden Akzent, doch er wagte nicht zu fragen, woher sie kam. Sie war ihm vor die Füße gefallen, vielleicht hatte der Himmel sie dort abgelegt …

Er blieb verzaubert stehen. »Ja. Das habe ich. Ich habe Euch gefunden.« Dann schloss er den Mund, aus Angst, etwas wirklich Falsches zu tun, und schaute sie nur noch an.

»Gut«, flüsterte sie. In seiner Brust machte sich ein Ziehen bemerkbar, und das nahm ihm die Luft. Vielleicht sah er besser woanders hin – was schwierig war, weil er sie doch so fest an sich gedrückt hielt und eigentlich nur in ihr Gesicht schauen konnte. »Gut«, wisperte sie und lächelte dabei ein wenig hilflos. Das Ziehen breitete sich in ihm aus.

»Wie ist Euer Name?«

»Nial«, stammelte er.

»Nial«, flüsterte sie. Sie sprach seinen Namen anders aus – wunderbar anders. Er schauderte, dachte daran, ihr seine anderen Namen zu nennen, den seines Vaters und den Namen des Ortes im Hochland von Moray, wo er herstammte, nur um zu hören, wie sie das aussprechen würde. Doch sie hatte genug Freude an seinem Namen. »Nial«, wiederholte sie entzückt. »Nial. Danke, Nial«, raunte sie an sein Ohr. Dann schlang sie ihm den freien Arm um den Hals, und weil er just in diesem Augenblick den Kopf drehte, verrutschte ihr offenbar für die Wange gedachter Kuss auf seinen Mund. Und für einen langen, zauberhaften Moment ließ sie die Lippen dort verharren …

»Verzeiht«, lächelte sie dann. »Nein. Verzeiht nicht, Nial …«

»Christina! Um Himmels willen – dem Himmel sei gedankt! Christina lebt!«, schrie da eine Frau auf. Nial umrundete die letzten Ginsterbüsche, dann hatten sie das Schiffswrack erreicht, das sich wie durch ein Wunder nicht in den Felsen ein paar Steinwürfe weiter gebohrt hatte, sondern auf dem Ufersand auseinandergebrochen war. Christina vergaß, was noch vor wenigen Augenblicken geschehen war, vergaß den Kuss, den Mann – alles. Die Nacht hatte sich zurückgemeldet. Es war kein böser Traum gewesen, der Sturm nicht und auch nicht das Auflaufen des Schiffes.

Da lag es, wie ein bizarr verdrehtes Mahnmal, um die Menschen daran zu erinnern, dass Gott der Allmächtige stark genug war, einen ganz normalen Junimorgen zum letzten Morgen im Leben zu machen, wenn Ihm danach war. Der Sturm hatte mitten in der Nacht gehässig Menschen über Bord gezogen und gegen Felsbrocken geschleudert, er hatte sie den hungrigen Wellen zum Fraß vorgeworfen und die Ertrunkenen hasserfüllt auf den Boden der Bucht gestampft, wo kein Gebet sie je erreichen würde. Sie erinnerte sich. Nachdem das Ruder zerbrochen und der Mast umgestürzt war und ein tiefes Loch in den Schiffsrumpf gerissen hatte, war auch sie über Bord gegangen – sie war geflogen, hatte kaum das Wasser berührt, und dann hatte die See sie auf eine fast fürsorgliche Art getragen, anstatt sie hinabzuziehen, und mit der nächsten Welle hatte es sie in das schlammige Schilfbett gespült. Sie hatte den Schatten des Schiffs noch gesehen, hatte gesehen, wie eine besonders heftige Bö es wie einen leblosen Kadaver ans Ufer geworfen hatte. Und dann ohrenbetäubendes Krachen, Splittern, endloses Ächzen. Schreie – auch daran erinnerte sie sich. Grässliche Schreie … Dann hatte sie das Bewusstsein verloren. »Allmächtiger«, flüsterte sie. Tröstend drückte der Mann sie und verlangsamte seine Schritte, als zögerte er, sie dem grauenvollen Bild zu übergeben.

»Lasst mich, Nial.« Sie versuchte sich aus seinen Armen zu befreien, und behutsam stellte er sie auf den Boden, ganz dicht bei sich und ohne sie loszulassen, und sie war froh über diese tröstliche Nähe, während sie in stummem Entsetzen den verwüsteten Strand nach Schwester und Mutter absuchte. Bis zuletzt waren sie bei ihr gewesen – und dann auf einmal nicht mehr.

Die Überlebenden lagen erschöpft zwischen Trümmern aus Planken, Kisten und Fässern. Hier und da verliehen angeschwemmte Kleidungsstücke dem schwarzen Ufer eine bizarre bunte Farbe. Ein Hund lief schnüffelnd von einem Stück zum anderen, Raben zankten sich mit Möwen um die Herrschaft über das Schlachtfeld. Noch konnte man sie von den Toten zurückhalten, doch lange würden sie sich von ein paar hilflos geschwungenen Holzstöcken nicht abwehren lassen, es waren viel zu wenig Helfer gegen die Aasfresser. Man hörte leises Weinen, manche jammerten vor Schmerzen. Ein Mann schrie heiser und reckte seinen blutüberströmten Armstumpf in die Luft, doch niemand war da, um ihm die Pein zu nehmen, er würde bis zum Ende aushalten müssen. Gott würde irgendwann vielleicht Mitleid mit ihm haben und ihn von seinen Schmerzen erlösen. Christina erkannte den Priester unter den Toten. Sein aufgedunsenes Gesicht hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem freundlichen Beichtvater von gestern. Von weiter hinten drang monoton aus Frauenkehlen das Paternoster. Überall rannten kopflos Menschen herum und konnten doch nichts gegen das Unglück ausrichten.

»Allmächtiger«, flüsterte sie wieder und bohrte ihr Gesicht in Nials zerlumpte Kleider.

Im nächsten Augenblick hatte die Frau Christina erreicht und riss sie schluchzend von ihm weg. Eine zweite stürzte herbei, trat an ihre andere Seite … bei Gott, Christina war klein und zart wie ein Kind, sie ging den Frauen nur bis zur Schulter … aber er hatte kein Kind in den Armen gehalten. Er wusste, wie willige Frauen sich anfühlten, zum Teufel, das wusste er nur zu gut. Hungrig sah er ihr hinterher, kämpfte gegen den Wunsch, ihr nachzulaufen. Dann sah er nur noch wehendes Frauenhaar zwischen flatternden Mänteln – weißblondes, langes Haar, das im schüchternen Morgenlicht unschuldig leuchtete, und er hörte, wie sie in den Armen der anderen weinte. Er blieb zurück, allein dem heftigen Wind des Nordens ausgeliefert, der ihn dafür strafte, das zu begehren, dem er doch entsagen wollte.

Von zwei Seiten gestützt, wurde sie weggeführt, und er sah ihr nach, immer noch fassungslos über den Kuss, den sie hatte geschehen lassen. Da drehte sie sich noch einmal zu ihm um, bedeutete ihren Frauen anzuhalten, doch die drängten sie weiter, zum trockenen Ufer hin, von wo noch mehr Menschen auf sie zuliefen. Sein Mantel, voll nassem Schmutz und Schilfblättern, umfing ihre schlanke Gestalt wie ein Versprechen, im Gedränge auf sie achtzugeben. Ihr Lächeln auf dem tränenüberströmten Gesicht wärmte sein Herz und überstrahlte die grausige Kulisse.

