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Stephen Fry hat sich die griechischen Göttersagen vorgeknöpft: Grandios und umwerfend komisch!
Zügellosigkeit, Lebenslust, Mord und Totschlag, Triumph und Tragödie: Die griechischen Göttersagen sind wilder und wüster als das Leben selbst und bieten damit alles, was sich Leser wünschen. Die alten Griechen inspirierten unter anderen Shakespeare, Michelangelo, James Joyce und Walt Disney. In Stephen Frys brillanter Nacherzählung erwachen die alten Sagen zu neuem Leben. Wir verlieben uns mit Zeus, sehen die Geburt der Athene, nehmen mit Kronos und Gaia Rache an Uranos, wir weinen mit König Midas und jagen mit der wunderschönen und furchtlosen Artemis.
Meisterhaft und in bester Tradition des britischen Humors zeigt uns Stephen Fry die Bedeutung der griechischen Sagen für die Geburt der Literatur.
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Seitenzahl: 560
Stephen Fry ist Schriftsteller, Schauspieler, Moderator, Kolumnist und Regisseur. Sein exzentrischer Charakter erklärt sich durch seine krumme Nase und den halben Zentimeter, den er kleiner ist als Monty-Python-Legende John Cleese. Bei Aufbau Taschenbuch lieferbar: »Der Lügner«, »Das Nilpferd«, »Geschichte machen«, »Paperweight«, »Columbus war ein Engländer«, »Der Sterne Tennisbälle« und »Feigen, die fusseln« sowie bei Aufbau »Ich bin so Fry. Meine goldenen Jahre«.
Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.
Stephen Fry hat sich die griechischen Göttersagen vorgeknöpft: Grandios und umwerfend komisch!
Zügellosigkeit, Lebenslust, Mord und Totschlag, Triumph und Tragödie: Die griechischen Göttersagen sind wilder und wüster als das Leben selbst und bieten damit alles, was sich Leser wünschen. Die alten Griechen inspirierten unter anderen Shakespeare, Michelangelo, James Joyce und Walt Disney. In Stephen Frys brillanter Nacherzählung erwachen die alten Sagen zu neuem Leben. Wir verlieben uns mit Zeus, sehen die Geburt der Athene, nehmen mit Kronos und Gaia Rache an Uranos, wir weinen mit König Midas und jagen mit der wunderschönen und furchtlosen Artemis. Meisterhaft und in bester Tradition des britischen Humors zeigt uns Stephen Fry die Bedeutung der griechischen Sagen für die Geburt der Literatur.
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Stephen Fry
Mythos
Was uns die Götter heute sagen
Aus dem Englischenvon Matthias Frings
Inhaltsübersicht
Über Stephen Fry
Informationen zum Buch
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Vorwort
Der Beginn – Teil 1
Aus dem Chaos
Die erste Generation
Die zweite Generation
Gaias Rache • Die Sichel • Nacht und Tag, Licht und Dunkelheit • Die Kastration des Uranos • Erinnyen, Giganten und Meliaden • Aus dem Schaum • Rhea • Die Kinder von Rhea • Der Tausch • Das kretische Kind • Der Treueschwur • Der kretische Junge • Der Okeanide und der Zaubertrank • Die Wiedergeburt des Feuers
Der BeginnTeil 2
Kampf der Titanen
Die Vermehrung • Die Musen • Dreier • Geister der Luft, der Erde und des Wassers • Oberster Herrscher und Richter der Welt
Die dritte Generation
Hestia • Die Lotterie • Hades • Poseidon • Demeter • Hera • Eine neue Heimat • Der Wicht • Es ist Krieg • Der verzauberte Thron • Der Lahme • Die Hand von Aphrodite • Das Hochzeitsfest • Götterspeise • Böser Zeus • Die Mutter aller Migränen • Athene • Metis, verinnerlicht • Zuflucht suchen • Zwillinge! • Artemis • Apollon • Der Zorn der Hera • Maia Maia • Das Wunderkind • Apollon liest die Zeichen • Halbbrüder • Der zwölfte Gott • Die Olympier
Die Spielzeuge des ZeusTeil eins
Prometheus
Kneten und Brennen • Eine begrenzte Auswahl • Ein Name wird gefunden • Das Goldene Zeitalter • Der Fenchelstängel • Das Geschenk des Feuers
Die Bestrafungen
Das Geschenk • Die Brüder • Nur ein Gefäß • Die Truhe, die Wasser und die Knochen von Gaia • Tod • Der gefesselte Prometheus • Persephone und der Streitwagen • Die Kerne des Granatapfels • Hermaphroditos und Silenus
Cupido und Psyche
Eroten • Liebe, Liebe, Liebe • Psyche • Prophezeiung und Verzicht • Das verwunschene Schloss • Stimmen, Visionen und ein Besucher • Schwestern • Ein Tropfen Öl • Allein • Die Aufgaben der Aphrodite • Die Vereinigung von Liebe und Seele
Die Spielzeuge des ZeusTeil zwei
Sterbliche
Io • Das samengetränkte Tuch
Phaethon
Der Sohn der Sonne • Vater und Sohn • Morgengrauen • Die Fahrt • Die Auswirkungen
Kadmos
Der wilde Bulle • Die Suche nach Europa • Das Orakel spricht • Die Phokischen Spiele • Der Wasserdrache • Die Zähne des Drachen • Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia • Im Staub
Zweifach geboren
Das Land der Adler • Die Frau des Adlers • Die Offenbarung • Der neueste Gott • Dreizehn am Tisch
Bildteil
Die Schönen und die Verdammten
Zornige Göttinnen
Aktaion • Erysichthon
Der Arzt und die Krähe
Die Geburt der Medizin
Schuld und Sühne
Ixion • Konsequenzen • Tantalos
Sisyphos
Brüderliche Liebe • Sisyphosaufgabe • Der Adler • Den Tod betrügen • Leben ohne Tod • Begräbnisriten • Rolling Stone
Hybris
Nichts als Tränen • Apollon und Marsyas: Dicke Backen • Der Wettbewerb • Richterspruch
Arachne
Die Weberin • Verwoben • Die Belohnung
Mehr Metamorphosen
Nisos und Skylla • Kallisto • Prokne und Philomela • Ganymed und der Adler • Liebhaber der Morgenröte • Lailaps und Alopex Teumesios • Endymion
Eos und Tithonos
Liebe auf den ersten Blick • Der Wunsch • Sei vorsichtig, was du dir wünschst • Die Heuschrecke
Die Blüte der Jugend
Hyakinthos • Krokos und Smilax • Aphrodite und Adonis
Echo und Narziss
Teiresias • Narziss • Echo • Echolalie • Echo und Narziss • Der Junge im Wasser • Die Götter erbarmen sich
Liebende
Pyramos und Thisbe
Galateias
Akis und Galateia • Galateia II • Leukippos II, Daphne und Apollon • Galateia III und Pygmalion • Hero und Leander
Arion und der Delphin
Über Bord • Das Denkmal
Philemon und Baucis oder Der Lohn der Gastfreundschaft
Phrygien und der Gordische Knoten • Midas • Der hässliche Fremde • Goldfinger • Die Ohren von König Midas
Anhänge
Die Brüder • Hoffnung • Große Sprünge • Füße und Zehen
Nachwort
Mythen, Legenden, Religion • Die Griechen • Geographie • Alte Quellen • Moderne Quellen
Dank
Bildnachweis
Anmerkungen
Impressum
Als ich noch ein kleiner Junge war, hatte ich das Glück, dass mir das Buch Tales from Ancient Greece in die Hände fiel. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sosehr ich von da ab auch die Mythen und Legenden anderer Kulturen und Völker schätzte, waren es doch diese Geschichten aus Griechenland, die mich elektrisierten. Ihr Humor, ihre Energie, ganz besonders ihre Leidenschaft und die glaubhaften Elemente ihrer Welt, haben mich von Anfang an gefesselt. Ich hoffe, Ihnen wird es auch so gehen. Vielleicht kennen Sie schon einige der hier erzählten Mythen, aber ich heiße besonders diejenigen willkommen, denen das Personal und die Geschichten der griechischen Mythologie fremd sind. Um dieses Buch zu lesen, benötigen Sie kein Vorwissen, es beginnt mit einem leeren Universum. Und ganz gewiss brauchen Sie keine »klassische Bildung«, kein Wissen über den Unterschied zwischen Nektar und Nymphen, Satyrn und Zentauren oder die Parzen und die Furien. Es gibt absolut nichts Akademisches oder Intellektuelles in der griechischen Mythologie; sie macht süchtig, ist unterhaltsam, zugänglich und erstaunlich menschlich.
Aber woher stammen sie, diese Mythen des antiken Griechenlands? Aus dem Gewebe der Menschheitsgeschichte können wir uns vielleicht einen einzelnen Faden, den der Griechen, herausziehen und ihn zurückverfolgen. Doch wenn wir uns nur eine Zivilisation und ihre Erzählungen herauspicken, könnte man einwenden, dass wir es mit der wahren Quelle, dem universalen Mythos, nicht allzu genau nehmen. Überall auf der Welt haben Frühmenschen nach dem Ursprung der Kraft gefragt, die Vulkane, Wirbelstürme, Erdbeben und die Gezeiten hervorruft. Sie ehrten und feierten die Abfolge der Jahreszeiten, das Aufsteigen der Gestirne am nächtlichen Himmel und das tägliche Wunder des Sonnenaufgangs. Sie fragten sich, wie das alles begonnen haben könnte. Das kollektive Unbewusste vieler Zivilisationen hat Geschichten erzählt von zornigen Göttern, Göttern des Todes und der Erneuerung, Fruchtbarkeitsgöttinnen, Götzen, Dämonen, Feuer-, Erd- und Wassergeistern.
