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Eine starke Frau in den Wirren der normannischen Zeit.
Um für ihren ertrunkenen Verlobten zu beten, pilgert Ima von Lindisfarne auf dem Pfad des heiligen Jakob nach Santiago. Das Schicksal jedoch weist ihr einen dornenreicheren Weg, als Aidan, der Bruder des Verstorbenen, dem raubeinigen Ritter Gérard nach Salerno folgt. Während sich die normannische Streitmacht darauf vorbereitet, Papst Gregor XII. zu befreien, schließt Ima sich einer Gauklertruppe an, um Aidan zurückzuholen. Bald brennt Rom – und Aidan stirbt in Imas Armen. Der mutigen jungen Frau bleibt nur noch die Reise nach Salerno, an der Seite von Gérard, der sich liebevoll um sie bemüht ...
Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Die Rose von Salerno".
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Seitenzahl: 605
Eine starke Frau in den Wirren der normannischen Zeit.
Um für ihren ertrunkenen Verlobten zu beten, pilgert Ima von Lindisfarne auf dem Pfad des heiligen Jakob nach Santiago. Das Schicksal jedoch weist ihr einen dornenreicheren Weg, als Aidan, der Bruder des Verstorbenen, dem raubeinigen Ritter Gérard nach Salerno folgt. Während sich die normannische Streitmacht darauf vorbereitet, Papst Gregor XII. zu befreien, schließt Ima sich einer Gauklertruppe an, um Aidan zurückzuholen. Bald brennt Rom – und Aidan stirbt in Imas Armen. Der mutigen jungen Frau bleibt nur noch die Reise nach Salerno, an der Seite von Gérard, der sich liebevoll um sie bemüht …
Das Buch erschien vormals unter dem Titel »Die Rose von Salerno«.
Über Dagmar Trodler
Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de
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Dagmar Trodler
Die Suche der Heilerin
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Nachwort
Impressum
Dich lieben ist mein Verhängnis,
dir angehören mein Sein,
Dein Staub mein Eden, mein Frieden
das Wohlgefallen von dir.
(Hafis)
Der leise Schrei der Pilgerin verklang im vielstimmigen Raunen des Pater noster.
Kaum jemand bemerkte, dass sie in sich zusammengesackt war; immer wieder fielen in den großen Kathedralen Pilger um, weil sie schwach oder erschöpft waren, ausgehungert, halb verdurstet, weil der Weihrauchnebel ihnen die Luft nahm – oder weil Gott sich ihnen zeigte. Man ließ sie dann ehrfurchtsvoll liegen und küsste ihren Mantelsaum, und oft wagten nur Priester, den Geschwächten wieder auf die Beine zu helfen.
Als die Frau umkippte, kreischte ihre Nachbarin und sprang auf. »Seht nur … Seht, sie trägt Wundmale … Seht! Ein Wunder, seht nur, ihr Blut! Wundmale wie der Herr am Kreuz! Mein Gott …« Fassungslos hob sie ihre Hände zum Himmel. Gläubige fuhren zurück – und fielen auf die Knie, um Gottes Nähe teilhaftig zu werden. Der Körper der Pilgerin zuckte.
»Seht ihr das Blut?«, flüsterte die Frau. »Es kommt von der Dornenkrone …«
»Unfug, sie ist gefallen.«
»Gefallen? Wo? Wer ist gefallen? Ist der Teufel hier?«
»Sie ist besessen«, raunte jemand voller Furcht. Unruhe kam auf. Die Kerzen flackerten. Besessen? Strich der Böse vorbei auf der Suche nach Seelen?
»Ich sah aber Wundmale«, beharrte die Nachbarin. »Wundmale und Blut sah ich – und ich hörte die Stimme des Herrn, ich sah Seine Engel …«
»Engel!«, rief ein Mann. »Sie trägt die Dornenkrone, seht nur!« Und er sank auf die Knie, während die Umstehenden sich nicht recht entscheiden konnten, was nun das größere Wunder war – Blut auf der Stirn oder Engelserscheinungen.
Ima war schneller. Sie fasste die Frau an den Schultern und drehte sie zu sich um. Blut rann ihr über die Stirn, vermutlich war sie unglücklich gefallen, in die Scherben eines Tongefäßes, das ein Pilger dort hinterlassen hatte. Dünner weißer Schaum stand ihr im Mundwinkel, und ihre Augen quollen unnatürlich hervor. Ihr schmaler Körper war hart wie Stein unter den einfachen Flachskleidern. Ohne weiter nachzudenken, wischte Ima ihr schnell den Schaum von den Lippen. Sie erkannte dieses Zeichen, sie hatte Anfälle dieser Art schon oft bei ihrer kranken jüngeren Schwester erlebt und wusste, wie aufgeregt die Leute darauf reagierten, erst recht an einem so brütend heißen Sommertag, wie ihn das Jahr des Herrn 1083 bescherte. Schon am frühen Morgen war eine junge Frau auf dem Weg zum Brunnen in Ohnmacht gefallen. In der Pilgerhalle hatten sie einen toten Säugling gefunden, seine Mutter war zu schwach, um aufzustehen. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man schon von einem Fieber, das die Runde machte, von einem Fluch über Avignon … Und nun dieses. Ein übler Tag, man würde vermutlich noch mehr beten müssen. Noch viel mehr. Ima seufzte.
»Fass mit an, Mädchen.« Die tiefe Stimme des Großvaters brachte augenblicklich Ruhe in ihr aufgewühltes Gemüt. Der Mönch vom Mont St. Michel fasste die Krampfende unter den Armen und bedeutete Ima, die Beine zu nehmen, um sie vom Altar wegzuschaffen, hinaus an die frische Luft, wo sie wieder zu sich kommen konnte.
»Ihr dürft sie aber doch nicht anfassen!«, rief der Erste.
»Engel!«
»Sie trägt eine Dornenkrone, lasst sie hier vor dem Altar!«
»Teufelswerk«, murmelte ein alter Mann, »Teufelswerk!« Rasch humpelte er davon, denn wieder lief ihr feinblasiger Schaum aus dem Mundwinkel. Irma warf ihr Halstuch über das starre Gesicht, dann hasteten sie los und drängten sich energisch durch die Menschenmassen, die auch bereitwillig auseinandertraten. Hinten hatte sowieso kaum jemand mitbekommen, was genau passiert war. Nur dass ein Engel erschienen war.
»Ein Engel? Wirklich?«
»Ein ganzer Chor!«
Die Kirche des burgundischen Valence war in Aufruhr, und die Wände warfen sich das Echo der Stimmen so erregt zu, dass man bald sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Vielleicht hatte auch Gott angefangen zu raunen – bestimmt hatte Er das. Die burgundische Pilgerstadt, voll von Pilgern des heiligen Jakob, erbebte, weil sich ein Wunder zugetragen hatte, wie man es selten erlebte: Engel hatten sich gezeigt, gleich mehrere direkt vor dem Altar, gesungen hatten sie und gestrahlt, dass es selbst die Sonne geblendet hatte!
Dank der Engelseherin, die, umringt von Gläubigen, immer entrückter von ihrer Vision berichtete, blieb nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig für eine Dornenkrone, die blutige Spuren auf einem Frauenantlitz hinterlassen hatte. Niemand vermisste die Kranke.
Frère Lionel und Ima legten sie schweratmend auf den Stufen der Kathedrale ab. Über dem Transport hatten sich die Krämpfe der Frau gelegt, und ihr Körper fühlte sich wieder schlaff und weich an. Das Blut war längst getrocknet. »Immer das Gleiche«, seufzte der Mönch, »kein Essen, zu wenig Wasser, Schmutz und Weihrauch, Pein, weil sie barfuß laufen. Frauen halten das nicht aus. Kinder erst recht nicht. Aber auf mich hört ja keiner …«
Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel Burgunds und verwandelte alles zu Staub – Staub, der in die Atemwege drang und den Mund ausdörrte. Menschen eilten achtlos an ihnen vorbei. Nicht mal Priester fanden die Zeit, nach der Frau zu schauen oder Wasser anzubieten. Die Kunde von der Engelserscheinung in der Kathedrale hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und Besitz von Geist und Herzen ergriffen. Ein Engel – Gott hatte sich gezeigt! Ima seufzte.
»Schau nicht so abschätzig drein«, tadelte Frère Lionel. »Ich weiß genau, was du denkst.« Ima lachte grimmig. Als Tochter eines tief im Herzen heidnischen Vaters war ihr ein sündhaft kritischer Verstand mitgegeben worden, und so sah sie dort, wo andere den Allmächtigen vermuteten, eher Weihrauchschwaden, Löcher in den Kutten und tiefe Taschen unter den Soutanen, die viel Platz für Münzen und Donationen boten. Natürlich hatte sie damit auch oft recht. Der Mönch sah einem feisten Bischöflichen hinterher, der die Stufen der Kathedrale hochkeuchte, ohne nach der Kranken zu schauen, um nichts von den heiligen Ereignissen zu verpassen.
»Na, weißt du wirklich, was ich denke?«, fragte sie.
»Dir fehlt die nötige Ehrfurcht, Kind. Manchmal zeigt Gott sich auch den Kleingläubigen.« Sein besorgter Blick drückte aus, was er sich für sie wünschte.