»Hier, für dich.« Ein Mann in Dienerkleidung drückte ihm etwas in die Hand. »Für die Rettung, und Gott segne dich dafür, lässt die Dame Agatha ausrichten.«

»Wer ist sie?«, fragte Nial, ohne den Blick von dem Mädchen zu lassen. Der Diener zog die Brauen hoch. »Das ist Christina, die Tochter von Prinz Edward, welcher einst König von England werden sollte und dann leider starb. Ihre Mutter ist die Dame Agatha.«

Die Namen verwirrten Nial. Weder fiel ihm ein, wer Prinz Edward war, noch wusste er, wer jetzt König in England war. Es spielte keine Rolle, dass er eine Prinzentochter gerettet hatte. Er wusste nur, dass er das Mädchen Christina schon jetzt schmerzlich vermisste. Der Ring, den man ihm als Belohnung überreicht hatte, fiel ihm aus der Hand. Nials Füße schienen auf dem Fleck festgewachsen zu sein, wo er stand – festgewachsen für alle Zeiten. Wohin sollte er auch gehen, jeder Weg ohne sie schien sinnlos zu sein.

Sie wurde immer kleiner, war zwischen den beiden Frauen kaum noch zu erkennen. Doch ihr offenes Haar schlug im Wind hin und her, als winkte es ihm zu. Sie hatte ihn ins Mark getroffen.

Und weil er immer noch wie verzaubert stehen blieb, wurde er Zeuge, wie das Ufer von einem Pulk Reiter eingenommen wurde, die mit angelegten Waffen auf die Schiffbrüchigen zupreschten.

Die Mutter hatte sie lange umarmt und geküsst und Gott immer wieder gedankt, dass er ihr Mädchen gerettet hatte. »So lange haben wir dich gesucht, Edgar ist sogar noch einmal ins Wasser gestiegen und hat mit ein paar Männern das Schilf durchsucht«, schluchzte sie. »Dein Bruder hat viele Menschen aus dem Wasser gezogen. Er ist ein wahrer Held.« Sie lächelte unter Tränen, voll Stolz auf ihren jüngsten Sohn. Christina strich ihrer Mutter beruhigend über das immer noch volle Haar. Sie war einst eine Schönheit gewesen, doch Sorgen und Trauer hatten sie immer magerer und kleiner werden lassen. Im Lauf der Jahre hatte sich ihr tiefschwarzes Haar in eine dünne weiße Wolke verwandelt, welche sie stets unter einer Haube verbarg. Jetzt hing es ihr traurig und nass auf die krummen Schultern, und Christina drehte es zärtlich zu einem Knoten, damit es ihr nicht feucht im Nacken hing. Ein Haarband, irgendwer musste doch ein Band oder eine Haarnadel für die Mutter haben. Ein törichter Gedanke, wo andere das Unwetter nicht einmal überlebt hatten. Doch dieser Gedanke hatte ein Ziel – Mutters frisierte Haare –, und vielleicht würde er ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht zaubern. Und so fand sie ihn dann doch nicht so töricht. Suchend drehte sie sich zu den Frauen um, die hilflos herumstanden und nicht wussten, wohin sie gehen und was sie tun sollten – durchnässt, hungrig und orientierungslos standen sie am Strand, von dem sie nicht mal wussten, in welchem Land er lag.

»Ja, Mutter, Edgar ist ein Held«, bestätigte sie, obwohl sie diese Ansicht eigentlich nicht teilte. Doch ihre Worte und das Frisieren taten Agatha gut; sie entspannte sich und wollte tatsächlich ein Lächeln versuchen. In diesem Augenblick begann der Boden unter ihnen zu dröhnen, weil ein ganzes Heer den Hügel herabstürmte. Christina traute ihren Augen nicht. Der Wind hatte das Nahen der Reiter heimtückisch bis zuletzt vor ihnen verborgen, und nun gab es kein Entrinnen mehr.

»Habt Mitleid!«, schrie Agatha und fiel vor dem ersten Reiter auf die Knie. Christina drehte sich um und rannte zurück zu ihr. »Mutter, bist du närrisch?« Im allerletzten Moment konnte sie die in Panik geratene Frau aus der Gefahrenzone ziehen, schleifte sie durch den Sand und warf sie neben das Pferd. Es scheute vor der hastigen Bewegung und stieg schreiend neben ihnen hoch. Die Hufe schleuderten Schlammklumpen in die feuchte Morgenluft. Wie kleine, bösartige Geschosse prasselten sie auf die Frauen nieder, trafen sie am Kopf, im Gesicht. Christina duckte sich über ihre Mutter. Ihr Herz wollte ihr schier die Brust sprengen vor Aufregung, als jemand dicht neben ihnen vom Pferd sprang und seine Schwertspitze in den Sand bohrte.

»Sicher wisst Ihr …«

»Sicher werdet Ihr Erbarmen mit uns Schiffbrüchigen haben. Gott wird Eure Hände dafür segnen«, unterbrach eine Frauenstimme den Ankömmling. Der Wind hatte für einen Moment nachgelassen, um die klare Stimme ihrer älteren Schwester auf leichten Händen tragen zu können. Es wurde still. Das Schwert fiel in den Sand. Vorsichtig hob Christina den Kopf. Vor ihr stand ein Mann, ein Riese in kriegerischer Gewandung mit glänzenden Eisenstulpen bis zu den Ellbogen, und starrte Margaret von England an, als hätte sich ihm eine Erscheinung gezeigt. Das nasse Kleid hing ihr in Fetzen von den Schultern herab, die der Mantel nur ungenügend verbergen konnte, und der Wind ließ ihr goldblondes Haar wie lange, elegante Finger über diese Schultern tanzen. Die Augen des Mannes saugten sich förmlich an der nackten, weißen Stelle fest. Auf ihrem Gesicht erschien ein winziges, verächtliches Lächeln, als sie das erkannte, und mit einer ruhigen Bewegung zog sie den Mantel ein Stück höher, um weiteren lüsternen Blicken zuvorzukommen.

»Vielleicht könnt Ihr uns verraten, an welche Küste der Sturm uns verschlagen hat?«, fragte sie, als er sich immer noch nicht bewegte. »Vielleicht sprecht Ihr unsere Sprache? Sprecht Ihr Lateinisch? Griechisch? Französisch? Angelsächsisch? Dänisch?« Mühelos strömten ihr die fremden Worte über die Lippen. Schließlich legte sie die Unterarme übereinander, fügte hinzu: »Ungarisch …?« und wartete ruhig auf eine Antwort.

Christina hielt den Atem an. Mit ihrem langen, blonden Haar und den tiefblauen Augen war ihre Schwester selbst in diesen schmutzigen Lumpen und erschöpft von den Strapazen der Sturmnacht noch wunderschön, doch noch nie hatte sie erlebt, dass es einem Ritter derart die Sprache verschlug! Langsam richtete sie sich auf, ohne die Hand von der schluchzenden Mutter zu nehmen. Der Reiter verschlang Margaret mit Blicken, bis ihm wohl auffiel, wie ungehörig das war.

»Ich – ähm.« Der Mann bemerkte, dass ihm sein Schwert abhandengekommen war. Hastig bückte er sich und hob es auf. Offenbar war es ein magisches Schwert, denn kaum umschloss seine Hand den Knauf, fand der Mann die Sprache wieder – ein höfisches Angelsächsisch mit spaßigem Akzent, aber gut zu verstehen.

