Die Reise der Heilerin - Dagmar Trodler - E-Book
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Die Reise der Heilerin E-Book

Dagmar Trodler

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Beschreibung

Dunkelstes Mittelalter, wilde Normannen und die fesselnde Geschichte einer jungen Heilerin.

Salerno im Jahre 1085. Die Nachrichten aus dem byzantinischen Kriegsgebiet sind schlecht: Herzog Robert Guiscard liegt im Sterben. Die junge Heilerin Ima von Lindisfarne wird gebeten, die Herzogin zu Robert zu begleiten. Auch Gérard de Hauteville begibt sich auf die gefährliche Reise, um die heimlich verehrte Ima zu beschützen. Als sie Roberts Heerlager erreichen, geraten Ima und Gérard jedoch in eine unfassbare Intrige. Unter barbarischen Kriegern auf sich gestellt, muss Ima bald das gewagteste Spiel ihres Lebens spielen …
Das Buch erschien vormals unter dem Titel "Die Totenfrau des Herzogs".         

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Über das Buch

Dunkelstes Mittelalter, wilde Normannen und die fesselnde Geschichte einer jungen Heilerin.

Salerno im Jahre 1085. Die Nachrichten aus dem byzantinischen Kriegsgebiet sind schlecht: Herzog Robert Guiscard liegt im Sterben. Die junge Heilerin Ima von Lindisfarne wird gebeten, die Herzogin zu Robert zu begleiten. Auch Gérard de Hauteville begibt sich auf die gefährliche Reise, um die heimlich verehrte Ima zu beschützen. Als sie Roberts Heerlager erreichen, geraten Ima und Gérard jedoch in eine unfassbare Intrige. Unter barbarischen Kriegern auf sich gestellt, muss Ima bald das gewagteste Spiel ihres Lebens spielen …

Das Buch erschien vormals unter dem Titel »Die Totenfrau des Herzogs«.

Über Dagmar Trodler

Dagmar Trodler, 1965 in Düren/Rheinland geboren. Sie arbeitete zunächst als Krankenschwester und studierte Geschichte und Skandinavistik. Sie lebt heute meistens auf Island. Gleich ihr erster Roman »Die Waldgräfin« wurde ein Bestseller. www.dagmar.trodler.de

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Dagmar Trodler

Die Reise der Heilerin

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Nachwort

Glossar

Impressum

Erstes Kapitel

Was da ist, ist längst mit Namen genannt, und bestimmt ist, was ein Mensch sein wird.

Darum kann er nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist.

(Prediger 6,10)

Das Lied der Nachtigall glich einer verhaltenen Klage. Einsam saß sie irgendwo zwischen den Ästen des Olivenbaums, ein kleiner, unscheinbarer Vogel, in seinem grauen Federkleid perfekt mit den silbrigen Blättern verschmolzen. Aus diesem Versteck warf er seine feine Stimme mutig der Nacht entgegen. Perlend rollten die Töne am Mond entlang, tropften zur Erde herab. Sie schmolzen zu Tränen, erwuchsen aus tiefer Kehle und verwandelten sich in Schluchzer, die von der leisen Melodie aufgefangen wurden wie von einem zart gewebten Gespinst aus Hoffnung …

Ima lehnte sich gegen die Mauer. Die Steinstufen hatten die Hitze endgültig an die Nacht abgegeben und sich für den neuen Tag gereinigt und bereit gemacht. Ihre Kühle ließ Ima erschaudern, doch nicht genug, um aufzustehen. Eigentlich war sie sehr müde. Nachdem sie die halbe Nacht bei einer schweren Geburt Beistand geleistet und das Leben der Mutter nur mit knapper Not gerettet hatte, war ihr der Weg ins Bett zu schwer gefallen. Viel zu aufgewühlt hatte sie auf der Treppe einen Becher Wein getrunken, um zur Ruhe zu kommen, und war ins Träumen geraten, als die Nachtigall zu singen begonnen hatte. Vielleicht war sie auch darüber eingenickt.

Ein früher Morgenwind ließ sie erschaudern, und sie zog die Tunika enger um ihre Schultern. Man fror immer, wenn man müde war, doch Müdigkeit lähmte auch, und so fror man lieber, als dass man sich bewegte. Seufzend zog sie die Beine noch dichter an den Leib. Sanft klang die Stimme der Nachtigall. Sie streichelte ihre müden Sinne, verständnisvoll und beruhigend. Die Perlen netzten ihre Wangen. Das Lied aus den Bäumen war wie die Tropfen einer wohltuenden Medizin, und so blieb sie sitzen, wo sie sich vor Stunden niedergelassen hatte, um nachzudenken und in die Nacht hinauszuträumen, die Gedanken schweifen und sich von der Medizin heilen zu lassen.

Der Jasmin in Trotas Garten duftete betäubend. Alle paar Wochen wurde er von Ûder salernitanischen Ärztin sorgsam beschnitten, weil er sonst drohte, ihr kleines Krankenhaus zu überwuchern. Darüber schien er jedoch eher zu spotten und wuchs nach jedem Schnitt nur noch üppiger. Ima lachte leise. Wenn man ihn hochband, störte er längst nicht so und würde sogar in den Himmel wachsen und von dort seinen Duft auf den Garten zerstäuben. Doch das glaubte die Ärztin ihr nicht.

Sie glaubte ihr vieles nicht, was die Pflanzen betraf, dabei hatte Ima das von der Mutter gelernt – in den einsamen Jahren auf Lindisfarne, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Damals hatte sich das Gebet der Mönche von St. Cuthbert mit dem ewigen rauen Wind des Nordmeeres vermischt, und die Wellen waren das einzig Unberechenbare in ihrem Leben gewesen: Man hatte nie sagen können, wie weit sie an den Strand rollten und was sie alles mitzunehmen gedachten.

Manches ließen die Wellen auch liegen – Tang, Muscheln. Treibholz. Walknochen. Erinnerungen. Ihren Verlobten hingegen hatten sie auf den Meeresgrund gezogen und viele Tage später erst stumm zurückgebracht. Den Vater hatten sie für immer geraubt. Niemand auf der Insel hatte ihn wiedergesehen, und die Mutter war über den Verlust beinah wahnsinnig geworden … Als Ima ihn dann vor einigen Monaten völlig überraschend wieder getroffen hatte, war es ihr kaum möglich gewesen, mit ihm zu sprechen. Sich von den Wellen davontragen zu lassen war ihr wie ein Verrat vorgekommen. Aber das alles lag lange zurück, und mit der Zeit verblasste die Erinnerung an die Wellen von Lindisfarne. Es tat nicht gut, zu oft daran zu denken.

Zu weit hatten die Wellen vergangenes Jahr auch sie selbst von Lindisfarne fortgetragen. Zuerst hatten sie sie nach Süden gespült, auf eine Pilgerfahrt, deren Ziel – Santiago de Compostela – sie nie erreicht hatte, weil das Schicksal ihr erneut einen geliebten Menschen aus den Händen gerissen hatte. Ein düsterer Schatten hatte über dem Jahr des Herrn 1084 gelegen. Wie eine Feder auf dem Wasser war sie umhergetrieben und unfreiwillig in Apulien im Herzogtum des Normannen Robert Guiscard gelandet. Dort hatten sich die Ereignisse überschlagen und sie mit dem apulischen Heer nach Rom gerissen, wo Robert Guiscard mit einem Feldzug von beispielloser Skrupellosigkeit den Papst aus römischer Gefangenschaft befreit hatte. Die furchtbaren Tage der Plünderung lagen nun schon mehr als ein Jahr zurück – der Schrecken über das Erlebte würde sich vielleicht niemals geben.

Sie seufzte und legte den Kopf auf die Knie. Was mochte Gott sich dabei gedacht haben, ihr ausgerechnet in Rom die Liebe geschickt zu haben? Gérard de Hautevilles markantes Gesicht drängte sich vor ihr Auge – und jener Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren und er sie zum ersten Mal vor dem Tod bewahrt hatte. Dann, viele schmerzhafte Monate später in Rom, hatte er ihr ein zweites Mal das Leben gerettet. Da hatte sie schon gewusst, dass sie ihn gegen jede Vernunft liebte, denn der Soldat des Guiscard war von niedriger Geburt und unvermögend. Dennoch hatte er sich als Ritter mit Anstand erwiesen und sie nach Salerno zurückgebracht, zum Haus der Trota, wo sie sich, gepflegt durch die liebevollen und kundigen Hände der Ärztin, von den Strapazen und Ängsten hatte erholen können. Trotas Haus war der sichere Hafen gewesen, ein Ort voller Freundlichkeit und Liebe – es war ihr wie die Stadt ein neues Zuhause geworden.

Ima rieb sich mit beiden Händen das müde Gesicht. Dieses neue Zuhause kam ihr immer noch wie ein Wunder vor. Weder hohe Wellen noch Unberechenbarkeit schien es hier in Salerno zu geben, und auch nicht die salzige Eiseskälte des Nordmeeres. Oder den bösartigen Wind, der bis auf die Knochen drang und einen wie ein bohrender Schmerz an die eigene Vergänglichkeit erinnerte. Salerno war anders. Bunt, süß und laut, und irgendwie berechenbar. Hier gab es Wärme – meistens Hitze, doch das war nichts im Vergleich zu der Kälte auf der unwirtlichen Insel. Hier gab es nächtliches Leben, Musik, Fröhlichkeit, ausreichend Essen – und es gab keine Angst.

