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In der algerischen Wüste harrt eine kleine Schar von christlichen Mönchen aus. Schon mehrfach wurden sie von militanten Rebellen bedroht. Sie wissen, dass ihr Leben auf Messers Schneide steht. Nach intensiver Beratung beschließen sie, im Kloster Tibhirine zu bleiben, um für die Bevölkerung da zu sein. Sie wollen ihre Krankenstation weiterhin öffnen, für Versöhnung eintreten und mit ihrem Leben dem christlichen Glauben Gestalt geben. Am 26. März 1996 kehren die Rebellen zurück. Sieben Mönche werden entführt und später enthauptet. Die Umstände und Hintergründe der Morde sind bis heute ungeklärt. Dieses Buch erzählt das Leben von Frère Jean-Pierre Schumacher, den die Terroristen damals nicht entdeckten. Er überlebte und begann an anderer Stelle neu. Heute lebt er - inzwischen fast 90 Jahre alt - im Wüstenkloster Midelt, am Rande des Hohen Atlas. In seinen Erzählungen spiegelt sich, was damals wirklich geschah.
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Seitenzahl: 208
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Den Mönchen von Midelt in Dankbarkeit
Man kann sieben Blumen zertreten, aber man kann den Frühling nicht hindern, wieder aufzublühen.
Ein Unbekannter im Kondolenzbuch bei der Gedenkfeier für die sieben ermordeten Mönche 1996 in Paris.
Kapitel 1: Im Schatten schwarzer Berge
Kapitel 2: Die Mühle von Buding
Kapitel 3: Kriegsjahre
Kapitel 4: Eine erste Entführung
Kapitel 5: Die Genossenschaft im Garten
Kapitel 6: Spannungen
Kapitel 7: „Monsieur Christian“
Kapitel 8: Hinein in die Nacht
Kapitel 9: Der Überfall
Kapitel 10: Der Tag danach
Kapitel 11: Das Blut der Brüder
Kapitel 12: Sieben Köpfe
Kapitel 13: Hotel Bellevue
Kapitel 14: Das Testament
Kapitel 15: Roter Teppich für Tibhirine
Die Trappisten
Anmerkungen
Über den Autor
Der Fotograf
In den hinteren Gebäuden des Atlas-Klosters befindet sich ein „Tee-Salon“. Salon, so lautet in dieser Kaschemme zwar nur der über den Eingang gepinselte Name, dennoch reichen zwei Bänke und klapprige Tischchen aus, um gute Gespräche zu führen. In einer Nische stehen Dosen mit Tee und ein Gaskocher. Zweimal am Tag, um 10:30 und um 16:30 Uhr, trifft sich in diesem engen Raum eine verschworene Gemeinschaft: vier französische Trappistenmönche und ihre drei marokkanischen Arbeiter. Omar, ein 56-jähriger Moslem mit feurigen schwarzen Augen, ist der „Chef“ und für das Aufgießen zuständig. Er schüttet das heiße Wasser in einen zerbeulten, mit frischer Pfefferminze vollgestopften Kessel. Der Geruch ist das Beste; er verbreitet Vorfreude.
Ich habe die Unumgänglichkeit dieses Ortes noch zu lernen. Schlägt die Stunde der Pause, eilt Bara, eine verwitwete Schwägerin von Omar, durch die Flure des Gästehauses, klopft an die Zellentüren und ruft: „Tee, Tee …“, als sei irgendwo Feuer ausgebrochen. Im „Salon“ begrüßt jeder jeden mit Handschlag und wünscht einen guten Tag oder guten Abend, selbst dann, wenn man sich zuvor schon mehrmals begegnet ist. Das ist Teil der moslemischen Lebensart und bekräftigt die Solidarität. Das gezuckerte, heiße Getränk ist von hervorragender Qualität, sein Genuss beschränkt die Gespräche auf das Nötigste. Man nennt sich beim Vornamen, sitzt im selben Boot. Auch der Prior trägt Jeans und T-Shirt. Er hat die Regel des „Ordens der Zisterzienser von der strengen Observanz“ für die Dauer einer Viertelstunde außer Kraft gesetzt und den Gewohnheiten der moslemischen Nachbarn angepasst. Das sind die kleinen interreligiösen Nahtstellen im langen Tagesablauf, der für die Mönche von der Vigil um 4 Uhr bis zur Komplet um 21 Uhr dauert.