»Pfff …« Um ihn nicht noch mehr zu verärgern, verkniff sie sich jede weitere Bemerkung und beugte sich stattdessen über die Pilgerin, um mit geschickten Händen an den Blutkrusten herumzufingern. Ima interessierte körperliches Heil weitaus mehr als das Seelenheil. Sie hörte ihn nur seufzen.
Ein Jüngling kam um die Kathedrale herumspaziert, offenbar tief in Gedanken versunken, die Arme auf dem Rücken verschränkt, die Stirn in finstere Falten gelegt. Leise murmelnd führte er Selbstgespräche, und nicht gerade nette, so hatte es den Anschein. Ima sah hoch.
»Aidan!«, rief sie. »Aidan, komm und hilf uns!«
Schlagartig hellten sich seine Züge auf. Mit zwei Sätzen war er bei Ima, und seine Augen strahlten.
»Hier bin ich, Ima, was soll ich für dich tun? Hast du auch so einen Hunger? Ich könnte …«
»Du sollst ein Christenwerk vollbringen und diese Frau zum Brunnen tragen«, sagte der Mönch statt ihrer trocken. »Wir möchten ihre Wunden versorgen.« Aidan nickte, und kurz darauf befanden sie sich abseits der Kathedrale am Rand des Brunnens, wo jemand sein Trinkgefäß vergessen hatte. Ein paar Vögel flatterten empört auf, als Ima um den Brunnen herumhastete. Im Schatten saßen zwei Bettler. Der eine beschmierte gerade seinen Beinstumpf mit dem Blut einer erlegten Ratte, des anderen Arme waren von schwärenden Pusteln bedeckt, die er vorsichtig aufkratzte. Sein Hemd war just so zerrissen, dass man die Pusteln sah. Schlimme Krankheiten öffnen Almosenbeutel, hieß es.
»Meinst du, das hilft?«, fragte Ima stirnrunzelnd.
»Habt Ihr eine bessere Idee?«, gab der Bettler unfreundlich zurück. Seinen lauernden Blick auf ihre Pilgertasche ignorierte sie, nahm stattdessen wortlos den Wassereimer vom Brunnenrand und drehte ihnen den Rücken zu.
Der Junge legte die Pilgerin neben dem Brunnen ab und beugte sich über die Frau. »Ui, wie sieht die denn aus?«, staunte er. »Hat sie sich geprügelt?«
»Höchstens mit ein paar Wanzen aus dem Strohsack.« Ima ließ ihre dichten blonden Brauen vielsagend tanzen. Den Juckreiz, den Wanzen verursachten, kannten alle Reisenden, die in miefigen Herbergen unterkamen und Bekanntschaft machten mit allem, was biss, stach und Blut saugte.
»In der Kirche glauben sie an ein Wunder«, bemerkte Lionel und schob sich die Kapuze vom Kopf, was man in dieser Bullenhitze nur kurzzeitig machen konnte, weil einem sonst die frisch geschorene Tonsur verbrannte. Aber besser Hitze und Sonnenbrand als diese ewige nasse Kälte auf Lindisfarne, der kleinen Klosterinsel im Norden von Northumbria, von wo aus sie vor Wochen zur Pilgerfahrt aufgebrochen waren. Ima wusste, dass ihm das Wetter dort nicht gutgetan hatte, obwohl er seine Insel liebte.
Sie hatte den Wassereimer auf den Boden gestellt und tupfte der Frau das Blut von der Stirn. Die kam zu sich und schlug die Augen auf. Sie murmelte ein paar fremdländische Worte, erhob sich, schwerfällig und schwankend zwar, aber zielstrebig – und ging einfach ihrer Wege.
»Und?«, krächzte da der eine Bettler um die Ecke. »Was hat Euch das jetzt eingebracht?«
»Gottes Segen?«, mutmaßte Aidan.
»Der macht mich nicht satt«, kam es aus dem Schatten.
»Hätte ich sie etwa liegen lassen sollen?«, fragte Ima empört. Sie wusste nicht, was sie mehr ärgerte, die Frau oder der Bettler. Die Bettler jedenfalls wurden immer frecher, je weiter man nach Süden kam.
»Ihr hättet wenigstens nach Almosen in ihrem Beutel schauen können«, grinste der zweite Bettler.
»Sie hätte sich wenigstens bedanken können«, pflichtete Aidan dem Lumpenbündel bei, »oder sie könnte eine Kerze für dich anzünden.«
»Sie kommt vom lothringischen Rhein«, brummte Lionel finster und sah ihr hinterher. »Da sind die Leute so.«
»Ehrlich?« Aidan machte große Augen. Ima hockte sich stumm auf den Brunnenrand und sah der Pilgerin nach, die zurück in die Kirche ging, von wo der Engelaufruhr inzwischen nach draußen drang und wo sich wohl niemand mehr an sie erinnern würde.
»Wart Ihr da schon mal? Am Rhein? Wie ist es dort?« Der Junge ließ nicht locker. Sie betrachtete seinen wirren Schopf, der in jeder Pilgergruppe auffiel, weil er sich nicht demütig senkte, sondern neugierig umherstarrte und damit schon Leute aufgebracht hatte, weil sich das in der Andacht nicht gehörte. Jetzt sah er ihr ins Gesicht. »Ich meine – wir könnten doch einen kurzen Abstecher machen …«
Da lachte der Mönch schallend auf. Sein ernstes Gesicht verwandelte sich in ein Bild hüpfender Falten und Krähenfüße um die Augen, und im Überschwang knuffte er den Jungen in die Seite wie einen Saufkumpan. »Das würde dir gefallen, was? Der Abstecher, der dir vorschwebt, dürfte einige Wochen …«
»Wir haben bereits einen Abstecher gemacht, Aidan«, unterbrach Ima den Heiterkeitsausbruch. »Wir haben den Pilgerzug der Angelsachsen verlassen und sind quer durch Frankreich gezogen, war dir das nicht Abstecher genug? Du hast Königin Mathilde in Caen getroffen. Du hast in Saint-Benoît König Philippe von Frankreich vorbeireiten sehen. Du warst in Vézelay und in Cluny …« All diese Orte lagen abseits der üblichen Pilgerroute, und Ima hatte sich mehr als einmal gewundert, warum der Großvater die Route änderte, die man, von Norden her kommend, zu nehmen pflegte, doch er hatte stets ein gutes Argument gehabt und niemand aus der kleinen Pilgergruppe hatte Einspruch erhoben. Oder hatten sie es nicht gewagt? Sie betrachtete ihn von der Seite. Er war ein Dickkopf und ein ruheloser Geist, und Lady Eileen, in deren herrschaftlicher Begleitung sie reisten, hätte seine Entscheidungen niemals infrage gestellt. Einem Mann der Kirche widersprach man nicht. Und Vézelay war durchaus auch ein sehr heiliger Ort, ebenso wie das Kloster von Cluny.
»Die Pilgerschaft reinigt die Seele. Und der Toten können wir überall gedenken«, hatte Lionel immer wieder gesagt. Die Toten waren der Grund für die Reise, für ihr Seelenheil wollten sie beten – für Stephens Seelenheil. Ima starrte auf den staubigen Boden. Stephen.
Stephen von Carlisle. Der Mann, der sie noch vor der Heirat zur Witwe gemacht hatte. Sie waren einander versprochen gewesen, obwohl Stephens Vater, ein northumbrischer Thane, lange gegen diese Verbindung gewesen war. Man heiratete als ältester Sohn eines Thane nicht aus Liebe, und schon gar nicht eine Frau von hohem Blut, aber ohne Vermögen. Stephen hatte seinen Willen durchgesetzt und sogar den Segen König Guilleaumes dafür erhalten, was in London für großes Aufsehen gesorgt hatte. Von der Insel Farne hatte er ihr kurz vor der Hochzeit ein Geschenk aus den Felsen holen wollen. Stephen war von dieser Fahrt durch gefährliche Untiefen nie zurückgekehrt, das Meer hatte ihn mitsamt dem Kahn an einem stürmischsonnigen Nachmittag verschlungen. Ima war erstarrt vor Entsetzen zurückgeblieben. Der eisige Wind Lindisfarnes hatte ihr Herz zu einem Block zurechtgeschliffen, hinter dem Tränen und Selbstvorwürfe verschlossen waren – es gab kein Vergessen. Nur die Trauer war etwas leiser geworden. Auch Imas Vater hatte das Meer geholt. Vor vielen Jahren war er vom Ufer Lindisfarnes verschwunden, und sein Leichnam wurde niemals gefunden. Das Meer um Lindisfarne war hungrig und schnell wie ein Raubtier, seine Wellen glichen im Winter den Reißzähnen eines Wolfes und die Strömungen den Armen des Teufels.
Ima seufzte leise. Der Tag, an dem ihr Vater ertrank, war beinah noch dramatischer gewesen als Stephens Tod. Abwehrend schüttelte sie den Kopf, um die Erinnerung daran zu vertreiben. Die Mutter trauerte seither so sehr, dass selbst die gütigen Mönche des heiligen Cuthbert sich um ihre geistige Gesundheit sorgten. Nein. Ima zog die Nase hoch. Ihre Trauer machte andere krank. Die Mutter war verrückt geworden, wenn man das Kind beim Namen nannte, und das Leben mit ihr war furchtbar anstrengend. Ihr Geisteszustand war tatsächlich mit ein Grund, warum Ima auf Pilgerfahrt gegangen war – sie hatte es daheim einfach nicht mehr ausgehalten. Jener furchtbare Tag, an dem der Vater verschwunden war, lag nun viele Jahre zurück – Stephens Tod jedoch nur ein Jahr. In Santiago de Compostela wollte sie am Grab des Apostels für beide beten, wollte um Erlösung bitten für ihre auf dem Meeresboden herumirrenden Seelen und Ruhe für sich selbst … Stephens Tod hatte ihr das Herz zerfetzt.