Ima hatte sich, seit sie in Salerno im Haus der alten Ärztin heimisch geworden war, nicht mehr gefürchtet, obwohl die herzogliche Residenz des Guiscard oben am Berg sie stets daran erinnerte, was sie durchlebt hatte.

Doch hatte ihr Herz sich erholt?

Ima betrachtete ihre schmalen Hände, denen es geschenkt war zu heilen. Trota, die Ärztin von Salerno und ihre Lehrmeisterin, hatte diese Hände respektvoll gesegnet und sich niemals vor dem sechsten Finger gefürchtet, der so vielen Menschen Angst einjagte. Ja, heilen konnte sie wohl  – andere Menschen. Aber sich selbst? Hatte ihr Herz sich erholt? Gérards Gestalt wehte durch ihre Gedanken. Viel gemeinsame Zeit war ihnen nicht vergönnt gewesen, des Guiscards Rastlosigkeit hatte ihn ihr schnell wieder genommen. Die Balkankriege nahmen kein Ende, man munkelte, Robert plane, Konstantinopel zu überfallen und den Basileus vom Thron zu stoßen. So wirklich vorstellen konnte sich das niemand – doch immerhin lagen schon im Herbst des letzten Jahres Truppen auf der anderen Seite des adriatischen Meeres.

Auch Gérard war monatelang Teil dieses Heeres gewesen, hatte wie durch ein Wunder das furchtbare Winterfieber überlebt und war von allen Unternehmungen wohlbehalten zurückgekehrt. Er stand in persönlichen Diensten von Roberts Zweitgeborenem Roger Borsa und machte sich Hoffnungen, an dessen Seite aufzusteigen. Ima starrte vor sich hin. Ein weiter Weg für einen Mann wie ihn. Leises Sehnen schmerzte in ihrer Brust. Wann hatten sie sich das letzte Mal gesehen? Jedes Treffen war viel zu kurz gewesen, immer war er entweder in Eile gewesen, oder sie hatte viel Arbeit in Trotas Krankenstation gehabt. Stets hatte Robert Guiscard mit seinen Plänen zwischen ihnen gestanden und alles verhindert, was über ein paar ungestörte leidenschaftliche Momente oder ein schüchternes Gespräch nach langen Wochen hinausging.

Die Nachtigall fing wieder an zu singen. Ihr zarter Schmelz zauberte Tränen auf Imas Gesicht – woher sie kamen, wusste sie nicht. Aber sie vermisste ihn. Obwohl sie in Trotas Haus so glücklich geworden war. Die viele Arbeit mit den Kranken ging ihr leicht von der Hand, sie konnte sich die Rezepturen und Ideen der alten Ärztin gut merken, und auch der größte Tumult – wenn drei Frauen gleichzeitig unter der Geburt schrien – brachte sie nicht aus der Ruhe. Trotas Haus war ein seltsamer Gegenpol zur kriegerischen Welt des Robert Guiscard – einer Welt, an der sie durch Gérard viel zu viel Anteil nehmen musste.

Sie hatte den Guiscard persönlich kennengelernt, damals in Rom, als er sie mitten in der Schlacht hatte rufen lassen, damit sie den Heiligen Vater heilte. Aus dieser Sache war ihr eine gewisse Achtung entgegengewachsen. Robert Guiscard vergaß niemanden, der ihm einmal gute Dienste erwiesen hatte. Ein zweites Mal hatte sie den Heiligen Vater zwar nicht mehr retten können, doch war seit seinem Tod im letzten Sommer kaum eine Woche vergangen, an dem nicht irgendwer aus dem herzoglichen Umfeld sie in die Residenz gerufen hatte. Er selbst weilte längst wieder bei seinem Heer, weit weg von zu Hause und, wie manche raunten, unsterblich.

Im Haus knarzte eine Tür. Irgendjemand war offenbar aufgewacht, dabei hatte die Morgendämmerung noch nicht begonnen. Die Nachtigall war wieder verstummt, ihr Lied passte einfach nicht zu dem Mann, um den ihre Gedanken jetzt kreisten.

Schnörkellose Zielstrebigkeit gehörte zu Roberts hervorstechendsten Merkmalen, das fiel ihr als Erstes ein, wenn sie an den Herzog dachte. Die meisten Menschen, die des hünenhaften Herrschers ansichtig wurden, überkamen erst einmal Furcht und Demut. Regelrechte Angst befiel all jene, die etwas verbrochen hatten und sich seinen Strafen ausgesetzt sahen, denn da kannte er keine Gnade und erlaubte sich, ungezügelt von seinem Beichtvater, unerhörte Grausamkeiten. »Strafe gehört zum Geschäft«, hatte sie ihn einmal sagen hören, bevor er einem Verräter die Augen hatte ausstechen lassen. Nicht einmal seine Gattin Sicaildis, der man eine gehörige Portion Barmherzigkeit bescheinigte, vermochte solche Strafen zu verhindern. Viele nannten ihn daher heimlich einen Teufel, der sich Apulien hinterlistig und raffgierig unter den Nagel gerissen habe und der doch in seine normannische Heimat zurückkehren solle.

In der Tat, zielstrebig und grausam war der Guiscard, und Zaudern gehörte nicht zu seinen Schwächen. Davon konnten die Männer seiner Truppen ein Lied singen, und die Frauen erzählten es zwischen Marktständen und am Brunnen weiter. Es gab sogar Leute, die sein Tun mit der Grausamkeit der Barbaren verglichen. Aber war nicht jeder Krieger ein Barbar? Von frühester Kindheit an war Ima von der Erbarmungslosigkeit des Krieges umgeben gewesen, sie kannte das vom Kampf gesäte Leid, sie kannte die Spuren, welche die Tränen auf die Wangen der Verlassenen zeichneten, und sie wusste, wie der Tod schmeckte.

»Der Tod«, brummte sie, gleichzeitig erstaunt über ihre dunkle Stimme. »Der Tod schmeckt bitter … bitter.« Vor allem die Erinnerungen daran schmeckten bitter. Düster starrte sie vor sich hin.

»Na, kannst du wieder nicht schlafen?«

Es raschelte, dann hockte Trota neben ihr. Sie hatte schon eine ganze Weile im Haus rumort. Ima machte ihr Platz auf den Stufen und genoss es, dass sie sich dicht neben sie setzte. Wie immer brachte die alte Ärztin eine Wolke von Gewürzdüften und Kräutergerüchen mit, die sich in ihren Kleidern und in ihrem Haar gefangen hatten – und das, obwohl sie aus dem Bett kam, denn sie trug ihr Nachtgewand. Der Hausherr Johannes Platearius liebte sein nach Medizin duftendes Weib und steckte gerne seine Nase in ihr Haar, statt ihre unordentliche Frisur zu beanstanden.

»Hmm …«, brummte Ima undeutlich, denn sie hatte nach den anstrengenden Stunden mit der Gebärenden gar nicht erst versucht, ins Bett zu gehen, weil sie wusste, dass der Schlaf sie fliehen würde. Trota wusste das und streichelte über ihren Arm.

»Pass auf dich auf, Mädchen. Hier, das hilft gegen Schlaflosigkeit.« Und sie reichte Ima einen Becher mit starkem Melissenaufguss. »Gegen Heimweh hilft es übrigens auch.« Die Laterne beleuchtete ihr liebevoll zwinkerndes Auge.

»Hab ich Heimweh?«, fragte Ima und nippte an dem Tee.

»Vielleicht? Wenn man die Vergangenheit ins Herz lässt, nimmt sie manchmal zu viel Raum dort ein«, sagte die Ärztin leise und rückte so dicht neben Ima, dass sie ihr den Am um die Taille legen konnte. »Wie ein fett gefüttertes Tier macht sie sich breit und beginnt zu drücken. Das nennt man dann Heimweh.« Beide Frauen schwiegen und starrten in die Nacht. Trotas Nähe tat gut, ihre Schulter bot einen Rastplatz für die düsteren Gedanken, die sie mit der Erinnerung an Robert Guiscard befallen hatten. Und als wollte auch sie helfen und die aufgewühlten Wogen glätten, setzte die Nachtigall ihr Lied fort und streute Perlen auf Imas erhitzte Wangen.

Doch sie verglühten dort nur. Nichts konnte das Brennen der Erinnerung kühlen, nichts konnte es mildern, wenn es von der Nacht so großzügig in die Seele geträufelt wurde.

»Wusstest du eigentlich, dass dieser Vogel bei den alten Römern das Gleiche kostete wie ein Sklave?«, flüsterte Trota versonnen. »Ich habe schon Nachtigallen sterben sehen …«

»Sterben! Woran?«, fragte Ima.

»An Hingabe? Leidenschaft? Ihr ging der Atem aus, und sie fiel einfach vom Ast herunter. Ich nahm sie hoch und versuchte, ihr Atem einzuhauchen. Sie schaute mich an. Ihr Auge bebte, doch ihr Herz hörte einfach auf zu schlagen.« Trota lächelte traurig. »Man kann von ihr lernen, weißt du. Man kann lernen, auf sich zu achten, seine Kräfte einzuteilen, ohne dass die Leidenschaft weniger wird.«

Ima war sich nicht sicher, ob die Ärztin damit sich selbst meinte oder ob das Wort an sie gerichtet war.