So haben die Tee-Pausen in diesem Abstellraum starken symbolischen Charakter für das, was hier am Fuße des Hohen Atlas auf einem einsamen Vorposten des christlichen Mönchtums geschieht: ärmliche Einfachheit, herzliche Freundschaft, ein Hauch praktizierter Avantgarde einer Handvoll mutiger Männer im weiten Meer zweier Weltreligionen. Wenn sich die Trappisten und ihre Arbeitsgehilfen mehrmals am Tag die Hände geben und sich „Salam – Frieden“ wünschen, sind das zwar spärliche Gesten, aber sie reichen dennoch über alle Formen offiziellen Dialogs hinaus. Man bildet sich nichts darauf ein, doch weiß man auch, dass es anders als mit ganz kleinen Schritten nicht geht. Man erwartet keine Tapferkeitsorden, sondern nur etwas Verständnis.
Von der Königsstadt Fès bis hierher an unser Ziel, der Gebirgsstadt Midelt, waren es 200 Kilometer. Die Fahrt führte von den uralten Stätten islamischer Weisheit und Gelehrsamkeit hinaus aufs einfache Land. Das soziologische Fresko reicht von der schönen Studentin in engen Jeans bis zu den verarmten Hirten mit Ziegen- und Schafherden, die zwischen Distelblüten nach Grün suchen. In Infran steht wohlbehütet eine königliche Residenz, vor den braunen Nomadenzelten steigt Rauch in den Himmel empor. Die bunte Wäsche flattert wie die Fähnchen tibetanischer Bergbauern im heißen Wüstenwind. Marktorte wie im Wilden Westen. Da und dort dichte Wälder, die sich gegen Fels und Sand behauptet haben. An den spärlichen Bächen Fußball spielende Kinder in Barcelona-Trikots. Entlang der Landstraße Honig- und Feigenverkäufer. Meist jedoch viel Weite, viel Einsamkeit, bis plötzlich in der Mittagshitze ein alter, bärtiger Mann mit seinem Lasttier auftaucht, von dem man sich fragt, woher er kommt und wohin er geht. Eine Erscheinung in der Mitte von Nirgendwo.
Dann die Grate des Atlas, die vom Osten kommend in die Höhe steigen und am Arachy 3.270 Meter erreichen. Die Silhouette des Massivs liegt noch im Dunst, färbt sich jedoch in der Umgebung von Midelt zunehmend in mächtiges Schwarz, wie eine Wand. Dahinter vermutet man die Unendlichkeit der Sahara und die Tore ins schwarze Afrika. Obwohl sich die Lichtspiele auf diesen Höhen am Tag mehrmals ändern und sie spätestens im Herbst schneebedeckt sind, werde ich sie in den nächsten Wochen „die schwarzen Berge“ nennen. Diese Farbe sticht stark hervor und umhüllt die Landschaft des Übergangs mit mythischer Kraft. Vom Fenster der Klosterzelle aus werde ich ständig auf die Bergkette blicken, immer wieder gebannt von einer Kraft, von etwas, dass mich aufsteigen lassen möchte, dem „Heiligen“ entgegen.
Midelt ist eine graue, unauffällige Stadt. Ihre beste Zeit als Zentrum der Erzminen liegt lange zurück. Jetzt erstreckt sie sich in alle Himmelsrichtungen im Schatten des Bergmassivs. 60.000 Einwohner leben weitverzweigt in den Hügeln des Vorgebirges. Vom Ortsrand geht es noch zehn Minuten über eine Seitenstraße bis zum Kloster. Die simple Bauweise dieser Vorstadt endet plötzlich an einer hohen Mauer. Zwei Wachtürme flankieren das verriegelte Eingangstor. Dahinter liegt ein Schotterhof, einem Kasernenplatz nicht unähnlich, die Fenster sind vergittert, die Stille am Nachmittag ist erschreckend. Der erste Gedanke geht nach Tibhirine, dem algerischen Kloster der sieben enthaupteten Mönche. Alles wirkt defensiv, als wolle man einen neuerlichen nächtlichen Anschlag namenloser Angreifer verhindern. Obwohl dieser militärische Eindruck täuscht und die Architektur auf ein ehemaliges Kloster franziskanischer Schwestern zurückgeht, bleibt der Name „Tibhirine“ auf Schritt und Tritt präsent.
