Der letzte Ort - Sherko Fatah - E-Book
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Der letzte Ort E-Book

Sherko Fatah

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Beschreibung

Ein literarischer Thriller über Freundschaft und Verrat.

Die Welt um Albert, einen deutschen Aussteiger, ist geschrumpft, seit er im Irak entführt wurde. Sie besteht nur noch aus dem, was der Zwischenraum zwischen den roh gezimmerten und doch unüberwindlichen Holzlatten des Verschlags zeigt, in den seine Entführer ihn eingeschlossen haben. Nie hätte er sich ausmalen können, wie sich das anfühlt: die Angst, gefesselt in einem Stall zu verrecken, umschwirrt von Fliegen, getrennt von seinem Übersetzer Osama, seiner Brücke in die fremde Kultur.

Längst ist Osama, ein Einheimischer, der aus einer liberalen Familie stammt, zum Freund geworden. In der Gefangenschaft, der Willkür ihrer Entführer ausgesetzt, die sie mal getrennt, mal zusammen, von Ort zu Ort schleppen, begannen sie zu reden: über den Hass zwischen den Kulturen, der mit dem Denken beginnt, und über ihre eigenen Leben. Albert wird bewusst, wie wenig Osama, der sein Land im Krieg erlebt hatte und nun als Verräter gefangen gehalten wird, mit seinen Geschichten anfangen kann. Und doch ist das Reden das einzige, was ihnen bleibt am vielleicht letzten Ort ihres Lebens, an dem das Leben der anderen weiter geht, als wäre nichts geschehen.

Sherko Fatah erzählt die Entführung von Albert und Osama als atemberaubenden literarischen Thriller und sensibles Psychogramm beider Figuren. Beide geraten in der aussichtlosen Situation an ihre Grenzen und verlieren sich in ihrer eigenen Angst und im wachsenden Misstrauen gegen den anderen. Als ihnen die Flucht gelingt, ist zwischen ihnen nichts mehr wie zuvor.

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Seitenzahl: 389

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Sherko Fatah

Der letzte Ort

ROMAN

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romanssind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.Die Arbeit des Autors an diesem Roman wurde vomDeutschen Literaturfonds Darmstadt gefördert.Bei der Passage, welche Albert zitiert,handelt es sich um den Romananfang von Robert Louis Stevensons Kidnapped.

© 2014 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-12376-5V002www.luchterhand-literaturverlag.de

Inhalt

Der Verschlag

Osama

Die Wüste

Flucht

Die Ruine

Der Emir

Der Tag des Shahid

Der Verschlag

Was siehst du?«, flüsterte Albert, zog den Kopf zurück und setzte, etwas lauter, noch einmal an: »Was siehst du?«

Er leckte sich die trockenen Lippen und wischte an der Wand entlang den Schweiß von seiner Stirn. Der Gedanke, der armselige Ausblick durch zwei roh gezimmerte Holzlatten könnte sein letzter Eindruck von der Außenwelt sein, ängstigte ihn nicht nur, er amüsierte ihn zugleich. Dieser Flecken im Nirgendwo würde schon allein durch seine Bedeutungslosigkeit alles, was ihm bevorstand, lächerlich wirken lassen. Ich werde in einem Stall verrecken inmitten von Bauern und Kameltreibern, umschwirrt von Fliegen und mit dieser herrschsüchtigen Sonne über mir, deren Strahlung ein Gewicht zu haben scheint, unter dem das Holz des Schuppens ächzt.

Er näherte das Gesicht wieder dem Spalt, kniff das linke Auge zusammen und blinzelte hinaus. Auf dem gelblichen Erdboden war wie aufgemalt ein blasser Pfad zu erkennen. Eigentlich nichts weiter als eine Spur nackter Füße und doch schien er Albert in diesem Augenblick so absichtsvoll gerade, als hätte ihn jemand angelegt.

»Was siehst du? Präge dir alles genau ein.« Er bemerkte, wie seine eigenen Worte ihn beruhigten und entschied sich weiterzusprechen: »Lass dich von diesen Hungerleidern nicht einschüchtern. Sie sind nicht deine Feinde, sie wissen nur nichts von dir. Sie wollen Geld und vielleicht noch etwas anderes, worüber sie nicht reden. Aber all das hat nichts mit dir zu tun. Du schaust dich um wie immer, prägst dir ein, was du siehst, und wirst davon berichten, wem und wann auch immer, so präzise wie möglich.«

Sein Auge tränte und der Staub ließ ihn husten.

Er kniete nieder und lehnte den Oberkörper zurück. Jetzt begannen die Fesseln zu scheuern, die Blutarmut lähmte seine Hände. Er bewegte die Finger, stellte sich vor, einen Fahrradlenker zu halten – und plötzlich verließ ihn der Mut. Er ließ sich auf die Seite fallen, wobei die Hände an den Fesseln zerrten. Er stöhnte, blickte unruhig im Verschlag umher, robbte auf die Blechschale zu, die sie ihm dagelassen hatten. Er schob sein Kinn hinein, nur um festzustellen, dass sie leer war.

»Das wusstest du, und doch hast du nachgeschaut.«

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und schob mit der gleichen Bewegung die Blechschale von sich. Draußen war das Gemecker von Ziegen zu hören, von fernher wurden menschliche Stimmen herangeweht. Das einfallende Licht veränderte sich, Albert döste vor sich hin. Wie leicht sie es sich gemacht haben, dachte er, einen wertvollen Gefangenen einfach nur zu fesseln und in einen leeren Schuppen zu sperren. Nichts daran wirkte vorbereitet oder gar geplant. Sie improvisieren, dachte er und fragte sich, ob das ein gutes Zeichen sei. Der Ruf des Muezzins lenkte ihn ab. Er dachte an die Stadt, die wieder so weit entfernt zu sein schien wie bei seiner Anreise.

Er fuhr auf einer der endlosen Landstraßen durch das staubtrockene Land. Ununterscheidbare Dornensträucher wuchsen am Weg und zuweilen, inmitten von Hügelrücken aus Sand und Geröll, entdeckte er Reste steinerner Gebäude, die aussahen wie zertreten. Er verspürte keinerlei Bedürfnis nach Zwischenstopps in halb verlassenen Dörfern mit Hütten, an denen im beständigen Wind immer etwas flatterte, als würden sie ganz aus dunklen Stofffetzen bestehen, die sich gerade jetzt, als sie daran vorbeifuhren, an den Nähten voneinander lösten. Dennoch blieb ihm nichts übrig, als jede dieser Rasten durchzustehen und die durch das Wagenfenster gekaufte warme Cola in sich hineinzuschütten. Er hielt die Augen halb geschlossen, ruhte sie aus für den zu erwartenden, aber immer wieder unglaublichen Anblick der Kamelkarawanen, die mit der gleichmütigsten aller Bewegungen in Dunstschleier trotteten, um darin zu verblassen.

Albert atmete gleichmäßig. Möglicherweise war er bereits versöhnt mit den Mühen, der Hitze und dem unaufhörlich auf das Armaturenbrett schlagenden Rosenkranz, den der Taxifahrer ab und an beiläufig berührte. Vor der Weite der Wüstenlandschaft zogen die klaren Bilder ausgedachter Situationen an Albert vorbei, als würde diese leere Landschaft sie aus ihm herausziehen und sich damit beleben.

