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Der fünfzehnjährige Schüler Adrian Healey ist ein durchaus sympathischer Taugenichts, der sich am liebsten selbst in Schwierigkeiten bringt. Er mag Bücher und sexuelle Perversionen und hegt einen aufrichtigen Haß gegen jede Art von Wahrheit. Diese Abneigung wird ihm zum Verhängnis, als er mit dem Cambridge-Professor Trefusis in eine Kriminalaffäre gerät, die ihren Anfang mit dem Mord an einem ungarischen Geiger nimmt und sich rasch zu einer haarsträubenden Verfolgungsjagd steigert ...
»Stephen Fry gehört zu jener spezifischen Schar englischer Allroundtalente, die schreiben und auftreten können, denen Musical, Fernsehserien, Soloentertainment genauso selbstverständlich sind wie das Vorhaben, einen Roman zu schaffen.« Süddeutsche Zeitung.
»Ein absolut herausragender Erstling – der Witz sprüht, die Komik ist ein Hochgenuß, und alles ist von einer angenehmen Klugheit.« The Times.
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Seitenzahl: 441
Stephen Fry
Der Lügner
Roman
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Titel der Originalausgabe
The Liar
ISBN 978-3-8412-0455-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Bei Aufbau Taschenbuch erstmals 2003 erschienen;
Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
The Liar © 1991 by Stephen Fry
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Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
EINS
I
II
III
ZWEI
I
II
III
IV
V
VI
DREI
I
II
III
IV
VIER
I
II
III
IV
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
I
II
NEUN
I
II
III
ZEHN
ELF
I
II
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
Danksagungen
Anmerkungen des Übersetzers
Kein Wort des Folgenden ist wahr
Ein Fame-T-Shirt hielt vor Mozarts Geburtshaus. Es schaute am Gebäude hinauf, und seine Augen glänzten. Es stand ganz still, starrte nach oben und glühte vor Bewunderung, während eine Gruppe ausgebleichter Jeans und fluoreszierender Bermudashorts hinter ihm vorbeidrängelte und hineinging. Dann schüttelte es den Kopf, grub in seiner Hosentasche und ging weiter. Eine dünne hohe Stimme hinter ihm ließ es mitten im Schritt verharren.
»Haben Sie je über das Phänomen der Quellen nachgedacht, Adrian?«
»Originale, meinen Sie?«
»Keine Originaltexte, Adrian, nein. Keine Originale. Denken Sie an Wasserquellen. An Brunnen und Heilwasser und Quellen. Wasserquellen im weitesten und lieblichsten Sinne. Jerusalem zum Beispiel ist eine Quelle der Religiosität. Eine kleine Stadt in der Wüste, aber Quelle der drei mächtigsten Religionen der Welt. Es ist die Hauptstadt des Judentums, der Schauplatz von Christi Kreuzigung und der Ort, von dem aus Mohammed gen Himmel fuhr. Religion scheint nur so aus seinem Sand zu sprudeln.«
Das Fame-T-Shirt lächelte in sich hinein und schritt ins Haus.
Eine Tweedjacke und ein blaues Knöpfkragenhemd aus Oxforder Baumwolle standen vor den Stufen. Jetzt waren sie an der Reihe, ehrfürchtig nach oben zu starren, während sich hinter ihnen die Flut menschlichen Verkehrs durch die Getreidegasse ergoß.
»Nehmen Sie Salzburg. Keineswegs die größte Stadt Österreichs, aber ein Jerusalem für jeden Musikliebhaber. Haydn, Schubert und … du meine Güte, ja, da sind wir ja … und Mozart.«
»Es gibt eine Theorie, daß besondere Linien über die Erde laufen und daß merkwürdige Dinge sich da ereignen, wo sie sich kreuzen«, sagte das Oxforder Baumwollknöpfhemd. »Planetenlinien heißen die, glaub ich.«
»Sie denken wahrscheinlich, ich gebe bloß wieder meinem Steckenpferd die Sporen«, sagte die Jacke, »aber ich finde, die deutsche Sprache ist verantwortlich.«
»Sollen wir hochgehen?«
»Auf jeden Fall.« Das Paar glitt ins schattige Innere des Hauses.
»Schauen Sie«, fuhr der Tweed fort, »all die Eigenschaften ironischer Abstraktion, die die Sprache nicht zu artikulieren vermochte, fanden Ausdruck in ihrer Musik.«
»Ich hätte Haydn nie für ironisch gehalten.«
»Es ist natürlich gut möglich, daß meine Theorie hoffnungslos falsch ist. Bezahlen Sie bei dem hübschen Fräulein, Adrian.«
In einer Kammer im ersten Stock, wo der kleine Wolfgang herumgetobt hatte, deren Wände er mit frühreifer Arithmetik bedeckt und deren Dachsparren er von kindlichen Menuetten hatte erzittern lassen, musterte das Fame-T-Shirt die Vitrinen.
Die Kämme aus Elfenbein und Schildpatt, die einst die zerstrubbelten Locken des jungen Genies geglättet hatten, schienen das T-Shirt nicht im geringsten zu interessieren, ebensowenig wie die Briefe und Wäschezettel oder die Geigen und Bratschen im Kinderformat. Seine gesamte Aufmerksamkeit wurde von den Bühnenmodellen in Anspruch genommen, die in Glastruhen in die Wände des ganzen Raums eingelassen waren.
Eine Truhe schien es ganz besonders zu faszinieren. Es schaute sie mit argwöhnischem Ausdruck an, fast als ob es erwartete, die kleinen Pappmaché-Figuren darin würden durch die Scheibe springen und ihm eins auf die Nase verpassen. Es schien die Gruppe ausgebleichter Jeans und säurefarbener Shorts vergessen zu haben, die sich neben es drängelte und in einer Sprache lachte und Witze riß, die es nicht verstand.
Das Modell, in das es so sehr vertieft war, war das eines Festsaals, in dem ein mit Speisen überhäufter Eßtisch stand. Zwei kleine Männer waren neben den Tisch gestellt worden, der eine vor Furcht zusammengekrümmt, der andere die Hand in die Hüfte gestemmt, mit einer Gebärde weltmännischer Verachtung. Beide Figuren schauten auf das Modell einer weißen Statue im Bühnenhintergrund, die mit dem anklagenden Finger eines italienischen Verkehrspolizisten oder eines Mobilmachungsposters in Kriegszeiten auf sie herabzeigte.
Die Tweedjacke und der blaue Knöpfkragen hatten gerade den Raum betreten. »Sie fangen an dem Ende an, Adrian, und wir treffen uns in der Mitte.«
Die Jacke beobachtete, wie die Oxforder Baumwolle zum anderen Ende des Zimmers schritt, und näherte sich dann der Vitrine, deren Glas immer noch von der intensiven Musterung durch das Fame-T-Shirt beschlagen war.
»Don Giovanni«, sagte der Tweed, der hinter es trat, »a cenar teco m’invitasti, e son venuto. Don Giovanni, ich bin gekommen, deine Ladung hab ich vernommen.«
Das T-Shirt starrte immer noch auf das Glas. »Non si pasce di cibo mortale, Chi si pasce di cibo celeste«, flüsterte es. »Wohl des irdischen Mahles entbehret, Wer von himmlischer Speise sich nähret.«
»Ich glaube, Sie haben etwas für mich«, sagte der Tweed.
»Goldener Hirsch, unter dem Namen Emburey. Kleines Päckchen.«
»Emburey? Middlesex und England? Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Kricket interessieren.«
»Ich habe ihn aus der Zeitung. Sah nach einem sehr englischen Namen aus.«
»Das ist er auch. Auf Wiedersehen.«
Der Tweed ging weiter und gesellte sich zum blauen Hemd, welches eine Unterhaltung mit einer Französin begonnen hatte.
»Ich erzählte dieser Dame gerade«, sagte das Hemd, »daß ich glaube, die Ausstattung für Die Zauberflöte da drüben ist von David Hockney.«
»Ganz sicher«, sagte der Tweed. »Hockney hat für mich zwei Stile. Wild und natürlich oder kalt und klinisch. Ich erinnere mich, einmal bemerkt zu haben, es gebe zwei Arten Hockney. Feldhockney und Eishockney.«
»Wie bitte?«
»Das ist ein Witz«, erklärte das blaue Hemd.
»Ach so.«
Der Tweed untersuchte ein Ausstellungsstück.
