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"Der Mächtige Strom" ist die fesselnde Autobiografie der chinesisch-taiwanesischen Literaturprofessorin Chi Pang-Yuan. Als Tochter eines Revolutionärs wird sie zur Zeitzeugin, deren Schicksal voll von unvorhersehbaren Verwicklungen und untrennbar mit dem ihres Heimatlandes China verknüpft ist. Bereits im Alter von 8 Jahren muss sie die endgültige Vertreibung aus ihrer Heimat, der von den Japanern besetzten Mandschurei, erleben. Dies ist der Beginn einer gefährlichen Odyssee während der Jahre des II. Weltkriegs sowie des anschließenden Bürgerkriegs, die ihre Familie quer durch China treibt. Chis Flucht endet auf der Insel Taiwan und bedeutet zugleich einen Neuanfang: allen Widrigkeiten zum Trotz schließt sie ihr Hochschulstudium ab und unterrichtet Anglistik an der Nationaluniversität Taiwan. Chi Pang-Yuan gilt als Schutzpatronin der modernen chinesischen Literatur, derer Hauptaufgabe die Bewahrung des "Kollektiven Gedächtnisses" ist.
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Seitenzahl: 1314
Inhalt
Impressum
Prolog
Kapitel I
Heimat nur in Liedern 9
Vorspann 9
1 - Der Anfang 12
2 - Familie Chi aus Tieling 14
3 - Schluchzer aus dem Weidegras 18
4 - Abschied von der Heimat 22
5 - Der unüberwindbare Liao-Strom 25
6 - Der Mukden-Zwischenfall 40
7 - Köpfe über dem Stadttor 44
8 - Löschkalk und Tod 48
9 - Mutter und ihre Landsleute 52
10 - Eine ganze Nation auf der Flucht 55
11 - Zhang Dafei: Kind einer zerbrochenen Familie 58
Kapitel II
Der Widerstandskrieg – Acht Jahre Blut und Tränen 67
1 - Dichte Wolken des Krieges überschatten China 67
2 - Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke 70
3 - Flucht von Nanking nach Hankou 73
4 - Das Land zerstört, die Familien verblutet 77
5 - Das Massaker von Nanking 80
6 - Flucht von Hankou nach Xiangxiang 82
7 - „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus“ 84
8 - Zwischenspiel an der Zhounan-Mädchenschule 86
9 - Flucht von Xiangxiang nach Guilin 90
10 - Von Guilin nach Huaiyuan 93
11 - Auf Serpentinen nach Sichuan 96
Kapitel III
Weil es mich gibt, wird China nicht untergehen! 100
1 - Die Nankai-Oberschule 100
2 - Erinnerungen an unsere fürsorglichen Lehrer 106
3 - Ein Schlafsaal mit 18 Betten 112
4 - General Li Mis Schlachtross 116
5 - „Jeden Tag eine gute Tat“ 122
6 - Literaturgenuss im Bombenhagel 125
7 - Die Zeitschrift „Zeit und Strömung“ 129
8 - Ein Luftschutzbunker als Lesesaal 138
9 - Ein Chor aus tausend Stimmen 142
10 - Lebe Wohl, Alma Mater 145
11 - Aufnahmeprüfung für die Universitäten 150
12 - Briefe aus den Wolken 153
Kapitel IV
Die Drei-Flüsse-Stadt und meine Studentenzeit 160
1 - Flussaufwärts 160
2 - Studentinnenheim Weiße-Pagode-Straße 163
3 - Meine Erfahrung mit dem Fach Philosophie 166
4 - Hellblaue Luftpostbriefe 169
5 - Im konfuzianischen Bildungspalast - Meine erste Begegnung mit Professor Zhu Guangqian 174
6 - Als ein Express-Paket unterwegs 177
7 - Englische Lyrik bei Professor Zhu Guangqian 181
8 - Die Nacht in Meishan 184
9 - Erste Begegnung mit Keats 187
10 - Unser letztes Rückzugsgebiet 191
11 - Die progressive Leserunde 194
12 - Am Zusammenfluss der drei Ströme 200
13 - Zhang Dafei ist gefallen 205
14 - Der Krieg ist zu Ende 211
Kapitel V
Ein Sieg, der eine Niederlage birgt 215
1 - Überraschende Politische Lage 215
2 - Wiedersehen mit berühmten Lehrmeistern 218
3 - Das falsche Lied zur falschen Zeit 223
4 - Die Studentenunruhen 227
5 - Bergstadt Leshan, meine letzte Erinnerung 232
6 - Ein Konzert der Natur 239
7 - Abschied vom Paradies 246
8 - Shanghai: Mein neues Spiegelbild 250
9 - Eintauchen in das „Buch der Offenbarungen“ 254
10 - Beiping, unser vorläufiges Zuhause 257
11 - Campus Luojia-Berg nach dem Krieg 263
12 - „Klassiker“ gegen „Progressive Literatur“ 267
13 - Blutiger „Zwischenfall vom 1. Juni“ 1947 270
14 - Studium abgeschlossen – Zukunft nebulös 276
15 - Ab übers Meer! 286
Kapitel VI
Taiwan im Sturm der Zeit 289
1 - Mein erster Eindruck von Taipei 289