Er dachte über seine Gründe für diese Reise nach und vergaß dabei auch das Zittern nicht. Er war keiner von denen, die dem Tod noch entgegenlaufen, die in Felsgraten hängen und in Todeszonen campieren, um schließlich mit abgefrorenen Zehen heimzukehren und Unternehmensberater zu werden. Diese unpoetische, auf den Schmerz und die Kraft, ihn zu ertragen fixierte Abenteuerlust war ihm fremd.

»Den Leuten fehlt ein Krieg oder wenigstens die Erfahrung der Armut«, flüsterte er, und seine eigene Bitterkeit erinnerte ihn an die seines Vaters. Dabei hatte er für Selbstzweifel kaum Zeit. Was mir noch bleibt, dachte er, ist ein Blick auf Leben und Leiden der anderen, all dieser ungeschützten, leicht fortzuwehenden Menschen, die in ihren Gewändern, in ihren Hütten, auf Höfen und Straßen, Eselskarren und Lastwagen eingesenkt wirken in etwas Größeres wie Romanfiguren in eine Geschichte, ohne die sie keine Bedeutung haben. Und doch, zwischen den von Sandschwaden umzingelten Marktflecken, in denen die Hammel und Rinder mit sandverklebten, tränenden Augen auf ihre Schlächter warteten, war da noch die Erinnerung an etwas anderes. Sie suchte ihn in klaren Bildern heim, und er bemühte sich, ihr zu entgehen, indem er näher an das fleckenübersäte Fenster des Taxis rückte.

Um ihn begann die Wüste. Erst bei der dritten Pinkelpause wurde ihm das klar, als der Fahrer mit einem Lächeln im Fünftagebart in die Ferne wies und dabei einen Laut wie »Hey« von sich gab. Vielleicht hatte er sich nur lockern wollen, jedenfalls war dort, wo er hinzeigte, nichts außer einem lachhaften Windhöschen, weder bedrohlich noch eindrucksvoll. Dahinter erstreckte sich gelbe, ein wenig ins Rötliche spielende Erde unter einem von Hitze gebleichten blassblauen Himmel. Fast schon verwehte Viehtreiberwege und die Kurven und Kehren der Landstraße, das war alles.

Im Grunde geht es mir nicht schlecht, sagte er sich mit einem Blick auf seine Hände. Wenn nur diese Fesseln nicht wären. Er rekapitulierte, was er über das Land wusste. Die meisten Entführer waren auf Geld aus, jedenfalls im Norden. Hier, in der südlichen Region, lagen die Dinge etwas anders: Das ganze Gebiet wimmelte von religiösen Fanatikern, selbsternannten Propheten, Tribunen und Heerführern. Man hatte ihn gewarnt vor einem »irrationalen Land«, in dem zuweilen keine Regeln galten. Überhaupt war jedem, der von seinem Vorhaben, hierher zu reisen, hörte, die Furcht anzusehen. Religiöser Fanatismus ist für uns etwas wie wiederauferstandenes Mittelalter, dachte Albert.

Er erinnerte sich an eine der vielen abschätzigen Äußerungen seines Vaters Anfang der neunziger Jahre, als dieser sich noch immer nicht erholt hatte von dem Sturz ins Leere, den der Fall des Eisernen Vorhangs für ihn wie für so viele seinesgleichen bedeutete. Er kommentierte damals Fernsehbilder aus Russland. Orthodoxe Würdenträger schritten segnend eine Dorfstraße ab. Alte Männer, Mütterchen mit bunten Kopftüchern und sogar Kinder starrten die märchenhaft verkleideten Gestalten ehrfurchtsvoll an. Die Holzhütten im Hintergrund sahen aus wie von der sich überstürzenden Geschichte vergessen.

»Da sind sie wieder, die alten Weihnachtsmänner«, sagte sein Vater. »Als wäre nichts geschehen steigen sie aus der Mottenkiste. Gleich nach ihnen werden die Kulaken kommen und am Ende, wenn alles verteilt worden ist, die Faschisten. Das ist der Fortschritt, wie sie ihn sich wünschen.«

Diese Haltung wäre verständlich gewesen, wenn sie nicht jeden durch einen Abgrund getrennt hätte von eben der Weltgegend, für die er, Albert, schon immer ein Interesse gehegt hatte. Ich muss mir da noch auf die Spur kommen, dachte er schwer atmend, um sich gleich darauf selbst zu belächeln. Sie werden mir vielleicht vor laufender Kamera den Kopf abschneiden, dachte er, und doch tut dieser Kopf nichts anderes als sonst auch: grübeln.

Nicht weit von ihm entfernt war der festgestampfte Lehmboden aufgebrochen, als hätte ein Hund dort gewühlt. Genau auf diese Stelle fiel sein Blick. Etwas begann sich dort zu bewegen. Ächzend kroch Albert näher heran, um im Dämmerlicht zwei kleine Klauen zu sehen, die sich allmählich aus dem Boden hervorarbeiteten. Mit stoßartigen Bewegungen befreite sich ein Skorpion von der Erde, sechs Beine schoben ihn voran, und Albert wartete gespannt, bis er seinen mächtigen, dornbewehrten Schwanz in die Höhe gehoben hatte. Im Aufstehen trat er auf das Tier und zerquetschte es. Er fühlte nichts als Ekel und erinnerte sich im selben Moment an eine Begebenheit, die ihn vor Jahren aufgewühlt hatte. Seine Schwester Mila hatte ihm einen toten Skorpion geschenkt, auf dem Trödelmarkt für wenig Geld erstanden. Bei seinem Anblick habe sie sofort an ihn, Albert, gedacht. Selbst in seiner Plexiglasbox wirkte das Insekt gefährlich, gelblichbraun mit einem langen, an den Boden der Box geklebten Schwanz. Er stellte das Gefäß aufrecht in sein Regal und betrachtete das tote Wesen oft. Jedes Mal erfüllte ihn dieses versiegelte Stück Wüste mit Abscheu und Faszination zugleich.

Bis zu jenem Morgen, an dem die Box leer war. Erst nachdem er sich darüber klar geworden war, dass ihm niemand einen Streich gespielt haben konnte, durchfuhr ihn der Schrecken. Er suchte hinter Büchern und auf dem Boden nach dem Skorpion, schließlich sogar in den Zimmerecken und unter seinem Bett. Es schien ihm unmöglich, sich in dieses Bett zu legen, bevor er das Insekt gefunden hatte. Doch der Skorpion blieb verschwunden. Viele Male nahm er die leere Box vom Regal und betrachtete sie genau. Sie war intakt, niemand hatte sie geöffnet. Er fand keine Lösung, betrachtete die wenigen zurückgebliebenen Sandkörner und redete sich ein, der Skorpion habe sich in diese winzigen Reste der Wüste zurückgezogen.

Unvermittelt wie bei einem Anfall spürte Albert das Vergehen der Zeit. Plötzlich schien sich der Verschlag zu verdunkeln, die abgewetzten Holzlatten und der süßlich sauer riechende Boden umgaben ihn nicht mehr nur, sondern zwängten ihn ein.