»Diese Figur hier müßte eigentlich die Königin der Nacht sein.«
»Sie ist ein Charakter gänzlich von höchst Außergewöhnlichem, glaube ich«, sagte die Französin. »Ihre Musik – mein Gott, wie einfach göttlich sie ist. Ich bin selbst Sängerin, und die Königin zu spielen ist der Lieblingstraum meines Herzens.«
»Es ist auf jeden Fall eine höllisch schwere Rolle«, sagte die Oxforder Baumwolle. »Verflixt schwierig, finde ich. Was ist das für eine unglaublich hohe Note, die sie erreichen muß? Ein hohes C, nicht wahr?«
Die Antwort der Französin überraschte nicht nur das blaue Knöpfkragenhemd und seine Begleiter, sondern den ganzen Raum. Denn sie starrte das blaue Hemd an, die Augen aufgerissen vor Angst, öffnete weit ihren Mund und stieß eine schrille Soprannote von solcher Reinheit und Leidenschaft aus, wie sie sie in ihrer gesamten nachfolgenden – und bemerkenswerten – Opernkarriere niemals wiederholen sollte.
»Großer Gott«, sagte der Tweed, »ist es wirklich so hoch? Soweit ich mich erinnern kann …«
»Donald!« sagte das Knöpfkragenhemd. »Schauen Sie!«
Die Tweedjacke drehte sich um und sah die Ursache des Schreis und die Ursache weiterer, technisch weniger ausgereifter Schreie, die überall zu erschallen begannen.
Mitten im Zimmer stand ein Mann in einem Fame-T-Shirt, der wie eine Marionette zuckte und sprang.
Nicht das Unschickliche eines solches Tanzes an einem solchen Ort bestürzte alle, es waren Anblick und Ton des Blutes, das aus seiner Kehle quoll und schäumte. Während er herumhüpfte und stampfte, schien der Mann zu versuchen, den Fluß aufzuhalten, indem er sich mit beiden Händen den Hals zudrückte, aber die Vehemenz, mit der das Blut herauspumpte, vereitelte dies.
In Augenblicken wie diesem steht die Zeit still.
Alle, die später Freunden, Psychiatern, Priestern oder der Presse die Szene erzählten, sie alle erwähnten das Geräusch. Einigen erschien es als rasselndes Gurgeln, anderen als blubberndes Krächzen: Der alte Mann in der Tweedjacke und sein junger Begleiter waren sich darin einig, daß sie nie wieder eine Espressomaschine hören könnten, ohne erneut an jenes grauenvolle Todeskeuchen denken zu müssen.
Alle erinnerten sich an die erschreckende Menge Blut, die Kraft, mit der es dem Mann durch die Finger schoß. Alle erinnerten sich an den Chor der Baßstimmen, die sich in Panik erhoben, als hilfsbereite Hände der roten Fontäne trotzten und vorsprangen, um es der zuckenden Figur auf dem Boden bequem zu machen. Alle entsannen sich, wie nichts die wilde Flut der Fontäne zu stillen vermochte, die aus dem Hals des Mannes drang und die Worte ›I’m Going to Live For Ever‹ auf seinem T-Shirt mit einem dunklen Fleck auslöschte. Alle erwähnten sie, wie lange es zu dauern schien, bis er starb.
Aber nur einer von ihnen erinnerte sich, einen unglaublich fetten Mann mit kleinem Kopf und glattem Haar aus dem Raum schlüpfen zu sehen, wobei er ein Messer aus seiner Hand springen ließ wie einen lebenden Fisch.
Nur ein Mann sah das, und er behielt es für sich. Er griff nach der Hand seines Begleiters und führte ihn aus dem Zimmer.
»Kommen Sie, Adrian. Ich glaube, wir sollten uns von dannen machen.«
Adrian prüfte die Orchidee in seinem Knopfloch, kontrollierte die Gamaschen an seinen Füßen, zupfte an den lavendelfarbenen Handschuhen, strich seine Weste glatt, steckte den elfenbeinernen Malakkaspazierstock unter den Arm, schluckte zweimal und stieß die Tür zum Umkleideraum weit auf.
»Oh, meine Lieben«, rief er. »Glückwunsch! Euch allen meine Glückwünsche! Ein Triumph, ein absoluter Triumph!«
»Ja, was, zur Hölle, trägt er denn nun wieder?« schnaubten sie aus den Dampfschwaden am Ende des Raums.
»Du bist ein Arsch und ein Idiot, Healey.«
Burkiss warf einen Waschlappen auf den glänzenden Zylinder. Adrian langte danach und nahm ihn zwischen Zeigefinger und Daumen.
»Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, Burkiss, daß dieser Waschlappen etwelche Säfte absorbiert hat, die aus deinem Inneren lecken, daß er ein einziges Tröpfchen der ekelerregenden Sekrete deiner Pubertät aufgewischt hat, daß er auch nur eine der scheußlich besudelten Ecken deines widerlichen Körpers gekitzelt und frottiert hat, so werde ich mich in Krämpfen winden. Es tut mir leid, aber das werde ich.«
Gegen seinen Willen lächelte Cartwright. Er ging weiter an der Bank entlang und wandte ihm den Rücken zu, aber er lächelte.
»Also, Mädels«, fuhr Healey fort, »ihr seid begeistert, und so soll es auch sein, aber ich werde nicht zulassen, daß ihr außer Rand und Band geratet. Ich habe nur vorbeigeschaut, um einer einfach wunderbaren Vorstellung zu applaudieren und um euch mitzuteilen, daß ihr ganz eindeutig der zauberhafteste Chor der Stadt seid und daß ich vorhabe, jedem einzelnen von euch im Laufe seines – wovon ich überzeugt bin – langen und erfolgreichen Wettkampfes ein Essen im Embassy auszugeben.«
»Ich hab gefragt, was das für ein Mantel ist?«
»Er nennt sich Astrachan, und ich bin sicher, du wirst mir zustimmen, daß er ganz einfach vom Erlesensten ist. Wie dir aufgefallen sein dürfte, schmiegt er sich meinem Luxuskörper so schmuck an, als wäre er für mich geschaffen … genau wie du, mein köstlicher Hopkinson.«
»Ach, halt’s Maul.«
»Dein ganzer Leib wird richtig rosig, wenn du geschmeichelt bist, wie ein Ferkel, es ist einfach – einfach allerliebst.«
Adrian sah, wie Cartwright sich umdrehte und seinem Spind zuwandte, einem Spind, zu dem Adrian den Schlüssel hatte. Der Junge schien sich völlig darauf zu konzentrieren, seine Socken anzuziehen. Adrian brauchte eine halbe Sekunde, um einen geistigen Schnappschuß von den tollen Zehen und himmlischen Knöcheln zu machen, die von diesen glücklichen, glücklichen Socken umhüllt wurden, einen Schnappschuß, den er entwickeln und in den er sich später mit all den anderen vertiefen würde, die er in das Privatalbum seines Gedächtnisses geklebt hatte.
Cartwright fragte sich, warum Healey ihn manchmal so anstarrte. Er spürte es, selbst wenn er es nicht sehen konnte, er konnte spüren, wie diese kalten Augen ihn ansahen, voller Mitleid und Verachtung für den jüngeren Knaben, der keine so spitze Zunge, keinen so ätzenden Witz hatte wie der allmächtige Healey. Aber es gab tumbere Toren als ihn, warum sollte Healey sich gerade ihn für eine Sonderbehandlung aussuchen?
Während er mit elegantem Hochmut einen gamaschenbesetzten Fuß auf die Bank setzte, die sich durch die Mitte der Umkleide zog, stocherte Adrian mit seinem Stock durch einen Haufen Unterhosen und Rugbyshorts.
»Besonders hingerissen war ich«, sagte er, »von dieser Nummer im ersten Akt, als ihr und die Mädels aus Marlborough in einer Reihe standet und zu diesem drolligen Lederball hochsprangt. Vollkommen, unbeschreiblich vollkommen. Gott, wie ich gelacht habe, als ihr den Chor aus Marlborough mit ihm weglaufen ließet … meine Güte, die hier gehört jemandem, der anscheinend nicht weiß, wie man sich den Po abwischt. Ist da ein Namensetikett drin? Madison, du solltest deiner Körperpflege wirklich mehr Aufmerksamkeit widmen. Zwei Blätter Toilettenpapier, mehr braucht es nicht. Eins zum Wischen und eins zum Polieren. Oh, wie ihr der Bande aus Marlborough nachsprangt, ihr gesegneten Kreaturen! Aber sie wollten euch den Ball einfach nicht geben, stimmt’s? Immerzu schmissen sie ihn auf den Boden und traten ihn über eure hübschen Querlatten.«
»Das lag am Schiedsrichter«, sagte Gooderson. »Er hatte was gegen uns.«
»Na, was auch immer, Gooderson, mein Schatz, Tatsache ist, daß es nach dieser wunderbaren Matinee-Vorstellung gar keinen Zweifel darüber gibt, daß man in der ganzen Stadt einen Toast auf euch ausbringen wird. Gewisse skrupellose Männer werden euch hier im Umkleideraum ihre Aufwartung machen. Sie werden euch mit Blumen überhäufen, mit Komplimenten, mit Phiolen Tokaiers und kostbarsten, methusalemischen Champagnern. Vor solchen Männern müßt ihr euch hüten, meine Herzchen, ihnen ist nicht zu trauen.«
»Wieso, was werden sie uns antun?«
»Sie werden die zarte Blüte deiner Unschuld nehmen, Jarvis, und sie zerquetschen.«
»Tut das weh?«
»Nicht, wenn man darauf vorbereitet ist. Wenn du heute abend in mein Zimmer kommst, will ich dich auf diese Prozedur vorbereiten mit einer milden Salbe meiner eigenen Erfindung. Trag etwas Grünes, du solltest immer Grün tragen, Jarvis.«
»Ooh, kann ich auch kommen?« fragte Rundell, der im Begriff stand, zur Dirne des Hauses zu werden.