»Es ist immer die Leidenschaft, die tötet. Denk daran«, sprach Trota weiter. »Sie muss man beherrschen lernen, ihr muss man ein weiches Lager im Herzen bereiten, wo sie sich ausruhen kann. Menschen, die von der Leidenschaft unablässig wie eine Fackel brennen, werden zu ihrem Opfer. Sie fallen vom Ast wie der Vogel, und niemand kann ihnen noch Leben schenken.«

»Ihr habt so ein Lager, nicht wahr?« Ima sah die alte Ärztin neugierig an. »So ein weiches Lager in Eurem Herzen?«

Die nickte. »Ich habe so ein Lager in meinem Herzen. Du hast es auch – du musst nur lernen, es öfter aufzusuchen. Dann wirst du auch schlafen können, weißt du?«

Der Vogel zwitscherte verträumt vor sich hin. Die leise Melodie über ihren Köpfen trieb Ima wieder Tränen in die Augen. Auf Lindisfarne hatte es keine Nachtigallen gegeben, und am Königshof von London, wo sie die letzten Jahre verbracht hatte, war es zu laut und zu unruhig gewesen, um irgendwelchen Vogelstimmen zu lauschen. Vielleicht musste die Nachtigall ihren Menschen auch erst finden … Die Skalden und Sänger hatten von ihr erzählt und alte Geschichten zum Besten gegeben. Liebesgeschichten, Zaubergeschichten und … andere …

»Ich dachte immer, die Nachtigall singt ein Klagelied und bringt den Tod.« Sie biss sich auf die Lippen, weil die Erinnerung daran so plötzlich kam. »Sie bringt dem den Tod, der ihr zuhört.« Kalt lief es ihr den Rücken hinunter. Die Mutter war davon überzeugt gewesen. Trota schwieg, wartete wohl auf die Geschichte dazu. Sie war eine Meisterin des Abwartens und Zuhörens, und so kramte Ima in ihrem Gedächtnis, was genau die Mutter damals erzählt hatte. Selbst der Vogel war verstummt und wartete.

»Es gab da zwei Schwestern bei den Griechen, Philomela und Prokne. Philomela musste einen grausamen König heiraten. Der lockte ihre Schwester Prokne in einen Hinterhalt und verstümmelte sie. Daraufhin übten die beiden Frauen Rache an ihm. Als er sie töten wollte, verwandelte sich die eine Schwester auf der Flucht in eine Schwalbe, die andere aber in eine Nachtigall mit blutgetränkter Brust, die jede Nacht wehmütig ihr Schicksal beklagte …«

»Mädchen.« Trota legte den Arm um die junge Frau. »Es liegt im Herzen eines jeden selbst, was er im Lied der Nachtigall hört.«

Diese Worte gingen Ima noch lange im Kopf herum, als der Tag schon längst wieder begonnen und sie mit all seinen Geräuschen und Gerüchen vereinnahmt hatte. Essensduft aus der Küche, das Geschrei eines Säuglings, dessen Mutter sich beim Stillen zu ungeschickt anstellte. Der süßliche Geruch einer neuen Rosenölsalbe, der aus der Medizinkammer heraus durchs ganze Haus zog und sich wie klebriger Dunst aufs Gemüt legte. Ima liebte das Rosenöl nicht, es war ihr zu schwer und verursachte ihr oft Kopfschmerzen, doch hatte sie gelernt, die Zähne zusammenzubeißen, wenn sie damit arbeiten musste. Und dieser Tage gab es häufig Gelegenheit, die Zähne zusammenzubeißen, alle Betten waren belegt, und die beiden Dienstbotinnen, die den kranken Frauen aufwarteten, hatten kaum Gelegenheit auszuruhen. Geschäftigkeit trieb alle an, niemand hatte Zeit zum Grübeln.

In der Tat, der Tag ließ keine Schwermut zu, es war die Nacht, welche die Gedanken zur Last werden ließ – und die das Lied eines Vogels so veränderte, dass man davon weinen musste. Sie beschloss, die Nacht öfter zum Schlafen zu nutzen – dann würde auch die Sehnsucht nicht so schmerzlich brennen. Aber das war natürlich nur ein frommer Wunsch. Sie starrte versonnen vor sich hin. Sehnsucht brannte immer, wie ein Küchenfeuer, das niemals verlosch, weil jemand daneben saß und Holz nachlegte.

Leise summend wanderte sie zwischen den Krankenlagern herum, kontrollierte, ob die Mädchen ihre Anweisungen ausgeführt hatten und ob es den bettlägerigen Frauen gut ging. Trota von Salerno war die einzige Ärztin, die kranken Frauen ein Obdach und ärztliche Versorgung zukommen ließ. Es gab zwar weiter oben am Berg das große Kloster, wo Heilkunde praktiziert wurde, doch verweigerten die heilkundigen Mönche Frauen die Behandlung, welche über das Verabreichen von Kräutern hinausging. So kam es, dass Ima im Haus der Ärztin weitaus mehr gelernt hatte, als für eine Kräuterfrau üblich war. Sie wusste sogar mit Nadel und Faden umzugehen – auch mit Splittern, Warzen und tiefen Wunden kamen die Frauen lieber gleich in das Haus mit den roten Geranien vor der Tür.

Die junge Frau neben der Säule hatten sie heute Morgen nach der Geburt nähen müssen, weil der Geburtsriss zu groß gewesen war und die Gebärmutter sich nach unten bewegt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass Ima selbst Hand angelegt hatte, und ihre Lehrmeisterin war sehr zufrieden mit ihr gewesen. Schon in ein paar Tagen würde die Frau nach Hause gehen können. Der Säugling hatte mit Schreien aufgehört und lag nun zufrieden nuckelnd an der Brust seiner Mutter. Die jedoch sah ziemlich blass aus. Besorgt fühlte Ima ihre Stirn.

»Es tut so weh«, flüsterte die junge Frau. Einem Impuls folgend, zog Ima die Decke von ihren Beinen. Das Laken war blutig, und ihre Beine zitterten vor Schmerz.

»Warum hast du nicht Bescheid gesagt?«, fragte Ima leise, um niemanden zu beunruhigen.

»Das Kind schrie …«, kam es schüchtern zurück. Sie war eine von den Frauen aus der Vorstadt, wo es keinen Vater gab und niemanden, der als Pate für das Kind dienen konnte, und so war Trota wieder einmal eingesprungen und hatte den Säugling mit einer silbernen Münze ausgestattet. Doch nun sah es so aus, als ob die Mutter in ernsthafter Gefahr war. Ima reagierte schnell. Sie deckte die Frau wieder zu und eilte in die Medizinkammer, wo Trota mit schneeweißen Händen Kalk aus der Kiste hob und zusammen mit Öl zu einer Paste verrührte. Es roch durchdringend nach Urin. Ima hatte keine Idee, was daraus werden sollte, und es war auch egal.

»Helft mir, die Naht hat nicht gehalten.«

Ohne ein weiteres Wort wischte Trota ihre Hände an der Schürze ab. Jede der Frauen suchte aus den Truhen, was nötig war, und wie von Zauberhand hielt jede das Richtige in der Hand. Aus Beifuß, Salbei, Minze und Essig stampften sie einen Fladen, den die Magd im Feuer briet, Trota wälzte eine fein gerollte Tamponade in gequetschtem Salbei und begutachtete kurz Imas Nahtbesteck, denn sie würden vermutlich einen neuen Faden einziehen müssen.

Die junge Frau stöhnte wie ein sterbendes Rind, als die im Feuer erhitzte Nadel in das empfindsame Fleisch stach und den dünnen Seidenfaden durchzog. Trota hielt sie bei den Armen fest und sprach ebenso wenig mit ihr wie am Morgen bei der Geburt – das war ihre Art, und nicht jeder mochte sie. So war Ima auf sich gestellt, doch sie wusste genau, was sie zu tun hatte, und sie tat es mit der Ruhe und Umsicht, die sie von der alten Ärztin gelernt hatte.

»Gleich ist es fertig«, beruhigte sie die junge Mutter und schnitt den Faden mit einem silbernen Messerchen durch. Die Blutung hatte aufgehört. Mit geschickten Fingern stopfte Ima die Tamponade in die Scheide, um die Gebärmutter an ihrem Platz zu halten, und lagerte anschließend das Becken der Frau auf ein Kissen. »So wird es besser heilen«, erklärte sie. »Du wirst noch ein paar Tage hierbleiben müssen, damit du dich richtig erholst.«

Erleichtert, dass alles gut gegangen war, blieb sie noch einen Augenblick neben der jungen Frau sitzen, während Trota schon längst wieder im Haus herumeilte und Arbeiten verteilte. Tagsüber war es in diesem Haus wahrlich nicht leicht, sich einen stillen Moment zu stehlen.

»Ihr habt gesegnete Hände«, sagte die junge Frau da und lächelte dankbar. »Möge die Gottesmutter auch Euer Leben segnen. Ich werde dafür beten, wenn Ihr erlaubt.«

Gerührt nickte Ima. Es kam nicht häufig vor, dass jemand für sie betete. Sie zog die Decke gerade und drehte ihre Runde bis zum Ende des Gartens, wo manchmal genesende Frauen in der Sonne saßen. Heute war die Ecke mit den Steinbänken zwischen Rosenbüschen und Ysopstauden verwaist, und außer Bienen und Schmetterlingen genoss hier niemand den starken Duft der Blüten. Ein paar Singvögel pickten Insekten von den kräftigen grünen Stängeln und flatterten auf, als sie sich näherte. Die meisten flogen nicht weit, als wüssten sie, dass ihnen in diesem Garten nichts geschehen würde.