Albert erhob sich und tat ein paar Schritte durch den winzigen Raum. Er ging zur Tür und wieder zurück zu seinem Aussichtspunkt, dann in die andere Richtung und schließlich im Kreis. Dabei achtete er auf die leichten Schmerzen im Rücken und in den Oberschenkeln, versuchte auszumachen, wie stark ihn die Entführung mitgenommen hatte.

Als er am Rande der Marktstraße aus dem klimatisierten Toyota 4Runner gestiegen war, hatte er die überwältigende Hitze und das grelle Mittagslicht für einen Moment mit geschlossenen Augen in sich aufnehmen wollen. Er nahm einen ersten tiefen Atemzug außerhalb des Autos, als der Stoß ihn traf und gegen die noch geöffnete Wagentür warf. Albert riss die Augen auf und erblickte eine abgerissene Gestalt über sich. Anfangs war er überzeugt, dass es sich um einen Raubüberfall handelte. Doch Osama, sein Übersetzer, war auf der anderen Seite des Wagens ausgestiegen und näherte sich so heftig fluchend und schreiend dieser Bettlergestalt, dass Albert realisieren musste, was er bis dahin für unmöglich hatte halten wollen. Derweil setzte ihm sein Angreifer den Fuß auf die Brust und drückte ihn gegen die Wagentür.

Als Osama bei ihnen war, umstanden ihn plötzlich vier andere Lumpengestalten, eine von ihnen hielt ihr Gesicht hinter grobem, gerafftem Sackstoff verborgen. Als der stinkende Baumwollsack über ihn fiel, glaubte Albert ersticken zu müssen. Das war alles, was er bislang an Misshandlung erfahren hatte, sah man von den Schlägen ab, die er im Dunkel des Sackes einstecken musste, damit er den Kopf auf der Rückbank unten hielt.

Sie waren sehr lange gefahren, daran erinnerte er sich, und auch daran, wie sehr er Osama vermisste, der bis dahin nicht nur sein Ohr und seine Stimme in dieser Fremde gewesen war, sondern auch das vertraute, freundliche Gesicht des Landes. Nun war es fort.

Albert seufzte und ließ sich in der Nähe seines Gucklochs nieder. Was mochten sie mit Osama getan haben, fragte er sich. Hatten sie ihn dort zurückgelassen, auf offener Straße, im Dunst des Markttreibens, den misstrauischen und ängstlichen Blicken all der Passanten ausgesetzt, die um sie gewesen waren, von denen jedoch niemand eingriff oder auch nur die Stimme erhob? So sehr ich es mir auch einzureden versucht habe, dachte Albert, ich gehöre nicht zu ihnen, und ein Angriff auf mich verletzt hier niemandes Gefühl für die Ordnung, die im Alltag herrschen sollte.

Erst als sie am Wege hielten, ihn aussteigen ließen und ihn zwangen, sich auszuziehen, wurde Albert endgültig klar, dass es sich um eine Entführung handeln musste. Eine Limousine raste vorbei. Für eine Sekunde glaubte Albert im Heckfenster einen schwarz vermummten Kopf zu erkennen. Er war sich nicht sicher, doch wenn ihn seine Vermutung nicht täuschte, dann konnte das nur Osama gewesen sein.

Er bekam Latschen, eine fleckige, zu große Stoffhose und ein graues Hemd. Seine Kleidung vergrub einer der Männer am Straßenrand. Lächelnd schulterte er danach den Klappspaten. Noch bevor sie ihm den Sack wieder über den Kopf zogen, ahnte Albert, was ihm bevorstand.

Durch die groben Maschen sah er das flirrende Licht im Wagen, bis die einsetzende Dämmerung es verschluckte. Aus dem Autoradio ertönten religiöse Gesänge, »Bismillah« vernahm er häufig, mal klang es feierlich, mal bittend, und immer rührte es ihn, als wäre es Ausdruck seiner eigenen Verzweiflung.

Die Tür zum Verschlag öffnete sich langsam. So vorsichtig schob jemand sie auf, als hätte er sich im Zimmer geirrt. Albert rührte sich nicht, hob nicht einmal den Kopf, starrte nur in die Richtung des Geräusches. Er war selbst überrascht von der plötzlichen Gelassenheit, mit der er auf diesen Besuch reagierte. Es machte ihn stolz, selbst in dieser Situation noch einen Rest Haltung bewahren zu können. Hätte er zuhause oder in der Sicherheit eines Hotelzimmers versucht, sich eine Vorstellung davon zu machen, dann hätte er sich sprachlos vor Angst und zitternd vor Erwartung gesehen. Jetzt aber wartete er nur, bis der Mann vor ihm hockte, das Gesicht mit dem Turbantuch bis unter die Augen verhüllt.

Albert erkannte ihn sofort; das war jener, der ihn auf dem Markt zu Boden gestoßen hatte. Er roch nach Schweiß und Rauch, die Haut um seine Augen schien von einer teerartigen Schicht überzogen, fast bedrohlich ragten seine dunklen Zehen unter den Gummiriemen der zusammengeflickten Sandalen hervor.

Der Mann fixierte ihn. Albert hielt dem bohrenden Blick stand. Was er in diesen Augen sah, verhieß nichts Gutes. Obwohl der andere kein Wort zu ihm gesprochen, nicht einmal seine vor den Knien verschränkten Hände bewegt hatte, wusste Albert, dass dieser ihn hasste. Es war nicht mehr als ein Gefühl, doch stieg es heftig, ja, schmerzhaft in ihm auf. Dieser Mann ist mein Feind, dachte er, er kennt mich nicht, hatte bis zu jenem Mittag auf dem Markt nie etwas von mir gehört, außer vielleicht von seinen Auftraggebern – und doch will er mich vernichten. Es lag etwas Trauriges in dieser Einsicht, eine Art Enttäuschung.

Wie um dem bösen Blick einer allgegenwärtigen Bedrohung zu entgehen, hatte er sich als wohlgesinnter, demütiger Fremder in diesem Land bewegt, peinlich darauf bedacht, keine Spur der Ungeduld und des Überdrusses zu zeigen, Anwandlungen, die er daheim nur selten vor anderen verbarg. Doch das Schicksal hatte sich nicht besänftigen lassen. Es hockte vor ihm und studierte ihn wie um zu entscheiden, was es als Nächstes mit ihm anstellen würde. Ich wollte Gutes tun. Albert hasste sich selbst für die Anbiederung. Es ist nur die scheißende Angst, die mir das eingibt, sagte er sich trotzig und wich dem Blick des Mannes aus.

Der erste Schlag kam völlig überraschend und ließ Alberts Kopf zur Seite fallen. Er blickte dem Mann wieder in die Augen, doch dieser versetzte ihm weitere Ohrfeigen, links, rechts, links. Albert fühlte die Hitze in seinem Gesicht und schnaufte vor Schmerz, obwohl die Schläge nicht sehr hart waren. Schließlich duckte er sich und kroch zur Seite davon, doch der andere folgte ihm und schlug ihn mit der flachen Hand auf Rücken und Hinterkopf. Albert ließ sich zur Seite fallen und krümmte sich. Aus dem Augenwinkel sah er das Tuch vor dem Mund des Mannes sich rascher blähen; allmählich kam sein Angreifer außer Atem.