»Und ich?« quiekte Harman.
»Ihr seid alle willkommen.«
Die Stimme von Robert Bennett-Jones blaffte von den Duschen her. »Haltet endlich die Klappe und zieht euch an, verdammt noch mal.«
»Du bist auch eingeladen, R. B.-J., hab ich das noch nicht erwähnt?«
Bennett-Jones, behaart und untersetzt, trat aus der Dusche und stampfte zu Adrian hinüber.
Cartwright ließ sein Rugbyhemd in den Wäschekorb fallen und verließ den Umkleideraum, seine Sporttasche über den Boden schleifend. Als die Türen hinter ihm zuschwangen, hörte er Bennett-Jones’ rauhen Bariton.
»Du bist widerlich, Healey, weißt du das?«
Er sollte bleiben, um mitzubekommen, wie fabelhaft Healey ihn demütigen würde, aber wozu? Man sagte, als Healey ankam, habe er die besten Noten bekommen, die ein Neu-Stipendiat je erhalten hatte. Im ersten Semester war Cartwright einmal kühn genug gewesen, ihn zu fragen, warum er so schlau war, was für Übungen er machte, um sein Gehirn fit zu halten. Healey hatte gelacht.
»Das ist Gedächtnis, Cartwright, alter Knabe. Gedächtnis, die Mutter der Musen … zumindest demzufolge, was der alte Dingens sagte.«
»Wer?«
»Du weißt schon, Wie heißt er gleich, so ein griechischer Dichtertyp. Hat die Theogonie geschrieben … wie hieß er doch gleich? Fängt mit ›H‹ an.«
»Homer?«
»Nein, mein Bester. Nicht Homer, der andere. Nee, ist weg. Egal. Gedächtnis, das ist der Schlüssel.«
Cartwright ging in die Schulbibliothek und nahm sich den ersten Band von Chambers Enzyklopädie. Er war immer noch nicht über Bismarck hinausgekommen.
Im Umkleideraum knurrte Bennett-Jones Adrian ins Gesicht.
»Ganz einfach widerlich, zum Kotzen.«
Die anderen, von denen einige durch den Raum stolziert waren, ihre Handtücher wie Boas um den Hals gelegt, sanken in sich zusammen und blieben schuldbewußt stehen.
»Du bist eine verdammte Tunte, und du machst das ganze Haus zu verdammten Tunten.«
»Eine Tunte bin ich?« sagte Healey. »Sie haben Oscar Wilde eine Tunte genannt, sie haben Michelangelo eine Tunte genannt, sie haben Tschaikowsky eine –«
»Und sie waren Tunten«, sagte Sargent, der zweite Präfekt.
»Nun ja, da ist was dran«, willigte Healey ein, »meine Beweisführung ist da nicht ganz stichhaltig, zugegeben, aber was ich meine, ist, meine Tür steht dir immer offen, R. B.-J., und dir natürlich auch, Sargent, und wenn einer von euch Probleme hat, mit seiner Sexualität ins reine zu kommen, solltet ihr nicht zögern, mich aufzusuchen und darüber zu reden.«
»Also, verdammt noch mal –«
»Gemeinsam können wir es schaffen. Ich persönlich glaube ja, es liegt an eurer Angewohnheit, euch mit Shorts zu verkleiden und über ein Feld zu tänzeln, und an dieser bizarren Manie, eure Arme um die anderen Mannschaftsmitglieder zu legen und der letzten Reihe euren Kopf zwischen die Beine zu schieben. Das ist die Wurzel dieser ungesunden Fixierung. Mir scheint, die Dame protestiert zuviel.«
»Werfen wir ihn einfach raus, verdammt noch mal«, sagte Sargent und kam näher.
»Also, ich warne euch«, sagte Adrian, »wenn einer von euch mich anrührt …«
»Ja?« schnaubte Bennett-Jones. »Was machst du dann?«
»Ich werde einer massiven Erektion standzuhalten haben, das ist es, und für die Folgen will ich nicht haftbar gemacht werden. Eine nachfolgende Art Ejakulation ist so gut wie sicher, und wenn einer von euch schwanger werden sollte, könnte ich mir das nie verzeihen.«
Das reichte, um die Lacher wieder auf seine Seite und die Präfekten zum Rückzug zu bringen.
»So, meine Angebeteten, ich werde euch jetzt verlassen müssen. Heute abend bin ich der Prinzessin Despina versprochen. Wahrscheinlich zu einer Partie Bakkarat nach dem Essen. Sie will die Kurzenauer Smaragde zurückgewinnen. Jarvis, du hast einen Steifen, das ist höchst unangenehm, spül ihn doch mal jemand mit kaltem Wasser ab. Nacht, Lou. Nacht, May. Nacht, Tata. Gute Nacht, meine Damen, gute Nacht, süße Damen, gute Nacht, gute Nacht.«
Vieles spricht für englische Internate. Wenn Jungen in die Pubertät kommen und die Wissenschaft versagt hat, sie dabei aufzuhalten, ist es viel besser, sie zusammenzupferchen und es unter Ausschluß der Öffentlichkeit hinter sich bringen zu lassen. Sechshundert Häute, die Pusteln ausschwitzen, sechshundert Skalps, die Schmalz weinen, eintausendzweihundert Achselhöhlen, die Haare sprießen lassen, eintausendzweihundert Schenkel, zwischen denen Pilze explodieren, und sechshundert Gehirne, die sich mit suizidalem Geschwätz füllen: Davor beschützt man die Welt besser.
Zum Besten der Gesellschaft war Adrian Healey daher, wie viele Healeys vor ihm, mit sieben Jahren auf die Prep School geschickt, mit zwölf auf eine Public School versetzt worden und stand jetzt, mit fünfzehn Jahren, zitternd vor pubertärer Verwirrung, an der Schwelle zum Ernst des Lebens. Wenig war daran zu bewundern. Die Verheerungen der Pubertät hatten seinen Geist mehr als seine Haut in Mitleidenschaft gezogen, was in gewisser Weise ein Segen war. Von Zeit zu Zeit platzte ein großer, gelbgekrönter Pickel aus seiner Stirn, oder ein Mitesser wand sich durch den schweißigen Schutz seines Nasenflügels, aber insgesamt war sein Teint zu glatt, als daß er die Hormonstürme und geistigen Verwüstungen verraten hätte, die in seinem Innern tobten, und seine Augen waren offen und sinnlich genug, um ihn als attraktiv gelten zu lassen. Zu schlau bei den Prüfungen, um aus der Sixth Form herausgehalten, zu respektlos und unehrerbietig, um Präfekt werden zu können, hatte er mehr gelesen und aufgenommen, als er verstehen konnte, und lebte daher von Fälschung und Verstellung.
Seine Verstopfungen, pelzigen Zungenbeläge und Schweißfüße waren ganz gewöhnliche Schuleigenschaften, die wie Slang und Sadismus von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Adrian war vielleicht etwas unorthodox, aber er war keineswegs so blind für das, was sich gehörte, daß er eine gleichmäßige Verdauung oder gesunde Füße kultiviert hätte. Seine sanfte Natur hielt ihn davon ab, die Genüsse des Drangsalierens zu entdecken, und seine Feigheit ließ ihn bei den anderen darüber hinwegsehen.
Der große Vorteil des Lebens an einer englischen Public School liegt bekanntlich in der Qualität der Ausbildung, die sie bereithält. Adrian hatte eine anständige und breite englische Erziehung im Bereich seiner Lenden erhalten. Das war nicht allein der Verdienst seiner Lehrer, obwohl einige nicht davor zurückgeschreckt waren, ihm praktische Tips und Informationen von der Art zu erteilen, die das Herz all jener erfreut hätte, die der Meinung sind, der moderne Lehrer sei nachlässig in seiner Einstellung zur Hitze junger Knabenblüte. Meist war ihm der Freiraum gelassen worden, seinen eigenen Weg zu finden und seine eigenen fleischlichen Lektionen zu lernen. Er war schnell zu der vielen einsamen Zeitgenossen nie zuteil werdenden Erkenntnis gekommen, daß jeder, einfach jeder, danach gierte und daß mit etwas Geduld jedem gezeigt werden konnte, daß er danach gierte. Adrian ergriff also, was er in die Finger kriegen konnte, und verbrachte, genitaliter gesprochen, die beste Zeit seines Lebens – wobei er sich selbstredend ausschließlich auf das eigene Geschlecht konzentrierte, denn man schrieb das Jahr 1973, und Mädchen waren noch nicht erfunden worden.