»Hier, trink einen Schluck.« Frère Lionel hielt ihr seinen Pilgerbecher hin. Statt Wasser befand sich süßer Wein darin. Wo er den nur wieder herbekommen hatte. »Lass die Vergangenheit ruhen, Mädchen«, sagte der Mönch leise und strich ihr über den Rücken. »Lass sie ruhen.« Sie nickte und trank noch einen Schluck. Der Schmerz über den Verlust brach meist in Wellen über sie herein, vielleicht war heute so ein Tag … Sie beschloss, am Abend doch noch einmal in die Kathedrale zu gehen und ein Gebet zu versuchen. Warum schenkte das Gebet allen anderen Erleichterung und nur ihr nicht?
Aidan schob derweil Steinchen mit dem Fuß herum. »Wo reisen wir denn als Nächstes hin?«, fragte er unzufrieden. Ima musste lächeln. Aidan war Stephens kleiner Bruder, ein neugieriger, unternehmungslustiger Jüngling, für den seit Kindertagen feststand, dass er trotz seiner Schmächtigkeit dereinst in König Guilleaumes Leibwache berufen werden würde. Sein Vater hatte schon gewusst, warum er gegen Aidans Teilnahme an der Pilgerreise gewesen war … Ima war als Aidans Fürsprecherin mitgekommen und hatte dem Vater in die Hand versprechen müssen, dass sie ihm seinen letzten Sohn heil zurückbrachte.
»Nach Santiago de Compostela.« Sie holte tief Luft. »Wir reisen immer noch nach Santiago, Aidan.« Eine Brise kam auf und nahm die schwermütigen Gedanken mit. Einstweilen zumindest.
Ab Avignon füllten sich die Pilgerherbergen, denn hier unten in Aquitanien teilten sich die Wege nach Rom, Jerusalem und Santiago. Viele Pilger hier kamen aus den hohen Bergen im Osten, wie Lionel erklärte. Es waren unfreundliche, spitznasige Menschen, die sich mit Zeichensprache verständigten und untereinander eine sehr merkwürdige Sprache pflegten. Meist ritten sie auf Eseln, die Weiber gingen stets zu Fuß. Bettler hatten von ihnen nichts zu erwarten.
In den Gassen wurde es eng, überall roch es nach Weihrauch und ungewaschenen Menschen. Selbst auf großzügige Entlohnung hin wurde das Essen immer karger und das Wasser brackiger. Die Wirtsleute hielten für alles die Hand auf, obwohl der Bußfertige dazu angehalten war, all sein Gut den Armen zu geben. Die meisten merkten schnell, dass das Pilgerleben mit ein paar Münzen einfacher wurde. Die meisten merkten auch erst beim dritten Mal, wie sie übers Ohr gehauen wurden, wenn sie schlechtes Essen oder überteuerte Kerzen kauften oder über Nacht in finstere Absteigen gelockt wurden. Allerlei Pack säumte die Wegränder, um von den Pilgern zu betteln und an ihren Mantelsäumen zu zupfen. Fromme Gesänge mischten sich mit unflätigem Gegröle und Gelächter, denn längst nicht jeder mit einem Stab in der Hand war auch im Namen des Herrn unterwegs, das musste Ima lernen. Frère Lionels kleine Gruppe hielt sich daher lieber abseits. Lady Eileen ertrug alles klaglos und betete von früh bis spät. Ima gestand sich ein, dass sie solch inbrünstige Frömmigkeit noch nie gesehen hatte – nicht einmal auf Lindisfarne bei den frommen Mönchen des heiligen Cuthbert. Sie selbst verwandte weitaus mehr Energie darauf, Wasser aus den Brunnen zu ziehen und an die Mitglieder der Reisegruppe zu verteilen, damit niemand krank wurde. Imas Schwester lachte nur darüber. Das junge Mädchen sprach so gut wie nie und lebte in seiner eigenen Welt, und es war dem Großvater zu verdanken, dass sie mit auf die Reise gekommen war. »Vielleicht schenkt Gott ihr am Grab des Apostels die Sprache wieder«, sagte er jedes Mal, wenn sie versunken vor sich hin starrte.
Ima grübelte oft, dass Pilgertum tatsächlich für jeden etwas anderes bedeutete, auch wenn alle auf demselben Weg mit Gott unterwegs waren.
Kämpfende Katzen tobten fauchend durch die Nacht, irgendwo jammerte ein Esel, und der Lärm aus einer Taverne drang an die Kathedrale. Die flirrende Hitze des Tages hatte sich etwas abgeschwächt, Ima schwitzte aber immer noch entsetzlich unter ihrem dicht gewebten Mantel, und sie wollte ihn gerade ausziehen, als ein Laut hinter einem Erker sie aufschrecken ließ.
»Was habt Ihr im Gepäck?«, fragte der Priester. »Habt Ihr etwas für mich? Ich sah ein großes Bündel auf Eurem Esel.«
»Ich war im Heiligen Land«, raunte der Händler. »Der Segen Gottes kam über mich, bei Nacht, und …«
»Habt Ihr etwas für mich?«, unterbrach der Priester ungeduldig. »Reliquien? Habt Ihr Reliquien?«
»Ich habe ein Stück vom Schleier der heiligen Agatha«, flüsterte der Händler. »Er schwebte auf mich hernieder, als ich vor ihrem Schrein lag und betete. Er fiel einfach auf mich nieder, könnt Ihr Euch das vorstellen …«
»Was habt Ihr noch? Eure Taschen sind voll, Mann, das sehe ich doch!«, zischte der Priester. »Zeigt, was Ihr noch habt!«
Ima reckte den Kopf. Sie war in der Kathedrale gewesen, hatte vor dem Altar gekniet, bis ihre Knie schmerzten, hatte das Kreuz angestarrt und versucht zu beten. Das war nicht leicht gewesen zwischen all den schnarchenden Pilgern, die niemand aus der Kirche tragen wollte, den greinenden Kindern und einem Paar, welches sich lautstark zankte, wer von beiden länger gefastet und das Wohlwollen des Herrn mehr verdient habe. Irgendwann hatte sie aufgegeben, war auf ihre Fersen gesunken und hatte nur noch den Boden angestarrt. Nichts war mehr in ihrem Kopf – keine Worte, kein Stephen, nur Leere. Und ein bisschen Hunger. Die Leere entmutigte sie. Würde es in Santiago auch so sein? Viele Wochen für ihr Heil gewandert und statt Erlösung im Herzen weiter Leere? Sie fürchtete sich beinah vor dem Tag der Ankunft. Das riesige Holzkreuz am Altar hatte dazu geschwiegen. Daraufhin hatte sie die Kathedrale verlassen, jedoch den falschen Ausgang genommen und stand nun offenbar am Priesterhaus. Im sparsamen Licht des Sichelmonds konnte man nicht erkennen, wohin die Gassen führten. Der Priester hatte zwar eine Laterne, doch die stand am Boden und beleuchtete nur die Füße der Männer. Es raschelte.
»Ich hätte da noch … Ich hätte da noch einen Splitter vom Kreuz Christi«, lockte der Händler. »Schaut her.« Die Laterne wurde angehoben.
»Haben wir schon«, winkte der Priester ab, »sogar mit eigenem Altar.«
»Dann wäre da noch ein Zahn der heiligen Lucia, denn ich war auch in Konstantinopel, wo ihre Gebeine in einer Kapelle ruhen.« Er senkte die Stimme. »Wisst Ihr – sie wollte weg von dort.«
»Sie wollte weg?«
»Sie wollte weg«, nickte der Händler. »Der Zahn ist die einzig wahre Reliquie – alle Knochen in dieser Kapelle sind …«, er senkte seine Stimme, »… sind nämlich Fälschungen!«
»Fälschungen? Seid Ihr sicher?« Die Stimme des Priesters klang jetzt gierig, und seine hellen Finger schimmerten in der Dunkelheit, als er sie nach dem Kästchen ausstreckte.