Natürlich waren die Griechen nicht die Einzigen, die aus dem rätselhaften Stoff unserer Existenz einen Bildteppich aus Legenden und Überlieferungen gewebt haben. Die Götter der Griechen lassen sich, wenn wir einmal archäologisch und paläoanthropologisch herangehen, bis zu den Vätern des Himmels, den Mondgöttinnen und Dämonen des »Fruchtbaren Halbmonds von Mesopotamien« zurückverfolgen – dem heutige Irak, Syrien und der Türkei. Die Babylonier, Sumerer, Akkadier und andere Zivilisationen, die dort schon in vorgriechischer Zeit blühten, hatten alle ihre eigenen Schöpfungsgeschichten und Volksmythen. Deren Wurzeln, wie die ihrer Sprachen, die ihnen eine Form gaben, reichten bis nach Indien und von dort aus Richtung Westen bis zurück in die Vorgeschichte nach Afrika und zur Geburt unserer Spezies.
Doch wann immer wir eine Geschichte erzählen, müssen wir den weltumspannenden Erzählfaden an irgendeiner Stelle kappen, um einen Ausgangspunkt festzusetzen. Die griechische Mythologie eignet sich gut dafür, denn sie hat mit einer Vielfalt und Reichhaltigkeit, einer Lebendigkeit und Farbe überlebt, die sie von anderen Mythologien unterscheidet. Sie wurde von den allerersten Dichtern festgehalten und bewahrt und ist fast seit den Anfängen der Schrift in einer ununterbrochenen Linie bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Obwohl die griechischen Mythen mit den Mythen der Chinesen, Iraner, Inder, Maya, Afrikaner, Russen, mit den Ureinwohnern Amerikas, den Hebräern und den Nordvölkern viel gemeinsam haben, sind sie ausnahmslos – wie die Schriftstellerin und Mythologin Edith Hamilton schrieb – »die Schöpfung großer Dichter«. Die Griechen waren das erste Volk, das aus seinen Göttern, Monstern und Helden stimmige Erzählungen gemacht hat, Literatur sogar.
Der Bogen, den die griechischen Mythen zeichnen, folgt dem Aufstieg des Menschen, seinem Kampf, sich von den Übergriffen der Götter zu befreien – ihren Misshandlungen, ihrer Einmischung, ihrer Willkürherrschaft über das Leben der Menschen und ihre Zivilisation. Die Griechen krochen nicht vor ihren Göttern. Sie kannten deren eitles Bedürfnis, angefleht und verehrt zu werden, glaubten aber, ihnen ebenbürtig zu sein. Ihre Mythen illustrieren, dass, wer immer diese unergründliche Welt mit ihren Grausamkeiten und Wundern, ihren Launen, Schönheiten, Verrücktheiten und ihrer Ungerechtigkeit erschaffen hat, ebenfalls grausam, wunderbar, launisch, schön, verrückt und ungerecht gewesen sein muss: Die Griechen schufen sich Götter nach ihrem Ebenbild: kriegerisch und schöpferisch, weise und bösartig, liebevoll und eifersüchtig, zärtlich und brutal, leidenschaftlich und rachsüchtig zugleich.
Mythos beginnt mit dem Anfang, hört aber nicht mit dem Ende auf. Hätte ich Helden wie Ödipus, Perseus, Jason, Herakles und sämtliche Begebenheiten des Trojanischen Krieges berücksichtigt, wäre dieses Buch sogar für einen Titanen zu schwer geworden. Außerdem möchte ich die Geschichten nur erzählen, nicht erklären oder die menschlichen Wahrheiten und psychologischen Erkenntnisse erforschen, die ihnen vielleicht innewohnen. Die Mythen sind in all ihren verstörenden, überraschenden, romantischen, komischen, tragischen, gewalttätigen und bezaubernden Facetten dramatisch genug, um als Geschichten für sich allein zu stehen. Wenn Sie sich beim Lesen fragen, was die Griechen veranlasst hat, eine derart raffinierte Fülle von Figuren und Ereignissen zu erfinden, und wenn sie sich dabei ertappen, über die tiefen Wahrheiten nachzugrübeln, für die diese Mythen stehen – nun, das ist sicher ein Teil des Vergnügens.
Und darum geht es: das Vergnügen, tief in die Welt der griechischen Mythen einzutauchen.
Stephen Fry
Heute stellen wir uns den Beginn des Universums als Urknall vor, ein Ereignis, das schlagartig Raum, Zeit und Materie hervorbrachte, wodurch alles entstand. Die Griechen sahen das anders. Sie glaubten, dass das Universum nicht mit einem Knall, sondern mit CHAOS begann. War Chaos ein Gott – ein göttliches Wesen – oder schlicht ein Zustand des Nichts? Oder war Chaos, so wie wir das Wort heute benutzen, eine Art schreckliches Durcheinander, das Zimmer eines Teenagers, nur viel schlimmer?
Vielleicht muss man sich Chaos wie ein großes kosmisches Gähnen vorstellen, eine gähnende Leere oder einen gähnenden Abgrund. Ob Chaos das Leben und die Materie aus dem Nichts geschaffen oder es erträumt hat, ob es einer klaffenden Leere entstammt oder anderweitig heraufbeschworen wurde, weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Sie auch nicht. Und doch waren wir es irgendwie schon, denn all die Teilchen, die uns ausmachen, waren dabei. Es genügt zu sagen, dass es nach Ansicht der Griechen Chaos war, das, mit einem gewaltigen Ruck, einem übergroßen Schulterzucken, Schluckauf, Brechanfall oder Husten, die lange Kette der Schöpfung in Gang setzte, die mit Pelikanen und Penizillin endete, mit Kröten, Seelöwen, Robben, Löwen, mit Menschen und Narzissen, Mord, Kunst, Liebe, Wirrwarr und Tod und Irrsinn und Gebäck.
Wie immer die Wahrheit auch aussieht, ist sich die Wissenschaft heute einig, dass alles dazu bestimmt ist, wieder in den Zustand des Chaos zurückzukehren. Dieses unausweichliche Schicksal nennt man Entropie: Teil des großen Zyklus vom Chaos zur Ordnung und wieder zurück zum Chaos. Ihre Hosen beispielsweise waren ursprünglich chaotische Atome, die irgendwie zu Materie verschmolzen, sich über Äonen von Jahren zu einer lebendigen Substanz anordneten, die sich wiederum langsam zu einer Baumwollpflanze entwickelte, aus der dieser ansehnliche Stoff gewebt wurde, der ihre wunderhübschen Beine bekleidet. Irgendwann werden Sie ihre Hosen entsorgen – sie werden verbrannt oder verrotten auf einer Müllkippe. In beiden Fällen wird ihre Materie auf lange Sicht hin wieder freigesetzt und damit Teil der Atmosphäre unseres Planeten. Und wenn die Sonne explodiert und jedes Partikel dieser Welt mit sich nimmt, die Bestandteile Ihrer Hose eingeschlossen, werden alle dazugehörigen Atome ins kalte Chaos zurückkehren. Und was für Ihre Hosen gilt, gilt natürlich auch für Sie.
Also ist das Chaos, mit dem alles begann, auch das Chaos, das alles beenden wird.
Vielleicht gehören Sie ja zu der Sorte Menschen, die fragen: »Aber wer oder was war vor dem Chaos?, oder: Wer oder was war vor dem Urknall? Irgendwas muss es doch gegeben haben.«
Nun, die Antwort lautet nein. Wir müssen akzeptieren, dass es kein vorher gibt, weil die Zeit noch nicht existierte. Niemand hatte den Startknopf für die Zeit gedrückt. Niemand hatte Jetzt! gerufen. Und da die Zeit noch erschaffen werden musste, waren Zeitwörter wie »vorher«, »während«, »als«, »dann«, »nach dem Mittagessen« und »letzten Mittwoch« ohne Bedeutung. Es macht einen ganz wuschig, aber es ist so.
Das griechische Wort für »alles, was der Fall ist«, also das, was wir »das Universum« nennen würden, lautet Kosmos. Und in dem Moment – obwohl »Moment« ein Zeitwort ist und noch keinen Sinn ergibt (genauso wenig wie der Ausdruck »noch keinen«) –, in diesem Moment ist Kosmos Chaos und nur Chaos, denn Chaos ist das Einzige, was der Fall ist. Ein Sich-Recken und Strecken, ein Einstimmen im Orchester …
Bald aber schon wird sich alles sehr schnell ändern.
Aus dem formlosen Chaos entsprangen zwei Schöpfungen: EREBOS und NYX. Erebos war die Dunkelheit, Nyx die Nacht. Er und sie vereinigten sich auf der Stelle, und die leuchtenden Früchte dieser Vereinigung waren HEMERA, Tag, und ÄTHER, Licht.
Zur gleichen Zeit – denn alles muss gleichzeitig passieren, bis die Zeit die einzelnen Ereignisse trennt – brachte das Chaos noch zwei weitere Gebilde hervor: GAIA, die Erde, und TARTAROS, die Unterwelt.
Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken: Diese Schöpfungen hören sich ganz charmant an – Tag, Nacht, Licht, Unterwelt –, aber es handelt sich nicht um Götter und Göttinnen, nicht einmal um Lebewesen. Und es ist Ihnen vielleicht auch aufgefallen, dass es ohne die Zeit keine dramatische Erzählung geben kann, keine Geschichten, denn Geschichten bestehen aus ES WAR EINMAL und WAS PASSIERTE DANN?