Bereits gegenüber der Klosterpforte steht es auf einer Türe zu lesen: Mémorial. Hinter der Tür befindet sich auf engem Raum eine Gedenkstätte, die an eine kleine Totenkapelle erinnert und für all jene Besucher bestimmt ist, die im Kloster Unserer Lieben Frau vom Atlas den sieben Märtyrern von Tibhirine die Ehre erweisen und sich in das ausliegende Gedenkbuch eintragen wollen. Das Marienbild in der Apsis der benachbarten Klosterkapelle stammt aus dem Gebetsraum der algerischen Trappisten. Die sieben Schlafenden sind in leuchtenden Farben auf einer Ikone dargestellt. An den Wänden des Gästeflügels ihre Fotos. Als Lektüre liegt, neben Werken von Papst Johannes Paul II. und Zisterzienser-Autor Guillaume von St. Thierry, die florierende Literatur über die Ermordeten aus. Schließlich erinnert ein Plakat an „Von Menschen und Göttern“, den Film von Xavier Beauvois, der das Mysterium Tibhirine, das weltweit starke Aufmerksamkeit erregte, in Szene setzte. Da sieht man sie noch einmal um den Tisch ihres kleinen Kapitelsaals versammelt, in dem die entscheidenden Versammlungen stattfanden, in denen sie sich entschieden, der Bedrohung durch die „Brüder aus den Bergen“ nicht nachzugeben. „Zur Nacht“, sagten die Mönche, „nehmen sie die Waffen und wir nehmen das Buch.“
Selbst in meiner Zelle finde ich einen Gedenkzettel mit den sieben Köpfen und einem Gebet des Andenkens. Drei auf drei Meter, der spartanische Raum. Die einzige Konzession an Farbe ist eine Marienikone mit Palmzweig in einer Mauernische. Auf dem Ecktischchen ein Leselämpchen, eine Kleinausgabe der Jerusalem-Bibel. Ich habe nur drei Bücher mitgenommen: „Jesus von Nazareth“ von Papst Benedikt XVI. (um in Form zu bleiben), „Dieu pour tout jour“ von Christian de Chergé, dem ermordeten Prior von Tibhirine (als christlich-islamische Einführung), sowie Ernst Jüngers „Siebzig verweht“ (ein Tagebuch zur stilistischen Übung). Gegenüber eine Kleiderablage, ein Waschbecken, ein Spiegel. Neben dem herrlich harten Bett ein Nachttisch. Vor dem Fenster ein kleiner Blumengarten mit Malven, Nachtschönen (Wunderblume) und Kakteen, dahinter die Kette der schwarzen Berge. Ein Ausblick, der für Wochen reicht.
Als Jean-Pierre am späten Nachmittag nach meiner Ankunft im Eingang des Tee-Salons erschien, haben wir uns gleich umarmt. Er wusste, was ich von ihm erwartete: Ich hoffte, dass er mir alles erzählen würde. Der etwas gebeugte 87-jährige Trappistenmönch ist guter Dinge. In seinen blaugrünen Augen ein verschmitztes Lächeln, viel Güte verbirgt sich dahinter. Auf der Stirn und dem Kinn tiefe harmonische Falten. Es sind keine Sorgen-, sondern Weisheitsfalten. Er trägt das in diesem Klima übliche sandfarbene Habit mit Ledergürtel und auf dem Kopf einen gestrickten Terbouche mit islamischen Motiven. Ich wusste zwar, dass er Schumacher hieß, doch nicht, dass er aus Luxemburg stammte. An der Mosel, im luxemburgisch-deutsch-französischen Dreiländereck, hatten wir gemeinsame Bekannte. Damit hatten wir schon den ersten Gesprächsstoff. Am nächsten Morgen um 10:30 Uhr setzten wir uns erstmals zusammen. Unser einziges Thema: sein Leben. Das Massaker an seinen sieben Brüdern von Tibhirine lag 15 Jahre zurück, er blieb von dem Anschlag verschont, wohin führte ihn sein Schicksal?
Im Kloster von Midelt gehört man zu einer etwas größeren Familie, man duzt sich. Selbstverständlich gilt das ebenfalls für den Prior, wenn das auch Probleme schafft, denn Frère Flachaire heißt wie Frère Schumacher ebenfalls Jean-Pierre mit Vornamen. So nennt man den einen den „Älteren“ und den anderen den „Jüngeren“. In diesem Buch werden wir sie, zur besseren Unterscheidung, einfach „Prior“ bzw. „Jean-Pierre“ nennen. Auf Abkürzungen wie P. (Pater), Fr. (Frère) oder Br. (Bruder) verzichte ich; es passt nicht in diesen mönchischen Freundeskreis, und die Personen sind für den Leser besser unterscheidbar.