Sein Liebesleben jedoch war weniger glücklich. An besagtem Nachmittag hatte er zuvor an seinem Altar einen Ritus vollzogen und einem privaten Jammer gefrönt, den sein öffentliches Auftreten nie hätte vermuten lassen.
Das war oben im langen Schlafsaal gewesen. Der Raum war leer, und die Dielen quietschten unter seinen Schritten leiser als gewöhnlich. Der Vorhang vor Cartwrights Schlafnische war zugezogen. Das aus der Ferne herüberdringende Lärmen der Trillerpfeifen und Hurraschreie am oberen Spielfeld und der Knall einer zugeschlagenen Tür ein Stockwerk tiefer hatten ihn nervös gemacht. Es waren allzu bekannte Geräusche, von einer unechten, echohaften Art, einer alarmierenden Kulissenhaftigkeit. Die ganze Schule wußte, daß er hier war. Sie wußten, daß er gern allein durchs Haus schlich. Sie beobachteten ihn, davon war er überzeugt. Das Rugby- und Hockey-Geschrei im Hintergrund war nicht echt, sondern Teil eines Geräuschbands, das man zu seiner Täuschung abspielte. Er schritt in eine Falle. Es war immer eine Falle gewesen. Niemand hatte je an ihn geglaubt. Sie strichen ihn von der Mannschaftsliste und ließen ihn glauben, das Haus für sich zu haben. Aber sie wußten es, sie hatten es immer gewußt. Tom, Bullock, Heydon-Bayley, selbst Cartwright. Gerade Cartwright. Sie sahen zu und warteten. Alle wußten es und warteten ab, bis der Augenblick kam, den sie für seine Entblößung und Entehrung gewählt hatten.
Sollen sie doch zusehen, sollen sie es doch wissen. Hier stand Cartwrights Bett, und unter dem Kissen, da, ja, da lag der Schlafanzug. Weiche Baumwolle, wie Cartwrights weich gebürstetes Haar, und ein Duft, ein Duft, der bis zum letzten Molekül Cartwright hauchte. Auf dem Kragen schimmerte sogar ein einzelnes goldenes Haar und da, gleich da unten, ein neuer Wohlgeruch, ein Aroma, eine Essenz, die aufstieg vom Mittelpunkt der ganzen Cartwrightheit Cartwrights.
Andere Menschen existierten für Adrian nur als Statisten, als kleine Chargen im Film seines Lebens. Niemandem außer ihm waren Glanz und Elend des Seins aufgefallen, niemand sonst war wahrhaft oder wirklich lebendig. Ihm allein stockte der Atem angesichts taubetropfter Spinnweben oder Frühlingsblüten, die ins Leben piepsten. Nachmittagslicht, das im von Kuhlefzen tropfenden Speichelfaden wie ein Jojo auf und ab hüpfte, wie Tapete in einer Absteige sich schälende Birkenrinde, der Matsch nassen Laubs, das auf Bürgersteigen festgetreten wurde, all das wuchs und platzte nur in ihm. Nur er wußte, was lieben hieß.
Haaaaaaah … wenn sie ihm wirklich zusahen, war jetzt der Zeitpunkt, den Vorhang beiseite zu ziehen und zu johlen, war jetzt der Zeitpunkt, sie mit Verachtung zu überschütten.
Aber nichts. Kein Gellen, kein Höhnen, gar kein Geräusch, das die geschwollene Ruhe des Nachmittags zum Platzen gebracht hätte.
Adrian zitterte, als er aufstand und den Reißverschluß zuzog. Es war Einbildung. Natürlich war es Einbildung. Niemand sah zu, niemand urteilte, niemand zeigte oder flüsterte. Wo waren sie bloß? Rugby-Rotzlöffel mit fliehenden Stirnen und puterroten Hälsen, die über weniger Anmut und Fantasie verfügten als ein Sackschutz.
Seufzend war er zu seiner eigenen Schlafnische hinübergegangen und hatte sich Astrachanmantel und Zylinder zurechtgelegt.
Wenn du nicht mit ihnen gemein wirst, dachte er, mußt du gemein sein.
Er hatte sich in Hugo Alexander Timothy Cartwright in dem Augenblick, da er ihn sah, verliebt, als der Junge, in einer Reihe von fünf Neuankömmlingen, am ersten Abend von Adrians zweitem Jahr in den Aufenthaltsraum gestolpert war.
Heydon-Bayley stieß ihn in die Rippen.
»Was meinst du, Healey? Üppig, was?«
Adrian hatte ausnahmsweise geschwiegen. Irgendwas stimmte einfach nicht. Es hatte geschlagene zwei Semester gedauert, bis er die Symptome identifiziert hatte. Er schlug sie in allen wichtigen Lehrbüchern nach. Es bestand gar kein Zweifel. Die Autoritäten stimmten überein: Shakespeare, Tennyson, Ovid, Keats, Georgette Heyer, Milton, sie alle waren einer Meinung. Es war Liebe. Die ganz große.
Cartwright mit den Saphiraugen und dem Goldhaar, Cartwright mit den Lippen und Lidern: er war Petrarcas Laura, Miltons Lycidas, Catulls Lesbia, Tennysons Hallam, Shakespeares blonder Knabe und Dunkle Dame, des Monds Endymion. Cartwright war der Lohn der Garbo, die Nationalgalerie, er war Cellophan: er war die zarte Falle, die leere heillose Überraschung des Ganzen und der leuchtende goldene Dunst auf den Auen: er war honeyhoney, sugar-sugar, chirpy chirpy cheep-cheep und seine Kinderliebe: Die Stimme der Turteltaube erscholl, die Engel speisten im Ritz, und eine Nachtigall sang auf dem Berkeley Square.
Zwei Semester zuvor hatte Adrian es geschafft, Cartwright zu einer amüsanten halben Stunde in den Waschräumen ihres Hauses zu überreden, aber er hatte nie daran gezweifelt, daß er seine Hosen herunterbekommen würde: das war es nicht. Er wollte einfach mehr von ihm als die paar wollüstigen Zuckungen, die die begrenzten Aktivitäten von Reiben und Lecken, Treiben und Stecken anzubieten hatten.
Er wußte nicht genau, wonach er sich sehnte, aber eins war klar. Es war weniger statthaft zu lieben, sich nach ewiger Partnerschaft zu verzehren, als hinter den Sportplätzen zu springen und zu schlürfen und zu schnaufen. Liebe war Adrians heimliche Schuld, Sex sein öffentlicher Stolz.
Er schloß die Tür zum Umkleideraum und fächelte sich mit den Lavendelhandschuhen Luft zu. Das war knapp gewesen. Zu knapp. Je weiter er ging, um sich beliebt zu machen, desto mehr Feinde machte er sich auf dem Weg. Einmal am Boden, würden Bennett-Jones und die anderen nicht lange fackeln, ihn zu treten. So viel war sicher, die Tuntenpose war langsam ausgereizt, und eine neue mußte her, oder die Sache würde brenzlig.
Eine Dienergruppe aus der Unterstufe trieb sich beim schwarzen Brett herum. Sie verstummten, als er näher kam. Einem von ihnen tätschelte er den Kopf. »Süße Kinder«, seufzte er, grub in seiner Manteltasche und zog eine Handvoll Kleingeld hervor. »Heute abend sollt ihr gespeist werden.«
Ihnen die Münzen vor die Füße werfend, ging er weiter.
Wahnsinnig, sagte er sich, als er zur Tür seines Zimmers kam. Ich muß einfach wahnsinnig sein.
Tom war da, in einer Jogaposition, knabberte an seinen Zehennägeln und hörte Aqualung. Adrian sank in einen Sessel und nahm den Hut ab.
»Tom«, sagte er, »du hast ein zertretenes Veilchen vor dir, ein ausgeblasenes Ei, eine ausgequetschte Tube.«
»Ich habe einen warmen Bruder vor mir«, sagte Tom. »Was soll der Mantel?«
»Du hast recht«, sagte Adrian. »Ich bin heute stupid. Wie jeden Tag. Stupid, stupid, stupid. Perfid solid mein Glied. Morbid, morbid, morbid. Rapid Abschied: Suizid. Mein ganzes Leben endet auf id. Kapiert?«
»Was kapiert?«
»Id. Freud. Du weißt schon.«
»Oh. Stimmt. Ach ja. Id.«
»Idealistischer Idiot, idiosynkratischer Idylliker. Alles beginnt auch mit Id.«
»Alles beginnt mit ›ich‹, wolltest du sagen. Und das heißt Ego«, sagte Tom, während er einen Knöchel hinters Ohr steckte, »nicht Id.«
»Na klar, schlau zu sein bedarf es wenig. Wenn du mir vielleicht mal aus diesem Mantel helfen könntest, ich fange an zu schwitzen.«
»Tut mir leid«, sagte Tom, »ich sitze fest.«
»Meinst du das ernst?«
»Nein.«
Adrian kämpfte sich aus seinem Kostüm heraus und in seine Schuluniform hinein, während Tom in einen halflotus zurückkehrte und seinen Tagesrapport ablieferte.