Damit liegen Sie ziemlich richtig. Was sich zuerst aus dem Chaos entwickelte, waren grundlegende, ursprüngliche Prinzipien, die noch keinerlei Farbe besaßen, keinen Charakter, keine Bedeutung. Es waren die PRIMORDIALEN GOTTHEITEN, die Erstausgabe göttlicher Wesen, denen all die Götter, Helden und Monster der griechischen Mythen entspringen. Sie brüteten in Wartestellung vor sich hin.
Die stille Leere dieser Welt wurde gefüllt, als Gaia ganz allein zwei Söhne gebar.1 Der erste war PONTOS, das Meer, und der zweite URANOS, der Himmel. Hemera und Äther vermehrten sich ebenfalls, und aus ihrer Vereinigung entstand THALASSA, der weibliche Gegenpart zu Pontos, dem Meer. Uranos war der Himmel und das Firmament in dem Sinn, wie – ganz zu Anfang – die primordialen Gottheiten immer die Dinge waren, über die sie herrschten und die sie repräsentierten.2 Man könnte sagen, Gaia war die Erde, war Hügel, Täler, Höhlen und Berge, aber auch dazu fähig, sich eine Form zu geben, die gehen und sprechen konnte. Die Wolken vom Himmel des Uranos jagten und zogen über sie hinweg, aber sie waren ebenfalls in der Lage, sich in einer Form zusammenzuballen, die wir wiedererkennen könnten. Das Leben hatte gerade erst begonnen. Sehr wenig war festgelegt.
Uranos, der Himmel, deckte Gaia, die Erde, vollkommen, und zwar in jeder Hinsicht: Er deckte sie, wie der Himmel bis auf den heutigen Tag die Erde deckt, und er deckte sie, wie ein Hengst eine Stute deckt. Dabei geschah etwas Bemerkenswertes. Die Zeit begann.
Und etwas anderes begann ebenfalls – wie sollen wir es nennen? Persönlichkeit? Drama? Individualität? Charakter, mit all seinen Fehlern, Launen und Leidenschaften, Plänen und Träumen? Sinn begann, könnte man sagen. Gaias Saat gab uns den Sinn. Das Denken keimte auf und fand seine Form. Semantische Semiologie aus dem Samen des Himmels. Ich möchte solche Mutmaßungen den Fachleuten überlassen, aber es war dennoch ein großer Moment. In der Erschaffung des Uranos und der Verbindung mit ihrem Sohn und nun auch Mann, hat Gaia den Faden des Lebens abgespult, der durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch bis zu uns führt, mir und Ihnen.
Von Anfang an war die Vereinigung von Uranos und Gaia erfreulich produktiv. Zwölf robuste, gesunde Kinder kamen zuerst – sechs männliche, sechs weibliche. Die Jungs waren OKEANOS, KOIOS, KREIOS, HYPERION, IAPETOS und KRONOS. Die Mädchen THEIA, THEMIS, MNEMOSYNE, PHOIBE, THETYS und RHEA. Diese zwölf waren dazu bestimmt, die zweite Generation der göttlichen Wesen zu bilden und sich einen legendären Namen zu verdienen.
Und irgendwo, als die Zeit sich anschlich, begann die Uhr zu arbeiten, die Uhr der kosmischen Geschichte, die bis heute tickt. Vielleicht war eines dieser Neugeborenen dafür verantwortlich, wir können uns später darum kümmern.
Unzufrieden mit diesen zwölf starken und schönen Brüdern und Schwestern, schenkten Uranos und Gaia der Welt noch weitere Nachkommen, zwei unverkennbare, aber unverkennbar nicht schöne Drillingspaare. Zuerst kamen die drei Zyklopen, einäugige Giganten, die ihrem Vater, dem Himmel, ein ganz neues Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten verschafften. Der älteste Zyklop wurde BRONTES3 genannt, Donner, dann kam STEROPES, der Blitz, und schließlich ARGES, die Leuchtkraft. Uranos konnte nun den Himmel mit flackernden Blitzen und tosendem Donner erfüllen. Er kostete den Krach und Tumult gründlich aus. Aber das zweite Drillingspaar, das Gaia gebar, ließ ihn sogar noch mehr erbeben, ebenso wie alle, die sie sahen.
Höflich ausgedrückt, handelte es sich vielleicht um eine Art Mutationsexperiment, das nicht noch einmal wiederholt werden sollte, eine genetische Sackgasse. Diese Neugeborenen – die HEKATONCHEIREN – hatten nämlich jeweils fünfzig Köpfe und hundert Hände und waren so böse, abscheulich, gewalttätig und mächtig wie nichts und niemand zuvor.
Sie hießen KOTTUS, der Wütende, GYGES, der Langgliedrige, und AIGAION, der Steinbock, manchmal auch BRIAREOS genannt, der Kraftstrotzende. Gaia liebte sie. Uranos fand sie abstoßend. Vielleicht hat ihn am meisten die Vorstellung befremdet, dass er, der Herr des Himmels, so merkwürdige und hässliche Wesen gezeugt haben könnte, aber ich glaube, dass sein Hass, wie so oft, einer Furcht entsprang.
Voller Abscheu verfluchte er sie: »Weil ihr meine Augen beleidigt, sollt ihr nie wieder das Licht erblicken!« Während er wutentbrannt diese Worte brüllte, presste er sie und die Zyklopen zurück in Gaias Schoß.
Wir haben guten Grund, uns zu fragen, was »er presste sie zurück in Gaias Schoß« eigentlich bedeutet. Manche schließen daraus, dass er die Hekatoncheiren in der Erde begraben hat. Göttliche Identität war zu dieser frühen Zeit noch im Fluss. Es ist schwer zu sagen, wie viel an einem Gott Person war und wie viel eine Eigenschaft. Es gab noch keine Großbuchstaben. Gaia, die Mutter Erde, war dasselbe wie Gaia, die Erde an sich, genauso wie Uranos, der Himmel, dasselbe war wie der Himmelsvater Uranos.
Sicher ist, dass Uranos’ Reaktion auf die drei Hekatoncheiren, seine eigenen Kinder, und die abscheuliche Grausamkeit, mit der er seine Frau behandelte, das erste Verbrechen überhaupt darstellte. Eine Schandtat, die nicht ungesühnt bleiben konnte.
Gaias Schmerz war unerträglich, und neben dem Trio der strampelnden, sich windenden, mit dreihundert Händen kratzenden und hundertfünfzig Köpfen zustoßenden Hekatoncheiren kam in ihr ein entsetzlicher, unerbittlicher Hass gegenüber Uranos auf, dem Sohn, den sie geboren, und dem Ehemann, mit dem sie einer neuen Generation das Leben geschenkt hatte. Und wie Efeu sich um einen Baum windet, wuchs in ihr ein Racheplan heran.
Den nagenden Schmerz der Hekatoncheiren noch im Körper, bestieg Gaia den Othrys, einen hohen Berg in der heutigen zentralgriechischen Region Fthiotida. Von seinem Gipfel aus sieht man, wie die Ebene von Magnesia sich den blauen Wassern der westlichen Ägäis zuneigt, die sich wiederum um den malischen Golf winden und die verstreut liegenden Inseln namens Sporaden umspielen. Aber Gaia war so schmerzerfüllt und wütend, dass sie kein Auge für einen der schönsten Panoramablicke der Welt hatte. Auf dem Gipfel des Berges Othrys begann sie aus seinem Felsgestein ein äußerst ungewöhnliches und schreckliches Etwas zu fertigen. Neun Tage und neun Nächte arbeitete sie daran, bis sie einen Gegenstand hergestellt hatte, den sie in einer Gebirgsspalte versteckte.
Als Nächstes besuchte sie ihre zwölf schönen, starken Kinder.
»Willst du deinen Vater Uranos töten und mit mir zusammen den Kosmos beherrschen?«, fragte sie eines nach dem anderen. »Du wirst von ihm den Himmel erben, und die gesamte Schöpfung wird unser Eigentum sein.«
Wir stellen uns vielleicht vor, dass Gaia – die Mutter Erde – weich, warm, gütig und freundlich ist. Nun ja, manchmal ist sie das auch, aber man muss bedenken, dass in ihrem Inneren ein Feuer lodert. Manchmal kann sie brutaler, grausamer und furchterregender sein als die wildeste See.
Und wo wir gerade von der Meereswelt sprechen: Die ersten ihrer Kinder, die Gaia auf ihre Seite ziehen wollte, waren Okeanos und seine Schwester Thetys, aber die verhandelten gerade mit Thalassa, der primordialen Göttin des Meeres, über einen Teil des Ozeans für sich. Alle Kinder dieser Generation waren damit beschäftigt, ihre Muskeln spielen zu lassen. Keifend und knurrend steckten sie ihren jeweiligen Einflussbereich ab und testeten wie Welpen im Körbchen gegenseitig ihre Kraft und Überlegenheit aus. Okeanos hatte sich überlegt, Gezeiten und Meeresströme zu erschaffen, die wie ein großer Salzfluss die Erde umspannen sollten. Thetys bekam ein Baby von ihm – in der Frühzeit natürlich keine Sünde: Fortpflanzung wäre ohne Inzest nicht möglich gewesen. Sie war schwanger mit Neilos, dem Nil, und würde auch weiterhin mindestens dreitausend Okeaniden oder Seenymphen gebären, attraktive Gottheiten, die sich gleichermaßen elegant im Wasser wie an Land bewegen konnten. Zwei erwachsene Töchter hatten sie schon, Klymene, die Geliebte des Iapetos, und die kluge Metis, die später noch eine wichtige Rolle spielen wird.4 Die beiden waren glücklich und freuten sich auf ein Leben auf den Wellen des Ozeans, sahen also keine Notwendigkeit, ihren Großvater Uranos umzubringen.