Einige Sekunden später hielt er inne, richtete sich auf und bewegte die Finger, um sie zu entspannen. Albert blieb, wo er war, und zwang sich zur Ruhe. Wieder und wieder rief er sich ins Bewusstsein, dass der Entführer sein Gesicht, wenn auch erst jetzt, verhüllt hatte und es deshalb für ihn, Albert, eine Zukunft gab, in der sein Peiniger von ihm nicht erkannt werden wollte. Auch wenn er mich quieken lässt wie ein Schwein, so wird er mich doch nicht töten. Er klammerte sich an diesen Gedanken bis zu dem Moment, in dem der Mann einen Dolch zückte und damit auf ihn losging.

Er stach nicht zu, stocherte mehr, Albert aber geriet in Panik. Er kroch über den Boden und quiekte nun tatsächlich jedes Mal, wenn ihn die Klinge traf und einen brennenden Schmerz auf seinem Rücken hinterließ. Er packte den noch unbenutzten Kotkübel, wälzte sich herum und hielt ihn in Richtung der nach seinem Rücken suchenden Klinge wie einen Schild. Der Mann lachte auf, ein junges Lachen, unbeschwert. Die Klinge pickte nach Alberts Bauch, den er gerade noch mit dem Eimer schützen konnte, dann sauste sie aufwärts, bedrohlich nah an seiner Nase vorbei.

So ging es eine Weile, bis ein Geräusch vom Eingang her zu ihnen drang, das Albert nicht einzuordnen wusste. Er wagte nicht, dort hinzuschauen, klammerte sich mit den gefesselten Händen nur weiter an den Eimer und erwartete den nächsten Stich. Sein Angreifer jedoch sah auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. Erst als er sich entfernte, wandte Albert vorsichtig den Kopf und erblickte ein schneeweißes Lamm, das sich auf unsicheren Beinen in den Verschlag verirrt hatte.

Der Dolch war verschwunden, mit einem pfeifenden Atemzug breitete der Mann die Arme aus und jagte das Tier hinaus. Gleich darauf war auch er selbst verschwunden wie er gekommen war, ohne ein Wort.

Albert stieß den Eimer von sich, wollte sich auf den Rücken drehen, doch der Schmerz ließ es nicht zu. Stöhnend wälzte er sich auf den Bauch und lauschte den sich entfernenden Schritten. Es waren nicht mehr die Schläge und Stiche, die ihn schluchzen ließen, es war das Gefühl der Verlorenheit. Niemand wird dich vermissen, dachte er, niemand wird nach dir suchen und wenn doch, dann erst, wenn es längst zu spät ist.

Minuten später warf er sich doch auf den Rücken, unterdrückte grunzend den Schmerz, schloss die Augen und wartete, bis er wieder klar denken konnte. Wenn du wissen willst, wie es möglich war, dass du hier endest, dann musst du dich erinnern, dachte er, es ist wichtig, sich zu konzentrieren.

Albert zählte seine Atemzüge und versuchte immer größere Abstände entstehen zu lassen. Ruhe ist wichtig, beschwor er sich, du musst zur Ruhe kommen. Und tatsächlich, mit dem allmählichen Abklingen des Schmerzes begann er sich zu entspannen. Zwar glaubte er kurz, vor Erschöpfung einzuschlafen, doch er blieb wach. So klar wie in diesem Augenblick hatte er schon lange nicht mehr über sich nachgedacht, stellte er fest und fragte sich verbittert, ob es wirklich notwendig war, dass jemand ihn mit einem Messer angriff, damit er in sich ging. Ich bin ein Nervenbündel, und es ist nicht die Angst, die mich so hat werden lassen. Ich war gehetzt, bevor ich hier ankam, auf das Meer blickte und gleich darauf den Unfall bei den Färbern erlebte.

Er drehte sich auf die Seite und verharrte in dieser Position. Der zerquetschte Skorpion lag noch immer dort, wo er ihn zertreten hatte, und als er ihn jetzt sah, wunderte er sich in all seiner Schwäche darüber, fähig gewesen zu sein, etwas zu töten.

Der Gedanke an seine Ankunft in dieser Region ging ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht lag es an dem schäbigen Hotel in der Hafenstadt. Einerseits hatte ihn beim Anblick und Geruch dieses Gemäuers eine morbide Romantik ergriffen, andererseits konnte er sich dort kaum bewegen, so sehr war er damit beschäftigt, sich selbst und alles, was er besaß, sauber und unberührt zu halten.

Als er am späten Abend mit von der Tageshitze brennenden Augen über die Holztische der Hotelbar hinweg zu den offenen Fenstern geblickt hatte, war es ihm ganz egal, wo er saß – ob auf dem Bett im Hotelzimmer, nahe der mit einem Fahrradschloss gesicherten Tür oder auf einer der Mauern mit Sicht auf den Hafen, um noch einmal die vom großen Wind hingebreitete Spur der Sterne zu sehen, bevor er sich auch an sie gewöhnen würde.

Draußen vor den Fenstern eilten Gruppen von Männern vorüber. Er brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass sie, anders als sonst, rannten. Zu tief versunken war er in den Anblick eines ungewöhnlich hohen, knochig aussehenden Strauchs, den die Fledermäuse unablässig anflogen, um im letzten Moment auszuweichen.

Der Barmann, ein unermüdlicher Fliegentöter und Zigarettenvertilger, kam hinter der Theke hervor, räusperte sich mehrmals und ging zur Tür. Er riss sie auf und blickte in Laufrichtung der Männer. Der Strauch stand im Fenster wie aus dem Rahmen gewachsen. Selbst der Wind schien ihm auszuweichen, ein Wind, der ansonsten alles berührte und zu bewegen suchte, auch Albert, nachdem der Mann die Tür geöffnet hatte.

Er erhob sich. Kurz überlegte er noch, ob er das Teeglas mitnehmen sollte, ließ es dann aber. Der Mann machte den Weg frei, wies mit einem Zucken des bärtigen Kinns die Straße hinauf und wackelte mit dem Kopf.

Wo sich die lichtgefleckten Gassen von der Hauptstraße lösten wie Risse an einem Grabenrand, stand eine Art Scheune. In den Lücken zwischen den quer verlaufenden Brettern tanzten Menschen durch das eingesperrte Lampenlicht, Stimmen drangen heraus, erzeugten Laute, die nichts beschrieben, sondern etwas begleiteten.

Der Mann neben Albert nahm diese Laute unwillkürlich auf; da er sie so wenig verstand wie Albert, ahmte er sie leise und fast ängstlich nach. Albert bedeutete ihm zu warten, löste sich aus der Tür und ging zur Mitte der Straße.

Für Sekunden stand er unschlüssig da, seitwärts zum Geschehen und dem Strauch gegenüber, welcher, nun befreit vom Fensterrahmen, mit seinen vielen Fingerknochen in den Nachthimmel griff. Der Barmann ermahnte ihn mit einem Räuspern, das er zu einem beharrlichen Brummen in die Länge zog. Albert wandte sich in Richtung der Scheune und ging los.

Mit jedem Schritt wurden seine Zweifel stärker. Zwar war dieser düstere, wie aus Staub geformte Straßenzug nichts weiter als der Souk der Färber. Doch auch hier konnten sich, zumal bei Dunkelheit, schreckliche Dinge ereignen. Wozu das anschauen und eindringen lassen in seine selbst verordnete Beschaulichkeit?