»Edinburgh, hlæfdige. Dort, hinter den Hügeln. Ihr seid in … in Lothian … ähm, der Sturm hat Euch … also … die Küste …«

Margaret lächelte nachsichtig und neigte den Kopf. »Edinburgh in Lothian also, habt Dank.«

»Ja, Edinburgh. Man kann es … also … die Residenz … wir haben … sicher seid Ihr … wir können …« Er stocherte mit der Schwertspitze im Sand herum und stampfte die Löcher mit dem Fuß wieder zu. Christina wusste mit einem Mal, dass sie ihn irgendwoher kannte. Diese breite Stirn, die eigenwillige Adlernase und die Wirbel, welche die Barthaare am Hals formten. Die dicken Adern am Hals, die noch mehr anschwollen, wenn die Wut ihn packte. Sie kannte ihn. Und Margaret kannte ihn auch. Aufgeregt über ihre Entdeckung kaute sie auf der Unterlippe, versuchte Margarets Blick aufzufangen, doch die tat ihr nicht den Gefallen, zu ihr hinüberzuschauen. Stattdessen stellte sie sich noch ein wenig aufrechter hin und deutete auf das Durcheinander am Schiffswrack.

»Vielleicht kann man uns ein paar Decken und Felle bringen und etwas zu essen für die Verletzten. Die meisten von uns sind sehr erschöpft und haben keine Kraft mehr. Und einen Priester, unser Beichtvater ist ertrunken …«

Ein lauter Schrei unterbrach sie. »Margaret, wie kannst du es wagen! A rìgh – vergebt, wenn man Euch nicht gebührend begrüßt hat!« Schritte auf dem Sand ertönten, dann stürzte ein junger Mann auf die Gruppe zu und blieb vor dem Bewaffneten stehen. Von seinem dichten braunen Schopf tropfte ihm Wasser auf die Schultern, die durchweichte Lederkleidung hing schwer an seinem athletischen Körper herab. In der Hand trug er immer noch den Stab, mit dem er wohl im Schilf nach Überlebenden gesucht hatte. Nach kurzem Zögern beugte er vor dem Ritter das Knie. Christina fand, dass ihr Bruder Edgar viel zu lange damit zögerte und dass er sich viel ungehöriger als Margaret benahm. Wer auch immer dieser Ritter vor ihnen war, die Situation kam ihr zu undurchsichtig vor, um hier mit Hochmut aufzutrumpfen. Das sah ihm mal wieder ähnlich! Womöglich würde er nun auch noch recht unflätig den Mund aufreißen. Doch sie hütete ihre Zunge. Zumal der Riese ihren kleinen Bruder, Edgar Æthling, tatsächlich zu erkennen schien.

»Mein lieber junger Freund!«, rief der Ritter aus, offenbar froh, die Sprache wiedergefunden zu haben und ein wenig von Margaret abgelenkt zu werden, die er nun lieber nicht mehr anschaute. »Mein lieber junger Freund – welch traurige Überraschung, Euch und … Eure Familie so wiederzutreffen! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, was wohl aus Euch geworden war, seit wir voneinander schieden – doch nun sehe ich, dass Ihr wohlauf seid.« Und sein Blick wanderte wieder zurück zu Margaret, die ihn unverhohlen musterte. »Wohlauf … ähm, wohlauf, mein Freund. Wohl …« Ein leises, spöttisches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

Edgar zögerte nicht, die entstandene Pause für sich zu nutzen. »Unser Aufbruch aus Yorkshire war ein wenig überhastet, a rìgh. Dem Herrn Cospatric erschien es sicherer, das Land zu verlassen, und er riet auch mir, das Gleiche zu tun, nachdem König Wilhelm sich anschickte, Northumbria von Süd nach Nord dem Erdboden gleichzumachen. Wir konnten seinen Truppen entkommen und Schiffe finden«, berichtete Edgar vertrauensselig. »Der schreckliche Sturm trennte unsere Flotte und warf uns an dieses Gestade …«

»Die Vorsehung, lieber junger Freund«, strahlte der Ritter und nahm flink seine Augen wieder von Margaret, die sich weder gerührt noch verbeugt hatte. »Seid meine Gäste, lasst Euch pflegen, lasst Euch gesund pflegen, lasst Euch vergessen machen, was Ihr erlebt habt, lasst uns den Sturm und all das andere ungeschehen machen! Seid meine Gäste …«

»Danke, a rìgh, Ihr seid sehr großzügig«, unterbrach Edgar den Redeschwall. »Vor allem bitte ich für meine frierende Mutter und für meine armen Schwestern dringend um ein Obdach und um Essen.«

Ein ganzer Trupp Reiter hatte die Gruppe inzwischen umringt. Düstere, wilde Gestalten mit langen Haaren unter zerbeulten Helmen, und ihre plump gebauten, dicklichen Pferde sahen nicht besser aus. Manche Reiter waren abgestiegen; Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie den Himmel verdeckten. Bisher war Christina ruhig geblieben, doch nun breitete sich Furcht in ihrem Herzen aus, als fünf gierige Augenpaare über ihren Körper wanderten. An welcher Küste waren sie gelandet? Lothian? Schottland? Waren dies etwa die Pikten, von denen man in London am abendlichen Feuer so schreckliche, grausame Geschichten erzählte? Edgar war im vergangenen Jahr in den Norden gereist, doch hatte er so geheimnisvoll getan, dass sie ihn nie mit Fragen bedrängt hatte. Kannte ihr Bruder etwa Männer vom Stamm der wilden Pikten? Unwillkürlich duckte sie sich wieder über Agatha, die Ave-Maria murmelnd in den Sand starrte, wohl in der Hoffnung, die grausige Heimsuchung möge an ihnen vorüberziehen.

»Kleidung, Essen, alles, was Ihr wünscht, junger Freund. Eure Schwestern sollen die beste … das allerbeste … am besten … wir … Eure Schwestern … « Der Riese stotterte wieder, nachdem er Margaret angeschaut hatte – offenbar ein Fehler. Edgar stupste Christina mit dem Fuß an. »Los, steh auf, verbeug dich«, raunte er hastig. »Das ist Malcolm, der König von Schottland, der uns helfen will. Mach schon, los! Bevor er es sich anders überlegt.«

Ein König! Christina sprang erleichtert auf die Füße und tat, wie ihr geheißen. Doch der König von Schottland hatte nur Augen für ihre Schwester, die immer noch regungslos vor ihm stand und den Blick auf ihm ruhen ließ. Ihre Verbeugung vor dem König konnte nicht tief gewesen sein.

»Ich hoffe, dass wir uns Eurer Barmherzigkeit würdig erweisen«, sagte Margaret. »Ich werde für Eure Seele beten und in meinen Gebeten ganz besondere Inbrunst walten lassen.«

Des Schottenkönigs Gesicht offenbarte wachsende Verwirrung. Er konnte ja nicht ahnen, dass Margaret von England ihr Leben Gott dem Allmächtigen in einem Kloster weihen wollte und dass nur die äußeren Umstände – die mögliche Thronfolge ihres Bruders Edgar und sein ungeschicktes Verhalten dem normannischen Eroberer gegenüber, wodurch sich die Familie zur Flucht gezwungen sah – sie davon abgehalten hatten, ihr Gelübde abzulegen. Aber eigentlich sah sie sich als Braut Christi, seit Christina denken konnte. Vielleicht spürte ihr Retter auch, dass sie etwas Besonderes war, denn er verneigte sich vor ihr, zog seine Reithandschuhe aus und hob die junge Frau dann ohne Vorwarnung wie ein kostbares Gefäß in seinen Sattel.

»Wenn Ihr … wenn Ihr … mein Pferd, wenn Ihr …«, stotterte er, kratzte sich am Kopf und nahm die Hände mit einiger Verspätung von ihrer Taille. Margaret betrachtete ihn still. Ihr Blick trug jene freundliche Sanftheit, mit der sie alle Lebewesen betrachtete, und doch entdeckte Christina etwas anderes, rätselhaft Neues in ihren Augen. Dann wehte eine Windbö loses Haar vor Margarets Gesicht. Eine Strähne davon umschmeichelte auch ihn, und der König ließ sie los, als hätte er sich verbrannt.