Dann besuchte Gaia ihre Tochter Mnemosyne, die beschäftigt, aber schwer auszusprechen war. Sie schien eine ziemlich oberflächliche, alberne und ignorante Person zu sein, die nichts wusste und noch weniger verstand. Das war trügerisch, denn Tag für Tag wurde sie klüger, besser informiert und fähiger. Ihr Name bedeutet Gedächtnis. Als die Mutter vorbeischaute, waren die Welt und der Kosmos noch sehr jung, also hatte Mnemosyne noch nicht so viel Gelegenheit gehabt, sich mit Wissen oder Erfahrung hervorzutun. Im Lauf der Jahre machte ihre unbegrenzte Fähigkeit, Wissen und Sinneswahrnehmungen zu speichern, sie so weise wie kaum eine andere. Eines Tages würde sie Mutter von neun Töchtern sein, den MUSEN, denen wir später noch begegnen werden.
»Ich soll dir helfen, Uranos zu töten? Der Himmelsvater ist doch sicher unsterblich?«
»Dann eben entthronen oder unschädlich machen … er hat es schließlich verdient.«
»Ich werde dir nicht helfen.«
»Warum nicht?«
»Es gibt einen Grund, und wenn ich ihn kenne, werde ich mich daran erinnern und ihn dir nennen.«
Entnervt ging Gaia als Nächstes zu Theia, die sich ebenfalls mit einem ihrer Geschwister eingelassen hatte, mit ihrem Bruder Hyperion.
Zu gegebener Zeit würde sie HELIOS auf die Welt bringen, die Sonne, SELENE, den Mond, und EOS, die Morgendämmerung, genügend elterliche Verpflichtungen also, um ziemlich eingespannt zu sein. Auch sie waren nicht sonderlich an Gaias Plänen interessiert, Uranos loszuwerden.
Verzweifelt, weil ihre biedere, wenig abenteuerlustige Brut sich weigerte, das zu tun, was sie als ihrer aller göttliche Berufung betrachtete – ganz abgesehen davon, wie verhätschelt und zahnlos sie ihr vorkamen –, versuchte Gaia ihr Glück bei Phoibe, vielleicht die Intelligenteste und Verständnisvollste der zwölf. Von Kind an hatte die glänzende Phoibe ein Talent für Weissagungen an den Tag gelegt.
»O nein, Mutter Erde«, sagte sie, als sie von Gaias Plan hörte. »Ich kann mich daran nicht beteiligen. Das wird nicht gut enden. Davon abgesehen bin ich schwanger …«
»Verdammt«, zischte Gaia. »Von wem? Koios bestimmt.«
Sie hatte recht, Phoibes Bruder Koios war in der Tat ihr Gefährte. Gaia stürmte noch wütender los, um ihre restlichen Kinder zu besuchen. Irgendeiner musste doch Lust auf einen Kampf haben. Sie schaute bei Themis vorbei, die man eines Tages überall als die Verkörperung der Gerechtigkeit und des guten Rates betrachten würde, und Themis riet ihrer Mutter, die unrechtmäßige Beseitigung von Uranos zu vergessen.5 Gaia hörte sich den guten Ratschlag an und – wie wir alle es tun, ob sterblich oder unsterblich – ignorierte ihn. Stattdessen forderte sie den Mannesstolz ihres Sohnes Kreios heraus, der mit Eurybia zusammenlebte, der Tochter, die sie mit Pontos gezeugt hatte.
»Meinen Vater töten?« Kreios starrte seine Mutter ungläubig an. »A-aber wie … ich meine … warum? … ich meine … oh.«
»Und was haben wir davon, Mutter?«, fragte Eurybia, die als hartherzig bekannt war.
»Oh, nur die Welt und alles, was sie umfasst«, sagte Gaia.
»Um sie mit dir zu teilen?«
»Um sie mit mir zu teilen.«
»Nein!«, sagte Kreios. »Geh, Mutter.«
»Wir sollten drüber nachdenken«, sagte Eurybia.
»Zu gefährlich«, sagte Kreios. »Ich verbiete es.«
Gaia knurrte wütend und machte sich zu ihrem Sohn Iapetos auf.
»Iapetos, geliebter Junge. Vernichte das Monster Uranos und herrsche mit mir!«
Die Ozeanide Klymene, die Iapetos zwei Söhne geboren hatte und mit einem weiteren schwanger war, trat vor: »Welche Mutter könnte so etwas verlangen? Seinen eigenen Vater zu töten ist das schlimmste aller Verbrechen. Der ganze Kosmos würde aufschreien.«
»Ich muss ihr zustimmen, Mutter«, sagte Iapetos.
»Verdammt seid ihr, und verdammt seien eure Kinder!«, geiferte Gaia.
Der Fluch einer Mutter ist etwas Schreckliches. Wir werden noch sehen, wie die Kinder von Iapetos und Klymene, ATLAS, EPIMETHEUS und PROMETHEUS, zu Tode kamen.
Rhea, das elfte ihrer Kinder, wollte ebenfalls nicht mitmachen, hob aber sofort die Hände, um einer Schimpfkanonade ihrer Mutter zuvorzukommen. Sie verwies auf ihren Bruder Kronos, den Letzten in der Reihe dieser kräftigen und schönen Kinder, dem die Beseitigung seines Vaters sehr wohl in den Kram passen würde. Sie, Rhea, hätte oft gehört, wie er Uranos und seine Macht verwünschte.
»Wirklich?«, rief Gaia. »Meinst du? Wo steckt er?«
»Er lungert wahrscheinlich bei den Höhlen von Tartaros herum. Er und Tartaros sind unzertrennlich. Beide sind finster. Launisch. Böse. Großartig. Grausam.«
»O Gott, sag mir nicht, du bist in Kronos verliebt.«
»Leg ein gutes Wort für mich ein, Mami, bitte! Er ist einfach ein Traum. Diese dunklen, funkelnden Augen. Die wilden Augenbrauen. Das brütende Schweigen.«
Gaia hatte immer schon gewusst, dass das brütende Schweigen ihres Jüngsten nichts anderes als der Ausdruck seines leeren Hirns war, aber sie hielt sich vornehm zurück. Nachdem sie Rhea versichert hatte, ein gutes Wort für sie einzulegen, spurtete Gaia abwärts, abwärts in Richtung Höhlen des Tartaros.
Wenn man im Himmel einen bronzenen Amboss fallen ließ, brauchte er neun Tage, um die Erde zu erreichen. Ließ man ihn auf der Erde fallen, brauchte er weitere neun Tage, um Tartaros zu erreichen. Anders ausgedrückt, liegt die Erde genau zwischen Himmel und Tartaros. Man könnte auch sagen, Tartaros ist genauso weit entfernt von der Erde wie die Erde vom Himmel. Ein ziemlich abgründiger Ort also, aber mehr als nur ein Ort. Erinnern wir uns daran, dass Tartaros ebenfalls ein primordiales Wesen war. Wie Gaia entstammte er dem Chaos. Als sie sich trafen, begrüßten sie sich also, wie Familienmitglieder das nun mal tun.
»Gaia, du hast zugenommen.«
»Du siehst furchtbar aus, Tartaros.«
»Was zum Teufel willst du hier unten?«
»Halt ausnahmsweise mal den Mund, dann erzähl ich es dir.«
Dieser leicht gereizte Wortwechsel wird sie nicht davon abhalten, sich zu einem späteren Zeitpunkt zusammenzutun und TYPHON in die Welt zu setzen – das schlimmste und tödlichste aller Monster.6 Aber momentan ist Gaia nicht in der Stimmung für Liebesspiele oder weitere Beleidigungen.
»Hör zu: Mein Sohn Kronos, ist der in der Nähe?«
Ein resigniertes Stöhnen ihres Bruders.
»Ganz bestimmt. Ich wünschte, du würdest ihn anweisen, mich in Ruhe zu lassen. Den ganzen Tag lang macht er nichts anderes, als hier rumzuhängen und mich mit offenem Maul aus seinen Triefaugen anzuglotzen. Ich glaube, er ist in mich verknallt. Er äfft meine Frisur nach, lehnt schlapp an Bäumen und Felsbrocken rum und sieht dabei unlustig, unglücklich und unverstanden aus. Als würde er darauf warten, dass jemand ihn anmalt oder so. Und wenn er mich mal nicht anschmachtet, starrt er in den Vulkankrater da drüben. Bring ihn ein bisschen zur Vernunft.«
Gaia setzte sich mit ihrem Sohn in Verbindung.
Kronos war gar nicht so sehr der empfindsame, gequälte Teenager, wie man ihn sich nach den Beschreibungen von Thea und Tartaros vielleicht vorstellt, sondern der Stärkste eines unvorstellbar starken Geschlechts. Auf verwegene Art gutaussehend, doch, doch, und ja, launisch war er auch. Hätte Kronos Vorbilder zur Verfügung gehabt, dann hätte er sich vielleicht am hoffnungslos selbstbezogenen Hamlet orientiert, oder am hemmungslos morbiden Jacques. Konstantin aus Die Möwe mit einem Hauch von Morrissey. In ihm steckte aber auch etwas von Macbeth und mehr als nur ein Hauch Hannibal Lecter – wie wir noch sehen werden.
Kronos hatte als Erster herausgefunden, dass brütendes Schweigen oft als Stärke, Weisheit und Überlegenheit interpretiert wird. Als jüngstes der zwölf Geschwister hatte er seinen Vater stets gehasst. Das starke, alles durchdringende Gift von Eifersucht und Missgunst bedrohte seine geistige Gesundheit, aber es war ihm gelungen, das Ausmaß seines Hasses vor allen anderen zu verbergen – außer vor seiner Schwester Rhea, dem einzigen Familienmitglied, bei dem er sich wohl genug fühlte, sein wahres Ich zu offenbaren.