»Ich war in der Stadt und hab mir heute nachmittag ein paar LPs gekauft.«
»Nicht verraten«, sagte Adrian, »laß mich raten … Parsifal und Lark Ascending?«
»Atom Heart Mother und Salty Dog.«
»Knapp.«
Tom zündete sich eine Zigarette an.
»Weißt du, was mich bei dem Laden hier ankotzt?«
»Die Gastronomie? Die qualvoll schlichten Uniformen?«
»Auf der High Street bin ich Rosengard über den Weg gelaufen, und er wollte wissen, warum ich nicht das Spiel sehen würde. Was soll das?«
»Du hättest ihn fragen sollen, warum er nicht da war.«
»Ich sagte, ich sei gerade dorthin unterwegs.«
»Rebell.«
»Ich halte mich eben gern bedeckt.«
»Also, ›ich bin gerade dorthin unterwegs‹ bürgt nicht gerade für Originalität, oder? Du hättest sagen können, das Spiel wäre zu aufregend gewesen, und deine Nerven hielten die Spannung einfach nicht aus.«
»Hab ich aber nicht. Ich bin zurückgekommen, habe mir einen runtergeholt und das Buch ausgelesen.«
»The Naked Lunch?«
»Ja.«
»Was hältst du davon?«
»Schrott.«
»Das sagst du bloß, weil du’s nicht verstanden hast«, sagte Adrian.
»Ich sage das bloß, weil ich’s verstanden habe«, sagte Tom.
»Ist ja auch egal, wir fangen besser an, Toast zu machen. Ich habe Bullock und Sampson eingeladen.«
»Du hast was?«
»Wir schulden ihnen einen Tee auf dem Zimmer.«
»Du weißt, daß ich Intellektuelle hasse.«
»Du meinst, du haßt Leute, die schlauer sind als du.«
»Ja. Ich nehme an, deswegen mag ich dich auch so sehr.« Tom starrte ihn gequält und verdruckst an.
»Ich setze Wasser auf«, sagte er.
Cartwright sah von Chambers Enzyklopädie hoch und murmelte: »Otto von Bismarck, geboren … geboren 1815, dem Jahr von Waterloo und dem Wiener Kongreß. Begründer des modernen Deutschland …«
Ihm gegenüber standen Hunderte Bücher, von denen er, soweit er noch wußte, nur Wer die Nachtigall stört zusammen mit allen anderen in der Fifth Form seiner Prep School gelesen hatte. So ein Haufen Bücher, und das war bloß die Hausbibliothek. Die Schulbücherei hatte Tausende und Abertausende, und Universitätsbibliotheken … Die Zeit war so kurz, und sein Gedächtnis war so schwach. Was hatte Healey noch mal gesagt? Das Gedächtnis ist die Mutter der Musen.
Cartwright wuchtete Malthus bis Nantucket vom Regal herunter und schlug Musen nach. Von denen gab es neun, und sie waren die Töchter von Zeus und Mnemosyne. Wenn Healey recht hatte, mußte Mnemosyne Gedächtnis heißen.
Natürlich! Das Wort »Mnemonik«, das hatte doch was mit Gedächtnisstütze zu tun. Mnemonik mußte sich von Mnemosyne ableiten. Oder andersrum. Cartwright machte sich eine Notiz in seine Kladde.
Der Enzyklopädie zufolge stammte das meiste von dem, was man über die Musen wußte, aus den Schriften Hesiods, insbesondere dieser Theogonie. Das mußte der Dichter sein, den Healey gemeint hatte, Hesiod. Aber woher wußte Healey das alles? Er schien nie zu lesen, zumindest nicht mehr als jeder andere. Cartwright würde niemals mit ihm gleichziehen. Es war einfach verdammt unfair.
Er schrieb die Namen der Musen ab und kehrte seufzend zu Bismarck zurück. Eines Tages würde er ganz bis ans Ende gelangen, bis »Zythus«. Nicht daß er das nötig hatte. Er hatte vorgeblättert und gesehen, daß das eine Art antikes ägyptisches Bier war, das von Diodorus Siculus sehr empfohlen wurde – wer immer das war.
Alle waren erstaunt gewesen, als Adrian eines Tages verkündet hatte, er würde sich mit Tom ein Zimmer teilen.
»Thompson?« hatte Heydon-Bayley gekreischt. »Aber das ist doch der letzte Plattkopf, oder?«
»Ich mag ihn«, sagte Adrian, »er ist ungewöhnlich.«
»Ungehobelt, wolltest du sagen. Hölzern.«
Sicherlich war nichts offensichtlich Appetitliches an Toms Auftreten oder Erscheinung, und er blieb einer der wenigen Jungen seines Jahrgangs, mit dem Adrian niemals das Tier mit den zwei Rücken gemacht hatte, genauer gesagt, mit der er nie das Tier mit dem einen Rücken und einer interessant geformten Mitte gemacht hatte, aber im Laufe des letzten Jahres hatten mehr Leute eingesehen, daß Tom etwas Fesselndes hatte. Er war nicht sehr klug, aber er arbeitete hart und hatte sich dazu gebracht, viel zu lesen, um, wie Adrian annahm, etwas von Adrians Elan und Esprit zu erwerben. Tom ging mit seinen Ideen immer seinen eigenen Weg. Er brachte es fertig, das längste Haar im Haus zu tragen und den öffentlichsten Nikotinkonsum der ganzen Schule zu zeigen, ohne je irgendwelche Aufmerksamkeiten auf sich zu ziehen. Es war, als ob er sich die Haare wachsen ließ und Zigaretten rauchte, weil er es mochte, und nicht, weil er so gesehen werden wollte. Das war gefährlich subversiv.
Freda, die deutsche Stellvertretung der Wirtschafterin, hatte einmal entdeckt, wie er sich nackt im Unterholz sonnte.
»Thompson«, hatte sie voller Empörung gerufen, »Sie können doch nicht nackt herumliegen!«
»’tschuldigung, Wirtschafterin, Sie haben recht«, hatte Tom gemurmelt, eine Hand ausgestreckt und eine verspiegelte Sonnenbrille aufgesetzt. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken war.«
Adrian hatte das Gefühl, er wäre es gewesen, der Tom zu Achtung und Popularität verholfen hatte, daß Tom seine eigene, ganz besondere Schöpfung war. Der schweigsame, verpickelte Dumpfnickel des ersten Jahres hatte sich in jemanden verwandelt, den man bewunderte und nachahmte, und Adrian war nicht sicher, wie sehr ihm das gefiel.
Tom gefiel ihm auf jeden Fall. Er war der einzige, mit dem er je über seine Liebe zu Cartwright sprach, und Tom war diskret genug, zu wenig Interesse oder Mitgefühl zu zeigen, als daß er die reine, heilige Flamme von Adrians Leidenschaft durch Anteilnahme oder Ratschläge hätte auslöschen können. Sampson und Bullock konnten ihm dagegen gestohlen bleiben. Vor allem Sampson, der zuviel vom Musterschüler einer Grammar School hatte, um’s je richtig zu bringen. Nicht die ideale Gesellschaft zum Tee.
Tee war eine ganz besondere Einrichtung, die sich um Zeremoniell und Anbetung des Toasts drehte. An einem Ort, wo Alkohol, Tabak und Drogen verboten waren, war es lebenswichtig, daß etwas deren Platz als mächtiges und öffentliches Totem von Virilität und Kaltblütigkeit einnahm. Aus längst vergessenen Gründen war Toast die dazu erwählte Substanz. Sein Name wurde bei allen möglichen Gelegenheiten fallengelassen, meist mit grauslichem Public-School-Akzent wie »taste« ausgesprochen.
»Ich nahm gerade etwas Toast zu mir, als Burton und Hopwood vorbeischneiten …«
»Harman ist eigentlich nicht schlecht als Diener. Er bereitet einfach reizenden Toast …«
»Ja, vielleicht solltest du mal bei mir im Zimmer vorbeischauen, wir machen uns etwas Toast …«
»Gott, ich kann mich kaum bewegen. Ich hab’s mit dem Toast wirklich völlig übertrieben …«
Adrian hatte sich darauf gefreut, mit Tom allein toasten und über Cartwright sprechen zu können.