Jean-Pierre und ich sind uns 1987, knapp zehn Jahre vor der Entführung, in Tibhirine schon einmal begegnet. Er als Mönch, der für Botengänge zuständig war, die einige Zeit später lebensgefährlich wurden, ich als „Beobachter“ oder, wie die Trappisten sagten, als „der Neue“. Es war die Zeit des islamischen Fastenmonats Ramadan, und ich erinnere mich noch, dass wir beide die Gewohnheit hatten, bei Anbruch der Nacht eine Zeit schweigend auf dem flachen Dach des Klosters zu verbringen. Es wehte ein lauer Wind, am Himmel funkelten die Sterne, und gegenüber, in den Dörfern des Atlas-Gebirges, feierten die Einwohner überschwänglich das Fastenbrechen. Jean-Pierre fiel mir damals auf, weil er mich an meinen Vater erinnerte. Die breite Stirn, das lichte Haar und auch das ruhige Wesen.
Vor der ersten Vesper in der Kapelle von Midelt fiel mir diese Haltung bei Jean-Pierre erneut auf. Der Alte kniete auf dem Fußboden, später las und sang er vor, die Brille auf der Nasenspitze. Wegen der Hitze hatten die vier Mönche auf die schweren weißen Kukullen verzichtet. Eine einfach gekleidete Gemeinschaft, die Psalmen aus dem Alten Testament rezitierte und für die armen, verletzten und suchenden Menschen in der Welt betete. Das Kloster ist „Unserer Lieben Frau vom Atlas“ geweiht, so hieß es auch in Tibhirine. Die Bezeichnung „Liebe Frau“ geht weltweit jedem Namen einer Trappistenabtei voraus. Hier, mitten im Islam, dessen Koran auch Maria verehrt, macht es einen besonderen Sinn. Es schafft Übergänge, deren stille Verbindlichkeit den christlichen Gästen dieses Landes so sehr am Herzen liegt.
Als um 20:30 Uhr die Komplet, das Nachtgebet, begann, wurde diese Nähe greifbar. In den alten gregorianischen Gesang des Salve Regina, in dem man sich der „Mutter der Barmherzigkeit“ anvertraut, mischten sich die Gebetsrufe der Muezzin von den spitzen Türmen der Moscheen. Das Leise und das Laute und in der Tiefe doch eine Spur Gemeinsamkeit.
Draußen nahte die Nacht. Die Berge waren schwarz und in den Bäumen rauschte ein kräftiger Wind.
7:15 Uhr: Heilige Messe. Das Sanctus und das Vaterunser auf Arabisch, obwohl kein Moslem die Kapelle je betritt. Der gekreuzigte Gott ist für sie unvorstellbar. Aber man versteht es als Geste. Vieles erfüllt sich hier nicht, doch bleibt man offen.
Jean-Pierres gebeugte Gestalt im Chor. Ab heute ist er mein Gegenüber, mein Partner, ich wünsche ihn mir als väterlichen Freund. In seinen Augen nichts als Güte, aber sie lassen auch Abenteuer erahnen; er hat den Tod gesehen.
Die hohen Stimmen der Frauen. Es sind die Franziskanerinnen, die schon seit Jahrzehnten hier leben, alle über achtzig und ohne Habit. Bescheidene, namenlose Heldinnen.
8:00 Uhr: Frühstück mit Nunu, einem 34-jährigen spanischen Minderbruder, der sich hier auf seine ewigen Gelübde vorbereitet. Er sieht aus wie der Sänger Julio Iglesias, nur etwas struppiger. Seit fünf Jahren arbeitet er in Granada, Sevilla und Tanger in kleinen Gemeinschaften: Behinderte, Betagte, Sterbende, denen ansonsten keiner hilft. Jean-Pierre bezeichnet er, nach seinen Gesprächen mit ihm, als „die Perle, der Schatz im Acker“.