Christina bekam keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil ihr jemand von hinten den Arm um die Taille legte. »Ihr erlaubt?« hieß es knapp, danach flog sie durch die Luft und landete auf dem Rücken eines Pferdes. Mit Mühe konnte sie sich an der buschigen Mähne festhalten, um nicht auf der anderen Seite wieder herunterzurutschen. Ihr Ritter hielt sie fest und zupfte gleichzeitig an ihrem Mantel.

»Ihr solltet das schlammige Ding ausziehen. Nehmt meinen Mantel, der ist neu und aus gutem Filz gemacht«, bot er in ordentlichem Angelsächsisch an und legte ihr auch schon das Kleidungsstück über die Schultern.

»Ich behalte ihn gerne, er gehört meinem tapferen Retter«, lächelte Christina. Der Ritter runzelte die Stirn.

»Wer war denn Euer … tapferer Retter?«, fragte er und fasste den Mantel mit spitzen Fingern an. »Dieses Ding hier gehört zweifellos diesem culdee.«

»Culdee? Was ist das?«

Er grinste anzüglich. »Ein Betbruder.« Auf ihren entsetzten Gesichtsausdruck hin bequemte er sich zu weiteren Erklärungen. »Culdees sind Mönche. Sie kamen einst vor vielen Jahren aus Irland herüber und leben nun hier in Schottland. Sie wollen nicht im Kloster leben, wie ordentliche Mönche das tun. Sie wollen keine Gelübde ablegen und rasieren sich die Stirn, was kein normaler Mönch tut.« Er redete sich in einen seltsamen Ärger hinein. »Man findet sie in Erdhöhlen, müsst Ihr wissen. Und manche von ihnen leben sogar mit Weibern zusammen. Sie essen Käfer und Wurzeln. Die culdees kommen von den …«, er spuckte aus, um seinen Abscheu zu betonen, »… von den Iren und nicht von Gott. Und ganz gewiss sind sie nicht tapfer.« Wie zur Bekräftigung zog er sein Schwert am Gürtel gerade.

»Aber dieser hat mich gerettet«, gab Christina zu bedenken. »Niemand sonst war hier …«

»Dieser hier«, zischte der Ritter, »dieser hier ist immer hier, hlæfdige, hier an diesem verdammten Fluss, obwohl er ein Hochlandschotte ist, von denen keiner freiwillig hierherziehen würde.« Vermutlich war der Mann selbst aus dem Hochland, wo auch immer das sein mochte. Er rollte seine Zunge so stark, dass sie das Hochland allein deshalb schon furchterregend fand.

Und er war noch lange nicht fertig. »Dieser hier lebt irgendwo in einer verdammten, verlausten Höhle und macht den Armenprediger für einen Haufen Weiber – das behauptet er jedenfalls. Der König mag solche Männer nicht. Und diesen hier mag er erst recht nicht, weil dessen Bruder nämlich ein Schwert trägt und wie ein Mann für seinen König kämpft – im Gegensatz zu diesem hier, der sich lieber hinter Weiberröcken verkriecht, nachdem er in Ungnade gefallen ist. Wisst Ihr nun genug, hlæfdige?«

Christina verspürte kein Verlangen, mit dem Mann über Menschen zu reden, die Gott in Seine Dienste geholt hatte. Die Verachtung, die dem culdee hier entgegenschlug, war ihr vollkommen unverständlich. Dennoch bewahrte sie alles, was sie über ihn gehört hatte, in ihrem Gedächtnis. Er kam aus dem Hochland und hatte einen Bruder, der für den König das Schwert trug. Sie ließ ihren Blick über den Strand gleiten, vorbei an hilflosen Menschen, die Tote bargen und versuchten, brauchbare Habseligkeiten aus den Trümmern zu ziehen. Und ganz hinten, wo Sträucher das Ufer begrenzten und die Bucht mitleidig umfingen, stand immer noch Nial, der culdee, farblich fast mit dem Boden verschmolzen und regungslos. Er war ihr mit seinen Blicken gefolgt.

Manche von ihnen leben sogar mit Weibern zusammen …

Mönch oder nicht – seine Arme waren die eines Mannes gewesen, und sein Kuss … Christina biss sich auf die Lippen. Die despektierlichen Worte des Ritters waren vergessen. Nur der Kuss war noch da. Sie würde diesen Kuss beichten müssen, schließlich hatte sie damit angefangen. Ja, das hatte sie. Aber waren ihre Lippen nicht auch einfach nur zufällig …? Dann hob sie die Hand und winkte. Und ihr Herz klopfte ziemlich heftig, als der culdee den Arm hochriss und zurückwinkte.

Es war ein äußerst merkwürdiger Zug, der sich da im Schritttempo am Ufer entlangschlängelte und auf die Umfriedung von Edinburgh zuritt. Statt wie sonst im alles niederwalzenden Galopp wurden die kleinen Pferde zu Fuß nach Hause geführt, weil auf ihrem Rücken eine kostbare Last Platz genommen hatte. Auch Katalin, der treuen, alten Amme, hatte man in einen Sattel geholfen, wo sie nun hockte und vor sich hin schimpfte, weil sie das Reiten hasste, seit sie vom Pferd gefallen war. Doch eine Sänfte, wie es für Reisende in England üblich war, gab es hier nicht. Agatha ertrug es klaglos, die Amme tat ihre Unzufriedenheit kund. »Barbaren«, brummte sie und klammerte sich an der gewaltigen Mähne ihres Pferdes fest. »Barbaren, Gott möge sie strafen, alles Barbaren …«

»Sitzt Ihr … sitzt Ihr … ich meine …« Malcolm schritt neben Christinas Pferd und führte sein eigenes am Zügel, während er ein wenig hilflos versuchte, mit Margaret, die in seinem Sattel Platz genommen hatte, ein Gespräch zu führen.

»Auf dem Schiff ist es weitaus unbequemer gewesen, a rìgh«, lächelte sie ihn freundlich an. Christina bewunderte die vornehme Haltung ihrer Schwester. Auf dem Schiff war es furchtbar gewesen. Schmutzig, eng, laut – vor allem schmutzig. Auch vorher war es furchtbar gewesen – seit über einem Jahr eigentlich. Seit sie den königlichen Hof in London verlassen hatten, weil ihr Bruder Edgar entschieden hatte, sich gegen seinen Gönner zu stellen, Wilhelm von der Normandie, den neuen König von England, und mit diesen beiden gut aussehenden Northumbriern, den Earls von Mercia, Edwin und Morcar, gemeinsame Sache zu machen. Und alles immer noch in der Hoffnung, dass ihm das eines Tages die englische Krone einbringen könnte, von der er zutiefst überzeugt war, dass sie ihm durch seine Geburt zustand. Immerhin hatte der englische Kronrat sie ihm aufsetzen wollen, nachdem König Harold vor zwei Jahren in der Schlacht von Hastings gefallen war. Sie war zum Greifen nahe gewesen – doch dann war der Sieger von Hastings, Wilhelm von der Normandie, nach London gekommen und hatte sie sich einfach genommen. Bei seiner Krönung im Dezember des Jahres 1066 sprach niemand mehr von einem König Edgar Æthling. Der neue König hatte die Æthling-Geschwister, Edgar, sie und Margaret, wie hochgeborene Mündel behandelt. Alles hätte friedlich bleiben können, wenn Edgar nicht seiner verlorenen Krone hinterhergetrauert hätte. Eigentlich war bereits damals ihr sicheres Leben zu Ende gewesen.