Ein unscheinbarer kleiner Vogel blieb sitzen – einer, den man bei Tag niemals zu sehen bekam –, eine Nachtigall, deren Freundin die Nacht war und deren Lied allzu oft den Tod verkündete. Ima starrte die unerwartete Besucherin an. Es liegt im Herzen eines jeden selbst, was er im Lied der Nachtigall hört, hatte Trota zu bedenken gegeben.

Nicht immer sang die Nachtigall vom Tod. Manchmal heilte sie die nächtliche Schwermut auch mit ihrem Gesang. Letzte Nacht war ihr das nicht gelungen, die Schwermut war Ima geblieben, und verwirrende Ahnungen gesellten sich dazu, je länger sie die stumme Sängerin betrachtete.

Und der Vogel hinterließ zunehmende Beunruhigung in ihr, weil er sich zeigte und schwieg.

Zweites Kapitel

Zum Laufen hilft nicht schnell sein,

Zum Kampf hilft nicht stark sein,

Zur Nahrung hilft nicht geschickt sein,

zum Reichtum hilft nicht klug sein;

dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht,

dass er etwas gut kann,

sondern alles liegt an Zeit und Glück.

(Prediger 9,11)

Der blutrote Wein sorgte für Bettschwere. Ima bereute, einen zweiten Becher davon getrunken zu haben – oder vielleicht hätte sie auch nur mehr Hirsemus essen sollen. Doch die Abendluft war so schwül gewesen, dass sie kaum Hunger verspürt hatte, und so lagen sie und Trota hier draußen auf den steinernen Liegen und träumten sich in den Nachthimmel. Es war ein langer Tag gewesen, beendet durch ein heiteres Mahl in großem Kreis – Trota und Ima waren die Einzigen, die wieder einmal den Weg ins Bett noch nicht angetreten hatten. Sie lächelte verstohlen, schließlich wusste sie, wie sehr die Ärztin nächtliche Betrachtungen in ihrer Gesellschaft liebte …

»Frau Trota …«, die Dienstmagd kam in lose fliegendem Hemd durch den Garten gehetzt, »… Frau Trota, kommt rasch, man verlangt Euch in der Residenz!«

Die Ärztin stöhnte auf. »Der Herzogin schmerzen die Füße, und sie lässt mitten in der Nacht nach mir rufen! Bin ich ihre Sklavin? Auf gar keinen Fall laufe ich nachts …«

»Trota.« Ima legte ihr die Hand auf den Arm. »Ihr seid Ihre Ärztin. Ihr müsst hingehen, wenn sie Euch ruft.«

Die Salernitanerin runzelte unwillig die Stirn. Im Licht der Laterne sah man deutlich die Schatten um ihre Augen, die von vielen durchwachten und durchgrübelten Nächten sprachen, in denen sie Kräuter sortiert und die Notizen für ihr Heilkundebuch geordnet hatte … Sie wirkte müde. Sehr müde. Selbst die grauen Haare hingen müde an ihren Schläfen herunter, und immer mehr Falten durchzogen ihr fein geschnittenes Gesicht. Dieses Heilkundebuch kostete sie ihre ganze Kraft. Ein umfassendes Lehrbuch sollte es werden, ein Nachschlagewerk, in dem ihr gesamtes Wissen um Heilkunde und Krankheiten der Frauen aufgeführt sein sollte – und der Seitenstoß war bereits so hoch wie ein Weinbecher.

So manches Mal war sie über den Pergamentseiten eingeschlafen oder hatte Rezepte zusammenrühren müssen, weil sie sich nicht mehr genau an die Inhaltsstoffe erinnern konnte, die sie Ima zuvor in endlosen Litaneien hatte auswendig lernen lassen. Jedermann gab ihr zu verstehen, dass ihr Wissen doch bestens aufgehoben war und dass es kein Buch darüber brauche – zumal von einer Frau geschrieben! »Die Mönche werden ihre Feuer damit füttern!«, hatte der Hausherr einmal gelacht, um sein Weib zum Schlafengehen zu animieren, doch die Bemerkung hatte Trota nur noch verbissener gemacht. Sie war überzeugt, dass ihr Heilkundebuch wichtiger war als der Schlaf – und als ihr Leben. Johannes Platearius wagte nicht mehr, sein Weib aus der Kräuterkammer zu holen, nachdem sie ihm einen ganzen Krug heißes Rosenöl an den Kopf geworfen hatte, weil er sie beim Denken unterbrochen und von einer wichtigen Idee abgebracht hatte. An das Geschrei erinnerte Ima sich noch genau. Seither war das Heilkundebuch der heimliche Herrscher im Haus, und niemand wagte es mehr, die alte Ärztin zu behindern. Trota von Salerno brannte für ihre Leidenschaft und strafte mit ihrem Tun ihr eigenes Reden Lügen.

Und am Ende war es Ima, die sich den Medizinkasten über die Schulter hängte und dem Knecht durch die dunklen Straßen hinauf zur Residenz folgte, um die müde Trota zum ersten Mal am Krankenbett der Herzogin zu vertreten.

»Du bist reif genug dafür, hast genug zugeschaut und gelernt. Du brauchst mich nicht mehr, Ima. Geh und mach die Arbeit, für die Gott dich geschaffen hat«, hatte die Ärztin ihr an der Tür gesagt und ihre Wange gestreichelt.

Imas pochendes Herz konnte das nicht beruhigen, denn jeder in Salerno wusste, wie ungehalten die Herzogin werden konnte, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen verlief. Jeder wusste auch, wie gemein ihre flinke Zunge zuschlagen konnte. Darin stand Sicaildis von Salerno ihrem Mann in nichts nach: Robert Guiscard, Herzog von Apulien und Sizilien, war nicht nur bekannt für seine Grausamkeit, sondern auch für die Entschlossenheit, mit der er Reden in die Tat umsetzte. Ob das nun den Kopf kostete oder man nur sein Land verlor – Robert war so hart wie ein Knochen; nicht umsonst fürchtete ihn ganz Italien bis hinauf zum deutschen Kaiser, den er ja erst kürzlich endgültig in die Flucht geschlagen hatte. Terror mundi nannten sie ihn – der Schrecken der Welt, aber eben auch der heimatlichen Halle. Seine Gattin Sicaildis, terror domus, der Schrecken der Residenz, konnte nicht minder gefährlich werden.

Ima hatte die Herzogin schon einige Male in der Residenz getroffen und wusste, dass sie sich bei der Behandlung keinen Fehler erlauben durfte. Sicaildis’ Schmerzen waren nicht gering, ihre Unduldsamkeit war jedoch noch größer. Schon an der Tür roch Ima den süßlichen Zersetzungsgeruch des Fleisches. Nicht einmal Trota, die sie als Leibärztin zu rufen pflegte, hatte die Krankheit der Beine aufhalten können. Und die Tatsache, dass es keine Besserung gab, machte die alte Dame zu einer ausgesprochen launischen und bisweilen sehr ungerechten Patientin, die obendrein auch noch sämtliche Ratschläge in den Wind schlug, wenn es um das geliebte Essen ging.

Im Gemach der Herrscherin war es düster. Zwei Dienstmägde hockten am Bett und planschten in einer Wasserwanne herum. Mit spitzen Fingern wuschen sie schmierige Binden aus. Am Fenster konnte man die schemenhafte Gestalt eines Priesters erkennen, der Ave Marias vor sich hin murmelte und immer wieder die Nase herausstreckte, um frische Luft zu schnappen. Billiger Weihrauch quoll aus einem silbrig blitzenden Gefäß und vermischte sich mit dem Krankengeruch zu einem Übelkeit erregenden Nebel, dem Gott ganz sicher fernblieb.

Die Herzogin ruhte auf einem aufgehäuften Kissenstapel. Ihre weißen Hände wirkten durch den Nebel wie zwei herumirrende Geister, während sie den Dienerinnen gestikulierend Anweisungen gab, wie die Binden zu waschen waren. Vermutlich war sie zu stolz, um ihren Hofstaat zu wecken, damit er mit ihr litt und sie wegen ihrer Schmerzen bedauerte, wie es jede Frau von hoher Geburt getan hätte. Ima ahnte, dass Sicaildis nicht einmal ihren Mann geweckt hätte.

»Ich hatte nach der Ärztin geschickt.« Die Herzogin stützte sich auf die Ellbogen; ihren scharfen Augen entging nichts.

»Trota schickt mich, Euch zu behandeln.«

»Ich hatte nach der Ärztin geschickt«, wiederholte Sicaildis mit scharfer Stimme, und die Dienerinnen zuckten zusammen. Schweißperlen rannen an den Schläfen der Herzogin herab. Sie rührten nicht nur von der Schwüle des Gemachs, die alte Dame fieberte. »Ihr seid nicht erfahren genug, Mädchen. Geht mir aus den Augen und lasst Eure Lehrerin holen, das hier ist etwas für ihre Hände. Ihr könnt mir nicht helfen.«

Diese Feststellung war ungerecht – immerhin hatte Sicaildis miterlebt, wie Ima vor nicht allzu langer Zeit dem inzwischen verstorbenen Papst beigestanden hatte. Im Castel Sant’Angelo von Rom hatte sie ihn, für viele unfassbar, wieder auf die Beine gebracht, als er sich geschwächt und halb verhungert zum Sterben hingelegt hatte. Der Guiscard hatte ihm schon ein Grab schaufeln wollen, weil es unter seiner Würde gewesen war, einen bettlägerigen Moribunden in die Freiheit zu tragen.