Am Ort des Geschehens angekommen, stellte er erleichtert fest, dass sich die Leute nicht wie Fliegen um eine Wunde scharten, sondern Gassen bildeten, durch die sich jemand bewegte. Sie lachten, während sie wieder und wieder ihre Füße hoben, als bestünde Gefahr, am Boden kleben zu bleiben. Wie Kinder stießen sie einander, und einer, der auf den Stoßzähnen eines Hubwagens stand, wurde zu Fall gebracht.

Albert verharrte am Tor der einfachen Werkhalle, bemüht, zwischen den Hälsen und Schultern zu erkennen, wer da herauskam. Die Gestalten trugen merkwürdige Overalls. Eine von ihnen blieb stehen und drehte sich nach ihren Kameraden um. Im Lampen- und Laternenlicht erkannte Albert gerade noch, dass die Gestalt verfärbt war. Etwas hatte sich über sie ergossen, hatte Haare, Haut und Kleidung verklebt, bevor es den Boden erreichte. Albert sah nun die gelbe Schleppe, aus der der Mann herauswuchs. Wenn dieser auch unablässig an sich herumwischte, so konnte er doch nichts von der Farbe abtragen. Noch im Dunkel, inmitten der Beine von Schaulustigen, war jeder Zentimeter des Bodens erkennbar von giftigem Glanz überzogen.

Der Mann wartete, bis drei weitere Arbeiter, die wie er selbst aus einem einzigen gelben Stück gegossen schienen, zu ihm aufschlossen, und ging dann weiter. Als sich das Spalier der Gaffer schließlich auflöste, weil alle den Verfärbten folgten, wurde die Sicht auf die Straße wieder frei. Ein paar Meter weiter vor den Säulen eines uralten Handelshauses kauerten Mütter, die ihre Kinder in Decken gewickelt und dicht bei sich gelagert hatten. Sie versuchten kaum, der gelben Lache auszuweichen, die sich durch den Sand der Straße fraß und nicht haltmachen wollte vor Steinen, Strauchwurzeln, Gewandsäumen und Hosenböden.

Eine der Frauen bemerkte, dass Albert stehen geblieben war. Mit einer hastigen Bewegung zog sie ihr Kopftuch über den Haaransatz zurück und erwiderte fragend seinen Blick, während sie ihr Kindsbündel aufhob und an sich drückte. Sie stand auf und er versuchte freundlich zu blicken; die gelbe Lache verband sie nun wie ein Teppich.

Dann rannte er los, den anderen nach. Vor der Gasse, die sie genommen hatten, blieb er noch einmal stehen und schaute zurück. Das Tor zum Lagerhaus der Färber stand weit offen. Die Lichtreste im Innenraum ließen nichts als zitternde Formen sehen. Er eilte weiter; die Gasse endete unter Zitronenbäumen. Er folgte den Fährten, die zwar nicht gelb, aber feucht waren, stieg einen Hügel hinauf und spürte den Wind, der vom tintenschwarzen Meer heraufzudrängen schien.

Am Hang sah er die Leute. Sie hatten das Wasser noch nicht erreicht. Gerade als er begann, das Niedertreten der Sporen ausstäubenden Sträucher zu genießen, holte er sie ein. Die Nacht war hier grün und tief, und das Meer lag schwarz und kalt an ihrem Grund. Die gelben Männer hüpften hinab. Sie alle wirkten sehr dünn, ihre Beine waren zu Stelzen geworden, an denen ihre Hosenbeine klebten. Albert lief voraus, Falter und vielleicht sogar Eidechsen wichen seinen Tritten aus. Nicht weit entfernt, wo das Meer das Land berührte, zischte es auf dem Sand. Als die gelben Männer an ihm vorbeigesprungen waren, folgte er ihnen vorsichtig.

Während sich die Gaffer am schmalen Strand aufstellten, stürzten die Gelben direkt ins Wasser und begannen, ihre Gesichter mit den Handflächen abzureiben. Sie standen bis zu den Hüften inmitten der zu Schaumschlieren verebbten Wogenkämme, und tatsächlich löste sich etwas von der Farbe und trieb um sie herum auf der dunklen Fläche.

Sie wuschen sich. Zwei andere hatten Taschenlampen dabei, mit denen sie die Arbeiter bestrahlten. Deren Oberkörper ragten aus gelben Ringen der zäh sich ins Wasser lösenden Substanz. Ihre Gesichter wurden an Stirnen und Wangen allmählich wieder braun, und dies zu sehen, ließ sie erleichtert seufzen.

Albert stieg den Hang hinauf, die Luft roch nach Fell und Blumen. Über ihm rotierte Licht. Männer kamen ihm entgegen, offenbar Sanitäter, jedenfalls trugen sie alle Gummihandschuhe. Auf der Gasse, wenige Meter vom Hang entfernt, stand ein Ambulanzwagen mit verdreckten Scheiben und offener Ladeklappe. Im Vorbeigehen blickte Albert hinein: Zwei leere Tragen mit knapper Liegefläche warteten.

Auf der Hauptstraße warf er seine Leinenschuhe fort und überprüfte kurz die nackten Fußsohlen. Dann betrat er die Hotelbar, patschte barfuß über den noch immer warmen und etwas schmierigen Steinfußboden und setzte sich wieder zu seinem Tee. Er war darauf vorbereitet, dem Barmann erklären zu müssen, was geschehen war, aber der hatte sich bereits informiert. Er stand wieder an dem Tresen, der Bar und Rezeption in einem war, und wartete. Der Ventilator an der Decke kreiste heftig, schien jeden Moment aus seiner Befestigung springen zu wollen. Und doch war der Luftstrom, den er erzeugte, nicht stark genug, auch nur die Zuckerkrümel von Alberts Untertasse zu fegen.

Der Morgen, der in den Verschlag einbrach und sich mit Lichtschauern und wabernden Schatten über die Wände ergoss, schied das gerade und das längst Vergangene weniger voneinander, als Albert erwartet hätte. Er lag auf dem Rücken, spürte den Schmerz in seinen Händen und blinzelte. Er wusste nicht, wo er sich befand. Vor Erschöpfung hatte er tief geschlafen, alles in ihm hatte versucht in diesen Schlaf zu fliehen. Jetzt betrachtete er das Innere des Schuppens, bewegte die Finger, als kraulte er ein unsichtbares Tier, und stöhnte.

Er setzte sich auf und beobachtete zwei aufeinanderklebende Fliegen an der Wand und, aufmerksamer noch, ihren schräg abfließenden, vielbeinigen, monströsen Schatten. Beinahe gerührt dachte er an die im Vergleich harmlosen Schrecken seines Hotelzimmers in der Stadt zurück. Am ersten Abend bereits wurde er für seine unbefangene Neugier bestraft, als er im Deckenlicht der Glühbirne das Laken betrachtete. Er konnte nicht erkennen, was, aber etwas bewegte sich darauf. Es mussten winzige Insekten sein. Sie bevölkerten im nächsten Augenblick den ganzen Raum, vor allem die nackten Wände mit ihren Mulden und Rissen. Tagsüber war sein Widerwillen, sich in dieses belebte Bett zwischen belebten Wänden legen zu müssen, schwach. Aber mit dem Glühbirnenlicht änderte sich das.