10:30 Uhr: Nach dem Tee sagt Jean-Pierre: „On y va – Gehen wir.“ Es kann auch als Frage gemeint sein, doch steckt etwas von jener Disziplin der Zisterzienser dahinter, deren Tagesablauf sich streng nach den Glockenschlägen richtet. Dann schließt er mir die Türe zum „Mémorial“ auf, dem kleinen Gedenkraum für seine sieben Brüder, die mit durchgeschnittener Kehle im Bergland von Tibhirine sterben mussten. Am Boden ein siebenarmiger Leuchter, darüber die Porträts der Ermordeten sowie des damals überlebenden, inzwischen aber verstorbenen Amédée. Auf einem Lesepult eine Kopie des handgeschriebenen Testaments von Christian, dem Prior. Weltweit beachtet, richtet sich der Text zum Schluss an den „Freund der letzten Minute“. Erschütternde Kleinschrift.
Das Gästezimmer, Ort unserer täglichen Begegnungen, alles sehr marokkanisch. Ich brauche nur ein Wort zu sagen und der alte Mann beginnt zu erzählen.
12:30 Uhr: Mittagessen am runden Gästetisch, Zucchini-Suppe und Zwiebelfladen, eiskaltes Wasser. Das Schweigegebot wird locker interpretiert. Prudi, eine kleine, rüstige Andalusierin, berichtet von ihrem Bekehrungserlebnis vom Islam zum Christentum: Das Drama von Tibhirine hatte sie ergriffen.
15:10 Uhr: Die Siesta ist großzügig bemessen, drei Stunden. Die Hitze erreicht ihren Höhepunkt, 41 Grad. Die erste Begegnung mit Jean-Pierre stimmt sehr zuversichtlich. Fast kommen wir ohne Fragen aus, sein Leben beginnt wie eine schöne Erzählung. Sonderbar, hier im tiefen Marokko aus europäischen Träumen zu erwachen. So schleppt man seine tieferen Geschichten bis an die Atlas-Kette; Freud wäre machtlos. Ich öffne den Vorhang, strahlende Helle.
15:45 Uhr: None, das Gebet der neunten Stunde, Christus-Agonie. Die härteste Tageszeit, selbst in der Kapelle lastet die Hitze. Hier kann ein Tag kippen.
16:30 Uhr: Lektüre der ersten Gesprächsnotizen, drei randvolle DIN-A4-Seiten. Die Aufzeichnungen bestärken mich darin, zu werden, was ich sein soll: ein Autor, der über die Sehnsucht nach Gott schreibt. Das heißt, ihn über die Höllenfahrten zu finden.
21:00 Uhr: Frischer Wind zwischen den Kiefern. Unmittelbar nach der Komplet beginnt die „große Stille“, die der heilige Benedikt in seiner Regel vorschreibt. Über den Bergen noch eine Spur Sonnenlicht, glutrot. Der Wärter hat alle Tore verriegelt. Ich bin jetzt hier eingeschlossen, aber das hat wohl seine guten Gründe.
Buding ist ein Ort im Dreiländereck von Frankreich, Luxemburg und Deutschland. Mit 488 Einwohnern zu klein, um ihn Gemeinde zu nennen. Doch mit den Augen eines Kindes betrachtet, ist er die ganze Welt. Jean-Pierre hat sich auch mit 87 Jahren das Strahlen solcher Augen bewahrt und sagt über diese Heimat: „Es war ein Land der Träume, es war ein Paradies.“ Mittelpunkt dieser Herrlichkeit war eine Mühle. Sie lag einen Kilometer vom Ortskern entfernt, ein einsames Anwesen am Rande der Canner, einem Nebenflüsschen der Mosel, die man hier die „große Schwester“ nennt. Meanderhaft zog das klare Wasser bis zur Mündung in Köningsmacker durch die Wiesen. Der Eselsweg verband das Haus mit der Landstraße nach Elzing. Am Ende des Waldpfades hatte der Vater 1930 eine Brücke gebaut, die später im Weltkrieg mehrmals gesprengt wurde, um das Vordringen des Feindes aufzuhalten.