»Oh, Jesus«, sagte er und machte auf seinem Schreibtisch Platz für den Teekessel. »Oh, jesusmäßiger Jesus.«
»Probleme?«
»Keinen Frieden will ich kennen, wird mich nicht sein Kuß entbrennen«, klagte Adrian.
»Echt wahr?«
»Es ist wahr, und ich werd dir sagen, was sonst noch wahr ist. Es ist wahr, daß er heute seinen blauen Shetlandrollkragen trägt. Selbst in diesem Augenblick bewegt sein Körper sich darin. Warm und schnell. Das ist mehr, als Fleisch und Blut ertragen können.«
»Dann dusch doch kalt«, sagte Tom.
Adrian krachte den Kessel auf den Tisch und packte Tom an der Schulter.
»Kalt duschen?« schrie er. »Susi Christus, Mann, ich rede von der Liebe! Weißt du, was sie mir antut? Sie schrumpft mir den Magen, oder, Tom? Sie kitzelt meine Eingeweide, genau. Aber was tut sie meinem Geist an? Sie wirft die Sandsäcke über Bord, damit der Ballon aufsteigen kann. Plötzlich finde ich mich oberhalb des Gewöhnlichen. Ich bin begabt, überaus begabt. Ich tanze auf einem Seil über den Niagarafall. Ich gehöre zu den Größten. Ich bin Michelangelo, der den Bart des Moses modelliert. Ich bin van Gogh, der reines Sonnenlicht malt. Ich bin Horowitz, der das fünfte Klavierkonzert spielt. Ich bin John Barrymore, bevor die Filme ihm an die Kehle gingen. Ich bin Jesse James und seine beiden Brüder – alle drei in einem. Ich bin W. Shakespeare. Und da draußen ist keine Schule mehr – das ist der Nil, Tom, der Nil – und die Barke der Kleopatra gleitet hinab.«
»Nicht schlecht«, sagte Tom, »gar nicht schlecht. Von dir?«
»Ray Milland im Verlorenen Wochenende. Aber er hätte über Cartwright sprechen können.«
»Er sprach über Alkohol«, sagte Tom, »was ziemlich vielsagend ist.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, halt die Klappe und fang an zu schmieren.«
»Ich lege den Liebestod auf, das mache ich, du schrecklich verbiesterter Mensch«, sagte Adrian, »und stille mit der Eintracht süßer Töne mein klopfend Herz. Doch schnell, Mann! – Ich höre draußen eine Droschke vorfahren! Und hier, Watson, falls ich mich nicht sehr irren sollte, steht unser Klient schon auf der Schwelle. Herein!«
Sampson erschien in der Tür, blinzelte durch seine Brille, hinter ihm Bullock, der Tom ein Glas zuwarf.
»Hi. Ich habe etwas Zitronengelee mitgebracht.«
»Zitronengelee!« sagte Adrian. »Und was habe ich diese Minute erst gesagt, Tom? ›Wenn wir bloß etwas Zitronengelee für unsere Gäste hätten.‹ Du kannst Gedanken lesen, Bullochse.«
»Toast steht da drüben«, sagte Tom.
»Danke, Thompson«, sagte Sampson und bediente sich. »Gooderson hat erzählt, du wärst kurz davor gewesen, R. B.-J. und Sargent in den Umkleideräumen aufzumischen, Healey.«
»Die Dame Fama überflügelt mich wieder einmal.«
Kurz davor? O Gott …
Bullock klopfte Tom auf den Rücken.
»Hey, Tommo!« sagte er. »Wie ich sehe, hast du dir endlich Atom Heart Mother besorgt. Was meinst du? Treffer oder versenkt?«
Während Tom und Bullock sich über Pink Floyd unterhielten, erzählte Sampson Adrian, warum er der Meinung war, Mahler sei eigentlich viel wilder, im Sinn von viel kontrollierter, als jede Rockband.
»Das ist ein interessanter Gedanke«, sagte Adrian, »im Sinne von überhaupt nicht interessant.«
Als Tee und Toast alle waren, stand Bullock auf und räusperte sich.
»Ich glaube, ich sollte jetzt meinen Plan bekanntgeben, Sam.«
»Definitiv«, sagte Sampson.
»Wohlan!« sagte Adrian und stand auf, um die Tür zu schließen. »Verrat, Kriegskunst und Plünderei.«
»Es ist folgendermaßen«, sagte Bullock. »Mein Bruder ist, ich weiß nicht genau, ob das bekannt ist, in Radley, aufgrund dessen, daß meine Eltern glauben, es wäre eine schlechte Idee, wenn wir beide dieselbe Schule besuchen.«
»Aufgrund dessen, daß ihr beide Zwillinge seid?« fragte Adrian.
»Genau, aufgrund dessen, daß meine Mutter ihr Konto in puncto Fruchtbarkeitspillen überzogen hat. Ist ja egal, er hat letzte Woche geschrieben und mir von einem unglaublichen Stunk erzählt, den es dort gegeben hat, aufgrund dessen, daß jemand hingegangen ist und eine inoffizielle Schülerzeitung namens ›Raddled‹ produziert hat, voll mit obszönem, verleumderischem ›Oz‹-mäßigem Schund. Und ich dachte, also was Sammy und ich dachten, war – warum nicht?«
»Warum nicht was?« fragte Tom.
»Warum nicht hier dasselbe machen?«
»Du meinst ein Untergrundblatt?«
»Genau.«
Tom öffnete und schloß den Mund. Sampson grinste.
»Verdammt und zugenäht«, sagte Adrian. »Das ist echt keine halbe Sache.«
»Sag ruhig, das ist der Hit.«
»Diese Typen«, sagte Tom, »die, die in Radley diese Zeitung rausgebracht haben. Was ist mit denen passiert?«
Sampson polierte seine Brille mit dem Ende der Krawatte.
»Äh, also das ist der Grund, warum wir mit größter Umsicht vorgehen müssen. Sie wurden beide, ahm, sie wurden rausgeworfen. ›Relegiert‹ ist, glaube ich, der Terminus technicus.«
»Das heißt, es muß geheim bleiben«, sagte Bullock. »Wir schreiben es in den Ferien. Ihr schickt mir das Material, auf Matrizen getippt. Ich ziehe es auf der Gestetner im Büro meines Vaters ab, bringe es Anfang nächstes Semester wieder mit, und wir verteilen es heimlich in allen Häusern.«
»Reichlich Resistance-mäßig, ne?« meinte Tom.
»Nein, nein!« sagte Adrian. »Hört nicht auf Thompson, das ist ein altes Zynikergewächs. Ich bin dabei, Bullochse. Ich bin definitiv dabei. Was für Material willst du denn?«
»Na, du weißt schon«, sagte Bullock, »aufrührerisch, anti-PublicSchool. Die Sorte. Etwas, was sie ein wenig aufrütteln wird.«
»Ich hab eine Art fabliau vor, der den Laden hier mit einem faschistischen Staat vergleicht«, sagte Sampson, »so Farm der Tiere trifft Arturo Ui …«
»Hör auf, Sammy, ich mach mich schon naß, wenn ich bloß dran denke«, sagte Adrian.
Er schaute zu Tom hinüber.
»Was hältst du davon?«
»Na, warum nicht? Könnte witzig werden.«
»Und denkt dran«, sagte Bullock, »zu niemandem ein Wort.«
»Unsere Lippen sind versiegelt«, sagte Adrian. Lippen. Versiegelt. Gefährliche Worte. Keine fünf Minuten vergingen, ohne daß er an Cartwright dachte.
Bullock holte eine Tabakdose aus der Tasche und sah sich im Zimmer um.
»Also«, sagte er, »wenn jemand mal bitte die Gardinen zuzieht und ein Räucherstäbchen anzündet, ich habe hier zu eurem Entzücken etwas vierundzwanzigkarätiges, schwarzes, nepalesisches Cannabisharz, das unverzüglich geraucht werden sollte, aufgrund dessen, daß es verdammt guter Shit ist.«
Adrian hetzte den Korridor entlang in Richtung Biffens Klassenzimmer. Dr. Meddlar, einer der Schulgeistlichen, hielt ihn an.
»Zu spät, Healey.«
»Tatsächlich, Sir? Ich auch.«
Meddlar packte ihn an der Schulter. »Sie reiten einen halbsbrecherischen Galopp, Healey, wissen Sie das? Vor Ihnen befinden sich Hecken und Gräben, und Sie sind kurz davor, in hohem Bogen hinzuschlagen.«
»Sir.«
»Und ich werde johlen und lachen, während Sie stürzen«, sagte Meddlar mit funkelnden Brillengläsern.