»Sicher doch – alles Fälschungen«, hörte Ima den Händler noch, als sie unbemerkt davonschlich, um die Apsis herum, in die Richtung, wo sie die Herberge vermutete. Sie hatte sich den Weg nicht gemerkt, aber sie würde ihn schon finden. Anders als der Mutter daheim auf Lindisfarne machten ihr die Dämonen der Dunkelheit keine Angst. Ein leises Kribbeln lief ihr den Rücken herab, und in ihrer Brust fühlte sie sich frei wie lange nicht mehr. Lag es an Avignon? Oder daran, dass sie am Mittag mit den Füßen in der Rhône gestanden hatte? Das kühle Flusswasser hatte nicht nur ihre Haut erfrischt, es hatte ihre müde Seele benetzt und sie aufgeheitert, selbst als ein Fischer sie unfreundlich aus dem Wasser scheuchte. Ima lächelte. So merkwürdig die Menschen auch waren, die man unterwegs traf – man konnte sie wunderbarerweise einfach hinter sich lassen, jeden einzelnen, man konnte nach vorne schauen, wo der Horizont Licht versprach. Der Großvater hatte recht: Reisen war ein Geschenk und überhaupt nicht beängstigend, weil man die Sprachen vielleicht nicht verstand. Irgendetwas verstand man immer, und man lernte jeden Tag neue Worte und Bedeutungen von Mitreisenden. Sie hatte hispanische Worte gelernt, und auch aquitanische Sätze kamen ihr inzwischen flüssig über die Lippen. Jede Sprache war ein kleines Wunder für sich. Wie ein Blütenmeer lag die Welt ausgebreitet vor einem, und Gottes Hand ruhte über dem Reisenden, der zu sehen bereit war. Und je mehr Schritte man vorwärtstat, desto weniger schmerzte die Vergangenheit … Sie krampfte die Hand in ihr Brusttuch und schluckte schwer. Es galt noch viele Schritte vorwärtszutun, um Stephen zu vergessen …
»Na – hast du den Reliquienhändler angeschaut?« Aidans Stimme weckte sie aus ihren Überlegungen. Schlief eigentlich überhaupt jemand in dieser schwülen Nacht? »Hat er wirklich einen Zahn in diesem Kasten? Glaubst du das?«
»Du hast gelauscht!« Sie griff nach seinem Ärmel.
»Du doch auch«, grinste er. »Ich würde ja gerne nach Konstantinopel gehen und schauen, ob es stimmt, was er sagt. Dass in den Schreinen keine Reliquien liegen. Nur alte Knochen.«
»Du gehst nach Santiago«, unterbrach Ima ihn streng. »Und sonst nirgendwohin.«
»Bis dahin ist es noch so ein weiter Weg mit schlechtem Essen«, maulte er und trottete neben ihr her.
Ein weiter Weg. Das ging Ima am nächsten Tag durch den Kopf, als die Pilgergruppe sich sammelte, um Avignon zu verlassen. Ihr Weg würde an der Rhône vorbeiführen, wo es durch das dahinfließende Wasser nicht ganz so heiß sein würde wie oben in der Stadt. Aidan maulte, weil er nicht satt geworden war. Lionel hatte streng untersagt, aus der Reisekasse Münzen zu nehmen, um Brot zu kaufen. Solange es ging, würde man Almosen nehmen und das Geld den Armen geben, wie es für die Pilgerfahrt vorgeschrieben war. Der alte Schmied wickelte Lappen um seine Füße. Die ersten Etappen hatte er versucht, wie ein Büßer barfuß zu gehen. Als die blutenden Wunden zu eitern begannen, hatte Ima ihn überredet, wieder Schuhe zu tragen und stattdessen seinen Pilgerstab gegen einen schweren eisernen Stab zu tauschen. Sie fand, dass das Buße genug war für diesen alten Mann. Man hatte sie ausgelacht für ihre Sorge – was sollte schon passieren, die Pilger waren doch in Gottes Hand. Davon war Ima allerdings weniger überzeugt.
»Ich habe gestern wieder Damen gesehen, die sich mit der Sänfte zum Grab des Apostels haben tragen lassen«, erzählte Lady Eileen vorwurfsvoll und hängte sich ihren schweren Pilgermantel über die Schultern. »Mit Schleiern vor den Öffnungen, damit sie nicht von Fliegen belästigt werden. Ihre Träger aßen sogar Fleisch …«
»Natürlich, damit sie in den Pyrenäen nicht tot umfallen, wenn sie die Damen über die Berge schleppen«, lachte Frère Lionel gutmütig. »Ma dame, seid versichert, dass ich Euch auch tragen werde, wenn Ihr nicht mehr laufen könnt.«
Die Lady errötete – dem Charme des Mönchs war sie ganz offenbar schon nach wenigen Reisetagen erlegen. Und weil das sündhaft war, bekreuzigte sie sich und sank auf die Knie, um eine morgendliche Litanei zu beten. Die Frau des Schmieds folgte ihrem frommen Beispiel, und auch der alte Schmied ließ sich zum Gebet nieder. Leise seufzend begab Ima sich ebenfalls in die verhasste Kniehaltung. Die Morgenandacht in der Kathedrale hatte schon länger gedauert als üblich, weil der Altar umlagert war von engeltrunkenen, völlig übernächtigten Pilgern, die ihren Platz nicht räumen wollten, um sofort des Heils teilhaftig zu werden, wenn Gott ihnen wieder die Gnade einer Erscheinung erweisen sollte. Man hatte daraufhin alle verfügbaren Priester in die Kathedrale geholt, um die aufwallende Frömmigkeit in Bahnen zu lenken und die ohnmächtig Gewordenen abzutransportieren. Auch der Bischof von Avignon saß schon am frühen Morgen in der Kathedrale, obwohl man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte, dass er lieber lange schlief. Bei dem hektischen Kommen und Gehen hatte es zu viel zu gucken gegeben, als dass Ima Andacht gefunden hätte. Hier mitten auf dem Marktplatz fiel es allerdings nicht leichter, sich zu sammeln, und auf den Kieseln schmerzten die Knie.
Hufgetrappel ließ Ima aufschauen. Eine Gruppe Ritter kam die Gasse von der Festung herunter. In Zweierreihen reitend, nahmen sie den ganzen Platz zwischen den Häusern ein, und Weiber sprangen wild schimpfend zur Seite, um nicht von den Rössern getreten zu werden. Stolze Männer saßen im Sattel, waffenstarrend und mit glänzenden Brünnen. Glatt gestriegeltes Haar wehte im Morgenwind, die Pferde keuchten in stolzer Aufrichtung und schäumten vor Lauflust. Der Anblick zauberte ein Lächeln auf Imas Gesicht. Bilder aus London tauchten vor ihrem inneren Auge auf, Erinnerungen an Stephen und wie stattlich er im Sattel seines Rappen ausgesehen hatte … Stephen.
»Sieh nur«, raunte Aidan neben ihr. »Wo sie wohl hinreiten?« Seine dunklen Augen glitzerten. »Was meinst du? Sieh nur die Rüstungen und die wunderbaren Pferde!« Er konnte seine Spannung nicht länger bezähmen und erhob sich mit ausgestreckter Hand, just als sie an ihnen vorbeiritten. Durch die unerwartete Bewegung direkt vor ihm scheute das eine Pferd leicht, doch anstatt zu fluchen oder handgreiflich zu werden, wie viele Berittene es getan hätten, lächelte der Reiter nur über die staunenden Augen des Jungen und warf ihm eine Münze zu, während er sein Ross mit einem Zügelzupfen zur Räson brachte.
»Da, nimm, Junge! Und spar auf ein Pferd!«
Als die Ritter schon längst in der nächsten Gasse verschwunden waren, stand Aidan immer noch da, starrte lächelnd vor sich hin und drückte die aquitanische Münze fest an die Brust. Ima strich ihm über den Rücken.
»Eines Tages«, flüsterte sie, »eines Tages, so Gott will, Aidan.«
»Wir sind jetzt da. Hier ist Avignon.« Der Mönch legte ein Steinchen auf die Landkarte, ein abgegriffenes, bemaltes Lederstück. »Dies ist die Rhône, hier unten fließt sie ins Meer. Wir biegen hier bei Arles ab und gehen …«
»Gehen wir ans Meer?«, fragte Aidan hoffnungsvoll.
»Nein. Die Pilger des heiligen Jakob bekommen das Meer nur zu sehen, wenn sie von Santiago aus noch weiter nach Cap Finisterre ziehen, welches man das Ende der Welt nennt. Ich versichere dir – am Grab des Apostels wirst du froh sein, ans Ende deiner Pilgerreise gekommen zu sein, und nicht nach weiteren Wanderungen fragen.« Der Mönch grinste schief. Offenbar wusste er, wovon er sprach. »Also. Wir gehen nach Toulouse und ziehen über Sauveterre nach Roncevalles …«
»Das ist aber nicht der Weg, den alle nehmen«, wandte der alte Schmied ein, der die Ortsnamen des Pilgerweges auswendig gelernt hatte. »Der, den alle nehmen, heißt Via Tolosana, und er führt über Santa Cruz zum Grab.«
»Stimmt«, gab Lionel zu. »Wir gehen ein wenig anders. Aber auch spannend.« Seine Augen blitzten. »Ähm – in Gottes Hand, meine ich. Gott ist mit denen, die in Seinem Sinne wandern. Der Col de Somport ist, müsst Ihr wissen, sehr steil und nicht ungefährlich.«
»Gefährlich …« Lady Eileens Augen wuchsen, und sie bedeckte ihren Mund mit beiden Händen. »Verbrecher und Meuchelmörder …«
»Die, ma dame, lauern überall, wo Gottes Kinder ein paar Münzen in der Tasche tragen«, erwiderte Lionel ernst. »Deswegen ist es ja besser, ohne Münzen auszukommen.«
»Na – das ist aber wohl kaum der Sinn der Pilgerfahrt.« Ima runzelte die Stirn. »Der Sinn ist, seine Habe den Armen zu geben …«
»Das tun wir doch auch«, beruhigte Lionel die junge Frau, »das tun wir doch.«
»Braucht man sich denn nicht an die Wege zu halten?«, fragte Aidan begierig. »Kann man gehen, wie man möchte?« Seine Finger glitten über die Karte, als verspräche sie ihm die Welt. »Kommen wir nicht in diese Bucht? Wir könnten das Meer sehen …« Die Karte versprach ihm die Welt und mehr.