Als sie sich von Tartaros nach oben aufmachten, flößte Gaia Kronos’ sehr empfänglichem Ohr noch mehr Gift ein.
»Uranos ist grausam. Er ist wahnsinnig. Ich fürchte um mein Leben und um euch alle, meine geliebten Kinder. Komm mit, Junge, komm.«
Sie brachte ihn zum Berg Othrys. Sie erinnern sich an das ungewöhnliche und schreckliche Ding, das sie gefertigt und in einer Felsspalte versteckt hatte, bevor sie sich aufmachte, ihre Kinder zu besuchen? Gaia brachte Kronos nun dorthin und zeigte ihm, was sie hergestellt hatte.
»Heb es hoch. Mach schon.«
Kronos’ schwarze Augen funkelten, als er Form und Bedeutung dieses merkwürdigen Objekts auf sich wirken ließ.
Es war eine Sichel, deren enorme gebogene Klinge aus Adamant geformt war, was »unbezähmbar« bedeutet. Diese massive Sichel aus grauem Feuerstein, Granit, Diamant und Ophiolith war unvorstellbar scharf geschliffen, eine Schärfe, die alles durchschneiden konnte.
Kronos hob sie so umstandslos aus ihrem Versteck empor, als würde er sich einen Bleistift schnappen. Nachdem er das Gewicht geprüft und sich vergewissert hatte, wie die Sichel in der Hand lag, schwang er sie einmal, zweimal. Das kraftvolle Zisch, als sie durch die Luft sauste, ließ Gaia lächeln.
»Kronos, mein Sohn«, sagte sie. »Wir müssen abwarten, bis Hemera und Äther in die Wasser des Westens abtauchen und Erebos und Nyx in die Unterwelt steigen.«
»Du meinst, wir müssen bis heute Abend warten.« Kronos war ungeduldig, und es fehlte ihm an Poesie und Finesse.
»Ja, Abendzeit. Dann kommt dein Vater wie üblich zu mir. Er liebt es, zu …«
Kronos nickte nur knapp. Die Details des elterlichen Liebeslebens wollte er sich ersparen.
»Verstecke dich mit der Sichel in der Felsspalte. Wenn du hörst, dass er mich besteigt und dabei vor Lust und Leidenschaft laut stöhnt – schlag zu.«
Wie Gaia vorhergesagt hatte, waren Hemera und Äther nach zwölf Stunden des Spielens müde, und langsam versanken Tag und Licht im westlichen Meer. Zur gleichen Zeit ließ Nyx ihren schwarzen Schleier herabrutschen und warf ihn zusammen mit Erebos über die Welt wie ein schimmerndes schwarzes Tischtuch.
Als Kronos mit der Sichel in der Spalte wartete, hielt die ganze Schöpfung den Atem an. Ich sage »die ganze Schöpfung«, weil Uranos und Gaia und ihre Nachkommen nicht die Einzigen waren, die sich vermehrt hatten. Erebos und Nyx legten sich dabei am meisten ins Zeug. Sie hatten viele Kinder, manche schrecklich, andere schön und andere wiederum liebenswert. Wir haben schon gesehen, wie sie Hemera und Äther auf die Welt brachten. Aber dann gebar Nyx ohne Hilfe von Erebos MOROS, den Gott des Verhängnisses, der zum gefürchtetsten Wesen der Schöpfung heranreifen würde. Das Verhängnis erreicht jede Kreatur, sterblich oder unsterblich, aber es versteckt sich stets. Sogar die Unsterblichen hatten Angst vor der allwissenden Kontrolle des Moros über den Kosmos.
Nach Moros kam ein ganzer Schwung von Nachkommen wie eine gigantische Invasion, einer nach dem andern. Zuerst APATE, die Täuschung. Sie verzog sich nach Kreta, wo sie auf den richtigen Augenblick wartete. GERAS, das Hohe Alter, wurde als Nächster geboren, ein Dämon, der nicht so furchterregend ist, wie manche heute glauben. Zwar kann Geras einem die Jugend nehmen, Lebensfreude und Gelenkigkeit, in den Augen der Griechen machte er das durch die Verleihung von Würde, Weisheit und Autorität jedoch mehr als wett. Sein römischer Name lautet SENECTUS, ein Wort, das die gleichen Wurzeln hat wie »Senat« und »senil«.
Es folgte ein ganz schreckliches Zwillingspaar: OZIS (MISERIA im Lateinischen), der Jammer, das Elend, und ihr grausamer Bruder MOMOS,7 die gehässige Personifikation des Spotts, der Verachtung und des Tadels.
Doch Nyx und Erebos waren gerade erst auf Touren gekommen. Ihr nächstes Kind, ERIS (DISCORDIA), der Streit, steckt hinter allen Meinungsverschiedenheiten, Scheidungen, Raufereien, Gefechten, Kämpfen, Schlachten und Kriegen. Es war ihr boshaftes Hochzeitsgeschenk, der legendäre Zankapfel, der den Trojanischen Krieg heraufbeschwor, obwohl dieser nicht enden wollende Konflikt noch in weiter Ferne lag. Die Schwester des Streits, NEMESIS, ist der Inbegriff der ausgleichenden Gerechtigkeit, diesem unbarmherzigen Strang kosmischer Justiz, der übermäßiges Strebertum und Anmaßung bestraft, das Laster, das die Griechen Hybris nannten. Nemesis hat Berührungspunkte mit der östlichen Vorstellung von Karma und wir sehen in ihr die schicksalhafte Vergeltung, die den Hochmütigen und Boshaften droht. Vermutlich kann man sagen, dass Holmes Moriartys Nemesis war, Bond war die von Blofeld und Jerry dasselbe für Tom.
Erebos und Nyx brachten außerdem CHARON zur Welt, dessen Infamie sich zeigte, als er seine Pflichten als Fährmann für die Toten aufnahm. HYPNOS, die Personifikation des Schlafes, wurde ihnen ebenfalls geboren. Und sie waren die Vorfahren der ONEIROI, Tausender Wesen, die damit betraut sind, Träume herzustellen und sie den Schlafenden zu bringen. Unter den Oneiroi, die wir mit Namen kennen, waren PHOBETOR, der Gott der Alpträume, und PHANTASOS, zuständig für die phantastische Abfolge von Bildern in unseren Träumen. Sie arbeiteten unter der Aufsicht von MORPHEUS, einem Sohn des HYPNOS, dessen Namen selbst schon auf die verschwommenen, »gemorphten« Formen einer Traumwelt hinweist.8 »Morphium«, »Phantasie«, »hypnotisch« und viele andere Ableitungen des griechischen Wortes für Schlaf haben bis heute überdauert. Schlafes Bruder, THANATOS, der Tod selbst, gibt uns das Wort »Euthanasie«, »der gute Tod«.
Diese neuen Wesen waren beängstigend und äußerst verhasst. Sie schenkten der Schöpfung ein schreckliches, aber notwendiges Charakteristikum, denn die Welt scheint nichts Wertvolles zu kennen, ohne gleichzeitig sein schreckliches Gegenteil bereitzuhalten.
Es gab allerdings drei zauberhafte Ausnahmen, die HESPERIDEN – Nymphen des Westens und Töchter des Abends.9 Sie verkündeten die tägliche Ankunft ihrer Mutter und ihres Vaters, aber weniger im gefürchteten Tiefschwarz, sondern eher mit dem matten Goldton der Dämmerung. Ihre Zeit ist das, was Kameramänner »die magische Stunde« nennen, wenn das Licht am verführerischsten ist.
Das also waren die Kinder von Nyx und Erebos, die selbst jetzt die Erde in Dunkelheit hüllten, als Gaia, wie sie hoffte, zum letzten Mal auf ihren Ehemann wartete und Kronos sich im Schatten des Berges Othrys versteckt hielt, die Sichel fest in der Hand.
Endlich vernahmen Gaia und Kronos von Westen her ein mächtiges Stampfen und Beben. Die Blätter an den Bäumen erzitterten. Kronos stand still in seinem Versteck und zuckte nicht. Er war bereit.
»Gaia«, brüllte Uranos im Näherkommen. »Mach dich bereit. Heute Nacht werden wir etwas Besseres zeugen als hunderthändige Mutanten und einäugige Freaks!«
»Komm zu mir, ruhmreicher Sohn, göttlicher Ehemann!«, rief Gaia. Kronos fand diese etwas dick aufgetragene Begierde reichlich geschmacklos.
Die schrecklichen Laute, wenn eine Gottheit lustvoll patscht, sabbert und grunzt, schienen darauf hinzudeuten, dass sein Vater so etwas wie ein Vorspiel im Sinn hatte. In seiner Nische atmete Kronos vier oder fünf Mal ein und aus. Nicht eine Sekunde lang machte er sich Gedanken über die moralische Verwerflichkeit seiner Tat, seine Gedanken drehten sich nur um Taktik und Timing. Nach einem tiefen Atemzug erhob er die mächtige Sichel und trat aus seinem Verstreck hervor.
Überrascht und mit einem zornigen Knurren sprang Uranos, der sich gerade auf Gaia legen wollte, auf die Füße. Unerschrocken voranschreitend, schwang Kronos die Sichel und führte sie in großem Bogen nach unten. Die Klinge zischte durch die Luft und trennte Uranos’ Genitalien sauber von seinem Körper.
Ein wahnsinniger Schrei voller Schmerz, Leid und Wut erfüllte den gesamten Kosmos. Noch nie in der kurzen Geschichte der Schöpfung hatte man einen so entsetzlichen Schrei gehört. Alle Lebewesen nahmen ihn wahr und fürchteten sich.
Mit obszönem Triumphgeheul sprang Kronos nach vorn und fing die tropfende Trophäe auf, bevor sie zu Boden fiel.