Ringsum die Idylle von Wald, Wiesen und Feldern. Jean-Pierre hat in jungen Jahren Fotos gemacht, matte Bilder eines stillen Landstrichs, der von den Einwohnern gern zur „lothringischen Schweiz“ gezählt wird. Eine Liebeserklärung, die großzügig verschweigt, dass hierzulande hart gearbeitet werden musste. Doch schaffte es auch ständige Verbindungen mit Lieferanten und Händlern. Im letzeburgischen Platt hieß es in Buding: „Ech gin and Millen“, und jeder wusste, was gemeint war. Alle gehörten zum Großherzogtum Luxemburg, wobei man zwischen einer kaum zu überhörenden Neigung zu Frankreich und einigen Widerständen gegen das kriegerische Deutschland unterschied. Gesungen wurde die Nationalhymne „Mer blijve wat mer sinn“, wobei Jean-Pierre leise hinzufügt: „Mer wolle ken Prüsse sinn.“
Der Großvater mütterlicherseits, Jean-Pierre Schweitzer, hatte die Anlage mit den drei Wasserrädern erworben und war mit zwei Pferden und dem Planwagen über Land gezogen. Der Vater Emil Schumacher baute die Mühle aus, schaffte fünf Kühe, zwei Pferde, Hühner und Kaninchen an. Es gab Milch, Butter, Sahne, Brot und Käse. Im Winter wurden die Schweine geschlachtet und Würste, Schinken und Leberpasteten produziert. Kam es im Frühjahr zu Überschwemmungen, lag die Mühle still zwischen den Flussarmen, doch wurde dann Lederzeug für die Tiere oder landwirtschaftliches Werkzeug repariert. Auch gab es einen großen Gemüsegarten und Obstbäume, die mit dafür sorgten, dass die Müllersfamilie autark und frei von Zwängen leben konnte. Herrschte ringsum irgendwo Not, war der Vater stets zur Stelle, um mit Lebensmitteln auszuhelfen. Eine Magd orthodoxer Herkunft sowie ein Knecht, der dem Vater zur Hand ging und die Kunden belieferte, mussten eingestellt werden. Beide gehörten wie Bruder und Schwester zur Familie. Jean-Pierre bedeutete der Zusammenhalt mit den Fremden viel. Als sie später in den Kriegswirren verschwanden, traf ihn das schwer.
Damals gab es im Canner-Tal vierzehn Mühlen. Viele Lehrlinge kamen aus Bayern dorthin, um die Sprache zu lernen. Luxemburg galt als gastfreundliches Land. Bei den Bauern und Handwerkern mehr noch als in den Städten. Auch gab es dort eine selbstverständliche Bereitschaft, einander zu helfen. War Not am Mann, packte jeder mit an.
Neben der großen Küche der Schumachers drehte ein Mühlrad für das Viehfutter, ein anderes für den Gips, ein drittes mahlte Mehl. Das Wasser, sein Geruch, seine Geräusche waren ihr Zuhause. Das Mehl. Die frommen Schumachers haben sehr früh religiöse Bezüge dazu hergestellt. Im Nachtpsalm der Kirche heißt es bei Anbruch der Dunkelheit: „Du legst mir größere Freude ins Herz, als andere haben bei Korn und Wein in Fülle.“ Der Vater verwies auf den Vorgang des Mahlens als „Arbeit für die Reinheit“. Jean-Pierres poetisch veranlagte Schwester Marie-Thérèse fand in der Heiligen Schrift Passagen, die das Brot als Symbol eines Lebens rühmten, „das immer währt und nie enden wird …“.
Jean-Pierre wurde am 15. Februar 1924 in Buding geboren und war der Älteste von fünf Brüdern und zwei Schwestern. Ein Brüderchen starb mit acht Monaten. Der Schreiner zimmerte einen kleinen Sarg und die Mutter legte den toten Sohn hinein. Der spätere Mönch erinnert sich intensiv an dieses Ritual: „Überhaupt gab es etwas Monastisches in unserer Familie. Der Sonntagsmesse folgte am Nachmittag die Vesper. Die Hochfeste wurden mit besonderem Glanz gefeiert: Um Weihnachten schmückte Vater den Christbaum, um Ostern versteckte Mutter die gefärbten Eier im Garten, zu Sankt Nikolaus stellten wir Kinder Teller auf den Fenstersims.“ Und im Februar gab es für das Geburtstagskind Jean-Pierre ein Geschenk.