»Das ist Marseille, eine Hafenstadt. Von dort aus fahren Schiffe nach Spanien, nach Rom und nach Sizilien …«
»Sizilien. Siziiiilien.« Der junge Mann ließ den Namen voll Genuss aus seinem Mund perlen. Ima schüttelte nur den Kopf. Was für eine verrückte Idee, ihn auf die Pilgerfahrt mitzunehmen! Er wäre besser am Hof König Guilleaumes aufgehoben gewesen, wo man ihn Benimm und Tanz und in ein paar Jahren den Gebrauch des Schwertes gelehrt hätte. Sie bereute, sich beim Thane für ihn eingesetzt zu haben. Ach. Diese ganze Pilgerfahrt war so ein Wagnis, trotz Gottes Beistand. Wie sicher hätte sie sich gefühlt, wenn Stephen an ihrer Seite gewesen wäre. Seine Kraft, sein Mut und seine Unbekümmertheit hätten sie mühelos über die Berge in Spanien hinweggehoben … Sie seufzte und schielte nach den Mitgliedern ihrer Gruppe. Der alte Schmied, der den Rückweg vielleicht nicht mehr schaffen würde, weil sich seine Lippen immer blauer färbten. Lady Eileen, der sie in Vézelay bereits eine Geldbörse gestohlen hatten. Der Großvater, dessen Pläne niemand durchschaute und dem jeden Morgen etwas Neues einfiel. Der in den Kirchen inbrünstig beten konnte, sich aber von keinem Wachskerzenhändler übers Ohr hauen ließ. Die Schwester, die so still und unauffällig war, dass man sie leicht vergaß – wie in Nevers, wo sie Musikanten zugehört hatte und man erst außerhalb der Stadtmauer gemerkt hatte, dass sie fehlte.
»Sizilien.« Der Junge kratzte mit den Fingern über die Landkarte. »Da ist dieser Feuerberg, nicht wahr? Jemand hat davon erzählt. Er spuckt Feuer, der Berg. Und man kommt von Sizilien auch nach Jerusalem, nicht wahr? Kommt man von dort aus nach Jerusalem? Jerusalem, Ima. Könnten wir nicht …«
Ima beschloss, ihn im Auge zu behalten.
Auf der Spur der jungen Rose
lieber Gott, wo ist mein Herz
Hingelaufen, denn ich hab es
nicht gesehn seit Tag und Nacht?
(Hafis)
Die Natter starrte sie an.
Unverwandt traf ihr eiskalter Blick die junge Frau, prüfend schnellte die spitze Zunge aus dem Maul, züngelte unruhig witternd und verschwand wieder, ohne dass die Natter das Maul bewegte. Gefahr drohte.
Ein leichter Windstoß ließ Blätter erzittern, irgendwo schlug ein Vogel an. Gefahr.
Die Natur, eben noch lässig in der Sonne glitzernd, hob das Haupt und wurde wachsam. Der Haselbusch wackelte, ein Tier flüchtete in den Schutz der Blätter. Wind kräuselte die Wasseroberfläche, dann tanzten kleine Wellen zum Ufer, nicht ahnend, dass der Tod dort saß und alles im Blick hatte.
Eine dicke, nasse Strähne fiel Ima ins Gesicht. Voller Angst, weil sie das Tier nicht mehr sehen konnte, fegte sie sich die Strähne aus der Stirn. Da riss die Natter das Maul auf und fauchte, böse wie eine Raubkatze über die hastige Bewegung. Ihr Körper kam vollends unter dem Wurzelballen hervor, wo sie wohl geruht hatte, und rollte sich lautlos zusammen. Dann richtete sie sich langsam und drohend auf. Wie ein Glockenseil schwang ihr dürrer Körper hin und her. Noch war das leise Fauchen die Aufforderung, von ihrem Terrain zu weichen, doch mit der nächsten Bewegung schon konnte sie angreifen, nach vorne schnellen und die Giftzähne in das Opfer schlagen. Dieser See war Schlangenterrain – das Ufer, der alte Baum, das Unterholz und der warme Schieferstein, wo Ima ihre Kleider zum Trocknen ausgebreitet hatte … Nattern duldeten keinen Eindringling in ihrem Gebiet.
Ima schluckte. Das Wasser kitzelte sie an den Schultern, doch die Zeit des verträumten Badens war vorbei. Sie fror jetzt erbärmlich. Bis zur Brust hockte sie nackt im Wasser, eben noch glücklich, sich endlich waschen zu können, die Haut unter der dicken Schmutzkruste fühlen und sich erfrischen zu können. Doch das Glücksgefühl versiegte und machte brennender Übelkeit Platz, denn die Natter hatte sich auf ihren Kleidern zusammengerollt und schien immer näher zu rücken. Imas Mund war trocken wie Sand, das Schlucken wurde zur Qual. Die Haare fielen ihr wieder ins Gesicht, doch diesmal war es egal, die nächste Bewegung würde wohl auch die letzte sein, und sie wusste ja, wo die Natter saß: genau vor ihr.
Fiepend stürzte ein Bussard vom Himmel, kreiste mit kraftvoll ausgebreiteten Schwingen über die Lichtung und kündigte Neues an. Der Boden zitterte, immer deutlicher, immer mehr, und die alten Blätter auf dem Boden begannen zu rascheln. Das Geräusch fuhr Ima in den Magen, und vor Angst biss sie sich auf die Lippe, von innen, damit die Natter es nicht sah.
Pferdehufe trommelten auf den Boden, ein altbekanntes Geräusch. Im gleichmäßigen Takt sangen sie vom Näherkommen. Die Natter zischte böse, doch der neue Feind war noch nicht zu sehen, die Gefahr nicht auszumachen. Und da sich auch vor ihr nichts bewegte und Ima vor Entsetzen sogar die Luft anhielt, entrollte sie sich und schlängelte blitzschnell von den Kleidern herunter und zurück unter die alte Baumwurzel, von wo aus sie losgezogen war, ein Sonnenbad zu nehmen.
Für Ima indes gab es keinen Grund zur Erleichterung. Vorsichtig paddelte sie ans Ufer, tastete vom Wasser aus nach ihren Kleidern, voller Angst, die Natter könnte doch wieder auftauchen. Jetzt, wo sie gar nicht genau wusste, wohin sich das Tier geflüchtet hatte, war die Lage noch viel gefährlicher geworden. Zwei kleine Schlangen, offenbar frisch geschlüpft und auf Entdeckungsreise, glitten zwischen den Ärmeln hervor und suchten das Weite. Ima keuchte entsetzt auf. Mit spitzen Fingern schüttelte sie ihr Hemd, eine dritte Schlange rollte aus den Falten und fauchte von Gift und Verderben, bevor sie im Gras verschwand.
Das Trommeln kam näher. Jetzt hörte sie Männergeschrei und das dumpfe Geräusch, das ein Schwert auf einem Schild verursacht. Sie hatte die Wahl: Schlangen, wenn sie sich versteckte – oder Schwerter, wenn sie im Wasser hocken blieb.
Ima entschied sich bebend für die Schlangen. Sie hatte in ihrem Leben schon oft genug erfahren, wie deutlich Schwerter zu Unschuldigen sprechen können und dass es für Unbeteiligte stets gesünder war, nicht in Erscheinung zu treten, wenn erhitzte Gemüter aufeinander eindroschen. Und so erhob sie sich aus dem See, dass das Wasser in Bächen an ihr herablief, und nestelte nervös an dem immer noch feuchten Hemd. Fort, nur fort, schnell. Die Frühmorgensonne strich ihr über den makellosen Rücken, trocknete die Wassertropfen und beruhigte die Gänsehaut, die sich in der frischen Morgenluft gebildet hatte. Ima zerrte an dem Hemd. Dann, endlich das Loch gefunden, endlich über den Kopf gestreift, für den Rest reichte die Zeit nicht mehr …
»Haltet an – in Dreiteufelsnamen! Ich stelle Euch ja doch!«
Das erste Pferd brach zwischen den Bäumen hervor und galoppierte auf die Lichtung. Sonnenstrahlen ließen tiefrotes Fell aufleuchten. Ima konnte gerade noch ihre restlichen Kleider beiseitestoßen und sich ins Schilf stürzen, wo sie wieder bis zum Knie im schlammigen, kalten Wasser versank. Schnatternd flatterte eine Ente davon. Mit einem Riesensatz sprang wild schnaubend ein zweites Pferd auf die Lichtung. Ima duckte sich zwischen den Blättern.
»Ich werde Euch zeigen, was Ihr zu erwarten habt, mein Herr, steigt nur ab, steigt nur ab!«, keuchte der zweite Reiter und trieb sein Pferd zu weiteren Galoppsprüngen an.
»Warum sollte ich absteigen«, kam es in ausgesprochen hochnäsigem Tonfall zurück. Der Reiter auf dem feuerroten Pferd zielte mit dem Schwert auf seinen herannahenden Verfolger. »Kommt nur und holt Euch, was Ihr der Welt versprochen habt – holt es Euch, bezahlt! Gott ist mit den Tapferen und mit niemandem sonst!«
»Gotteslästerei!«, brüllte der Angreifer auf. »Hurensohn, der Blitz soll dich treffen!« Sein Pferd stieg auf die Hinterbeine und wieherte schrill. Der andere lachte dröhnend.