Uranos wand sich in ewiger Qual und brüllte diese Worte: »Kronos, Niederträchtigster meiner Brut und Niederträchtigster der ganzen Schöpfung. Schlimmer als alle Wesen, verdorbener als die hässlichen Zyklopen und die abscheulichen Hekatoncheiren, mit diesen Worten verfluche ich dich. Mögen deine Kinder dich auslöschen, wie du mich auslöschst.«
Kronos schaute auf Uranos hinab. Seine schwarzen Augen zeigten keine Regung, nur sein Mund kräuselte sich zu einem undurchsichtigen Lächeln. »Du hast keine Macht mehr, mich zu verfluchen, Papa. Deine Macht liegt in meiner Hand.«
Vor den Augen seines Vaters jonglierte er mit der grausigen Siegestrophäe, aufgeplatzt und blutverschmiert, nässend und glitschig vor Samen. Lachend erhob er den Arm und schleuderte das Bündel weit, weit in die Ferne. Quer über die Ebenen von Griechenland flog es und über die sich verdunkelnde See. Alle drei schauten zu, wie Uranos’ Fortpflanzungsorgane über den Wassern außer Sichtweite gerieten.
Als er sich zu seiner Mutter umdrehte, stellte Kronos überrascht fest, dass sie ihren Mund voller Entsetzen bedeckt hielt. Tränen flossen aus ihren Augen.
Er zuckte die Schultern. War ihm doch egal.
Die Schöpfung war zu dieser Zeit von Gottheiten besiedelt, deren Ziel und Zweck lediglich in der Fortpflanzung zu bestehen schien. Und sie waren bemerkenswert fruchtbar. Selbst der Boden war mit solcher Fruchtbarkeit gesegnet, dass man fast glaubte, nur einen Bleistift einpflanzen zu müssen, um bald eine Blume ernten zu können. Wohin auch immer göttliches Blut floss, konnte das Leben nicht anders, als zu blühen.
So mordgierig, grausam, habgierig und zerstörerisch sich Uranos auch zeigte, letztlich war er doch der Herrscher über die Schöpfung. Dass sein Sohn ihn verstümmelt und entmannt hatte, war ein fürchterliches Verbrechen gegen den Kosmos.
Was dann geschah, ist vielleicht nicht so überraschend.
Große Blutlachen breiteten sich rund um den Schauplatz von Uranos’ Kastration aus. Diesem Blut, das aus der zerstörten Leiste des Uranos strömte, entstiegen Lebewesen.
Die Ersten, die sich durch den durchgeweichten Boden kämpften, waren die ERINNYEN, die wir die Furien nennen, ALEKTO (Erbarmungslosigkeit), MEGAIRA (eifersüchtige Wut) und TISIPHONE (Rache). Vielleicht war es ein unbewusster Trieb des Uranos, dass er solch rachsüchtige Wesen hervorrief. Vom Moment ihrer chthonischen Geburt an – der Erde entspringend – würde ihre immerwährende Pflicht darin bestehen, die schlimmsten und gewalttätigsten Verbrechen zu bestrafen, die Täter zu jagen und erst zu ruhen, wenn die Schuldigen ihren vollen, schrecklichen Preis gezahlt hatten. Ausgestattet mit grausamen metallischen Geißeln, peitschten sie das Fleisch von den Körpern der Schuldigen. Die Griechen mit ihrer charakteristischen Ironie nannten diese weiblichen Rächer die EUMENIDEN oder »die Wohlmeinenden«.
Die Nächsten, die der Erde entsprangen, waren die GIGANTEN. Von ihnen ist uns »Giga« und »gigantisch« erhalten geblieben, doch obwohl sie gewaltige Kraft besaßen, waren sie nicht größer als ihre Brüder und Schwestern.10 In diesem Moment des Schmerzes und der Zerstörung wurden zu guter Letzt auch die MELIADEN erschaffen, graziöse Nymphen, die zu den Wächterinnen eines Eschenbaumes wurden, dessen Rinde ein süßes und gesundes Manna abgab.
All diese unerwarteten neuen Wesen erhoben sich aus dem blutgetränkten Boden. Kronos starrte sie angeekelt an und verscheuchte sie mit ein paar Schwüngen seiner Sichel. Dann wandte er sich an Gaia.
»Ich habe dir versprochen, Mutter, dass ich dich von deiner nagenden Qual befreien werde – halt still.«
Mit einem weiteren Sichelschwung schlitzte er Gaias Seite auf. Heraus purzelten die Zyklopen und die Hekatoncheiren. Kronos schaute auf seine Eltern herab, beide nun blutverschmiert, beide keuchend und zornig knurrend wie verwundete Tiere.
»Nie wieder wirst du Gaia beschlafen«, sagte er zu seinem Vater. »Ich verbanne dich dazu, in alle Ewigkeit unter der Erde zu leben, tiefer begraben noch als Tartaros. Dort kannst du in deiner Wut schwelgen, kastriert und machtlos.«
»Du hast dich übernommen«, fauchte Uranos. »Rache wird folgen. Ich verfluche dich. Dein Leben soll ein qualvoller und erbarmungsloser Kampf sein, eine unerträgliche Bürde ohne Ende. Deine eigenen Kinder werden dich zerstören, wie …«
»Wie ich dich zerstört habe. Ja, ich weiß. Das hast du schon gesagt. Wir werden sehen.«
»Du und deine Brüder und Schwestern, ich verfluche euch alle, euer überspannter Ehrgeiz wird euch zugrunde richten.«
»Der Ehrgeizige, Überspannte« oder TITAN ist der Titel, den wir für Kronos reservieren, für seine elf Geschwister und die meisten ihrer Nachkommen. Uranos hatte es als Beleidigung gemeint, aber irgendwie haftet dem Namen für alle Zeiten eine gewisse Größe an. Bis zum heutigen Tag wäre wohl niemand beleidigt, als Titan bezeichnet zu werden.
Kronos nahm die Verwünschungen mit einem Grinsen entgegen. Er trieb seinen verstümmelten Vater und die befreiten Mutantenbrüder mit der Spitze seiner Sichel bis zu Tartaros. Die Hekatoncheiren und Zyklopen wurden in den Höhlen festgesetzt, sein Vater aber noch tiefer begraben, so weit von Himmel, seinem natürlichen Umfeld, entfernt wie möglich.11
Brütend und wütend schmorte Uranos in seinem Gefängnis im Innern der Erde, die ihn einst geliebt hatte. Er komprimierte all seine Rage und göttliche Energie zu einem Felsbrocken, in der Hoffnung, dass ihn eines Tages jemand zutage fördern und versuchen würde, sich die unsterbliche Kraft, die davon ausging, zunutze zu machen. Das war natürlich unmöglich. Es wäre zu gefährlich. Muss also der Menschenschlag noch geboren werden, der dumm genug ist, die Macht des Urans freizusetzen?
Wir kehren zu dem hohen Bogen am Himmel zurück, den die abgetrennten Keimdrüsen des Uranos genommen hatten. Kronos hatte das Gehänge seines Himmelsvaters weit hinaus auf die See geschleudert, wie Sie sich erinnern werden.
Wir folgen ihm nun. In der Nähe der ionischen Insel Kythira platscht es ins Wasser, springt wieder hoch, hüpft ein paar Mal und versinkt dann in den Wellen. Wie ein Drache seinen Schweif, zieht es enorme Stränge von Samen hinter sich her. Immer wenn sie das Meer berühren, bildet sich wilder Schaum. Bald brodelt und kocht das Wasser überall. Etwas steigt auf. Nach dem Schrecken der väterlichen Kastration und dem krankhaften Ehrgeiz kann es sich nur – was sonst? – um etwas unvorstellbar Hässliches handeln, etwas Schreckliches, etwas Gewalttätiges, etwas Abstoßendes, das nichts als Blut und Leid verspricht.
Der Strudel aus Blut und Samenflüssigkeit zischt und schäumt und sprudelt. Aus dem Sprühnebel von Seegang und Samen taucht zuerst eine Schädeldecke auf, dann die Stirn und dann ein Gesicht. Aber welches Gesicht?
Ein Gesicht, das weitaus schöner ist als alles, was die Schöpfung je gesehen hat oder sehen wird. Nicht jemand Schönes, sondern die Schönheit selbst steigt aus dem Schaum. Im Griechischen kann »aus dem Schaum« in etwa mit APHRODITE übersetzt werden – und das ist der Name der Gestalt, die sich aus der Gischt erhebt. Sie steht auf einer großen Muschel, ein züchtiges und freundliches Lächeln umspielt ihre Lippen. Bedächtig betritt sie einen Strand auf Zypern. Wohin sie auch ihren Fuß setzt, sprießen Blumen, und Schwärme von Schmetterlingen steigen in die Luft. Um ihren Kopf kreisen Vögel, die in freudiger Ekstase singen. Die perfekte Liebe und Schönheit ist an Land gegangen, und die Welt wird nie wieder dieselbe sein.
Die Römer nannten sie VENUS, und ihre Geburt auf der Muschel vor dem Strand von Zypern ist nie schöner festgehalten worden als in Botticellis exquisitem Gemälde, das niemand vergisst, der es einmal gesehen hat.
Wir verlassen Aphrodite, die sich auf Zypern häuslich einrichtet, und kehren zu Kronos zurück, der seinerseits von den dunklen Höhlen des Tartaros zurückkehrt.
Als er wieder am Berg Othrys eintraf, wartete seine Schwester Rhea auf ihn. Die Ansicht ihres verwegenen, gutaussehenden Bruders, eine große, bluttriefende Sichel in der Hand, ließ sie im tiefsten Innern freudig erschauern.