»Könnt Ihr warten?«

Die Frage war dreist, und Ima knautschte ihren Mantel in Erwartung eines sofortigen Hinauswurfs, doch sie kam kaum noch gegen den Zorn an, den die hochmütige Herzogin jedes Mal in ihr auslöste. Trota konnte weitaus besser mit diesem Verhalten umgehen – warum hatte sie sich nur geweigert, ihre Patientin selbst zu behandeln?

»Ich kann nicht warten«, kam es dann auch heiser aus dem Bett. »Ich habe Schmerzen.«

»Vorgestern kam ein Bote aus Kephalonia«, wisperte die eine Dienerin, als Ima niederkniete, um ihren Kasten zu öffnen. »Seither quält sie sich …«

»Was brachte er für Nachricht?«, flüsterte Ima zurück. Seit Wochen saß der Herzog von Apulien mit seinem Heer fern der Heimat auf der ionischen Insel und versuchte, die byzantinischen Truppen zu umgehen. Man munkelte, sein Ziel sei tatsächlich Byzanz …

»Keine gute. Im Lager herrscht wieder Fieber, Männer sterben, sie hungern, das Wasser ist knapp …« Das Mädchen entfernte sich hastig, als die Herzogin ruckartig hinter dem Bettvorhang erschien.

»Wenn Ihr tratschen wollt, dann verlasst mein Haus. Ich dulde kein Gequatsche.« Noch mit Schmerzen saß die Dame auf dem hohen Ross.

»Wünscht Ihr, dass ich meine Heilmittel auspacke?« Ima stand kurz davor zu explodieren und wünschte die hochnäsige Herzogin zum Teufel – und Trota gleich mit, weil sie schuld daran war, dass Ima wie eine Sklavin auf dem Boden des Residenzgemachs hockte statt zuhause auf ihrer Bettkante.

»Was zaudert Ihr noch, fangt schon an«, knurrte die Langobardin. Danach hörte man keinen Ton mehr von ihr. Nicht, als Ima die restlichen Binden von den Beinen wickelte, nicht, als sie die stinkenden Wunden mit Honigwasser spülte, und auch nicht, als sie im Licht der Kerze mit einem zierlichen Silberstab in den absterbenden Fleischgräben herumstocherte, um zu schauen, wohin sich das Blut verzogen hatte. Es saß weit unter einem grauen Brei, in den sich Maden hineingewühlt hatten. Ima entschloss sich, die Maden arbeiten zu lassen. Trota hatte ein paarmal erfolgreich mit Maden kuriert, warum sollte es hier nicht wirken? Das Schlimmste, was in der herzoglichen Residenz passieren konnte, war tatsächlich, sich Unsicherheit anmerken zu lassen …

Hinter ihr würgte die Dienerin vor Ekel.

»Reich mir den kleinen Beutel und hol frisches Wasser«, wies Ima sie an, um sie aus dem Weg zu haben. »Und spute dich.« Sie rückte ein Talglicht näher. Der Zustand des herzoglichen Beines ließ auf Krankheit im Inneren schließen, das hatte Trota schon erwähnt. Doch wusste jeder in Salerno, dass Sicaildis sich gegen den Rat der Priester einen ungläubigen Koch nur für die Süßspeisen hielt, von denen sie nicht lassen konnte. Süßspeisen machen die Beine kaputt, hatte Trota immer wieder gesagt. Sie sollte Süßes meiden. Sicaildis war weit davon entfernt, sich daran zu halten. Auf der Truhe stand eine Silberschale mit in Honig getauchten Fruchtstücken. Ima schüttelte nur stumm den Kopf. Vorsichtig zupfte sie an den grauen Fleischbröckchen und tupfte Flüssigkeit weg. Die Maden würden es hoffentlich richten.

»Eure Hand hatte einen guten Lehrer«, sagte da die Herzogin leise. »Ich tat Euch unrecht, als ich Euer Können anzweifelte, Ima von Lindisfarne.« Nichts in ihrer Stimme ließ darauf schließen, welche Schmerzen sie empfand. Man munkelte, dass sie hart wie ein gemeißelter Kathedralenstein war, denn Fehler tolerierte sie ebenso wenig wie Schmerzen – weder bei sich noch bei anderen.

»Ich hatte gute Lehrer«, antwortete Ima daher, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen oder die leise Abbitte zu kommentieren. Sie führte auch nicht aus, wer diese Lehrer gewesen waren; möglicherweise hätte der Herzogin nicht gefallen, dass man Ima auch heidnisches Brauchtum beigebracht hatte und dass Gott in ihrer Heilkunst nur wenig Platz fand. Sie schob den Gedanken an ihre Lehrer – die Mutter und deren Freundin – beiseite, um sich zu konzentrieren. Sehnsucht und Heimweh waren schlechte Lehrmeister bei der Arbeit, wie die Mutter immer gesagt hatte. Ihre Freundin hatte deswegen stets gesungen, wenn sie ihre Heilkunst ausübte, doch das wagte Ima nicht in Gegenwart eines Priesters.

Und so folgte dem Abtragen von Fleischstücken nur ein Umschlag aus Honigpaste, in die ein paar Tropfen tyriaca magna galeni aus Trotas Medizinkammer gemischt waren. Dieses tyriaca wurde auch die Königin der Heilmittel genannt und war ein wahres Wundermittel und aus profundem Wissen um die Heilkraft der Pflanzen zusammengebraut – die Ärztin tat dies nur bei Vollmond, um die ganze Kraft der Erde hineinrühren zu können, und dann erinnerte sie Ima tatsächlich ein wenig an die beiden Heilerinnen von Lindisfarne.

Damit der Verband feucht blieb und nicht an den Wunden klebte, tropfte sie aus einer Phiole Weihwasser auf die dicke Leinenschicht. Sie war sich nicht sicher, ob das Weihwasser besser wirkte als Quellwasser, doch besaß es den besseren Ruf, und allein schon der würde hier gute Dienste tun. Die Mutter wäre genauso verfahren, und das, obwohl sie mit Gott in Dauerhader gelegen und kein Vertrauen in heiliges Wasser gehabt hatte.

Andächtig sahen die Frauen zu, wie Tropfen für Tropfen im Verband versickerte und wie sich unter der Feuchtigkeit die Leinenbinden glätteten. Die Stille des Gemachs tat gut, und Imas Herz kam ein wenig zur Ruhe. Selbst der Weihrauch stank jetzt nicht mehr so harzig. Vielleicht lag es auch daran, dass der Priester kurz den Raum verlassen hatte. Sie seufzte leise. Leider blieb er nicht lange weg, sein tapsiger Schritt war bereits wieder zu hören. Mit einem Ächzen bückte er sich zu seinem Räuchergefäß herunter und befüllte es mit neuem Weihrauch. Sein papierfarbenes Gesicht sprach im Übrigen von der gleichen Krankheit wie bei Sicaildis; am liebsten hätte Ima auch ihm ein paar Tropfen des hochwirksamen trifera saracenica in Wein verabreicht, um seine Leber zu erleichtern. Doch sicher hätte ihr das nur Verwünschungen eingebracht.

Sicaildis’ Haut oberhalb des Verbandes fühlte sich trocken an. Ima goss sich ein wenig Olivenöl in die Hände und massierte es mit langsamen Bewegungen in die Haut. »Ihr solltet mehr trinken, ma dame«, sagte sie. »Einen Tee von Brennnesseln sollte man für Euch täglich kochen …«

Sicaildis’ Hand legte sich auf ihren Arm.

»Seid Ihr gottesfürchtig, Mädchen?«, unterbrach die Herzogin sie heiser. »Oder glaubt Ihr an bärtige Baumgeister, wie es die Barbaren im Norden tun?«

»Sie …« Ima zögerte und entschloss sich dann zu schweigen.

Die Herzogin wartete die Antwort auch nicht ab. »Betet mit mir, Mädchen. An wen auch immer Ihr glaubt, Eure Hände sind stark, so etwas kann nicht gottlos sein. Faltet sie für mich – betet mit mir.« Ihre schwarzen Augen schimmerten, als hätte sich eine Träne hineinverirrt … »Der Herzog kam vorhin im Traum zu mir.« Die beiden Frauen sahen sich an, und für einen Moment war es wieder still im herzoglichen Gemach – so still, dass die Erscheinung wie ein kalter Lufthauch an ihnen vorüberzog. Eins der Mädchen begann zu weinen.