Und dann prallten die Schilde aufeinander an diesem unschuldig-warmen Septembermorgen am Rande des ehrwürdigen Grabfeldes von Arles, wo Ima heimlich gebadet hatte, froh, in dieser trockenen Gegend überhaupt eine Wasserstelle gefunden zu haben, und sie störten die Ruhe der Toten von Alyscamps, die seit tausend Jahren hier schliefen. Schwerter krachten, verhakten sich ineinander, ein Pferd schrie auf, Metall schlug auf Metall – Ima lugte zwischen den rauschenden Schilfrohren hindurch und wurde Zeugin, wie die beiden blind und voller Wut aufeinander einhackten. Funken stoben, wenn die Waffe auf einen der alten Grabsteine knallte, und das Blut spritzte nach allen Seiten. Dem dumpfen Geräusch von getroffenem Stoff folgte ein Schmatzen, wenn sich die Klinge ins Fleisch fraß. Schreie ertönten, erst vor Wut, dann vor Schmerz und schließlich vor Wut, die den Schmerz besiegte. Immer wieder lösten sich die beiden voneinander, wendeten ihre keuchenden Pferde, lenkten sie um Gräber herum und ließen sie auf der Stelle tänzeln. Dann setzten sie sie auf die Hinterhand und schossen los wie zwei Kometen, im gestreckten Galopp, obwohl der Weg zum Gegner nur ganz kurz war, dafür die Wucht des Aufpralls umso größer, wenn Pferd auf Pferd donnerte. Knochen knackten, die Tiere schrien, überall Blut …
Ima steckte weinend vor Angst die Faust in den Mund. Die Morgenluft sirrte von der Empörung der Toten, und auch Ima bebte am ganzen Körper angesichts des erbitterten Kampfes nicht einmal einen Steinwurf von ihr entfernt. Der Geruch von frischem Blut drang in ihre Nase, von Erschöpfung und nahem Tod – es war abzusehen, es konnte nicht mehr lange dauern, nicht mehr lange …
Der eine schrie beim neuerlichen Angriff lang gezogen, das Pferd stolperte, stürzte auf die Vorhand, knickte weg. Im selben Moment prallte das andere Pferd dagegen, der Reiter des stürzenden Pferdes flog in hohem Bogen aus dem Sattel, fand kaum die Zeit, sich aufzurappeln, als die Klinge schon durch die Luft schwang. Hellrot spritzte das Blut, ein Röcheln, und dann ein triumphierender Schrei …
Ima leckte sich die trockenen Lippen. Sie hatte einen sauren, ekligen Geschmack im Mund, wie nach einer Ohnmacht. War sie ohnmächtig geworden? Ein im Wasser liegender Ast hatte ihren Fall aufgehalten und verhindert, dass sie ertrunken war. Die Schilfblätter wippten im Wind und kitzelten sie im Nacken. Erschöpft fuhr sie sich über das Gesicht und versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken.
Ihre Pilgergruppe saß drüben in der stickigen Halle von Arles, wo sie gestern Abend müde angekommen war, und betete bei Wassersuppe und hartem Brot um Durchhaltevermögen auf der langen Reise, und sie, Ima, hatte es nicht mehr ausgehalten. Nicht nur der Hunger oder die Blähungen und Bauchkrämpfe vom schlechten Essen in den Herbergen. Nein, der Schmutz setzte ihr von Tag zu Tag mehr zu. Das Jucken, das Kratzen unter dem schmuddeligen Hemd mit den speckigen Nahtkanten und in allen Körperritzen, die Flöhe, die in den Mantelfalten wohnten und die ihr tagtäglich zur Qual wurden, wenn sie herumwanderten und bissen. Die Läuse, die ihr frech über die Stirn krochen. Die drangvolle Enge. Niemanden sonst schien es zu stören, nicht die kleine Schwester, die neben ihr lag, nicht den Großvater, der kaum schlief. Und auch nicht Lady Eileen – nicht einmal sie klagte über den Schmutz.
Ima hatte es einfach nicht mehr ausgehalten und war davongelaufen. War am frühen Morgen aus der Pilgerhalle von Sainte Marie gehetzt, an der Kirche vorbei zum Friedhof, der sich als ellenlang herausstellte. Sie war an den endlosen Grabreihen der Alyscamps entlanggelaufen, wo man schon vor Jahrhunderten Gläubige beigesetzt hatte, war durch die Hitze Aquitaniens gestolpert, bis sie hinter den alten Pinien der Alyscamps diesen kleinen See gefunden hatte und erleichtert kopfüber zum Bade darin versunken war in der Hoffnung, die Toten, die hier unter sehr alten Steinen ruhten, würden ihr den unziemlichen Ausflug verzeihen. Sicher würden sie das – man erzählte sich, dass die Römer, die dieses Grabfeld vor unendlichen Zeiten errichtet hatten, Wasser und Badelust liebten. Sicher waren sie sogar wohlwollend zugegen. Ima lächelte. Sie hatte mit Wonne auf dem Schieferstein die Kleider geschrubbt, die verfilzten Haare gekämmt, bis die Kammzinken abbrachen, und war wieder und wieder jauchzend ins Wasser getaucht und hatte sich satt getrunken …
Bis die Natter erschienen war – und dann dieser Ritter.
Der Mann hockte vornübergebeugt auf einem breiten Granitblock und brummte vor sich hin. Ima meinte, normannische Flüche verstehen zu können. Ein Normanne! Was tat ein Normanne in Aquitanien? Stoff riss entzwei, dann zog er Luft durch die Zähne und fluchte richtig laut und ungehörig und in der Tat auf Normannisch. Ima reckte den Hals, doch kein Toter erhob sich drohend. Vielleicht verstanden sie kein Normannisch. Vielleicht waren sie Flüche auf ihren Gräbern auch gewohnt. Die Alyscamps waren zwar Friedhöfe aus römischer Zeit, doch gehörten sie zur Stadt. Immer noch wurden Verstorbene dort beigesetzt, davon zeugten kostspielige Sarkophage und Grabstätten. Tagsüber war allerhand Volk an diesem zauberhaften Ort unter hohen, alten Pinien unterwegs. Kämpfe um Leben und Tod jedoch gehörten nicht hierhin, und irgendwie spürte man doch so etwas wie Missbilligung in der Atmosphäre. Dem Ritter schien das egal zu sein, nicht einmal der Fetzen eines Gebetes für den toten Gegner kam ihm über die Lippen. Sein flammend rotes Pferd stand grasend auf der Wiese, der Sattel lag achtlos daneben im Gras, Sonnenstrahlen ließen das gepunzte Gold an der Verzierung aufblitzen. Nur die pumpenden Flanken verrieten, welche Anstrengung das langbeinige Tier hinter sich gebracht hatte. Es war ein edles Tier, hoch im Blute stehend, ein Pferd, wie Normannen es gern von den Mauren kauften, und es war sicher zehn Ochsen wert. Seine spielenden Ohren verhießen immer noch Wachsamkeit. Das andere Pferd lag mit durchschnittener Kehle im Gras, gleich neben seinem übel zugerichteten toten Reiter. Der Kopf des Mannes hing noch am Hals, jedoch nur hinten. Vorne klaffte ein breites Loch, und aus dem nach hinten gekippten Gesicht starrten die junge Frau zwei erloschene Augen an. Fliegen summten über der Szene und weideten sich am immer noch sickernden Blut. Nichts außer einem gelegentlichen Schnauben störte die Ruhe auf der Lichtung.
»Du kannst ruhig rauskommen«, knurrte der Mann da. Ima fasste sich an die Kehle und hörte auf zu atmen. Woher wusste er …
»Du kannst ruhig aus dem Wasser kommen, mir steht jetzt nicht der Sinn nach Weiberfleisch. Obwohl …« Ruckartig drehte er sich um und spähte durch das Schilf, gierig grinsend das Angebot beglotzend. »Käm drauf an …«
Ima duckte sich hinter die Blätter, doch das Schilf gab ihre langen blonden Haare preis, die sie vorhin zum ersten Mal nach vielen Wochen hatte waschen können.
»Na, komm schon raus, ich hab jetzt andere Sorgen. Kannst du badern? Ich bin verletzt.«
»Ich kann nicht badern.«
»Jede Frau kann badern!«
»Ich kann’s nicht.« Sie verschwieg, dass sie daheim gute Lehrerinnen gehabt hatte.
»Willst du mich ärgern? Jede Frau kann Wunden verbinden!« Damit stand er auf und drehte sich um, und Ima sah, wen sie vor sich hatte.
Ein Mann, nur wenig älter als sie, mit kantigem Gesicht, schwarzem, wirrem Haar, eigenwilliger Hakennase und blitzenden dunklen Augen. Ima mochte keine Hakennasen. Das zerfetzte Kettenhemd bedeckte notdürftig die breiten Schultern. Getrocknetes Blut hing wie eklige schwarze Spinnentiere in den Kettengliedern, vom Mantel existierte nur noch die Hälfte, die andere Hälfte lag am Boden. Lange Beine steckten in uralten Lederbeinlingen, und der Mann hatte riesengroße Füße. Oder sahen die nur so aus, weil seine zweifarbigen Schuhe an der Spitze nach oben gebogen waren?