Es fiel auf, dass die Jungen meist unter sich blieben und den Kontakt zu den Eltern mieden. Nach der Vesper verschwanden sie im Wald, dessen dunkle Schönheit den ältesten Sohn der Schumachers stets fasziniert hat. „Vielleicht“ – er lächelt nachdenklich –, „begann auf diesen Wegen die Geschichte meiner Berufung …“
Der Schuleintritt bedeutete das Ende der unbekümmerten Spiele. Der Lehrer war außergewöhnlich streng, der überraschte Schüler musste beim Großvater wohnen, täglich die Messe dienen und bei der Tante den Katechismus auswendig lernen. Während der Gottesdienste sang der Organist den gregorianischen Choral. „Ich höre noch heute seine Stimme“, erinnert sich der ehemalige Messdiener, der sich besonders auf die Karwoche freute: In Dreiergruppen mussten sie durchs Dorf ziehen und beim Schmied, beim Bäcker, beim Schneider und den Händlern, von denen ein Drittel Juden waren, Eier sammeln. Wer eine Spende verweigerte, dem schmissen sie ein Ei gegen die Türe.
Die jüdischen Nachbarn und jene orthodoxe Magd haben bei Jean-Pierre ein Gespür für Ökumene aufkommen lassen, ohne dass er dies gesucht hätte. Es war noch zu früh für solche Überlegungen. Dennoch erinnert er sich präzise, dass die Magd die katholische Sonntagsmesse besuchte und auch zur Beichte ging. Die Juden kamen bei Beerdigungen in das Gotteshaus und verließen es wieder bei der Opferung. Seine jüdischen Mitschüler nahmen nicht am Bibelunterricht teil. Beim Laubhüttenfest zogen die Juden mit Palmzweigen ohne Rinde in die kleine Synagoge. Für den Sündenerlass warfen sie als Zeichen Brotstücke in den Fluss. Als die Deutschen einrückten, verschwanden alle. Nur die Frau des Metzgers kehrte zurück. Als Jean-Pierre in Buding seine Primiz feierte, verließ die jüdische Frau ihr Haus und kam in die Prozession, um ihm zu gratulieren. Er sagt: „Ich habe diese Geste geliebt“.
Die schwarze Liturgie des Karfreitags begann bei einbrechender Dunkelheit, wenn der Frühlings-Vollmond am Himmel stand. Der Organist sang die Klagen des Propheten Jeremia. Die Messdiener durften die Rasseln drehen, da „die Glocken nach Rom geflogen waren“, und in der Folge des erschütternden Gesangs die dreizehn Kerzen löschen.
Das Fronleichnamsfest war nicht minder aufregend: In der Prozession wurden Birkenäste mitgeführt, Häuser und Fenster waren mit Blumen und Tannengrün geschmückt. Die Mädchen gingen in Weiß als Engelchen gekleidet dem Altarssakrament voraus, während sich die Feuerwehrmänner darum stritten, wer von ihnen den „Himmel“ tragen durfte. Zum Schluss erteilte der schweigsame Pfarrer den Segen.
Jean-Pierre hatte zu diesem Pfarrer, der wegen des Konkordates in der Schule die Bibelkunde unterrichten durfte, ein etwas zwiespältiges Verhältnis. Dennoch erinnert er sich an einen gemeinsamen Gang mit dem Priester zum Bahnwärterhäuschen an der Kohle- und Stahlstrecke zwischen Saarland und Lothringen, wo er zum ersten Mal einen Sterbenden sah, der die letzte Ölung erhielt. Eine prägende Erfahrung, die bei seiner späteren Berufung eine kleine Rolle gespielt hat: erste Todeserfahrung eines sensiblen Jungen.
Gelächelt hat er oft über den Kirchenschweizer, der während der Gottesdienste die „Polizeigewalt“ innehatte und sich bei der aufmüpfigen Kinderschar und den herumalbernden Messdienern mit den rot-weißen Kragen mit seiner spitzen Lanze Respekt verschaffte. Wer nicht gehorchte, musste zur Strafe im Mittelschiff niederknien.