Ima verstand. Eine Traumgestalt war Teufelszeug, nur Frauen nahmen sie ernst und konnten Trost darin finden, ganz gleich, in welchen Stand sie hineingeboren waren. Sanft nahm sie die Hand der Langobardin zwischen ihre Hände. »Lasst uns den Allmächtigen um Erbarmen und um Gnade bitten«, sagte sie leise. »Er wird uns erhören.« Und leise stimmte sie das Pater noster an, wie sie es von der Mutter gelernt hatte, und sie sang die Strophen, wie man es im Kloster von Lindisfarne zu tun pflegte. Die Hand der Herzogin blieb bei ihr. Leise streichelte der Weihrauch ihre bebenden Seelen, versuchte, kommendes Leid zu mildern und das Herz für Prüfungen zu stärken. Der Priester indes verharrte, wo er war. Es war vielleicht unter seiner Würde, mit einer stadtbekannten Kräuterfrau zu beten, zumal sie nach dem Pater noster das De profundis anstimmte, was ihr nicht anstand. Trotzdem mochte auch er fühlen, dass Gott sich zu ihnen gesellt hatte und dass es um Leben und Tod ging. Und so legte er stumm noch ein paar Weihrauchbröckchen mehr auf die Räucherkohle und ließ den Rauch in Richtung der Frauen steigen, auf dass er sie umhülle und ihre Gebete verstärke.

Dann galoppierte ein Pferd in den Hof der Residenz. Laute Rufe, Schnauben, Geklirre. Hufgetrappel, wie wenn ein Pferd auf der Stelle tanzt, weil es nachdrücklich angehalten wird. Jemand lachte, dann erklangen Laufschritte in Richtung Gebäude. Der Hof erwachte zum Leben – so früh am Morgen. Ein Pferd wieherte, Männer liefen umher, es wurde geschäftiger Tag, obwohl nur ein paar Laternen die Nacht erhellten.

Sicaildis entzog Ima ihre Hand und setzte sich aufrecht hin. »Wickelt das Bein fertig«, sagte sie knapp, und Ima beeilte sich. Mit der Linken griff die Herzogin nach ihrem Schal, die Dienerin huschte bereits nach dem Mantel. Alle Residenzbewohner kannten die Geräusche, die ein Bote des Herzogs verursachte. Diesmal jedoch schien es anders zu sein. Ganz anders. Die Burg lauschte – und erstarrte.

»Rasch«, hetzte Sicaildis das Mädchen durch den Raum. Mantel, Schleier, mit einer Hand durchs Haar gefahren, welches sie in der Nacht offen statt eingeflochten trug, als könnte das dem fern weilenden Gatten gefallen. »Rasch, das Öl!« Ein Tupfer an den Hals, die Beine aus dem Bett geschwungen, Ima sank auf die marmorne Stufe, mit klopfendem Herzen, denn draußen erklangen donnernd Schritte. Einen Moment lang hoffte sie kindisch, dass es der Herzog selbst war, der sein Weib in der Nacht besuchen kam, so wie es in den Geschichten erzählt wurde, wenn der Held seine Sehnsucht nicht mehr aushielt.

In gewisser Weise war es auch der Herzog.

Er war gekommen durch einen Ring und eine Botschaft an sein geliebtes Weib, Herzogin Sicaildis von Apulien. Der Bote verschluckte sich beinah; dann warf er sich vor der Herzogin zu Boden, holte tief Luft und richtete die Botschaft seines Herrn aus, welcher keine Kraft mehr zum Schreiben gehabt hatte. Robert Guiscard wünschte nichts mehr auf der Welt als sein Weib herbei, denn – Allmächtige Gottesmutter – der Tod saß ihm im Nacken und auf der Brust, ihm blieb nur noch wenig Zeit auf Erden, und er wünschte sich sein geliebtes Weib an die Seite, um von ihrer Hand geleitet und beschützt von allen Heiligen …

Ein harter Schluchzer erklang – ein einziger. Dann herrschte gespenstische Stille im Gemach der Herzogin. Der Bote stand auf und verbeugte sich und verließ den Raum. Hinter ihm blähte sich der Vorhang, ganz leicht, wie um die Schwere fortzuwehen, die den Raum befallen hatte. Doch es blieb noch genug davon zurück; Ima rang heimlich nach Luft. Des Boten Schritte verklangen in der Halle, Eile tat jetzt nicht mehr not. Er hatte seinen schweren Dienst erfüllt. Die Schwere floss wie zähes Pech über den Boden.

Sicaildis hatte sich nicht gerührt. Aufrecht stand sie da, hatte den Anwesenden den Rücken zugekehrt. Niemand konnte ihr Gesicht sehen. Niemand wagte, sich zu bewegen oder ein Wort zu sprechen. Das Atmen wurde zur Last, die Luft im Gemach war so stickig. Vorsichtig stand Ima auf. Die Magd starrte sie erschrocken an, wie sie es wagen konnte …

Dann stand sie hinter der Herzogin, der flackernde Span an der Wand beleuchtete den gebeugten Rücken. Ihr Atem ging heftig, die langen, weißen Locken zitterten. »Ma dame«, sagte Ima leise.

Mit einem Ruck drehte Sicaildis sich um, dass die Locken flogen. Ima erkannte verzerrte Gesichtszüge und rote Augen, in denen Tränen verbrannt waren, statt im Fluss Erleichterung zu verschaffen.

»Packen«, sagte sie knapp zu ihrem Dienstvolk. »Wir reiten sofort los.«

Das junge Mädchen begann zu weinen vor Aufregung und wusste nicht, wohin zuerst. »Spute dich«, giftete die Herzogin, »und heul nicht rum, sonst lass ich dich auspeitschen!« Ihr Kinn zitterte.

»Ma dame«, wiederholte Ima. »Ma dame – Ihr solltet den Morgen abwarten, Ihr …«

»Und Ihr solltet tun, was man Euch sagt«, unterbrach Sicaildis sie. »Packt Eure Sachen und haltet Euch bereit.«

Imas Augen weiteten sich. »Ma dame – wie redet Ihr mit mir …?«

Sicaildis trat einen Schritt auf sie zu, und im Licht des Kienspans sah Ima, dass sie doch geweint hatte, denn Tränenspuren durchzogen ihr faltiges, immer noch schönes Gesicht. »Ihr müsst mit mir reisen, Ima. Mein Herzog liegt im Sterben – Ihr müsst alles tun, was in Eurer Macht steht.« Sie griff nach Imas Händen. »Für ihn – und für … mich. Ich brauche Eure Hände. Ich brauche Euch, Ima.« Die Stimme wurde ungewohnt leise. »Schlagt es mir nicht ab, Ima«, flüsterte sie schließlich.

Ima schluckte schwer. »Die Dame Trota wäre eine bessere Begleitung, ihr Wissen ist unvergleichlich. Allein sie könnte da noch helfen. Lasst Trota rufen.« Sie wusste jedoch genau, dass die alte Ärztin sich mit Händen und Füßen gegen die strapaziöse Reise wehren würde, und kam sich schlecht vor, es überhaupt vorzuschlagen. Außerdem war es Sünde zu denken, man könnte dem Tod ein Schnippchen schlagen. Dennoch wusste sie, dass sie es manchmal konnte. Und die Herzogin war in Rom Zeugin gewesen.

»Ima.« Sicaildis’ Züge glätteten sich, der Druck ihrer Finger wurde stärker. »Der Allmächtige ruft meinen Herzog zu sich. Diesmal wird es kein Widerstehen geben, das weiß auch er. Diesmal wird es das letzte Mal sein, dass ich seine Hände küsse und ihm Lebewohl sage. Begleitet mich, ich bitte Euch. Begleitet mich auf diesem Weg. Als Ärztin, als – Freundin. Ich bitte Euch.« Sie verstummte und hielt Ima mit ihrem Blick fest gepackt. Fast schien es, als hielten selbst die Mauern den Atem an, denn noch niemals zuvor war Sicaildis’ Stimme derart flehend in der Residenz von Salerno erklungen. »Ich bitte Euch, Ima«, kam es noch einmal ganz leise.

Der Mantel wehte – die Herzogin war gegangen. Ima stand allein vor der Wand. Die Zeit des Bittens war vorüber. Sie sah sich um. Sicaildis kramte in einer Truhe und wies das heulende Mädchen an, Kleider zusammenzulegen, während eine ältere Dienerin Lederbahnen herbeischaffte, um die Kleider hineinzurollen. Eine Kassette mit Schmuck fiel polternd zu Boden, Perlen rollten auf den glasierten Fliesen umher. »Pass doch auf!«, zischte die Herzogin, obwohl niemand schuld gewesen war. Dies blieb der einzige Hinweis auf ihre Nervosität.

»Ich möchte meinen Mantel holen«, sagte Ima laut, und der Klang ihrer Stimme störte die Unruhe im Raum. Sie fröstelte. Sicaildis sah hoch. »Dafür ist keine Zeit. Wir reisen sofort ab.«

»Ich möchte meinen Mantel holen«, wiederholte Ima fest. Wut stieg in ihr auf. Sie war keine Sklavin. Sie war eine Freie von edelster Geburt, ihr Vater entstammte königlichem Geblüt, sie wusste auch ohne seidene Kleider, wer sie war. Die beiden Frauen musterten sich. Sicaildis spürte wohl Imas Widerstand und dass sie kämpfen, sich vielleicht sogar ganz weigern würde. Dass diese Heilkundige aus dem Umfeld des englischen Königs kam, war ihr dabei ganz offensichtlich einerlei. Nun ja – nicht ganz.

»Also gut«, brach sie das Schweigen. »Geht, verliert keine Zeit und holt Euren Mantel. Meine Eskorte wird einen Umweg machen und Euch am Haus der Trota abholen. Ich dulde jedoch keine Trödelei. Beeilt Euch, Ima.«

Kurz darauf stand Ima im Hof und atmete tief durch.