Seine Autorität war sichergestellt: Keiner seiner Brüder oder Schwestern stellte sie in Frage. Sein Vater war machtlos und Gaia, die sich an dem gewalttätigen Umsturz, den sie in Gang gesetzt hatte, nicht erfreuen konnte, zog sich in ihre Gefilde zurück und blieb abseits. Sie verlor niemals ihre Kraft, Autorität oder ihren hohen Status als Mutter Erde und Ahnfrau von allen, hielt sich aber von weiteren Einflussnahmen zurück und pflegte keinen Umgang mehr mit ihren Abkömmlingen. Nach einem ausgelassenen Fest, auf dem die erfolgreiche Entmannung und Absetzung von Uranos lauthals und ausgesprochen unmusikalisch besungen wurden, wandte Kronos sich an die errötende, zitternde Rhea und nahm sie beiseite, um mit ihr zu schlafen.
Rheas Freude war vollkommen. Sie hatte ihren Teil dazu beigetragen, dem Bruder, den sie anbetete, die Kontrolle über die Schöpfung zu verschaffen, und nun waren sie vereinigt. Mehr noch, bald regte sich ein Kind in ihr, ein Mädchen, da war sie sich sicher. Ihr Glück war ungetrübt.
Kronos andererseits … Sein ohnehin mürrisches Naturell verfinsterte sich zusehends. Die Worte seines Vaters Uranos begannen in seinem Kopf nachzuhallen:
Deine eigenen Kinder werden dich stürzen, wie du mich gestürzt hast.
In den folgenden Wochen und Monaten beobachtete Kronos mit düsteren Vorahnungen, wie Rheas Bauch immer dicker wurde.
Deine eigenen Kinder … deine eigenen Kinder …
Als der Tag der Niederkunft kam, legte Rhea sich in eine Felsnische in den Bergen – dieselbe Spalte, in der Gaia die Sichel aufbewahrt und Kronos sich versteckt gehalten hatte. Hier gebar sie ein wunderschönes Mädchen, das sie HESTIA nannte.
Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, trat Kronos vor, riss ihr das Kind aus den Armen und verschlang es im Ganzen. Dann ging er ohne den geringsten Schluckauf fort und hinterließ eine kreidebleiche Rhea.
Mit der Sichel als Symbol seiner Autorität, seinem Szepter, war Kronos nun der Herrscher über Erde, Himmel und Meer. Die Erde hatte er Gaia genommen, den Himmel Uranos. Unter Androhung von Gewalt erzwang er von Pontos, Thalassa und seinen Geschwistern Okeanos und Thetys die Oberherrschaft über das Meer. Er vertraute niemandem und herrschte allein.
Dennoch wollte Kronos sich weiterhin mit Rhea vergnügen und sie willigte ein, hoffnungslos verliebt und darauf vertrauend, dass die monströse Verspeisung ihres Erstgeborenen so etwas wie ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei.
War er nicht. Ihr nächstes Kind, ein Junge, den sie HADES nannte, wurde auf dieselbe Weise verschlungen. Und auch das nächste Mädchen, DEMETER. Dann war POSEIDON an der Reihe, der zweite Junge, und schließlich ein drittes Mädchen, HERA. Alle fraß er mit Haut und Haar und einer Lässigkeit, wie Sie und ich eine Auster oder einen Löffel Marmelade verputzen würden. Zu dem Zeitpunkt, als er Hera fraß, also nach der fünften Schwangerschaft, hatte sich Rheas Liebe zu Kronos in Hass verwandelt. Noch in der selben Nacht ergriff er sie, um mit ihr zu schlafen. Sie schwor sich selbst, dass er im Fall einer weiteren Schwangerschaft niemals ihr sechstes Kind in die Fänge bekäme. Aber wie sollte sie das verhindern? Er war übermächtig.
Eines Morgens wachte sie auf und spürte die bekannte Übelkeit. Sie war schwanger. Ihre göttlichen Instinkte sagten ihr, dass ihr sechstes Kind ein Junge wäre.
Sie verließ den Berg Othrys und machte sich auf, ihre Mutter und ihren Vater zu suchen. Obwohl sie selbst zu ihrem Fall beigetragen hatte, vertraute sie mit kindlicher Unerschütterlichkeit auf deren Weisheit und guten Willen. Sie wusste auch, dass die Wut, die sie durch ihren Beitrag zum Ruin der Eltern auf sich gezogen hatte, nichts war im Vergleich zu dem Hass, der Kronos traf.
Drei Tage lang hallten ihre Rufe nach Gaia und Uranos über die Hügel und in den Höhlen der Welt.
»Erdmutter, Himmelsvater, hört eure Tochter und eilt ihr zu Hilfe! Der Sohn, der dich entmannt und euch beide vertrieben hat, ist zum schändlichsten aller Monster geworden, zur verdorbensten und widernatürlichsten Kreatur der ganzen Welt. Fünf eurer Enkelkinder sind verschlungen worden. In mir trage ich ein weiteres Kind, bereit auf die Welt zu kommen. Sagt mir, wie ich es retten kann. Ich flehe euch an, sagt es mir, und ich werde es dazu erziehen, euch auf ewig zu huldigen.«
Aus der Tiefe war ein schreckliches Rumoren zu hören. Die Erde bebte unter Rheas Füßen. Die Stimme von Uranos erschallte brüllend laut, aber darin vernahm sie auch den ruhigeren Ton ihrer Mutter. Gemeinsam heckten die drei einen großartigen Plan aus.
Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, reiste Rhea nach Kreta, wo sie sich mit einer Geiß namens AMALTHEIA besprach. Ebenfalls auf der Insel lebten die Meliaden, die Nymphen des mannatragenden Eschenbaums. Wie Sie sich vielleicht erinnern, entsprangen sie zusammen mit den Furien und den Giganten dem Boden, der mit dem Blut des Uranos getränkt war. Nach einer ermutigenden Konversation mit Amaltheia sprach Rhea mit den sanftmütigen Nymphen. Zufrieden, weil alles, was sie benötigen würde, auf Kreta zu finden war, kehrte sie zum Berg Othrys zurück, um den richtigen Moment abzuwarten.
Kronos hatte inzwischen mitbekommen, dass seine Frau schwanger war, und hielt sich für den glücklichen Tag bereit, an dem er das sechste seiner Kinder verschlingen konnte. Er ging kein Risiko ein. Die Prophezeiung des Uranos klang ihm noch in den Ohren, und die Anfälle von Paranoia, von denen alle Despoten heimgesucht werden, wüteten von Tag zu Tag heftiger in diesem Ur-Stalin.
Gaia hatte Rhea etwas von einem gewissen Gesteinsbrocken erzählt – einem Objekt aus perfektem Magneteisenerz in genau der passenden Größe für ihren Zweck, glatt und in Form einer großen Bohne –, den man in den Bergen, nicht weit vom Othrys entfernt, finden konnte.12 Morgens spazierte Kronos gerne von einem Ende Griechenlands zum anderen, um seine Titanenbrüder und -schwestern zu besuchen. Offiziell beriet er sich mit ihnen, in Wirklichkeit wollte er nur sichergehen, dass sie sich nicht gegen ihn verschworen. An einem Tag, als Rhea ihn an der Küste bei Okeanos und Thetys wusste, ging sie zu dem Ort, den Gaia ihr beschrieben hatte, fand den Stein und brachte ihn nach Hause zum Berg Othrys, wo sie ihn in Leinen hüllte. Der Plan nahm Gestalt an.
Eines Nachmittags, als Kronos schon in Hörweite, aber noch in sicherer Entfernung war, begann sie zu schreien wie eine Frau, die in den Wehen lag.
Lauter und lauter tönte ihr Geheul und zerriss das Gewebe der Luft, bis nach einer plötzlichen Stille die von ihr ziemlich gut nachgeahmten ersten Schreie eines Neugeborenen erschallten. Kronos machte sich natürlich auf den Weg. Sein Schatten fiel auf Rhea.
»Gib mir das Kind«, sagte er.
»Gefürchteter Herrscher und Gatte –« Rhea warf ihm einen flehentlichen Blick zu. »Willst du mir dieses Kind nicht lassen? Schau ihn dir an, so süß, so unschuldig. So harmlos.«
Mit einem rohen Lachen riss Kronos das sorgfältig gewickelte Baby aus Rheas Armen und schlang es im Ganzen herunter, Leinen inklusive. Einmal, zweimal schlug Kronos sich auf die Brust, rülpste laut und ließ dann seine verzweifelt schluchzende Frau sitzen.
In der Sekunde, als er sich umdrehte, verwandelte sich ihr Schluchzen in ein kaum unterdrücktes hysterisches Prusten und Schreien. Ein Prusten und Schreien vor lauter Lachen.
Nach Luft japsend erhob Rhea sich von ihrem Bett, rutschte den Berg hinab und begab sich, so schnell eine Schwangere es nur vermag, nach Kreta.
Rheas Entbindung auf Kreta verlief problemlos. Von der Ziege und den Meliaden zärtlich unterstützt, gebar sie ihr Kind in der Sicherheit einer Höhle des Ida-Gebirges. Bald brachte sie einen geradezu überirdisch schönen Jungen zur Welt. Sie nannte ihn ZEUS.
So wie Gaia ihr jüngstes Kind Kronos dazu aufgestachelt hatte, Rache an ihrem Sohn und Ehemann Uranos zu üben, schwor Rhea, dass sie ihr jüngstes Kind dazu bringen würde, ihren Mann und Bruder Kronos zu vernichten. Der Teufelskreis von Blutrausch, Gier und Mordlust, der die Geburtsschmerzen der primordialen Welt kennzeichnet, würde sich bis in die nächste Generation fortsetzen.