Er hatte versucht, bis zum Schlafengehen nicht daran zu denken. Um sich zu schonen, löschte er das Licht, während er noch im Raum stand, und legte sich im Dunkeln nieder. Gegen die allmählich sich erhebenden, feinen Geräusche stopfte er sich Wachskügelchen in die Ohren. Doch das erwies sich als Fehler.

Fast taub und vollkommen blind, wurde ihm die Haut zu einem einzigen großen Sinnesorgan. Etwas stach oder stieß ihn oder landete auf seinem Kopf. Er rappelte sich auf, machte Licht und sah, wie all das Kleine um ihn sich erhob und von der grauen Lakenfläche floh. Er starrte auf die Pünktchen und Flecken, die sich, näher betrachtet, auflösten in noch kleinere Partikel, in Klumpen und längliche Fortsätze – und er registrierte das Zittern seiner Hände.

Damals hatte er zum ersten Mal in diesem fremden Land gezittert, in dieser Nacht etwa drei Wochen nach seiner Ankunft. In den winzigen Lebewesen, die sich seinen Fingern entzogen, erkannte er all das Kleine, Filigrane wieder, das sich jemals seinen Fingern entzogen hatte: Ungreifbares. In der Ohnmacht dieser Nacht erkannte er die alte Ohnmacht.

Und wieder zitterte er wie damals beim ersten Mal, als jene Bruchstücke der 0,3 mm starken Finelinermine unter seinen riesigen Fingerkuppen einfach nicht zur Ruhe kommen wollten, bis er verstand, dass seine Hände befallen waren von einer Unruhe, die ihn, wie er später erfahren sollte, irgendwann zerstören würde.

Er durfte sich nicht um die Insekten, um Flöhe, Wanzen oder was auch immer kümmern. Er musste sie akzeptieren, wo sie waren, wenn diese Stellen auch auf seinem Körper lagen. So hatte er zwischen Laken und Decke geruht, gespürt, wie seine Wärme das Getier allmählich belebte und über ihn hinweg ausschwärmen ließ.

Albert betrachtete seine Hände, wartete, näherte sie seinem Gesicht und ließ sie schließlich erleichtert sinken. Kein Zittern war zu bemerken, doch schienen sie kalt und leblos. Erneut bewegte er die Finger, hob den Kopf und starrte zur Wand des Schuppens. Auf den Knien kroch er hinüber und blickte durch den Spalt hinaus.

»Was siehst du?«, fragte er sich müde.

Wieder blickte er auf die gelbbraune Erde und die hellen Steine, da wurde der Spalt vor seinem Auge verdunkelt. Ruckartig zog er den Kopf zurück, der Schreck ließ ihn schnaufen, und er hätte geflucht, wenn nicht sofort jene panische Furcht in ihm aufgestiegen wäre, die er schon im Moment der Entführung empfunden und die ihn sich hatte klein machen lassen wie einen verängstigten Hund.

Draußen löste jemand seine Hand von der Schuppenwand. Albert hörte die leichten Schritte, als die Person um den Verschlag herumging. Instinktiv rutschte er fort von dem Geräusch, bis sein Rücken die Wand berührte. Hunde bellten in der Ferne, kurz war das zänkische Krächzen von Krähen zu hören. Gebannt starrte er auf die Tür. Er wischte sich über das Gesicht, biss sich in die Finger, blickte auf und wartete, doch nichts geschah. Schließlich beruhigte er sich. Leise stieg ein feiger Zorn in ihm auf; er fühlte sich um etwas betrogen, worauf er nach dieser ersten Nacht in Fesseln ein Anrecht zu haben glaubte.

»Mach schon«, brummte er. »Komm schon rein, was sollen die Spielchen?«

Er kroch zum Eingang hinüber, doch dort gab es keine Spalten zwischen den Latten. Albert stieß mit dem Knie gegen die Wand, so sanft, dass es nicht gewalttätig wirkte, eher wie ein Klopfen. Dabei sagte er laut auf Englisch:

»Ich bin krank, jemand muss sich um mich kümmern.«

Es blieb still, nur der Wind erhob sich sacht und wehte Sand in das noch zarte Sonnenlicht, das durch die Ritzen drang. Kurz fühlte sich Albert von dem unsichtbaren Besucher verhöhnt, doch er bezähmte sich und schwieg.

Plötzlich vernahm er ein Rascheln und langsam, Zentimeter für Zentimeter, wurde ein Stück Papier unter dem Eingang hindurchgeschoben. Es war länglich gefaltet und wies genau zu ihm, der verwirrt auf dieses erste Lebenszeichen seit vielen Stunden blickte und nicht wagte, danach zu greifen. Als es ganz vor ihm lag, hörte er, wie jemand am Holz der Schuppenwand kratzte und sich sodann entfernte. Wieder waren da die leichten Schritte eines kleinen Menschen, wahrscheinlich eines Kindes.

Nach kurzem Zögern hob er das Papier auf und faltete es auseinander.

»Was soll das?«, stieß er hervor, als er sah, was ihm da zugesteckt worden war.

Er hatte eine Nachricht erwartet, etwas, das ihn bedrohen, warnen oder gar beruhigen sollte. Stattdessen hielt er ein ausgerissenes Magazinfoto in den Händen, das einen prachtvollen Innenraum zeigte. Nah an der Risskante war ein Kerzenleuchter zu erkennen, im Hintergrund ein Marmorkamin. Albert fühlte sich verhöhnt, faltete das Papier rasch zusammen und kroch zurück an seinen Aussichtspunkt.

Der Schlaf hatte ihm gutgetan. Auch wenn sein Körper schmerzte, waren seine Lebensgeister wieder erwacht. Selbst Sarkasmus, dachte er, braucht Energie, und begann, die Umgebung zu sondieren. Er presste das Gesicht gegen die Holzlatten, um nach den Seiten Ausschau halten zu können. Er schnaufte, rollte das Auge und erspähte tatsächlich eine Gruppe von Frauen. Sie trugen schwarze Umhänge, schlenderten dahin und unterhielten sich. Zwei von ihnen trugen Strohkörbe auf den Köpfen.

Albert zog den Kopf zurück und atmete tief ein. Das Leben geht weiter, dachte er, schloss die Augen und grinste. Die dunklen Gestalten in der hellen Landschaft hatten sich ihm eingeprägt. Er öffnete die Augen, blickte um sich und versuchte zu verstehen, was ihm dieses Bild sagen wollte. Wenn überhaupt irgendwo, dann sollte doch an einem solchen Ort alles seine Bedeutung haben. Es könnte der letzte Ort sein, den ich sehe, dachte er, hier kann es keine Belanglosigkeit mehr geben. Er schaute noch einmal hinaus, doch die Frauen waren verschwunden.