»Genug geglotzt?«, knurrte er und beugte sich vor, um durch das Schilf zu spähen. »Zum Teufel, nun komm schon raus da, ich fress keine Landeier.«
»Ich bin kein Landei«, murmelte Ima.
Inselgöttin hatte Stephen sie immer lachend genannt. Stephen. Ach, Stephen – der Name löste solchen Schmerz in ihr aus, dass sie vergaß, in welcher Gefahr sie sich befand. Stephen.
Der da draußen streckte die Hand aus. »Soll ich nachhelfen?«
Ima zog die Nase hoch. Sie nahm allen Mut zusammen und bog die Schilfrohre auseinander. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie fror, wie eisig ihr das nasse Hemd am Körper klebte und dass ihre Füße im Wasser fast blau geworden waren. Der Mann betrachtete sie neugierig. Ohne ihn anzusehen, ging sie an ihm vorbei zu ihrem Kleiderhaufen, überwand tapfer die Angst vor der Natter, die ja irgendwo hier noch saß und wachte, und zog die Kleider auseinander.
»Furcht kennst du nicht, was?« Er spuckte ins Gras. »Du hättest mich geziemend grüßen müssen.«
Ima ließ das wollene Pilgerkleid über ihren Körper gleiten und drehte sich um.
»Ihr seid äußerst unhöflich zu mir gewesen, mon seignur, und nicht etwa umgekehrt. Das Pilgergewand verbirgt, wer sich darunter befindet …«
»Wer sich darunter befindet! Was soll sich schon groß darunter befinden außer einem zu klein geratenen Busen und …«
»Hütet Eure Zunge und verreckt«, zischte sie da.
»Ha!«, machte er. »Freche Reden aus dem Mund eines Weibes – ich hoffe, dein Gatte züchtigt dich dafür regelmäßig!«
Ima presste die Lippen aufeinander. Der Gatte züchtigte sie nicht, der Gatte war tot, lag auf dem Grund des Meeres. Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Gürtel schien in ihre Taille einzuschneiden, alles wurde ihr zu eng. Stephen. Sie raffte ihre Sachen zusammen und wollte wortlos an ihm vorbeigehen, als er sie am Arm packte.
»Ich habe dich um einen Dienst gebeten, und du willst ihn mir verweigern?« Seine Stimme war scharf, Ima fühlte sich gewarnt. »Hier ist weit und breit kein Arzt. Zier dich nicht so. Hilf mir.«
Einzeln herumreitende Krieger führten selten Gutes im Schilde, davor hatte die Mutter sie stets gewarnt. Und ein Normanne im Herzen von Aquitanien konnte nur auf der Flucht sein. Einen Verfolger hatte er wohl gerade erst abgeschüttelt und bestialisch getötet. Ein Verbrecher. Wer von beiden wohl der Verbrecher gewesen war? In jedem Fall war sie jetzt hellwach. Und er hatte sie einfach angefasst. Sie wischte sich die Augen trocken und hob den Kopf.
»Setzt Euch hin. Dort, neben das Wasser, auf die alte Wurzel.« Vielleicht kam ja die Natter wieder zum Vorschein. Sollte sie ihm doch unter die Kleider kriechen, ihre Zähne in sein Fleisch schlagen, das Gift verteilen … Sie schämte sich für derlei Fantasien.
»Wenn du mich quälst, schlag ich dich tot«, sagte der Mann mit verbissenem Gesicht und hob die Brauen. Sie hielt dem Blick stand. Er hatte sie beleidigt – nicht umgekehrt. Irgendetwas schien er zu bemerken, denn er besann sich auf seine Wunden und schälte sich vorsichtig aus den zerfetzten Kleidern. Die Scham, die Ima ob des gemeinen Gedankens gerade noch empfunden hatte, verflog. Wo war die Natter? Sein Kettenhemd landete vor ihren Füßen. Es roch nach ungewaschenem Mann. Widerling. Und weit und breit keine Schlange, die er damit störte, die flinker war als er – hatte Gott die Natter etwa ihr geschickt? Sollte es ein Wink gewesen sein?
»Hast du gehört?«, insistierte er.
Ima straffte sich. »Wenn Ihr keine Schmerzen ertragen könnt, verdient Ihr das Kettenhemd nicht«, erwiderte sie hochmütig. Der Mann hielt inne und starrte mit gerunzelter Stirn in ihr schmales, gut geschnittenes Gesicht. Sie sah ihm an, dass er Weiber mit blondem Haar mochte und dass er sie schön fand, weil sie wie die Frauen des Nordens hochgewachsen war und weil ihr das Haar noch feucht vom Bade über die Schultern hing und sich in den Spitzen kringelte. Immer noch hielt sie seinem Blick stand. Sie wusste um die Wirkung ihrer dunkelblauen Augen. Er musste wegschauen und beobachtete sie weiter aus dem Augenwinkel, nicht minder bewundernd. Die Gier war aus seinem Blick verschwunden.
Ima kramte in ihrem Pilgerbeutel. Sie tat das etwas länger als nötig, um nach dem Mann zu schielen, der sich mit Mühe das schmutzige Hemd über den Kopf zog. Stattlich war er, mit breiten Schultern und Armen, die den routinierten Waffenträger verrieten. Schwarzes Haar lockte sich auch auf der muskulösen Brust und bis herunter zur zusammengebundenen Bruch, wo ein Frauenblick nichts verloren hatte. Das Schwert des Gegners hatte seine Spuren hinterlassen. Blutkrusten tanzten neben alten Narben, ein tiefer Schnitt klaffte im Oberarm, ein großer dunkler Fleck breitete sich auf seinem Rücken aus. Sie ärgerte sich, dass er sie um Hilfe gebeten hatte. Seine Wunden sahen danach aus, als würde er Geduld aufbringen müssen, Geduld, die er sichtlich nicht besaß. Indes, die Verletzungen waren eine Herausforderung an ihr Geschick. Sie hatte zwar die Heilkunst von ihrer Mutter gelernt, doch waren Fälle von Kampfverletzungen eher selten vorgekommen auf der Mönchsinsel, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Auch Männer wie dieser waren dort selten gewesen. Trotz des Schmutzes und der Blutkrusten schimmerte seine Haut vor Gesundheit.
»Wenn Ihr Euch setzen mögt, könnte ich anfangen.« Sie deutete auf die Wurzel. Wortlos nahm er statt auf der Wurzel auf dem Stein Platz und hielt ihr die verletzte Seite hin. Ima biss sich auf die Lippen. Nun gut, dann eben nicht. Wenn die Schlange sein Schicksal war, würde sie auch zum Felsblock kommen. Neugierig beugte sie sich über seinen Oberarm, und eine Strähne ihres Haares fiel auf seine Schulter. Sie wischte sie achtlos fort.
Im nächsten Moment lag ihre Hand auf seinem Arm, um ihn ruhig zu halten, dann die andere Hand mit leichten Fingern. Heiß durchzuckte es ihn, und nur mühsam konnte er sich zwingen, sitzen zu bleiben. Sie jedoch hatte für nichts Blick als für seinen blutverschmierten Arm, der inzwischen höllisch schmerzte, und fingerte umsichtig an den geschwollenen Wundrändern herum, als täte sie dergleichen tagtäglich. Der Schnitt ging tief, vielleicht sogar bis auf den Knochen. Er stöhnte unhörbar. Der Schnitt ging bis ins Herz …
»Ihr habt Glück gehabt«, murmelte sie, und es war nicht klar, ob sie bemerkte, wie sich unter ihren Berührungen die Gänsehaut auf seinem Rücken weiter ausbreitete. »Ein wenig mehr von der Seite, ein wenig tiefer, und Euer Arm würde jetzt neben diesem da liegen.«
»Unsinn! Was weißt du vom Kampf!«
»Nichts, aber …«, sie verstummte und tupfte herausrinnendes Blut ab, um die Tiefe der Verletzung abschätzen zu können, »… aber doch genug.« So dicht, wie sie dazu neben ihm hockte, stellten sich sämtliche Haare seines Körpers auf, und noch einiges mehr, und aus unerfindlichen Gründen schämte er sich zum ersten Mal dafür. Sie war doch auch nur ein Weib, wenn auch das schönste, das er je getroffen hatte.
»Ich warne dich, wenn du grob bist …«, fing er wieder an und hielt dann inne, als er ihre ungewöhnlich feinen Hände sah und dass sie an der Rechten einen Finger mehr als andere Menschen trug. »Allmächtiger«, stieß er hervor, »wer zum Teufel wurde mir da geschickt?«
Ima ließ die Arme sinken. »Es steht Euch frei zu gehen. Ich habe Euch meine Hilfe nicht angetragen, Ihr habt mich darum gebeten.« Sie hängte sich den Pilgerbeutel wieder über die Schulter. »Ich wünsche Euch einen guten Tag, mein Herr.« Er konnte sie gerade noch festhalten. Durch die schnelle Bewegung sickerte Blut aus der Armwunde und tropfte ins Gras. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Diese Perlen trocknete keine Sonne.