Rhea wusste, dass sie zum Berg Othrys zurückkehren musste, bevor Kronos ihre Abwesenheit bemerkte und Verdacht schöpfte. Wie abgemacht, stillte die Ziege Amaltheia das Baby mit ihrer nahrhaften Milch, und die Meliaden fütterten es mit dem süßen, gesunden Manna der Eschenbäume. So wurde Zeus auf Kreta groß und stark. Rhea besuchte ihn, sooft sie konnte, um ihn in der Kunst der Rache zu unterrichten.
Obwohl dies die bekannteste Version ist, gibt es viele unterschiedliche Darstellungen, wie Zeus der Aufmerksamkeit des großen Kronos, des Gottes der Erde, des Himmels und des Meers, entkommen ist. Einem Bericht zufolge band eine Nymphe den Säugling mit einer Kordel fest und hängte ihn an einen Baum. So zwischen Erde, Meer und Himmel baumelnd, blieb er vor den Augen seines Vaters verborgen. Ein Bild wie ein Gemälde von Dalí: das Baby, das zum mächtigsten aller Wesen heranwachsen wird, glucksend, plappernd und kichernd mitten in der Luft zwischen den Elementen, über die es später einmal herrschen wird.
Unbemerkt von seinem Vater, erblühte Zeus durch die Ziegenmilch und das Manna aus Kreta. Er lernte zu laufen, zu sprechen und die Welt um ihn herum zu begreifen. Kronos trommelte zu dieser Zeit seine Geschwister am Berg Othrys zusammen, damit sie ihren Treueschwur erneuerten.
»Dies ist nun unsere Welt«, erklärte er. »Das Schicksal hat es gewollt, dass ich kinderlos bleibe, damit ich umso besser herrschen kann. Aber ihr müsst eure Pflicht erfüllen. Vermehrt euch! Bevölkert die Welt mit unserer Titanenrasse. Erzieht sie dazu, mir bedingungslos zu gehorchen, und ich werde euch Provinzen und Länder zukommen lassen. Und nun neigt den Kopf vor mir.«
Die Titanen verneigten sich tief und Kronos grunzte zufrieden. Eleganter vermochte er seine Zufriedenheit nicht auszudrücken. Die rachsüchtige Prophezeiung seines Vaters war gebannt. Das ewige Zeitalter der Titanen konnte beginnen.
Kronos mag zufrieden gegrunzt haben, aber Moros, die Personifizierung von Schicksal und Verhängnis, lächelte – so wie er es immer tut, wenn ein Mächtiger zu viel Selbstvertrauen an den Tag legt. Diesmal lächelte er, weil er sah, wie Zeus auf Kreta gedieh. Er wuchs zum stärksten und strahlendsten Mann der Schöpfung heran – und in der Tat war seine Ausstrahlung so stark, dass es fast wehtat, ihn anzuschauen. Die Kraft der Ziegenmilch und die Nährstoffe des Mannas hatten ihm starke Knochen beschert, eine gesunde Gesichtsfarbe und glänzendes Haar. Er entwickelte sich – um die griechischen Ausdrücke zu verwenden – vom Pais (Knaben) über den Ephebos (Jüngling) zum Kouros (Jugendlichen) und dann zum Prachtexemplar eines jungen Mannes. Schon jetzt zeigten sich auf seinen Wangen die ersten flaumigen Anzeichen von etwas, das später einmal legendär und der Inbegriff eines Bartes sein würde.13 Er besaß das Selbstbewusstsein, das Führerpersönlichkeiten ausmacht, und das lässige Auftreten von jemandem, der um seine Fähigkeiten weiß. Er lachte lieber, als sich aufzuregen, aber wenn etwas seinen Zorn erregte, konnte er jeder lebenden Kreatur um sich herum gehörig Angst einjagen. Von Anfang an legte er eine Mischung aus Lebensfreude und Willenskraft an den Tag, die selbst seine Mutter mit Ehrfurcht erfüllte. Manche behaupteten, dass Amaltheias Milch ihm außergewöhnliche Fähigkeiten verlieh. Bis zum heutigen Tag unterhalten die Fremdenführer auf Kreta ihre Besucher mit Geschichten über seine bemerkenswerten Kräfte. Als wären sie dabei gewesen, erzählen sie die Geschichte, wie er einmal als Kind mit seiner geliebten Ziege spielte, dabei seine Kraft unterschätzte und eines ihrer Hörner abbrach. Aufgrund seiner bereits erstaunlichen göttlichen Kräfte füllte sich das zerbrochene Horn auf der Stelle mit dem köstlichsten Essen – frisches Brot, Gemüse, Früchte, geräucherter Fisch –, ein Angebot, das niemals versiegte, wie viel man auch davon aß. Dies ist der Ursprung des sprichwörtlichen Füllhorns.
»Vergiss nie, was dein Vater getan hat. Er hat deine Brüder und Schwestern verspeist. Er wollte dich verspeisen. Er ist dein Feind.«
Zeus hörte zu, wenn Rhea den untragbaren Zustand der Welt unter Kronos’ Herrschaft beschwor.
»Er führt ein Angstregime. Er kennt weder Loyalität noch Vertrauen. So geht es nicht, mein Zeus.«
»Macht ihn das nicht stark?«
»Nein! Es macht ihn schwach. Die Titanen sind seine Familie, seine Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen. Schon jetzt erheben sich einige gegen seine monströse Tyrannei. Wenn deine Zeit kommt, wirst du ihre Ablehnung zu nutzen wissen.«
»Ja, Mutter.«
»Ein wahrer Führer sucht Bündnisse. Ein wahrer Führer wird bewundert und man vertraut ihm.«
»Ja, Mutter.«
»Ein wahrer Führer wird geliebt.«
»Ja, Mutter.«
»Ach, du lachst mich aus, aber es stimmt.«
»Ja, M…«
Rhea verpasste ihrem Sohn eine Backpfeife.
»Reiß dich zusammen. Du bist kein Narr, ich kann das sehen. Amaltheia berichtet mir, dass du intelligent bist, aber ungestüm, dass du zu viel Zeit mit der Wolfsjagd verbringst, damit, die Schafe zu ärgern, auf Bäume zu klettern, die Nymphen des Eschenbaums zu verführen. Es wird Zeit, dass du angemessen unterrichtet wirst. Du bist jetzt sechzehn, und wir müssen bald handeln.«
»Ja, Mutter.«
Rhea bat ihre Freundin Metis, die weise und schöne Tochter von Tethys und Okeanos, ihren Sohn auf das vorzubereiten, was bevorstand.
»Er ist schlau, aber launisch und voreilig. Bring ihm Geduld bei, Geschick und List.«
Zeus war sofort von Metis bezaubert. Noch nie hatte er solche Schönheit gesehen. Die Titanin war etwas klein geraten, aber von einer Anmut und Ernsthaftigkeit, die sie vor allen anderen auszeichnete. Der Schritt eines Wildtieres und die List eines Fuchses, die Kraft eines Löwen und die Sanftmut einer Taube – all das verband sich zu einer Ausstrahlung und Willensstärke, die den jungen Mann ganz benommen machten.
»Leg dich zu mir.«
»Nein, wir werden einen Spaziergang machen. Ich habe dir einiges zu sagen.«
»Hier. Im Gras.«
Metis lächelte und nahm seine Hand. »Wir müssen arbeiten, Zeus.«
»Aber ich liebe dich.«
»Dann tust du, was ich dir sage. Wenn wir jemanden lieben, wollen wir ihm stets gefallen, nicht wahr?«
»Liebst du mich denn nicht?«
Metis lachte, obwohl der Zauber und das Charisma, das von diesem tapferen und gutaussehenden jungen Mann ausging, sie in Wahrheit verblüffte. Aber ihre Freundin Rhea hatte sie gebeten, sich um seine Erziehung zu kümmern, und Metis enttäuschte nie die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden.
Ein Jahr lang brachte sie ihm bei, wie man in die Herzen anderer schaut und deren Absichten erkennt. Wie man sich in etwas hineinversetzt und Schlüsse zieht. Wie man seine Leidenschaft abkühlen lässt, bevor man handelt. Wie man einen Plan entwickelt und wann man ihn ändern oder aufgeben muss. Wie man den Kopf über das Herz stellt und das Herz die Zuneigung der anderen gewinnt.
Die Weigerung, ihre Beziehung auch körperlich werden zu lassen, machte Zeus nur noch verliebter. Obwohl sie es ihm nie sagte, erwiderte Metis diese Liebe. Deshalb lag stets eine gewisse Spannung in der Luft, wann immer sie sich nah waren.
Eines Tages sah Zeus, wie Metis auf einem großen Felsblock stand und seine glatte Oberfläche mit einem kleinen, rundlichen Stein bearbeitete.
»Was, um Himmels willen, machst du da?«
»Ich zerreibe Senfkörner und Salzkristalle.«
»Aha.«
»Heute«, sagte Metis, »ist dein siebzehnter Geburtstag. Du bist so weit, zum Othrys zu gehen und dein Schicksal zu erfüllen. Rhea wird bald hier sein, aber zuerst muss ich eine Mixtur fertigstellen, die ich selbst entwickelt habe.«
»Was ist in dem Becher?«
»Mohnsaft und Kupfersulfat, gesüßt mit einem Sirup aus Manna von den Meliaden, unseren Freundinnen vom Eschenbaum. Ich vermische sämtliche Zutaten und schüttle sie.«
»Ich verstehe nicht.«
»Schau, da ist deine Mutter. Sie wird es dir erklären.«
Während Metis zuschaute, umriss Rhea für Zeus ihren Plan. Mutter und Sohn schauten sich in die Augen, atmeten tief durch und legten einen Eid ab. Der Sohn gegenüber der Mutter, die Mutter gegenüber dem Sohn.