»Ihr werdet … Ihr werdet in Edinburgh … alles soll … Ihr …« Der König stammelte schon wieder. Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

»Ein Mantel wäre jetzt hilfreich gegen den Wind, a rìgh.« Und errötend riss er sich den gewebten Schal von den Schultern und hüllte sie darin ein wie einen kostbaren Schatz, der vor den Blicken der anderen geschützt werden musste.

Edgar ritt von der anderen Seite neben Christinas Pferd.

»Hast du gesehen, wie er sie angeschaut hat?«, flüsterte er aufgeregt und auf Ungarisch, was er nur ganz selten tat, weil er viele Worte vergessen hatte. »Glaubst du, er gefällt ihr, Stina?«

Erstaunt sah sie ihren Bruder an. »Er ist ein alter Mann, Edgar. Würde dir ein altes Weib gefallen?«, grinste sie.

Doch Edgar starrte die beiden nur an. Er nahm den Zügel in eine Hand und strich sich langsam über den spärlichen schwarzen Bart, der dringend gestutzt gehörte. Christina fand, dass diese Bewegung irgendwie befriedigt wirkte, und fragte sich, welche Pläne ihr kleiner Bruder mit dem großen Kämpferherz wohl wieder ausheckte.

»Was sprecht Ihr da für eine Zunge, hlæfdige?«, fragte ihr Ritter von der linken Seite. »Ihr seid wohl doch keine Angelsachsen?« Neugierig musterte er sie, als glaubte er, einen zweiten Kopf auf ihren Schultern entdecken zu können. Christina unterdrückte ein Lachen. Hier auf dem Pferd, in warme Mäntel gehüllt, mit der Aussicht auf warmes Essen und ein warmes Bett, ging es ihr gut genug, um sie heiter zu stimmen. Die Mutter bescheinigte ihr für diese Genügsamkeit ein einfaches Gemüt, und manchmal klang das verächtlich.

»Wir sind Angelsachsen, hlæfweard«, sagte sie stolz. »Aber wir sind in Ungarn geboren. Unser Vater war ein angelsächsischer Prinz. Aber wir haben in Ungarn gelebt.«

Und merkwürdig, wie sehr ihr diese Worte auf dem Weg zu Malcolms Burg nachgingen …

»Schläfst du schon?«, wisperte Christina und tastete in dem riesigen Bett nach ihrer Schwester. »Margaret? Schläfst du?« Hatten sie sich nicht erst vorhin nebeneinander zum Schlafen hingelegt? Nach einem fettigen Essen in der Halle war Christina auf diesem Lager eingenickt, obwohl sie doch hatte wach bleiben wollen, weil ihr alles so unheimlich vorkam. Nun schliefen die anderen – und sie war hellwach.

Man hörte Seufzen, Grunzen, jemand murmelte im Schlaf vor sich hin. Das Rascheln von Mäusen verriet, dass sie, von Katzen unbehelligt, im Stroh nach Körnern suchen konnten. Die Mutter am anderen Ende des Lagers bewegte sich unruhig, doch ihr Schnarchen ließ darauf schließen, dass sie fest schlief. Kein Wunder nach den Anstrengungen. Katalin grunzte im Traum, nachdem sie sich mit ungarischen Heiligenlitaneien in den Schlaf gesungen hatte, weil sie den Teufel in diesen Hallen fürchtete und Dämonen in jeder Ecke vermutete.

Vielleicht hatte sie recht damit. Christina war sich nicht sicher. Drüben in der Halle saßen Männer, die ein Land in Aufruhr gebracht hatten. Ihr Widerstand gegen den normannischen Eroberer und neuen König Wilhelm schien ungebrochen, obwohl sie nun erst einmal außerhalb seines Reiches Luft holten, um zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten.

Ihr Bruder Edgar zählte keine sechzehn Jahre, und sie fand ihn viel zu jung für die Krone. Er war aufbrausend und ließ sich viel zu leicht beeinflussen. Dennoch kämpfte er für seine Sache mit der Verbissenheit und Intriganz eines alten Haudegens, das musste sie neidlos anerkennen. Und fast hätte er es ja auch geschafft: Der englische Kronrat Witan hatte ihn nach König Harolds Ableben im letzten Herbst zum König ausgerufen. Mit einem Kreis erfahrener Männer – jene, die nun bei ihm saßen – hätte er trotz seiner Jugend England regieren und gegen den normannischen Angreifer verteidigen sollen. Doch Wilhelm von der Normandie war zu stark gewesen, zu skrupellos, und man munkelte, auch zu schlau für die trägen Angelsachsen. Er hatte nicht gezögert und war nach der gewonnenen Schlacht von Hastings gleich auf London marschiert. Er hatte die Stadt eingekreist und sich am Weihnachtstag des Jahres 1066 die englische Krone einfach genommen. Und Edgar hatte tatenlos zusehen müssen.

Christina starrte ins Dunkel. Damals hatte die trügerische Sicherheit ihres Lebens ein Ende gehabt. Man hatte sie und ihre Schwester aus dem Konvent geholt und auf einem Landgut versteckt, bis sich die Lage in London beruhigt hatte. Sie fand, nichts hatte sich beruhigt. Und sie sehnte sich nach der Ruhe und Ordnung des Klosters zurück.

Edgar war in der Halle bei den Männern geblieben und teilte sich Bier mit ihnen, obwohl er keines vertrug. Am Abend hatten sich auch der northumbrische Earl Cospatric und sein Verbündeter John Merlewein mit ihren Getreuen eingefunden. Sie waren mit ihrem Schiff dem Sturm durch glückliche Fügung entronnen und weiter nördlich an Land gegangen, von wo aus man sie nach Edinburgh geleitet hatte. Ihre Ankunft hatte Aufsehen erregt, weil Cospatric sich vor ihrem Bruder zu Boden geworfen hatte und ihm damit mehr Respekt erwies als dem königlichen Gastgeber. Christina mochte Earl Cospatric nicht. Er war ein grobschlächtiger, hässlicher Mensch, der Edgar nur benutzte, und sie hasste seine berechnenden Schmeicheleien. Sie hatte schnell verstanden, dass Cospatric lediglich seine northumbrischen Besitztümer wiederhaben wollte, die König Wilhelm ihm abgenommen und einem seiner eigenen Leute gegeben hatte. Dafür würde er jeden Weg und über Leichen gehen. Sie fand, dass Edgar sich von diesem Schlitzohr blenden ließ und jene Vorsicht vergaß, für die sie ihren jungen Bruder immer bewundert hatte.

Sie seufzte.

»Ich bete«, kam es da überraschend aus der Dunkelheit. Das Feuer in der Mitte des Raumes war heruntergebrannt, und die Glut reichte nicht aus, um mehr als den Boden erkennen zu lassen. Schmutzig, wie sie den Raum am Abend wahrgenommen hatte, war es vielleicht auch besser so. Offenbar räumte hier niemand den Unrat weg, den die Hunde verschmähten. Es roch muffig, nach zu vielen Schläfern, schlechtem Atem und kaltem Essen, und es roch auch nach altem Blut, vielleicht menstruierte eine der Mägde. Margaret rutschte zwischen die Felle, offenbar hatte sie neben dem Lager auf dem Boden gekniet. »Ist dir auch so kalt?«, wisperte sie. »Ich dachte, vom Beten wird mir warm …«

Christina zog die ältere Schwester unter ihre Felldecke und rieb ihr die eisigen Arme. Beieinanderliegen und sich gegenseitig wärmen half. Es hatte immer geholfen, wenn sie die Welt da draußen nicht mehr verstand. Jetzt half es, die Erinnerung an den Strand von Edinburgh zurückzuholen. »Er hat dich angeschaut, Magga. Die ganze Zeit hat er dich angeschaut, hast du das denn nicht gemerkt?«

»Wer? Wen meinst du?« Selbst in der Dunkelheit spürte sie, wie Margaret errötete. Christina grinste verstohlen. Natürlich hatte ihre Schwester das gemerkt, sie war ja nicht dumm.