»Das ist eben Ihre christliche Nächstenliebe, Sir.«
»Passen Sie auf!« spuckte Meddlar. »Sie halten sich für oberschlau, nicht wahr? Lassen Sie sich gesagt sein: Diese Schule hat keinen Platz für Kreaturen wie Sie.«
»Warum sagen Sie mir das, Sir?«
»Wenn Sie es nicht lernen, mit anderen zusammen zu leben, wenn Sie sich nicht anpassen, wird Ihr Leben eine einzige lange elende Hölle werden.«
»Wird Ihnen das Befriedigung verschaffen, Sir? Wird Ihnen das gefallen?«
Meddlar starrte ihn an und stieß einen kleinen Lacher aus. »Was gibt Ihnen das Recht, so zu mir zu reden, Bursche? Was in aller Welt, glauben Sie, gibt Ihnen das Recht?«
Adrian war wütend, als er merkte, daß ihm Tränen in die Augen sprangen. »Gott gibt mir das Recht, Sir, weil Gott mich liebt. Und Gott wird nicht zulassen, daß ein f-f-faschistisches, heuchlerisches Schwein wie Sie mich fertigmacht.« Er wand sich aus Meddlars Griff und rannte den Korridor hinab. »Schwein«, versuchte er noch zu rufen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Verfluchtes, beschissenes Schwein.«
Meddlar lachte ihm nach. »Sie sind ein Teufel, Healey, ein richtiger Satansbraten.«
Adrian rannte weiter und hinaus auf den Schulhof. Alle waren im Vormittagsunterricht. Der Säulengang war leer, der alte Schulraum, die Bücherei, das Haus des Direktors, der Gründerrasen, alles lag verlassen. Das war wieder Adrians Heimat, eine leere Welt. Er stellte sich vor, die ganze Schule stünde hinter den Klassenzimmerfenstern, die Nasen an die Scheiben gequetscht, und starrte ihn da draußen an, wie er über den westlichen Schulhof rannte. Präfekten mit Funkgeräten schritten den Korridor hinab.
»Hier ist Blau sieben. Objekt bewegt sich die Cavendish-Bibliothek entlang Richtung Musikschule. Over.«
»Blau sieben, hier Meddlar. Verhör nach Plan verlaufen, Objekt jetzt labil und in Tränen aufgelöst. Rot drei übernimmt Observation in der Musikschule. Over and out.«
Entweder sind sie lebendig, und ich bin nur Einbildung, dachte Adrian, oder ich lebe, und sie sind Einbildung.
Er hatte all die Bücher gelesen, er wußte, er war genau wie jeder andere. Aber wem sonst ringelten sich wie ihm Schlangen durch den Magen? Wer rannte neben ihm mit derselben Verzweiflung? Wer sonst würde sich an diesen Augenblick bis ans Ende seiner Tage erinnern und an jeden Augenblick wie diesen? Niemand. Alle saßen sie an ihren Tischen und dachten an Rugby und Mittagessen. Er war anders, und er war allein.
Das Erdgeschoß der Musikschule bestand aus kleinen Übungsräumen. Als Adrian durch den Eingang stolperte, konnte er stattfindenden Unterricht hören. Ein Cello schubste einen protestierenden Saint-Saëns-Schwan übers Wasser. Eine Trompete weiter hinten furzte »Dein ist die Herrlichkeit«. Und dort, im drittletzten Raum, sah Adrian durch die Glasscheibe, war Cartwright und kämpfte sich ganz passabel durch ein Beethovenmenuett.
Das Schicksal stellte es immer so an. Sechshundert Jungen gingen hier zur Schule, und obwohl sich Adrian große Mühe gab, Cartwright abzufangen und scheinbar zufällige Treffen zu arrangieren – seinen Stundenplan hatte er auswendig gelernt –, konnte er sicher sein, durch echten Zufall öfter über ihn zu stolpern als sonst.
Cartwright schien allein im Übungszimmer zu sein. Adrian stieß die Tür auf und ging hinein.
»Hi«, sagte er, »spiel weiter, das ist gut.«
»Ach, es ist einfach schrecklich«, sagte Cartwright, »ich schaff ’s nicht, die linke Hand gleichmäßig spielen zu lassen.«
»Das hab ich aber anders gehört«, sagte Adrian und hätte sich im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen.
Da war er nun, allein in einem Zimmer mit Cartwright, von dessen Haar sogar jetzt das Sonnenlicht floß, das durchs Fenster hereinschien, Cartwright, den er mit jeder Faser seines Lebens liebte, und alles, was er zu sagen wußte, war: »Das hab ich aber anders gehört.« Mein Gott, was war denn bloß los mit ihm? Er hätte genausogut die Stimme von Eric Morecambe benutzen können, »darauf gibt es keine Antwort« schreien und Cartwright eine Ohrfeige geben können.
»Ähm, offizielle Stunde?« fragte er.
»Na ja, ich hab in einer halben Stunde meine C-Kurs-Prüfung, also üb ich noch. Zumindest komm ich damit um eine Doppelstunde Mathe rum.«
»Schwein gehabt.«
Schwein gehabt? Ach, reinster Oscar Wilde.
»Na, dann laß ich dich wohl besser weitermachen, was?«
Klasse, Adrian, brillant. Meisterhaft. »Dann laß ich dich wohl besser weitermachen, was?« Tausch eine Silbe aus, und das ganze fragile Epigramm bricht zusammen. »Gut«, sagte Cartwright und wandte sich wieder seinen Noten zu.
»Tschüs dann. Viel Glück!«
»Tschüs.«
Adrian schloß die Tür.
O Gott, o göttlicher Gott.
Er schleppte sich zu den Klassenräumen zurück. Gott sei Dank war es nur Biffen.
»Sie kommen außergewöhnlich spät, Healey.«
»Na ja, Sir«, sagte Adrian und setzte sich an seinen Tisch, »für meinen Begriff lieber außergewöhnlich spät als außergewöhnlich nie.«
»Vielleicht geruhen Sie mir mitzuteilen, was Sie aufgehalten hat?«
»Eigentlich nicht, Sir.«
Etwas wie ein Stöhnen lief durchs Klassenzimmer. Das ging ein bißchen zu weit, selbst für Healey.
»Wie bitte?«
»Nun, nicht vor der ganzen Klasse, Sir. Es ist ziemlich persönlich.«
»Oh, verstehe. Ich verstehe«, sagte Biffen. »Nun, dann erzählen Sie es mir besser nachher.«
»Jawohl, Sir.«
Es geht doch nichts darüber, die Drüsen der Wißbegier eines Lehrers zum Schwellen zu bringen.
Adrian sah aus dem Fenster.
Steckt ich doch in Cartwright, jetzt da Lenz sich naht.
Jeden Moment durfte jetzt ein beglückter Prüfer eine reizende kleine Runzel Cartwrights Stirn durchfurchen sehen, während der sich durch sein Menuett hangelte. Durfte sehen, wie der Wollärmel seiner Winterjacke sich an den Armen hochschob.
Und wenn in Woll mein Cartwright naht, dann, dann däucht mich, wie lieblich fließt die Schmelze seiner Pelze.
Plötzlich merkte er, wie Biffens Stimme an die Tür seiner Träume klopfte.
»Können Sie uns ein Beispiel nennen, Healey?«
»Ähm, ein Beispiel, Sir?«
»Ja, für einen Superlativ mit nachfolgendem Konjunktiv.«
»Einen Superlativ sagen Sie, Sir?«
»Ja.«
»Einen Superlativ mit nachfolgendem Konjunktiv?«
»Ja, ja.«
»Ähm … wie wär’s mit ›le garçon le plus beau que je connaisse‹?«
»Äh … der netteste Junge, den ich kenne? Ja, das ist korrekt.«
»Den nettesten, Sir? Ich meinte den schönsten.«
Mist, er wollte die Schwulenpose doch ausklingen lassen. Na ja, wenigstens hatte er einen Lacher bekommen.
»Danke, Healey, das genügt. Der Rest gibt bitte Ruhe, er muß wirklich nicht noch ermutigt werden.«
O doch, das muß ich, dachte Adrian, ich brauche alle Ermutigung, die ich kriegen kann.
Die Stunden gingen weiter, Biffen überließ ihn seinen Tagträumen.
Am Ende der vierzig Minuten reagierte er auf die Pausenglocke, so schnell er konnte, schoß wie der geölte Blitz aus dem hinteren Klassenraum zur Tür und versuchte, sich in der Menge zu verlieren, aber Biffen rief ihn zurück.
»Haben Sie nicht etwas vergessen, Healey?«
»Sir?«
»Sie schulden mir noch eine Erklärung für Ihre Unpünktlichkeit, glaube ich.«
Adrian ging auf das Katheder zu.