»Tu, was du mir versprochen hast, Mädchen.«
Sie hatte ihm nichts versprochen, erinnerte er sich. Und sie mochte es nicht, angefasst zu werden. Er hatte noch nie einen Menschen mit sechs Fingern gesehen – einen so zauberhaften Menschen. Der Teufel verschwand aus seinen Gedanken. Nun empfand er nur noch das Entzücken, sie in seinen Händen zu halten, und das so fest, dass sie dann doch beinah über sein Knie gestürzt wäre. Stumm sah sie auf die zerlumpte Bruch und tat einen winzigen Schritt zurück, damit ihr Knie ihn nicht berührte. Er lockerte sofort seinen Griff, ein wenig beschämt. »Tu … tu, was du kannst, Mädchen.« Wo war seine tiefe Stimme nur hinverschwunden? Nichts als heiseres Gekrächze kam aus seinem Mund. Seine Hand fiel herab, die Gefahr war vorbei. Er hatte es deutlich gespürt – eine Bewegung, eine freche Bemerkung hätte ausgereicht. Nun war er froh, dass es nicht so weit gekommen war, und hielt ihr stattdessen stumm seinen Arm hin. Sie stutzte, dann ließ sie die Pilgertasche ins Gras fallen, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre zu gehen.
»Ihr haltet still und Euren Mund. Ihr lasst mich machen.«
»Ich lasse dich machen«, wiederholte er ergeben, nach ihrem Finger schielend. »Bete vorher ein Pater noster mit mir.«
Ima lachte so verächtlich auf, dass er zusammenfuhr. »Ihr tötet einen Mann, ohne Gott um Vergebung zu bitten, aber für den Verband an Eurem kostbaren Arm wollt Ihr beten? Dafür habe ich jetzt keine Zeit, edler Herr.« Ihre Augen funkelten vor Ärger, die Anrede strotzte vor Gift, und ein wenig zu ruppig riss sie ihm den Rest des Hemdes vom Arm. Der Normanne war viel zu verblüfft, um ihr zu antworten. Ihre Nähe lähmte seine sonst so schlagfertige Zunge, denn ihre Hand saß in seinem Nacken, während sie am Stoff riss – und sein Nacken brannte, obwohl kein Schwert ihn dort verletzt hatte.
Ima hielt inne. »Gebt mir Euer Wort, dass ich unversehrt bleibe.«
Er drehte den Kopf und sah sie an. Ihre Augen waren so blau wie ein Fluss im Mittagslicht, feine Rädchen liefen rund um die Pupille. Sie schienen sich zu drehen, wenn er hineinblickte … War sie ein Zauberweib? Doch wenn sie ein Zauberweib war, dann eines von hoher Geburt, so, wie sie sich bewegte und sein Wort forderte. Ihm schwante, dass er kein Mädchen vom Lande vor sich hatte. Nein, verflucht, hier sprach vornehm geborener Hochmut zu ihm. Er begann sich sehr unwohl zu fühlen.
»Ihr habt mein Wort«, sagte er langsam und riss sich von den Augenrädchen los.
»Gut.« Sie verlor keine Zeit, und – verflucht – so selbstverständlich, wie sie die höfliche Anrede hinnahm, war sie in der Tat hochgeboren. »Führt Ihr Wein mit Euch?« Er schüttelte den Kopf, deutete aber auf den Toten. »Fragt diesen. Er war ein Trunkenbold, der keinen Meter ohne seinen Weinschlauch ging.« Unentschlossen sah Ima ihn an, da wackelte er mit dem Kopf. »Geht schon, der tut Euch nichts mehr. Dafür hab ich gesorgt.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sein Schwert immer noch neben ihm lag und dass er den Fuß auf den Griff gesetzt hatte. Er überließ nichts dem Zufall. Und er hatte sich im Griff – war das der Grund, warum sie sich sicher fühlte? Sie hatte andere Männer seines Schlages kennengelernt, mit weitaus weniger Benimm und weitaus mehr Gier. Trotzdem galt es, weiter wachsam zu sein. Seufzend kramte sie in ihrem schmalen Tierhautbeutel und förderte ein Messer zutage – mit langer Klinge und ein wenig zu scharf für das Speisemesser einer Pilgerin. Die Mutter hatte ihr beigebracht, wozu man so ein Messer noch verwenden konnte und wie man es führte. »Für deine Sicherheit«, hatte sie beim Abschied geflüstert. Erneut schielte sie nach dem Normannen. Er hockte mit gesenktem Kopf auf seinem Stein und starrte auf das Wasser. Sie würde trotzdem aufpassen. Am Sattel des Toten fand Ima tatsächlich einen Weinschlauch, und so tat sie, was sie daheim gelernt hatte: Sie versenkte mit großem Geschick das Messer in der Wunde und brachte sie neuerlich zum Bluten, ohne sich um das unterdrückte Stöhnen des Mannes zu kümmern, der ihr Unversehrtheit zugesagt hatte, vielleicht aber auch nur ihrem flinken Messer misstraute, das nach der Tat griffbereit auf ihren Knien lag und notfalls den Weg in seinen entblößten Brustkorb finden würde. »Frauen wie du werden mit dem Mut dazu geboren«, hatte die Mutter immer behauptet, und es hatte stets so geklungen, als wüsste sie, wovon sie sprach.
Blut rann seinen Arm herab, und sie tupfte es weg. Hernach goss sie reichlich Wein über den blutenden Schnitt und murmelte Beschwörungen gegen böse Geister. Schließlich zog sie die Nadel aus ihrem Gürtel, fädelte einen Faden hinein und nähte, ohne auf sein Zähneknirschen zu achten, die Wundränder mit feinen Stichen zusammen. Aus Kraftwurz aus ihrem Beutel und Maßliebchen, welches wie ein weißer Teppich um den See herum blühte, rührte sie anschließend einen Brei, bedeckte damit die Wunde und riss einen Teil seines herabhängenden Hemdes in Fetzen, um daraus einen Verband zu fertigen.
»Fertig. Gott lasse Euch genesen.« Sie legte die Hände in den Schoß, unschlüssig, ob sie gehen sollte oder bleiben … immerhin hatte er während der Tortur nicht einmal laut gestöhnt. Bedankt hatte er sich aber auch nicht. Was für ein seltsamer Mensch. Dank lag offenbar nicht in der Natur des Normannen, der mit zusammengebissenem Kiefer den Wundschmerz ertrug und sich zur Betäubung offensichtlich an ihrem Haar weidete. Es war inzwischen getrocknet und fiel ihr glänzend wie ein goldener Wasserfall über die Schultern.
»Warum habt Ihr ihn getötet?« Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn scharf. Das hielt er nicht aus, sah weg. Tändelei war ganz offenbar nicht seine Sache, er schien Frauen anders zu erobern.
»Weil er mich töten wollte, dummes Ding.« Die Wunde schmerzte ihn, denn er verzog sein Gesicht. Ein Gebet um Heilung wäre sicher nicht falsch gewesen. Wenn man denn beten konnte.
»Warum wollte er Euch töten?«
Er wagte es, ihr richtig in die Augen zu schauen, und errötete tatsächlich. »Weil …«
Sie spitzte amüsiert die Lippen. »Na? Soll ich raten? Er …«
»Das sind Dinge, von denen Ihr nichts versteht«, brummte er.
»Ihr würdet staunen, was ich alles verstehe«, sagte sie mit fester Stimme. Das Lachen war ihr vergangen, denn sein Gesicht verfinsterte sich, und er drehte den Kopf weg.
»Weil ich seinen Bruder getötet habe.«
Sie nickte verstehend. Natürlich, was sonst. Einer tötete den anderen, der wurde gerächt, dann wurde der Rächer getötet – Fehden bestimmten das Leben in der Welt der Wappen und Schwertträger. Im Schilf rauschte es, Enten schnatterten leise. Langsam begann es heiß zu werden. Die Sonne hatte den wenigen Tau, den es hier im Süden gab, weggetrunken und die Frische des Morgens mitgenommen. Wie seltsam, inmitten dieses Friedens von blutigen Fehden zu hören.
»Und warum …« Es ließ ihr keine Ruhe. Ima schämte sich für ihre Neugier, zumal sie doch gerade festgestellt hatte, dass sie hier tatsächlich einem Schwerverbrecher gegenübersaß – einem jener Männer, die wegen einer Beleidigung Geschlechter ausrotteten. Die Mutter hatte von ihnen berichtet. Ritter nannten sie sich zwar, weil sie mit dem Ritterschlag den Segen der Kirche erhalten hatten, doch wenn sie nicht erbten, waren sie nichts als heimatlose Totschläger, niemandem untertan als ihren körperlichen Gelüsten und ihrem Schwert. Oft genug von hochblütigem Geschlecht, aus vornehmem Hause, und doch arm wie Karrenknechte, waren sie gezwungen, sich bei fremden Herren als Söldner zu verdingen. Ihre Mutter – selbst vornehm geboren und unter solchen Männern aufgewachsen – hatte gewusst, wovon sie sprach.
Er war auf die letzte Frage nicht eingegangen, hatte nur vor sich hin gestarrt. Ima kontrollierte noch einmal den Sitz des Verbandsleinens. Eigentlich hätte sie längst gehen müssen. »Also … Ihr habt zwei Brüder getötet.«
Offenbar hatte sie ihn aus Gedanken gerissen, denn er sah erstaunt hoch. »Zwei – in der Tat. Den einen, weil er mich verfolgte, den anderen, weil er …« Er grinste schief. »Nun – weil der mich mit der Schwester erwischte.«
»Ach.« Dieser war nicht hochblütig und nicht vornehm, entschied sie.
»Nun ja. Sie – sie saß auf meinem Schoß, als er hereinstürmte. Es kam zum Kampf.«