Ein Hund bellte in der Ferne, und mit diesem Geräusch erfasste Albert die Verzweiflung. Der letzte Ort, dachte er, der letzte Ort. Wie ist es möglich, dass mich meine Geschichte hierher geführt hat. Es ist absurd. All das hat nichts mit mir zu tun. Daheim war es mir näher, als es mir hier je sein könnte. Dort war das Fremde eine Art Abwechslung und zugleich Ausweis von Modernität. Welche Gesellschaft will schon im eigenen Saft schmoren, welcher gebildete Mensch nur Landsleute kennen? Aber das hier? Das ist kein Abenteuer, das ist heutzutage mindestens so lächerlich wie auf einer einsamen Insel zu stranden. Es gehörte nicht in die Welt, wie er sie kannte. Sicher, jeder ahnte etwas von den Abgründen, zumal, wenn er sich auf den Weg in Krisengebiete machte. Aber all das waren nur aufgelesene Informationen, bestenfalls Ahnungen, die sofort wieder im Alltag verschwanden. Dieser Gedanke war es, der Albert so tief verunsicherte: Es gehörte nicht zu seiner Welt, wie es eben auch zur Welt von niemandem gehörte, den er kannte. Sie würden es sich nicht einmal vorstellen können.

Die Tür zum Verschlag wurde geöffnet. Albert schreckte auf, realisierte, dass er eingeschlafen war, starrte kurz auf seine heftig zitternden Hände und fasste im Bruchteil einer Sekunde einen Plan.

Auch denjenigen, der diesmal in den Schuppen trat, kannte er. Er hatte während der Entführung neben ihm auf der Rückbank der alten Limousine gesessen und verzichtete hier auf die Vermummung. Er war vielleicht vierzig Jahre alt, hatte tiefe Ringe unter den Augen und ging gebeugt, obwohl er nicht sehr groß war und im Schuppen bequem hätte stehen können.

Albert half dem Zittern seiner Hände etwas nach und hob sie bis auf Kinnhöhe vor sich, damit der andere sie nicht übersehen konnte. Der stellte eine Blechschüssel in die Mitte des Raumes und Alberts Blick fiel sofort auf die dampfende rostbraune Suppe darin. Das muss Linsensuppe sein, dachte er und leckte sich unwillkürlich die Lippen. Doch er wartete, hielt weiterhin seine gefesselten Hände hoch und sprach auf den Mann ein.

»Ich bin krank, meine Hände, schau, hier …«

Der Bewacher kniff die Augen zusammen, näherte sich ihm und begutachtete die dunklen, zitternden Finger. Mal nach der einen, mal nach der anderen Seite legte er seinen Kopf und verzog dabei konzentriert den Mund. Sein Blick war ausdruckslos. Nach einer Weile griff er nach dem Zipfel seines zerschlissenen Turbantuches, führte ihn zu den Lippen und kaute darauf herum.

Albert beobachtete jede Bewegung des anderen und war nahe daran zu lachen, denn er begann zu glauben, es mit einem Idioten zu tun zu haben. Wie aus dem Nichts jedoch hatte der Mann ein Messer in der Hand und stieß die kurze, gekrümmte Klinge zwischen Alberts Unterarmen hindurch, hielt inne und zerschnitt dann die Fessel.

Im nächsten Moment schlugen Alberts Gefühle so heftig um, wie er es selbst nie erwartet hätte. Seine endlich befreiten Arme waren herabgesunken, doch sogleich hob er sie wieder, um nach der Hand seines Wohltäters zu greifen, die ihm dieser aber entzog. Fast verächtlich spie er den Tuchzipfel aus, erhob sich und sagte:

»Eat, eat!«

Albert kroch zu dem dampfenden Gefäß hinüber, doch seine Hände zitterten nun so stark, dass er es nicht zu berühren wagte. Der Bewacher erkannte sein Problem, hockte sich neben ihm nieder, packte Alberts Rechte und drückte sie zu Boden. Albert wollte ihm nochmals erklären, dass er krank sei, doch da schwächte sich der Anfall ab und das Zittern ließ nach. Der Mann ließ ihn los, sagte ein paar Sätze, die Albert nicht verstand, und verließ den Schuppen.

Alles aufbewahren, das war der Gedanke, an den er sich weiterhin klammerte, eine Aufgabe, ja, Arbeit, die ihn bei Sinnen halten und ihm etwas Vertrautes wäre in seinem Verschlag, der ihn ansonsten zu einem Tier werden ließ.

Wo soll ich beginnen, dachte er, bei wem? Mila, ja natürlich, seine Schwester war die Erste, die vor seinem geistigen Auge auftauchte, mager und abweisend, mit jener Melancholie, die um sie war, seit er sie kannte. Der verunglückte Wochenendausflug ans Meer: Das wollte jetzt und hier zu ihr passen, und er entsann sich bereitwillig des gemeinsamen Strandspaziergangs vor gut zehn Jahren.

Mila ging ihm voraus wie eigentlich immer. Sie trug ein weites weißes Baumwollshirt, ließ es flattern und um sich schweben im Wind, der von der See her kam, der alle Erwartungen erfüllte und auf ihren glatt und fest gewordenen Lippen salzig schmeckte. Vor der diesigen, horizontlosen Ferne schwankte sie, zur Hälfte umschlossen vom Fischgrau des Wassers. Ihr Gang war leicht und unsicher.

Auf diesem Teil des Weges war der Strand bis zur nächsten, weit entfernten Biegung menschenleer.

Milas Füße sanken in den Sand. Sie stapfte, aber das gab sich, je weiter sie gingen. Unterhalb des Baumwollshirts spannte sich ihr verwaschener dunkelroter Bikinislip. Er war schmal und klein und schien auf Milas leicht gebräunter Haut wie eingewachsen.

Albert musste an die Plastikblumen auf dem Nachttisch im Hotelzimmer denken und daran, wie Mila gleich nach der Ankunft steifbeinig zur Toilette ging. Dort erbrach sie sich; jeden Stoß begleitete ein mechanisch klingendes Wimmern. »Die Autofahrt«, flüsterte sie beim Zurückkommen. Ja, das ist sie, dachte er und lächelte dabei. Wie dünn sie war, auf eine Weise, die immer erneut erschreckte. Nach dem Erbrechen hatte sie sich mehrmals den Mund ausgespült, eine Prozedur, die sie lautstark verrichtete, wie um deutlich zu machen, dass sie etwas hinter sich gebracht hatte. Mit feuchten Augen starrte sie ihn von der Zimmertür aus an und sagte Gute Nacht.

Sie gingen über dunkle, lamettaartige Tangfäden auf geglätteten Sandzungen. Die Wellen zogen die Fäden in die Länge, legten sie fein säuberlich nebeneinander. Im Dunst der Ferne waren Lichter aufgetaucht, gelbe Ringe und Ketten an ganz verschiedenen Stellen und doch, in Anbetracht der Weite, in seltsamer Nähe zueinander: Wie Fabriklichter sahen sie aus, das Gewaltige, Rohe war in der Kühle spürbar und wie eine Halle spannte sich das Grau um sie.

Für einige Zeit gingen sie im Gleichschritt. Das Wasser wurde allmählich dunkler, ein Gewitter zog herauf. Als Albert sich kurz umwandte, sah er die graublaue Wolkenfront, die sich hinter ihnen auf die Landschaft legte. Vor ihnen aber herrschte noch das helle Sonnenlicht, das auf dem feuchten Sand schimmerte.

Die großen Seemöwen platschten durch die Spülsäume oder standen zerzaust auf den Buhnen. Gleichmütig und aufmerksam schauten sie hinaus, ihre Köpfe duckten sich im Wind nieder, der stoßweise und aus wechselnden Richtungen kam. Einige Nacktbader lagen noch am Strand. Mit dicken Bäuchen und querliegenden Schwänzen die Männer, die Frauen saßen aufrecht daneben, ordneten ihre Frisuren und waren vom Unwetter beunruhigt.