»Ach ja, Sir. Es ist folgendermaßen, Sir, ich hätte mich sowieso verspätet – nur ein bißchen, aber ich habe Dr. Meddlar getroffen.«
»Der hat Sie zwanzig Minuten lang aufgehalten?«
»Ja, Sir – oder eigentlich nein, Sir. Er war sehr gemein zu mir. Ich war mitgenommen, Sir.«
»Gemein zu Ihnen? Der Kaplan war gemein zu Ihnen?«
»Ich bin sicher, daß er es nicht so ausdrücken würde, Sir.« Adrian setzte seinen reinen, aber bekümmerten Gesichtsausdruck auf. Der war besonders wirksam, wenn er zu jemandem aufschaute wie jetzt. Etwas angelehnt an Dominic Guards Leo in dem Film Der Mittler. Eine Art irritierte Ehrlichkeit.
»Er … er brachte mich zum Weinen, Sir, und es war mir zu peinlich, flennend hier reinzukommen, also bin ich weggegangen und hab mich im Musikzimmer versteckt, bis es mir besser ging.«
Das alles war ziemlich niederträchtig dem armen alten Biffen gegenüber, dessen schneeweißes Haar und immerwährenden Ausdruck gütigen Erstaunens Adrian geradezu verehrte. Und »flennen« … Flennen verschwand zusammen mit »geziemend« und »kolossal«. Aber eigentlich gar nicht so schlecht, damit neu anzufangen. Die Pennälersprache der Zwanziger könnte eine Renaissance vertragen.
»Oje. Aber ich bin sicher, der Geistliche hatte gute Gründe, so … ich meine, Dr. Meddlar würde doch nicht grundlos so schroff zu Ihnen sein.«
»Also ich gebe zu, daß ich frech zu ihm war, Sir. Aber Sie kennen ihn ja.«
»Er ist, davon bin ich überzeugt, ein gewissenhafter und gerechter Mensch.«
»Ja, Sir. Ich – ich möchte keinesfalls, daß Sie glauben, ich würde Sie belügen, Sir. Ich bin sicher, Dr. Meddlar wird Ihnen die Geschichte aus seiner Sicht erzählen, wenn Sie ihn darum bitten.«
»Das werde ich nicht tun. Ich weiß, wann ein Junge mir die Wahrheit sagt und wann nicht.«
»Danke, Sir.«
Den Teufel wußte er. Wußten die doch nie.
»Ich möchte Ihnen weder die Leviten lesen, Healey, noch Sie von Ihrer morgendlichen Pause abhalten, aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß zahlreiche Mitglieder des Lehrkörpers allmählich die Geduld verlieren. Haben Sie vielleicht das Gefühl, daß sie Sie nicht verstehen?«
»Ich glaube, das Problem ist, daß sie mich verstehen, Sir.«
»Ja. Sehen Sie, das ist genau so eine Bemerkung, die so manchen Lehrer garantiert aufbringt, nicht wahr? Für Neunmalklugheit wird man nicht gerade bewundert. Nicht nur auf der Schule. Niemandem gefällt das, egal, wo. Jedenfalls nicht in England.«
»Jawohl, Sir.«
»Sie sind der schlaueste Bursche in meiner Französischklasse. Das wissen Sie ganz genau. Aber Sie haben noch nie gearbeitet. Das macht Sie zum dümmsten Schüler der Schule.«
Als nächstes kommt das Gleichnis von den Talenten, wetten?
»Auf welche Universität wollen Sie?«
»Also, na ja, Sir … wissen Sie. Nach den Advanced Levels hab ich von Bildung, glaub ich, wirklich die Nase voll. Und sie wahrscheinlich von mir.«
»Verstehe. Sagen Sie, haben Sie freitags nachmittags etwas vor, Healey? Ich nehme nicht an, daß Sie in der Cadet Force sind.«
»Die haben mich rausgeschmissen, Sir. Es war ungeheuerlich.«
»Ja, kann ich mir vorstellen. Also Sozialdienst, ja?«
»Ja, Sir. Ich besuche eine kleine alte Dame.«
»Gut«, sagte Biffen und verstaute Übungshefte in seiner Aktentasche, »in der Morley Road gibt es eine kleine alte Dame und einen kleinen alten Herren, die Sie eines Tages vielleicht auch besuchen könnten. Meine Gattin und ich laden freitags immer zum Tee, Sie wären sehr willkommen.«
»Vielen Dank, Sir.«
»Sie brauchen uns nicht im voraus Bescheid zu sagen. Wir freuen uns immer über Ihren Besuch. Und jetzt laufen Sie.«
»Danke, Mr. Biffen, ganz herzlichen Dank.«
Adrian reichte ihm unwillkürlich die Hand, die Biffen ausnehmend fest ergriff, wobei er ihm direkt in die Augen sah.
»Ich bin kein Mr. Chips, wissen Sie. Ich weiß genau, daß ich Ihnen leid tue. Bei meinen Kollegen ist das schon schlimm genug, aber von Ihnen lasse ich mich nicht bemitleiden. Auf keinen Fall.«
»Nein, Sir«, sagte Adrian, »ich habe Sie nicht …«
»Gut.«
Tom, Adrian und Schweinchen Trotter, der sich gelegentlich an sie dranhängte, gingen in die Stadt. Ab und zu liefen Jungen in Trainingsanzügen an ihnen vorbei, mit all der tödlichen Entschlossenheit und humorlosen Konzentration der Sportbegeisterten. Jungen aus der Unterstufe zwitscherten vorbei, ratterten mit Stöcken an den Lattenzäunen entlang und flüsterten. Adrian hielt den Augenblick für gekommen, seinen neuen Jargon auszuprobieren.
»Ich kann euch sagen, Burschen, das war vielleicht ein Brüller! Der alte Biffo war echt ein jovialer Profax heute morgen. Erst macht er Seichereien wegen Schwänzen, und dann lädt er mich zum Ringelpietz beim Tee ein. Kein Stuß! Hat er echt.«
»Du scheinst ihm zu gefallen«, meinte Tom.
»Das ist Kälberei, Thompson. Das nimmst du gefälligst zurück, andernfalls du gewärtigen müßtest, eine geschwalbt zu kriegen.«
Sie gingen ein Stück weiter, Adrian probierte neue Wendungen aus, und Schweinchen Trotter schleppte sich hinter ihnen her und lachte einfach über alles, so daß Adrian das Spiel bald satt hatte.
»Egal«, sagte er. »Erzähl mal was von deinen Eltern, Tom.«
»Was willst du denn wissen?«
»Na, du erwähnst sie nie.«
»Über meine Leute gibt’s nicht viel zu sagen«, sagte Thompson. »Dad arbeitet bei British Steel, Mum kandidiert als Bürgermeisterin. Zwei Schwestern, beide schwachsinnig, und ein Bruder, der nächstes Semester hierherkommt.«
»Und bei dir, Healey?« fragte Schweinchen Trotter. »Was machen denn deine Eltern?«
»Vater«, sagte Adrian. »Die Mutter ist nicht mehr.«
Trotter war bewegt.
»Mein Gott«, sagte er, »das tut mir leid. Ich wußte nicht …«
»Nein, ist schon in Ordnung. Autounfall. Als ich zwölf war.«
»Das … das ist ja furchtbar.«
»Wenn wir zu Gladys Winkworth gehen, erzähl ich euch die ganze Geschichte.«
Die städtische Kirche lag auf einem Hügel, und auf dem Friedhof – den Oberschlaue wie Sampson nicht müde wurden, als »toten Punkt der Stadt« zu bezeichnen – stand eine alte Holzbank mit einer Plakette, auf der »Gladys Winkworth« stand. Sonst nichts. Es wurde allgemein angenommen, daß sie von einem senilen Witwer zum bleibenden Gedenken an seine dahingegangene Frau aufgestellt worden war. Tom meinte, sie läge sogar darunter begraben. Adrian glaubte, es handle sich um den Eigennamen der Bank, und hielt an diesem Glauben fest.
Von Gladys aus konnte man die oberen, mittleren und unteren Sportplätze sehen, den Naturwissenschaftstrakt, die Turnhalle, die Bühne, das alte Schulgebäude, Bibliotheken, Kapelle, Aula und Kunstschule. Man kam sich vor wie ein General, der über ein Schlachtfeld blickt.
Es war ein kalter Tag, und der Atem dampfte ihnen aus Mund und Nasenlöchern, als sie über den Friedhof gingen.
»Ach, unbekümmert ob ihres Schicksals spielen die kleinen Opfer«, sagte Adrian. »Die Lebendigen und Jungen spielen Verstecken hinter den Marksteinen der Kalten und Toten.«
Tom und Adrian setzten sich und warteten, bis Schweinchen Trotter aufgeholt hatte.
»Es ist keine schöne Geschichte, die Geschichte meiner Mutter«, sagte Adrian, als Trotter endlich neben sie geplumpst war, »aber ich werde sie euch erzählen, wenn ihr versprecht, sie für euch zu behalten. Nur Pa Tickford kennt sie. Mein Vater hat sie ihm erzählt, als ich hier ankam.«