»Er konnte nicht mal reden, hast du so etwas schon mal erlebt? Er hat gestottert wie ein kleiner Junge, dabei ist er ein alter Mann! Ich glaube ja, er ist verliebt in dich …«

»Unsinn! Was redest du da!«, fuhr Margaret hoch. »Er ist kein alter Mann, er ist König …«

»Ach, und Könige verlieben sich nicht?«, neckte Christina sie.

»Dieser nicht! Er ist ein Barbar …«

Christina kicherte über die plötzliche Unlogik. »Ach so. Ein König und ein Barbar. Na ja, zumindest ein gut aussehender. Und Manieren hat er auch. Immerhin hat er dich sehr behutsam auf sein Pferd gehoben, und er hat dir seinen Mantel gegeben. Mein Barbar warf mich einfach in den Sattel …«

»Katalin hat erzählt, dass in der Stadt unzählige englische Sklaven leben – Frauen und Kinder. Ein echter Barbar, ich sag’s dir.« In ihrer Stimme schwang leises Bedauern, das sich auch in der Art verriet, wie sie ihr langes Haar zwirbelte. Das tat sie immer, wenn sie verlegen war.

»Warum die Sklaven?«, fragte Christina und kuschelte sich in die Arme ihrer Schwester. »Wo kommen die her?«

»Katalin sagt, dass er Northumbria mehrfach verwüstet hat, und weil es nicht genug Beute gab, hat er eben … andere Beute genommen. Frauen und Kinder, wie die Barbaren das tun.« Sie schwiegen. Die friedlichen Zeiten der Londoner Klosterschule waren vorüber. Seit Edgar die beiden Schwestern von dort weggeholt hatte, lernten sie, dass das wahre Leben keine Stickmuster in Leinentücher fädelte, sondern sich mit brennenden Nadeln in den Leib der Menschen ritzte. So manchen ließen diese Narben die Menschlichkeit vergessen. Sie verdrängte die Erinnerung an die lange Flucht.

»Weißt du noch – in Ungarn hatten wir auch Sklaven. Die Frau mit den Schlitzaugen in der Küche? Und der dunkelhäutige Mann im Stall? Ich hatte Angst vor ihnen, aber sie taten uns niemals etwas zuleide.«

Christina schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge stieg die Heimat ihrer Kindheit auf. Die Holzresidenz in den Bergen von Meksnedad, unbeschwerte Jahre mit den Eltern und freundlichen Dienstboten, fröhliche Feste am Hof des ungarischen Königs, Schlittenfahrten mit dem Vater …

»Glaubst du, dass alles anders geworden wäre, wenn Vater nicht gestorben wäre?«

Margaret seufzte. »Ich glaube nicht, Stina. Ich hatte das Vergnügen, an Wilhelms Tafel zu sitzen und ihm zuzuhören, weil Mathilda es wünschte. Wilhelm ist ein Raubtier. Er wurde in der Küchenasche einer Gerberei geboren, er entstammt keiner königlichen Familie. Solche Männer sind sehr gefährlich, weil ihnen das natürliche Benehmen, durch ihre Geburt, nicht gegeben ist.« Christina lief es kalt über die Schultern. Margaret verfügte über eine gute Beobachtungsgabe – wenn sie den König als Raubtier bezeichnete, dann war er sicher auch eins. Obwohl er zu ihnen stets freundlich gewesen war. Sie runzelte die Stirn und schmiegte sich lieber an die zärtliche Erinnerung ihres Vaters – Edward, Sohn des großen Edmund Eisenseite. Feinstes angelsächsisches Königsblut. Ein vornehmer, ruhiger Mann, dem das Schicksal der Vertreibung weder Mut noch Würde genommen hatte. Als Kind war er vor einem Mordkomplott gerettet und nach Ungarn gebracht worden. Niemals hatte sie ein böses Wort über die Vernichter seiner Familie gehört. Der Vater liebte Ungarn und hatte es geschafft, seine Kinder dort in angelsächsischem Geiste zu erziehen, ohne einen Rachegedanken in ihre jungen Herzen zu säen. In ihrer kindlichen Vorstellung war England wie Ungarn gewesen, friedlich, sonnig, gottesfürchtig …

Vor mehr als zehn Jahren war dann dieser angelsächsische Bischof in Meksnedad aufgetaucht, Walcher hatte er geheißen. Und sie erinnerte sich noch an seinen unglaublichen Mundgeruch und an seine langen, schweißigen Finger, mit denen er ihr durch das Haar gefahren war. Als dieser Mann kam, um ihren Vater Edward auf den angelsächsischen Thron zu führen, weil der amtierende König kinderlos und siech war, war der Vater ganz ruhig geblieben. Er hatte seine Dinge in Meksnedad geordnet und seine Familie so souverän auf die große Reise nach England geführt, dass Christina niemals Angst gehabt hatte, obwohl man ihnen gesagt hatte, dass sie ihre ungarische Heimat nicht wiedersehen würden. Sie erinnerte sich noch an die endlose Reise durch die deutschen Wälder, an Übernachtungen auf düsteren Burgen und in schmutzigen Herbergen, an Pferdewechsel, Diebstahl und auseinanderbrechende Sänften. An die tapfere Mutter, die ihren Jüngsten, Christinas Bruder Edgar, stets selbst auf dem Pferd getragen hatte, statt ihn der Amme zu überlassen. Die niemals geklagt hatte, wie beschwerlich der Ritt auch gewesen war. Selbst an die Namen von untreuen Dienern konnte sie sich erinnern und an die Lieder, mit denen Katalin sie Abend für Abend in den Schlaf gesungen hatte. Und immer wieder an den Vater, der alles mit Ruhe und Übersicht arrangiert und immer noch Zeit für einen Scherz gehabt hatte …

Er war an einem Fieber gestorben, kaum dass sie London erreicht hatten. Als ob seine unerschöpfliche Kraft auf einmal aufgebraucht gewesen wäre. In nur einer Nacht war er krank geworden und gestorben. Sie hatten bleiben dürfen, Agatha und seine drei Kinder. Man hatte sie auf Geheiß des siechen Königs standesgemäß untergebracht, es hatte ihnen in all den Jahren an nichts gefehlt.

Nach dem Tod des alten Königs hatte der neue Herrscher Harold Godwinsson seine Hände über die ungarischen Æthlings gehalten und weder versucht, die beiden Mädchen zu verheiraten, noch Edgar nach dem Leben getrachtet, wie Katalin prophezeit hatte. »In Ungarn würde man den Jungen töten«, hatte sie immer gemurmelt. »Hier wird man ihn auch töten, was seid ihr so leichtsinnig, ihr müsst ihn wegschicken, in Sicherheit bringen, man wird ihn töten …« Doch nichts dergleichen geschah, der Junge wurde seinem Rang gemäß erzogen, und Christina und Margaret durften die Klosterschule von Wiltham besuchen.

Dann kam Wilhelm aus der Normandie, und Katalins Prophezeiungen wurden immer düsterer. »Edgar ist von angelsächsischem Königsblut«, hatte sie immer geraunt. »Er wird deshalb sterben!« Wieder irrte die Amme sich. Wilhelm gab dem Jungen Schwert und Pferd und ließ sich von ihm sogar in die Normandie begleiten. Vielleicht hatte das Edgars Ehrgeiz genährt, sich doch noch die Krone zu holen, die sich der Vater nicht mehr hatte aufsetzen können. Christina spielte mit ihrem Zopf – jedes Haar war eine Erinnerung, ihr Kopf war so voll davon, und sie wünschte sich an einen Ort, wo sie ihre Erinnerungen in Ruhe zählen und ordnen konnte.