Mila blickte sich nicht um. Albert aber sah hinter sich den berstenden Wolkengletscher und vor einem scharf begrenzten, lichterfüllten Raum über der See Vögel, die ohne Flügelschlag in der Höhe hingen. Dann war da wieder Milas schmaler Rücken, verbunden mit dem Gedanken an Berthold. Milas Freund war erst am Tag zuvor angekommen und wahrscheinlich schon wieder geflohen. Der Arme, nicht einmal die Reisetasche hatte er abgelegt bei der Ankunft, sondern sich gleich vor Mila aufgebaut, den bloßen Masseunterschied zwischen ihnen sichtlich genossen, um ihr dann mit spitzen Lippen einen Kuss auf die Stirn zu geben, den sie empfing wie ein Kind.

Diese auffällige Distanz war ein Spiel zwischen ihnen, zu dem auch gehörte, dass Berthold sie manchmal packte und einfach nur festhielt, solange er wollte. Schwer zu sagen, ob ihr das Spaß machte. Berthold jedenfalls genoss für Momente seine Überlegenheit, er, der immer auf der Suche war nach dem Fremden, der, wie er gerührt von sich selbst sagte, »es akzeptieren und schützen lernen wollte«. Was für ein Irrtum, dachte Albert, er hielt sich für eine Art Entdecker des Lebens, dabei war alles, was er brauchte, eine problematische Madonna, eine Terra incognita mit genügend nachgiebigem Boden für seine Eispickel.

Good cop, bad cop, dachte er, als der Messerstecher wieder vor ihm stand. Ich werde dich Sam nennen und den anderen Joe, nein, besser: Joey. Weiter kam er nicht, denn ein Fußtritt warf ihn krachend gegen die Schuppenwand. Albert schützte seinen Kopf mit den Armen, doch ein weiterer Tritt blieb aus. Stattdessen vernahm er den schweren Atem seines Angreifers. Nach einigen Sekunden blinzelte er über die Armbeuge hinweg zu ihm. Der Mann hielt ein Mobiltelefon vor sich, als wäre er zu weitsichtig, um die Zeichen auf dem Display entziffern zu können. Doch es schien nur so, Sam hob den Kopf und gab Albert zu verstehen, er solle zu ihm kommen.

Vorsichtig, jede seiner Bewegungen kontrollierend, kroch Albert voran. Als er in Sams Nähe war, blieb er auf dem Boden hocken, weil er sich so sicherer glaubte. Der andere packte ihn ungeduldig am Kragen und zog ihn aufwärts, bis er stand. Sam schien nicht bemerkt zu haben, dass Albert nicht mehr gefesselt war.

Kurz nur, für einen Moment wagemutig, ließ Albert den Blick schweifen: Die Tür zum Verschlag stand offen, friedlich und verlockend fiel das Tageslicht herein, und der Mann neben ihm war so sehr mit den Tasten des Mobiltelefons beschäftigt, dass ein überraschender Schlag genügt hätte.

Sam drückte ihm das Telefon in die Hand, gab Anweisungen auf Arabisch. Albert hob die Schultern und schaltete das Gerät ein. Es war tatsächlich frisch aufgeladen, und der Anblick der kindlich-naiven Symbole ließ seinen Atem stocken. Ich habe in einer Spielzeugwelt gelebt, ging es ihm durch den Kopf, als er den Daumen auf die Tasten legte und fragend zu Sam blickte. Dieser versuchte mit ausladenden Armbewegungen zu erklären, was er von ihm erwartete.

Albert begann auf die Tasten zu drücken und konnte gerade noch den Kopf einziehen, um Sams Schlag auszuweichen. Er unterdrückte seinen Zorn, atmete pfeifend durch die Nase und öffnete sein elektronisches Adressbuch. Sam nickte beifällig, dennoch behielt Albert dessen rechte Hand im Auge. Er überlegte fieberhaft, was der andere von ihm wollen könnte und kam zu dem Schluss, dass es eigentlich nur um die für eine mögliche Zahlung des Lösegeldes wichtigen Kontakte gehen konnte.

»Ihr seid doch Entführer, oder, Sam?«, brummte er leise.

Blitzschnell hatte er die gespeicherte Nummer seiner Mutter gewählt, doch die Verbindung wollte sich nicht aufbauen. Zu gern hätte er von hier aus ein Zeichen in die friedliche Stille der heimatlichen Hinterhöfe und Gärten gesendet, dorthin, wo an einem Nachmittag wie diesem die Zeit stillzustehen schien.

Sam entriss ihm das Mobiltelefon, drückte wild darauf herum. Er trat nach Albert, der sich sofort wieder zu Boden hatte fallen lassen, und stieß unverständliche, aber zweifellos sehr böse Flüche aus. Erst Minuten später kam er zur Ruhe, sodass Albert sich wieder aufsetzen konnte, um ihm jene Telefonnummern zu zeigen, die wichtig waren. Sollten sie doch das Büro in der Stadt anrufen und vielleicht auch noch das deutsche Konsulat in Jordanien – wenn es nur half.

Als er wieder allein war und an die Decke starrte, stellte er sich das kleine Büro in der Hauptstadt vor, verlassen im Mittagslicht. Wie oft hatte er dort gesessen, seine Runden auf dem Drehstuhl gezählt und darüber nachgedacht, ob das Katalogisieren der zu einem großen Teil geplünderten Bestände nicht eine vollkommen sinnlose Aufgabe war. Die hiesigen Museumsbeamten hatten sich gefreut, sie einem Deutschen übertragen zu können, gleich darauf allerdings schienen sich alle aus dem Staub gemacht zu haben. Staub, ja, der war überall, auf und in den Glasvitrinen, auf der Computertastatur, auf den Seiten seiner Notizbücher, sogar zwischen seinen Zähnen. Der Verkehrslärm von der Straße drang durch die verhängten Fenster herein, während er sich am Anblick gewaltiger grüner Aktenschränke erfreute, die ihn an die Requisite alter Filme erinnerten.

Wenn dein Vater ein Abenteurer war, dann musst du ihm als Sohn wohl folgen, wenn auch nur als Erbsenzähler; die Geschichte, ein tragisches Schauspiel, das sich als lumpige Farce wiederholt. Hatte er das nicht immer zitiert? Nun, ich bin die Wiederholung, sagte sich Albert.

Er schaute konzentriert zur Schuppendecke hinauf und war plötzlich gebannt. Die Latten dort oben schienen unbefestigt zu sein. Sofort erhob er sich, holte den Eimer, den er noch immer nicht benutzt hatte, drehte die Öffnung zum Boden und stellte sich darauf. Gerade so reichte er heran und drückte vorsichtig gegen das Holz. Wie erwartet gaben die Latten nach. Albert zog die Hand zurück und setzte sich auf den Eimer. Er wusste, er würde dort nur schwer hinaufkommen, da es nichts gab, was er auf den Eimer stellen konnte. Und doch ließ ihn die Vorstellung nicht los, als Gefangener dicht über seinem Kopf eine Öffnung in der Zelle zu wissen.