Jean-Pierre erinnert in diesem Kontext an die Us et Coutumes (Sitten und Bräuche) in den vorkonziliaren Trappistenabteien, wo sich nach einem „Schuldkapitel“ mit Selbstanklage die „Sünder“, die etwa einen Teller hatten fallen lassen, zwischen den Eingangspfosten zum Speisesaal auf den Boden legen mussten, bis die ganze Gemeinschaft über sie hinweggeschritten war. Es ärgert ihn noch heute, dass die schlimmste Strafe darin bestand, sich auf den Knien bei den anderen Mönchen sein Essen zusammenzubetteln und es auf dem Boden des Refektoriums essen zu müssen. Da die mit Löffeln und Tellern speisenden Mönche bei den Tischdienern nichts für sich, sondern nur für ihre Nachbarn bestellen durften, war es eines Tages zu einem kuriosen Vorfall gekommen: Einer der Patres fand in einer Suppe eine Maus und reklamierte in der damals vorgeschriebenen Zeichensprache, seine beiden Nachbarn hätten keine Maus erhalten …
Marie-Thérèse Schumacher, die jüngste Schwester von Jean-Pierre, widmete 2004 in dem Bändchen „Der Weg unserer Kindheit – Der Ort namens Mühle von Buding“ der alten Heimat einen rührenden Nachruf, der viel aussagt über das stille Glück dieser Müllersfamilie, die sich aus eigener Kraft und Solidarität behauptete und in den umliegenden Dörfern einen guten Namen hatte. Hier traf man sich bei Pasteten und Gebäck zu den Festen, die am Canner stets drei Tage andauerten. Der Zusammenhalt dieser Gemeinschaft kam auch bei den sonntäglichen Familientreffen zum Ausdruck. Montags war immer Totengedenktag, den alle mit einer Messe begingen.
Auf die Frage, ob er seine Eltern gefürchtet hat, antwortet Jean-Pierre, dass sie zugleich gut und streng waren. Vor dem rechtschaffenen Vater ging er manchmal in Deckung. Die Mutter gab ihm mit ihrer liebevollen Art alles, was eine Kindheit und Jugend angenehm macht. In den Ferien ging es nach Luxemburg auf den Hohenfels, wo die Tante Waldbeerfladen spendierte. Aber man arbeitete auch auf den Feldern hart zusammen. Weizen, Rüben, Kartoffeln – es gab viel zu tun.
Die Familie musste einen schweren Schlag hinnehmen, als der 76-jährige Vater schwer erkrankte. Die Mutter pflegte ihn bis zuletzt. Jean-Pierre war damals schon Mönch in Algerien, sah aber den Vater auf dem Sterbebett noch und hat bis heute seine letzten Worte nicht vergessen: „Der Herr kümmert sich auf eine besondere Weise um die Eltern eines Priesters.“ Die Mutter verlebte ein glückliches Alter; sie war immer eine starke Frau und starb mit 89 Jahren. Im Sarg hat der Sohn sie gesegnet.
03:30 Uhr: Die beste Erfindung in meiner Zelle ist definitiv das Fliegengitter.
7:15 Uhr: Jean-Pierre liest die Messe. Sie wird von den Laudes-Psalmen eingerahmt. Schöpfungsjubel. „Völker klatscht in die Hände.“ Das Gleichnis vom Sämann passt in diese karge Landschaft der Bergbauern und Eselskarren. Jean-Pierre spricht die Wandlungsworte und hebt mit seinen Arbeiterhänden die Hostie hoch. Dann betet er für den Papst und die Verstorbenen. Einige kennt er besonders gut, er wird sie nie vergessen.
8:10 Uhr: Nunu, der spanische Franziskaner, kniet während der Messe auf dem Boden. Sein langes schwarzes Haar noch feucht von der Dusche, leuchtende Augen. Er fährt heute ab und sagt, der Aufenthalt habe für ihn den „Durchbruch“ gebracht.
10:00 Uhr: Mich überfällt eine Krankheit, die der Prior La Touristica nennt. Auch der Gastpater José-Luis lächelt. Darmkrämpfe und Durchfall seien hier normal. Außerdem machten Schmerzen die Gebete „konkreter“. Na, dann. Weder Tee-Salon noch Mittagessen. Heute Abend will er mir eine Schüssel Reis bringen.
15:00 Uhr: Während der Siesta kommt Sturm auf. Mächtiges Rauschen in den Nadelbäumen, als tobe hier hohe See. Heulender Wind in den engen Klosterfluren, manchmal schlägt eine Tür. Die flatternden Vorhänge geben ein Stück Himmel preis: blau, bleiern, wolkenlos. Nur die Berge liegen im Dunst, als seien sie die unerschütterlichen Urheber dieses Schauspiels.
16:30 Uhr: Finde beim Sammeln von Informationen über Tibhirine einen Satz aus einem Brief von Christian aus dem Jahr 1978: „Ich bin ein Haus des Gebetes, das zugleich eine Räuberhöhle ist.“