Doch den gab es hier noch weniger als anderswo, denn Margaret holte sie in die Realität zurück: »Wenn Vater den Thron bestiegen hätte, wärst du jetzt die Frau eines zerknitterten alten Earls und hättest einen dicken Bauch vom Kinderkriegen.« Die Schwester hielt inne. »Und ich vermutlich auch«, flüsterte sie zaghaft.

Christina streichelte ihr das Haar und zog sie dichter an sich. Seit Kindertagen war es Margarets Wunsch gewesen, den Schleier zu nehmen und in ein Kloster zu gehen. Sie hatte die Ordnung und den Frieden in dem Konvent geliebt, wo sie beide erzogen worden waren. Die Überschaubarkeit des Tages. Den Frieden, den Sprachen, Arithmetik und das Niederschreiben heiliger Texte vor dem Schüler ausbreiteten. Die Reinheit der kostbaren Leintücher, in die sie heilige Muster stachen, damit sie Altäre schmückten.

Christina hatte sich oft gelangweilt und Gebetsstunden geschwänzt und war dafür bestraft worden – sie kannte auch die andere Seite des Konventlebens. Unerbittliche Benediktinerinnen, Strafpredigten, den Rohrstock. Das Hungern für die Disziplin, die ihr so schwerfiel. Doch sie schwieg, weil sie wusste, dass Margaret davon nichts hören wollte. Disziplin war für die Schwester nie so ein Feind gewesen wie für sie.

»Was wohl jetzt wird, Magga?«, wisperte sie stattdessen.

Margarets Finger stahlen sich in ihr lockiges Haar und begannen damit zu spielen. »Mutter will so gerne nach Ungarn zurück«, kam es sehr leise. »Edgar ist unschlüssig, was er tun soll. Ich hörte, wie Edwin von Mercia ihm Mut machte, als ich die Halle verließ. Aber, Stina – an dem Tag, als er sich entschied, London zu verlassen und Wilhelm als Gegner zu betrachten, hat er uns heimatlos gemacht. Das war ein Fehler.«

»Edgar sagt, wenn er nur genug Männer findet, um ein Heer zu bilden, kann er noch König werden. Und dann wird alles wieder gut.« Christina bewunderte insgeheim den Dickkopf des Bruders. Auch wenn er viel zu jung war, mit seiner Sturheit brachte er so manches Unmögliche zuwege …

»Das ist doch Unsinn.« Margarets Stimme klang eine Spur ärgerlich. »Edgar ist ein Kindskopf. Er hat nicht richtig nachgedacht, und nun sitzt er da in dieser Halle und weiß weder vor noch zurück. Wir können nicht mehr nach London zurück, wir haben überhaupt kein Zuhause mehr. Wir sind heimatlos, Stina. Ehrlich – ich weiß nicht, was aus uns noch werden soll. Ich weiß es nicht …« Ihre Tränen netzten Christinas Gesicht. Eng umschlungen lagen die Schwestern im Bett. In Notsituationen hatte Christina schon immer Halt in den Armen ihrer Schwester gefunden. Darauf hoffte sie auch dieses Mal.

»Wir haben uns, Magga«, flüsterte sie daher und fühlte ihr stummes Nicken an ihrem Hals. Warum überzeugte es diesmal nicht?

Noch etwas brannte Christina auf der Seele, und sie wagte erst nach langem Nachdenken, es in Worte zu fassen, weil es ihr so kostbar vorkam. Es war die ganze Zeit in ihrem Kopf gewesen … Aber vielleicht schlief die Schwester auch schon, sie war auf den Rücken gesunken. Überall waren gleichmäßige Atemzüge zu hören, auch die Geräusche aus der Halle waren verstummt. Nein, niemand war hier mehr wach … Sie zog die Knie an und schlang die Arme um die Beine, als würde das helfen, mit der Verlegenheit fertigzuwerden und dem, was ihr Herz so seltsam peinigte.

»Magga, wusstest du, dass es wehtut, wenn ein Mann einen umarmt?«, flüsterte sie in die Nacht.

Gleichgültig betrachtete die Stille diese Frage, strich sanft über Gesichter, vermischte die Frage mit der Atemluft, machte sie ungesagt, ungehört, ließ die Erinnerung an sie in der Dunkelheit verwehen. Sicher schlief die Schwester, wie alle anderen, und hatte nichts gehört. Und es war am Ende gut, dass niemand ihre Frage mitbekommen hatte, denn dann blieb die Erinnerung an Nial und diesen merkwürdigen, wundersamen Schmerz, den seine Nähe hinterlassen hatte, ganz bei ihr … Sie lächelte hilflos vor sich hin. Nial. Gänsehaut kroch ihr den Nacken hoch. Nial …

»Was?«

Margaret schlief noch nicht.

»Was hast du gesagt? Wer hat dir wehgetan? Stina?« Sie hatte sich vor ihr auf den Ellbogen gestützt, ihr langes Haar fiel Christina ins Gesicht und verstärkte die Gänsehaut.

»Er hat mich … er … er«, stotterte Christina und schob das Haar zur Seite. Margarets Gesicht war nur ein Schatten über ihr. »Er … er hat mich aus dem Schlamm gezogen …«

»Und dann? Dann hat er dir wehgetan? Gütige Gottesmutter, was ist dann passiert? Warum hast du nichts davon erzählt?« Erregt rüttelte sie an Christinas Schulter. »Nun rede schon – was ist passiert?«

»Nichts, Magga. Er hat nur meine Ohren ruhig gemacht. Und mich dann zum Schiff getragen.«

»Er hat deine Ohren ruhig gemacht. Ach, Stina …« Jeder in der Familie wusste um den Ton, der Christina seit Kindertagen begleitete – der sie mal zum Weinen brachte und mal in eine merkwürdige Abwesenheit wiegte. »Aber wieso hat er dir dann wehgetan?« Margarets Hand auf ihrer Wange war so liebevoll, dass Christina fast die Tränen kamen.

»Mein Herz tat weh, Magga. Weiter nichts.« Und dann rollten ihr doch Tränen über die Wangen. Maggas Finger fingen sie auf, und sie beugte sich über Christinas Gesicht, um sie wegzuküssen.

»Wer war der Mann?«

»Sie nannten ihn einen culdee. Ein … ein Mönch, Magga. So nennen sie die Mönche hier. Ich hab ihn auf den Mund geküsst, und nun tut mir das Herz weh. Warum ist das so?«

Die Schwester schwieg, so sanft und verständnisvoll, wie nur sie es konnte. Kein Vorwurf kam ihr über die Lippen, sie hielt nicht einmal die Luft an, als das Wort »geküsst« vor ihrem Gesicht zitterte.

»Den Schmerz hat Gott dir geschickt, Stina. Damit du dich daran erinnerst. Du beichtest es morgen, und dann wird alles gut.«

»Ja«, flüsterte Christina erleichtert. Es tat nicht mehr ganz so weh, wenn sie sich zwang, nicht an die braunen Augen zu denken. Nein, es war besser, Späße zu machen. Ihr fiel da nämlich einer ein. »Und du – du beichtest, dass du den König so angelächelt hast, dass er nur noch stottern konnte?«

Sie spürte, dass die Schwester nun auch lachen musste, obwohl kein Laut zu hören war.

»Du meinst, das muss ich beichten?«

»Ja, unbedingt. Ich möchte doch zu gerne wissen, was er dir eigentlich sagen wollte …«

»Meinst du, er wollte mir etwas sagen? Er hat nicht den Eindruck gemacht …«

»Ja, weil du ihn zu viel angelächelt hast.«

Sie kicherten über die Erinnerung in die Felle hinein.