2 - Die neue Welt und alte freundschaftliche Bande 293
3 - Der Do-it-yourself-Tierwirt Herr Ge Fujiang 300
4 - Meine Hochzeit – eine Fügung des Schicksals 303
5 - 1948, Aufnahme des Flüchtlingsstroms 310
6 - Der jugendliche Elan der Heimatvertriebenen 314
7 - Als die Loks noch von Dampfschwaden umhüllt waren 318
8 - Mein Vater, der ewig Heimatlose 322
9 - Schweiß und Tränen: Das Taiwan-Wunder 333
10 - Die Eisenbahner – Zusammenhalt durch dick und dünn 341
11 - Der nicht mehr wahrnehmbare Wellengang 344
Kapitel VII
Die geistigen Erben 347
1 - Die Erste Oberschule in Taizhong 347
2 - Der Beginn des Kulturaustausches 357
3 - „Ich habe einen Traum“ 361
4 - Das Nationale Palastmuseum 364
5 - Erweiterung meines Arbeitsbereiches 368
6 - Frauenhochschule Saint Mary-of-the-Woods 372
7 - Bloomington, eine blühende Stadt 377
8 - Ein Traum wird wahr 382
Kapitel VIII
Neue Realität – die Jahre ab 1970 390
1 - Erste ins Englische übersetzte Anthologie - „Anthologie der Modernen Literatur Chinas“ 391
2 - Moderne Literatur in den Schulbüchern – ein Reformversuch 398
3 - Vor der mit Ahornblättern bedeckten Treppe – Erinnerung an den Gelehrten Qian Mu (1895–1990) 406
4 - Die Offenbarung der Blasenesche 413
5 - Abteilung für Fremdsprachen – Vergangenheit und Heute 420
6 - Englische Literatur – Vision und Nostalgie 423
7 - Religion, Wissenschaft und Poesie – die Viktorianische Ära 427
8 - Die revolutionäre Freundschaft – ein unlösbares Band 431
Kapitel IX
Taiwans literarische Welt und „Wir“ 438
1 - Suche nach dem Stellenwert 438
2 - Aufstieg auf die Weltbühne 444
3 - Erste Zusammenkunft der Autoren zweier Landsteile 447
4 - Literatur der „Zwei Ufer und drei Orte“ 451
5 - Das „leidende Häschen“ als Kulturbegriff in Berlin 454
6 - Eine Brücke für das „leidende Häschen“ schlagen – Der Chinesische PEN Taipei 462
7 - Das literarische „Wir“ 467
8 - Ernennung zur Chefredakteurin PEN 472
9 - Ein unverhofftes Übersetzungsprojekt - „Moderne Chinesische Literatur aus Taiwan“ 478
10 - Ein Zuhause für Taiwans Literatur 481
Kapitel X
Zeugnis meines Lebens - Vom „Mächtigen Strom“ bis zur „Bucht des Schweigens“ 485
1 - Mutter ruht in Frieden 485
2 - Unheil aus heiterem Himmel 488
3 - Vater im Meer des Schweigens 491
4 - Interviews mit Herrn Chi Shiying 497
5 - Ein Treffen zum Abschied 502
6 - Eisen, Fels und Pfingstrose – Symbole meiner Heimat 505
7 - Die längst verwehte Frühlingsbrise von 1943 512
8 - Heldendenkmal 524
9 - Ein Hafen für die Seele 533
Anhang
Lebensstationen von Chi Pang-Yuan 537
Nachwort von David Der-Wei Wang
So traurig, so vergnüglich, so einzigartig 538
Die Mandschurei und Taiwan 540
Vier unverfälschte Persönlichkeiten 544
Selbstverwirklichung vs. konfuzianische Weltanschauung 546
Tränen, die die Geschichte von ewiger Dauer wachsen ließen 547
Danksagung
Impressum
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe:978-3-903861-10-7
ISBN e-book: 978-3-903861-11-4
Lektorat:Bianca Brenner
Umschlagfoto:Night Cloud Conceal Over Mountain Top von Liu Kuo-Sung, 2017
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen:Chi Pang-Yuan
www.novumverlag.com
Prolog
Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter unermesslicher Tragik. Das leidvolle Schicksal der Juden in Europa wurde nach dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen literarischen Werken beschrieben und in beinahe ebenso vielen Verfilmungen nacherzählt. Weniger geläufig in der öffentlichen Wahrnehmung ist das asiatische Pendant des nationalsozialsozialistischen Vernichtungskrieges. Das japanische Kaiserreich hatte in nie dagewesenem Ausmaß millionenfachen Tod und abermillionenfache Vertreibung, vor allem über das chinesische Volk, aber auch über zahlreiche andere asiatische Völker gebracht. Jedoch überlagert von den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima, deren Klagelied Japan zu singen nicht müde wurde, geriet der Massenmord an der chinesischen Zivilbevölkerung nie wirklich in den Fokus des Weltinteresses und der Anteilnahme.