Pferde wurden gesattelt und gezäumt, ein Handpferd wartete geduldig neben den Transportkisten und graste. Ein Pferdezaum schepperte zu Boden, das hässliche Geräusch von Metall auf Stein drang ihr bis ins Mark. Stille Hast fand sich in den Bewegungen der Knechte – der Herzog lag im Sterben, die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, obwohl eigentlich Stillschweigen angeordnet worden war. Es war der Zustand vor der Trauer, wo jeder Laut einer zu viel war, wo sich das Ohr empfindlich zusammenzog, wo selbst die Kiesel unter den Füßen die Luft anhielten, wenn man zu hart auftrat, und wo nur Gebete ein wenig Trost schenkten, weil sie Gottes Nähe und Güte erahnen ließen. Sie halfen über die Zeit vor der Trauer, wenn man Gefahr lief zu stürzen, weil die Furcht einen am Laufen hinderte. Und Furcht tötete die Seele, noch bevor sie das Herz erreichte.

Ima fiel es so schwer, an die Geschichten zu glauben, welche die Mutter immer erzählt hatte. Vor allem weil die Mutter selbst hadernd und zweifelnd vor dem Altar gelegen und schließlich ihr Heil im Rausch der Kräuter gesucht hatte. Wer konnte schon sagen, wo Trost wirklich zu finden war? Und war Gottes Arm nicht viel zu kurz, um Trost zu spenden, wenn die Umarmung eines Menschen zumindest Wärme gab? Furcht und Trauer waren doch zu menschlich, als dass Gottes Güte da irgendwie helfen konnte. Und welcher Arm war stark genug, Sicaildis von Salerno Trost zu spenden? Würde nicht selbst Gott da verzagen?

Kreuz und quer schossen Ima diese Gedanken durch den Kopf, als sie durch das Tor hetzte und sich auf den Weg hinunter in die Stadt machte. Sie kam nicht einmal darauf, dass sie in höchstem Maße lästerlich und sündhaft sein könnten und dass sie sie am besten gleich zu einem Priester in die Beichte getragen hätte. Am allernächsten war ihr der Gedanke nach ihrem Mantel und einem Paar bequemer Schuhe und ob es wohl gelingen würde, vor der Abreise noch ein paar Bissen zu sich zu nehmen. Ihre Aufregung wuchs. Der Herzog samt aufgeregtem Burghof rückte in weite Ferne.

Am Horizont war die frühe Morgensonne erschienen, Salerno wachte langsam auf. Erste Fensterläden klapperten, zwei Karrenträger schlurften durch die Straßen, gähnend zog der eine seine Mütze ins Gesicht. Es duftete nach frischem Brot. Eine Ziege meckerte. Vor der Taverne lag ein Trunkenbold und schnarchte, der Wirt hatte ihn wohl einfach auf der Schwelle entsorgt, wo er den Boden besudelt und sich danach splitternackt ausgezogen hatte. Seine Lumpen waren zu verschmiert, als dass sie ein Bettler gestohlen hätte, und so lagen sie auf einem seltsam ordentlichen Haufen neben ihm. Angewidert wandte Ima sich ab und eilte weiter. Endlich kam der Brunnen in Sicht, dann die Gasse, der kleine Platz, der alte Olivenbaum und Trotas Haus.

Man stand früh auf im Haus der Trota von Salerno – so auch heute. Trota hatte wie so häufig offenbar überhaupt nicht im Bett gelegen. Mit wirrem Haar schwirrte sie zwischen Küche und Medizinkammer hin und her, deklamierte Verse des Galen und dachte laut über eine Rezeptur gegen Durchfall nach.

»… denn läuft das Wasser, vertrocknet der Mensch. Was folgt daraus? Was – folgt draus? Trota, denk nach. Ein Eigelb wäre gut. Ein Eigelb stärkt die Säfte, stärkt das Blut. Was noch – was noch, denk nach, Trota …«

»Cypresse«, sagte Ima und legte der Ärztin die Hand auf die Schulter. Die fuhr herum.

»Cypresse, Liebes. Woher weißt du das?«

»Ihr habt es mich gelehrt«, lächelte Ima. »Ich musste den ganzen Dioskurides auswendig lernen, wisst Ihr noch? Ich habe des Nachts von Dioskurides wach gelegen und geträumt und mir gewünscht, dass er wenigstens ein schöner Mann ist, wenn ich schon seinetwegen nicht schlafen kann. Ihr habt mir auch gesagt, dass es keine schönen Ärzte gibt, wisst Ihr noch? Und dass ich mir keinen Arzt als Mann erwählen soll, weil ich mit ihm nur streiten würde und er mich weder durch Wissen noch durch Schönheit würde bezaubern können. Wisst Ihr noch?« Dann wurde sie ernst. »Trota, die Herzogin zwingt mich, sie nach Kephalonia zu begleiten. Heute noch.«

Die alte Ärztin erbleichte. »Kephalonia. Das ist wohl ein Scherz.«

Ima schüttelte unglücklich den Kopf. »Nein. Der Herzog liegt im Sterben.« Die Halle schien ihre Worte wieder auszuspucken; dies war das Haus einer Ärztin, und noch lebte der Herzog. Vom Sterben wollten die Wände nichts hören – sie hatten schon genug Errettungen aus Todesnöten erlebt. Noch lebte der Herzog von Apulien, noch war nichts verloren, dies war das Haus des Lebens.

»Der Herzog liegt im Sterben«, flüsterte die alte Ärztin und sank auf einen Hocker. Unvorstellbar. Robert Guiscard hatte es immer gegeben – viele Salernitaner konnten sich kaum an die Zeit erinnern, als es den Guiscard noch nicht gegeben hatte. Allmächtig war er, allgegenwärtig – unversehrbar. Selbst als vor vielen Jahren ein tückischer Pfeil seinen Brustpanzer durchschlagen hatte und man ihm die Brust hatte aufschneiden müssen, um den Pfeil zu entfernen, hatte er dem Tod ein Schnippchen geschlagen und überlebt, obwohl die Priester an seinem Lager schon Totengebete gemurmelt hatten. Seine unbändige Lebenskraft schrieben manche dem Teufel zu – böse Zungen behaupteten sogar, er habe seine Seele verkauft, um noch mehr Macht zu gewinnen und den Kaiser in Konstantinopel hinwegzufegen … und nun lag er im Sterben. Dieselbe fassungslose Stille wie vorhin in der Residenz befiel das kleine Haus. Nur Trotas Hocker knackte.

»Ihr werdet ein paar Tage brauchen«, raffte sie sich schließlich auf zu sagen. »Vielleicht hat Gott ihn dann schon …«

»Die Herzogin ist überzeugt, ihn lebend anzutreffen, Trota.« Ima griff sich in das offene Haar. Während sie die Worte aussprach, durchfuhr sie ein Bild von Sicaildis und Robert, Hand in Hand, wie sie letzte Worte der Liebe austauschten … Gott meinte es gut mit diesem Paar. Robert mit seiner unbändigen Kraft würde es schaffen, den Tod hinzuhalten, wie er so vieles geschafft hatte, was kaum möglich war. Er würde es schaffen, sie noch einmal zu sehen. Das Bild verwischte. Ima hielt sich an der Wand fest. Die Ärztin sah ihr in die Augen und nickte langsam.

»Du wirst Medizin brauchen. Ich pack dir zusammen, was nötig ist, Mädchen.« Sie lächelte liebevoll. »Das Wichtigste aber ist in deinem Kopf, Ima von Lindisfarne: Wissen und Verständnis. Du wirst deinen Weg machen.«

Ima biss sich auf die Lippen, als Trota davonhumpelte. Sie hatte so vieles von ihr gelernt – nun würde sie auf sich gestellt sein, und allein. Sie umklammerte die Tischkante. Allein. Und fort von hier, fort von der Sicherheit eines warmen Zuhauses.

Was würde Gérard sagen, wenn er kam und sie nicht mehr vorfand?

Der Ritter de Hauteville hatte ihr nämlich bei ihrem letzten Treffen ein wenig schüchtern, aber doch nach allen Regeln der Kunst den Hof gemacht, was Ima erstaunt hatte, weil es nicht zu ihrer gemeinsamen Geschichte passen wollte. Die Dienstboten des Hauses hatten sich sogar erlaubt zu grinsen, denn der Ritter wirkte alles andere als höfisch und geziemend. Meist waren zudem seine Kleider ungepflegt, und man sah ihm an, dass er von der anstrengenden Reise sofort zu ihr geeilt kam, statt sich herzurichten und die Kleidung zu flicken. Ima hingegen wusste ja, dass er sich in Gesellschaft seines Schwertes weitaus wohler fühlte als inmitten von galanten Nichtigkeiten, die nicht seinem Herzen entsprangen. Sie allein wusste, was sein Herz wirklich sprach, sie war an seiner Seite durch das brennende Rom gelaufen, sie hatte ihn am Vesuv aus einem todbringenden Rausch errettet und dem Klopfen in seiner Brust gelauscht. Sie wusste, wie sich Leidenschaft anfühlte, welch dramatisch schöne Tode sie bringen und wie friedvoll die Auferstehung neben einem Geliebten sein konnte. Und sie wusste auch, wie schal sie schmecken konnte, wenn man selbst von hoher Geburt war und sich dumme Ermahnungen schickte, dass so eine Verbindung unmöglich war …

»Gérard«, flüsterte sie dennoch, um seinen Namen zu hören. Er war der Sohn einer Küchenmagd und sie königlichen Geblüts, doch allein der Klang seines Namens machte sie unruhig und schoss ihr glühende Pfeile durch den Leib. Es gab noch etwas jenseits der Konventionen und etwas außerhalb von Blut, Rang und Geburt … »Gérard …«

»Ich werde ihm sagen, wo du hingegangen bist.« Die Ärztin stand vor ihr, mit ernstem Gesicht. »Es ist eigentlich höchste Zeit, dass er sich dich aus dem Kopf schlägt. Eure Wege sollten sich hier trennen – eine gute Gelegenheit.« Sie runzelte die Stirn und kramte in dem Beutel herum, den sie zusammengestellt hatte. Ima wusste, dass sie den Ritter de Hauteville nicht ausstehen konnte, weil er Normanne war, schmutzig und unkultiviert – und weil er Ima mit geradezu kindischer Hingabe liebte.