Drüben in der Halle wurde es laut. Offenbar schlief man dort doch noch nicht. Sie setzten sich auf, hielten einander bei den Händen. Durch die Holzwände hörte man, dass Männer erbittert aufeinander einsprachen, stritten, sich schließlich anbrüllten. Dann klirrte Metall, jemand schrie. Der Tumult nahm an Lautstärke zu, man hörte Fußgetrappel, Rufe. Ein markerschütternder Schrei. Dann wurde es leiser, die Schreie gingen in Geheule über.

»Was geht dort vor?«, wisperte Christina. Jegliches Lachen war ihnen vergangen, der Zauber zweier Mädchen beim Geheimnisaustausch war verflogen. Heimatlos, schutzlos, donnerte es in Christinas Ohren. Heimatlos, schutzlos. Und der schrille Ton war wieder da.

Margaret lag erstarrt in ihrer Decke.

»Christina. Was auch geschieht – bleib bei mir. Versprichst du mir das?« Ihre Stimme zitterte, Gott allein wusste, welche düstere Ahnung er ihr mit dem Lärm da unten geschickt haben mochte. Christina küsste sie sanft, obwohl sie selbst vor Furcht zitterte.

»Ich verspreche es dir. Ich will immer bei dir sein. So lange du willst, Magga.«

»Danke«, hauchte Margaret. »Gott steh uns bei …«

Zweites Kapitel

Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.

(Prediger Salomo 1,18)

Wieder floh sie der Schlaf.

Wieder lag Christina wach, umgeben von den ruhigen Atemzügen der anderen. Unten in der Halle war es still, nachdem sie noch lange gesprochen hatten. Lag der Tote einfach bei ihnen? Oder hatten sie ihn hinausgeschafft? Wie sah es da unten überhaupt aus? Man hatte die Frauen nach der Ankunft mit trockenen Kleidern versorgt und ihnen ein warmes Essen neben die Feuerschale in der Kammer gestellt, damit sie sich unbelästigt von den Strapazen ausruhen konnten. Aber was war in der Halle geschehen?

Unruhe und Neugier wurden allmählich übermächtig, und so kroch sie ganz leise und vorsichtig aus den Fellen, zog sich ihr Leinenhemd über den Kopf und schlich zur Tür. Niemand erwachte, niemand folgte ihr. Selbst die Stiege war ihr gewogen und knarrte kaum, als sie dicht am Holzgeländer entlangkletterte, die Feuerstelle unten im Blick, wo in Decken gewickelt Männer lagen und schliefen. Auf einer der untersten Stufen machte sie Halt und ließ den Blick durch die Halle schweifen. Weitergehen war zu gefährlich. Aber wo war der Tote? Sie wollte doch nur wissen, ob sie mit einem Toten unter einem Dach …

Der Mann stöhnte. Er war also nicht tot. Sie kauerte sich an das Geländer. Und schaute sich neugierig in der Halle um, wo sie schon mal da war.

Die Feuerstelle rauchte, man benutzte hier Torf und nicht Holz, wie sie es von London gewöhnt war. Der Torfrauch reizte zum Husten und färbte die Wände dunkel, daran konnten nicht einmal die Fackeln etwas ändern. Düster war diese Halle – so düster wie die Männer, die auf dem Boden lagen und schliefen. Und überall schimmerte Metall – Waffen, wohin man auch schaute. An den Wänden, auf dem Boden, niemand trennte sich von seinem Schwert. Vielleicht waren selbst ihre Kreuze aus Metall. Wenn sie überhaupt Kreuze hatten. Katalin hatte gesagt, Barbaren hätten keine Kreuze. Sie kniff die Augen zusammen, um mehr von den bärtigen Gesichtern zu erkennen. Kreuze – danach sahen diese Männer wirklich nicht aus. Was für ein grässlicher Ort …

Christina umschlang ihre Knie mit beiden Armen. Hier wollte sie nicht bleiben. Edgar musste einen anderen Platz für sie finden, das konnte doch nicht so schwer sein. Gleich morgen früh würde sie ihm sagen, dass er für Margaret und sie einen sauberen, anständigen Ort finden musste – ein Kloster würde es in diesem Lothian doch wohl geben.

»Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum; benedicta tu in mulieribus …«, hörte sie da den Verletzten an der Wand wispern. Sie hatten ihn einfach so liegen gelassen.

»Sancta Maria, Mater Dei«, flüsterte Christina für ihn, es konnte ja nicht schaden, unabhängig davon, wer er war und warum er leiden musste. »Ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae …« Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber die Fackel an der Wand verriet, dass seine Kleider rot vom Blut waren. Sicher litt er Schmerzen. Sie wagte sich die Treppe nicht weiter hinunter, und helfen konnte sie ihm auch nicht. »Ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae …«

Etwas konnte sie doch für ihn tun. Vorsichtig hob sie die Hand. Der Mann wirkte ganz klein gegen ihre Hand, und als sie sie über ihn deckte, verschwand er sogar dahinter. Sie spielte weiter mit ihrer Hand, krümmte die Finger und umfasste ihn damit über die Entfernung. Wärme durchdrang sie, entfloss ihr schließlich und flog wie ein kleiner dunkler Vogel zu dem Mann. Sie lächelte ihm hinterher. Wenn niemand sie dabei erwischte, half das immer.

»Bist du denn närrisch, Kind?«, raunte da hinter ihr Katalin. »Du wirst dir hier draußen den Tod holen, vor allem, wenn diese Barbaren dich entdecken! Komm sofort zurück in die Kammer …« In drei Decken gehüllt, deren Enden schwer über die Stufen schleiften, schlich die Amme zu Christina herab und packte sie am Arm. »Komm, Kind, bevor einer von denen erwacht, komm …«

»Wo ist der König?«, flüsterte Christina, die mit dem Betrachten der Männer noch lange nicht fertig war. Katalin hatte auch nicht gemerkt, was sie gerade getan hatte. »Welcher von denen ist es? Und warum haben sie sich gestritten? Hast du den Krach gehört, Katalin?«

»Der König vergnügt sich mit einer Magd in seiner Kammer. Nachdem er deiner Schwester schöne Augen gemacht hat.« Katalins Stimme klang ärgerlich. Sie hatten nur über den stotternden König und Margarets Lächeln gelacht …

»Er ist ein Barbar. Und ich weiß nicht, warum die anderen Barbaren sich gestritten haben, von mir aus können sie sich die Köpfe einschlagen, solange sie uns Frauen nur in Ruhe lassen. Komm jetzt, rasch weg von hier, bevor einer von ihnen wach wird und dich bemerkt …« Ungeduldig rüttelte sie sie an der Schulter. »Komm jetzt.«

Christina warf einen letzten Blick über die Krieger in der Halle. Dann steckte sie die Hand, die den kleinen Vogel ausgesandt hatte, unter den Arm, wo es warm und geborgen war und niemand dumm fragen würde.

Das Stöhnen des Mannes an der Wand war verklungen.

Am nächsten Morgen lebte der Verwundete aus der Nacht noch.

Er jammerte zwischen den Fellen, und Männer standen dicht gedrängt um ihn herum, während eine Dienstmagd blutige Lumpen gegen etwas trockenere Lumpen austauschte. Christina schlich näher und erkannte einen jungen Ritter, den sie in Edgars Kreisen schon einmal gesehen hatte. Er wirkte nicht mehr so ruhig wie in der Nacht, aber er war auch nicht tot, stellte sie befriedigt fest. Und sicher hätte man auch einen Heilkundigen oder den Priester geholt, wenn er lebensbedrohlich verletzt gewesen wäre. So wäre es zumindest in London gewesen. Hier gab es wohl keinen Priester …