»Aber Trota, ich werde doch zurückkommen!«, protestierte sie daher. »Ich werde zurückkommen. Sag ihm, dass ich ihn – sag ihm, dass – dass …« Ima verstummte, draußen wurde es nämlich laut. Hufe trappelten über das Pflaster, dann schlug jemand mit einem Stock gegen die Tür und zerriss den letzten Moment des Nachdenkens. Die Herzogin war angekommen.

»Ich rechnete damit, Euch vor der Tür zu finden«, bemerkte sie spitz, als Ima aus dem Eingang trat. »Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.« Damit wendete sie ihren isabellfarbenen Hengst. Wie hastig ihr Aufbruch in der Residenz gewesen war, verrieten auch ihre Diener, die gehetzt um eins der Packpferde herumwuselten, dessen Pakete nicht richtig festgeschnallt waren. Das Dienstmädchen hockte mit bleichem Gesicht auf einem Maultier, die Pferde der Soldaten schäumten vom schnellen Lauf hinunter in die Stadt. Sicaildis schnickte mit ihrer Peitsche nach dem Diener. »Mach das Maultier bereit, die Ärztin möchte aufsteigen«, sagte sie nur.

Trota umarmte ihre Schülerin. »Du wirst das schaffen. Du bist so weit, Ima von Lindisfarne. Gott hat deine Hände schon vor langer Zeit gesegnet – jetzt wende an, was du von mir gelernt hast. Wir werden alle für dich beten.« Zögernd ließ sie Ima frei. Deren Herz wurde schwer – war es Einbildung, oder wurde die alte Ärztin tatsächlich kleiner? Kribbelnde Angst kroch an ihr hoch, am liebsten hätte sie alles hingeworfen und wäre weggelaufen. Ein schwarzhaariger Ritter zog durch ihre Gedanken und dass er sie hätte beruhigen können … zärtlich streichelte Trota ihr den Kopf.

»Geh, Kind. Ich sag ihm, was mit dir ist.«

Das Versprechen hielt Imas Seele zusammen, als sie sich in den Sattel schwang, einen bequemen Sitz im Fell suchte und ihre hastig zusammengepackte Kleiderrolle stützend hinter sich drückte. Ich sag ihm, was mit dir ist.

»Sag ihm, was mit mir ist«, flüsterte sie ins Morgengrauen hinein. Sicaildis’ Hengst ging mit den Vorderbeinen in die Luft, als die Herzogin ihn ein wenig zu nachdrücklich zum Gehen aufforderte. Die Soldatenpferde trippelten los, das Dienstmädchen schniefte. Ima sah zurück. Die alte Ärztin stand vor der Haustür, die Arme eng an den Körper gedrückt. Ihre weißen Haare wehten in der Frühmorgenluft, sie wirkte dünn und schutzlos. Ihr freundliches Lächeln war das Letzte, was Ima sah, bevor das Maultier den anderen hinterhertrabte.

Der Herzogin von Salerno stellte man sich nicht in den Weg.

Am Stadttor sprangen die Wachen denn auch auseinander, ein betrunkener Wachsoldat wurde von seinen Kollegen am Kragen gepackt und zur Seite geschleift. Ihre nicht angebundenen Pferde sprengten davon, zwei galoppierten panisch durch das Tor und hinauf in die Stadt, und das helle Klackern der Hufe weckte die Menschen vor der Zeit.

»Platz da!«, brüllte der eine Herzogliche, überflüssigerweise – da war keiner mehr im Weg, alle lagen hinter der Reisegruppe am Straßenrand und wunderten sich, wohin die Herzogin zu so früher Stunde in so hohem Tempo unterwegs war. Niemand ahnte auch nur im Geringsten, dass der Herzog nach ihr geschickt hatte, niemand ahnte, dass der Allmächtige ihn gerufen hatte … und dass Sicaildis sich aufgemacht hatte, dem Allmächtigen ein Schnippchen zu schlagen, indem sie schneller war als Er.

Ima verging Hören und Sehen.

Sie hatte daheim durchaus gut Reiten gelernt, es hatte dort auch Pferde von feinem Blut gegeben, denn immerhin hatte sie die vergangenen Jahre im Haus ihres Urgroßvaters Roger de Montgomery verbracht und war in den Kreisen der englischen Königin Mathilde verkehrt. Sie fürchtete sich nicht vor dem Schnaufen und wilden Gebaren der maurischen Pferde, die König Guilleaume so liebte, und auch die Höhe der Tiere machte ihr keine Angst. Doch das Tempo, welches die apulische Herzogin nun vorlegte, stellte Imas Reitkünste auf eine harte Probe. Im Galopp flogen sie dahin, erklommen beinah mühelos den Berg hinauf nach Noceria, und niemand sah sich nach ihr oder dem Dienstmädchen um, die sie beide auf nicht minder flotten Maultieren saßen und sich vor Schaukelei kaum noch zu halten wussten.

»Warum muss es so schnell gehen?«, jammerte das Mädchen und klammerte sich an die Zügel, was ihr Maultier mit unwirschem Kopfschlagen beantwortete und vorwärtsschoss. Die Kleine schrie vor Angst – vorn galoppierte man rücksichtslos weiter in den Sonnenaufgang hinein, die Herzogin mit verbissenem Gesichtsausdruck an vorderster Stelle, den Blick nach Osten gerichtet … wo ihr geliebter Mann im Sterben lag.

Hinter der großen Kreuzung nach Neapolis ritten sie einen Bettler über den Haufen. Ima sah ihn stürzen, ein Schrei, er hob die Hand zum Schutz gegen die Hufe, dann hörte sie ein lang gezogenes Stöhnen. Die Soldaten preschten unbeirrt weiter. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus: Der Mann rührte sich nicht. Wut stieg in ihr auf, und energisch parierte sie ihr Maultier neben ihm durch. »Ihr könnt ihn doch nicht hier liegen lassen!«, brüllte sie der Gruppe hinterher, die just in dem Moment hinter der nächsten Biegung verschwand. Der Bettler lebte noch. Er stöhnte und brabbelte undeutliches Zeug, als sie neben ihm niederkniete und versuchte, knochig-magere Arme auseinanderzuziehen, die ein blutverschmiertes Gesicht bedeckten.

»Bist du verletzt? Lass dir helfen …«

»Verflucht seid ihr, hohe Herren«, kam es erstaunlich deutlich aus dem behaarten Gesicht, dann folgte eine Gestankswolke, weil der Mann seinen Mund öffnete und ekelerregendes Zeug ausspuckte, bevor er ächzend wieder auf den Rücken fiel.

»Lass dir helfen, Gott hat Erbarmen mit dir.« Mit den Fingern rührte sie an seine schorfige Wange. Er schloss die Augen, als könnte er nicht glauben, dass eine feine Dame ihn berührte. »Hat er das wirklich? Hat er nicht eher Erbarmen mit Euch?« Dann öffneten sich die Augen, und Hass flackerte auf. »Sollte er nicht Erbarmen haben mit denen, die unbarmherzig sind, aber so tun, als wären sie barmherzig? Ich scheiße auf Eure Barmherzigkeit, ich scheiße auf …«

Ein Gertenhieb ließ Erdreich aufspritzen. Ima fuhr erschrocken hoch, und der Bettler verstummte.

»Hatte ich Euch erlaubt, hier anzuhalten?« Wie zwei spitze Messer durchbohrten Sicaildis’ Blicke Imas Kopf. »Hatte ich Euch erlaubt abzusteigen?«

»Dieser Mann wurde durch unsere Soldaten verletzt, ma dame.«

»Ihr wollt einen Bettler heilen und meinen Herzog warten lassen? Wollt Ihr das wirklich, Ima?« Die unverhohlene Drohung ließ einen kalten Schauder über Imas Rücken laufen. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine Jahrmarktspuppe, die von Fäden hochgezogen wurde, und Herzogin Sicaildis hielt die Fäden in der Hand.

»Ihr steigt jetzt in Euren Sattel und unterbrecht unsere Reise nicht mehr, Ima von Lindisfarne.« Damit wendete sie ihren Isabell und preschte davon. Der Bettler lachte gackernd.

»Seht Ihr? Sie scheißt auf Euch. Gott scheißt auf uns alle – alle sind wir allein …«