In der Geschichte zweier Generationen meiner mandschurischen Familie werden die Geschehnisse dieser noch nicht sehr weit zurückliegenden Zeit wieder lebendig. Auf dem langen Weg vom „Juliu He“1, dem mächtigen Strom, bis nach „Yakou Hai“2, der Bucht des Schweigens, möchte ich einen zeitgenössischen, persönlichen wie allgemeinen Einblick in die asiatische Welt des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des darauf folgenden Wiederaufbaus gewähren.
Juliu Heals Ausgangspunkt der nachfolgenden Ereignisse war die Bezeichnung des „Liao-Flusses“ zu Zeiten der Qingdynastie (1644–1911). Er ist einer der sieben wichtigsten Wasserstraßen Chinas und gilt alsMutterflussder Bevölkerung Liaonings im Nordosten Chinas. Am Ende unseres Weges stehtYakou Hai, eine kleine Bucht in der Nähe desCape Eluanbi, an der Südspitze Taiwans, die vor allen Dingen aufgrund des dort 1883 erbauten, mittlerweile denkmalgeschützten Leuchtturms bekannt ist, der auch Weltruhm genießt. Im Volksmund heißt es, dass die Brandung, so stürmisch sie auch sein möge, verstumme, wenn sie diese Bucht erreicht.
Über 60 Jahre lang schwelte in mir das Bedürfnis, von meiner Heimat und den vielen selbstlosen, auf ihre Weise kämpfenden Menschen zu erzählen. Die fürchterlichen Wunden, die durch die unsägliche japanische Invasion, gefolgt von einem nicht minder grausamen Bürgerkrieg, in unsere Seelen geschlagen wurden, sind bis heute nicht verheilt. Und während der allgegenwärtige Tod und die bitteren Tränen der Flüchtlinge mit der Zeit verblassten, blieb uns Überlebenden die Gnade des Vergessens verwehrt. Oft stellte ich mir die Frage, wie wir Menschen trotz solcher Erfahrungen weiterleben können. Die Antwort ist so simpel, wie sie psychologisch fatal ist: Wir verdrängen!
Und so stürzte ich mich nach der Kapitulation Japans darauf, mein Studium in Wuhan abzuschließen, während in meiner mandschurischen Heimat der Kampf um die politische Vorherrschaft in China unter Einmischung und Sabotage Russlands zwischen den Kommunisten und den Nationalisten von Neuem entflammte. Kurz nach meinem Studienabschluss im Jahr 1947, es schien, als sollten die Nationalisten in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten die Oberhand behalten, erhielt ich dann eine provisorische „Ernennungsurkunde“ der Taiwan-Universität in Taipei, in der mir die Stelle einer Assistentin am Institut für Fremdsprachen angeboten wurde. Diese „Urkunde“ kam unerwartet und bestand zu meiner Verwunderung aus einer, unter damaligen Umständen durchaus üblichen, auf Reispapier handgeschriebenen Pinselschrift, wobei mir die darin in Aussicht gestellte Anstellung mit Weiterbildungsmöglichkeiten durchaus gefiel, auch wenn dies bedeutete, auf eine exotische Insel im Pazifik übersiedeln zu müssen.
Nur zwei Jahre später folgte, was wir lange für undenkbar gehalten hatten, die endgültige militärische Niederlage Chiang Kai-Sheks und der von ihm geführten Nationalisten. China stand vor der größtmöglichen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Während Mao Zedong (1893–1976) am 1. Oktober 1949 die kommunistische Volksrepublik China ausrief, kam mein Vater Ende November des gleichen Jahres mit der letzten Maschine aus der Kriegshauptstadt Chongqing nach Taiwan. Sein Zustand erschreckte mich zutiefst. Dieser Mann, der das Schicksal Chinas immer engstens mit dem Seinen verbunden gesehen hatte, der stets für sein Land und dessen Bevölkerung eingetreten war und für seine Überzeugungen gekämpft hatte, dieser Mann, der in den Augen all seiner Angehörigen, Freunde, Wegbegleiter und Schüler ein Fels in der Brandung war, saß nun stundenlang schweigend in unserer kleinen Dienstwohnung. Matt und niedergeschlagen saß er regungslos da, ohne ein Wort von sich zu geben. Die stürmische See des Krieges hatte den Fels zermürbt, die Brandung ihn zerschlagen und die Strömung ihn schließlich endgültig fortgerissen. Er war gerade einmal 51 Jahre alt gewesen, als der mächtige Strom seines Heimatlandes ihn wie Treibgut in die fremde Bucht des Schweigens von Taiwan hineingespült hatte.
In den darauffolgenden 60 Jahren konzentrierte ich mich auf meine Lehr- und Schriftstellertätigkeit, ständig darum bemüht, meine und die Horizonte meiner Schüler und Studenten zu erweitern. Und obwohl ich eine Vielzahl von Kommentaren verfasste, um andere Schriftsteller zu ermutigen, wagte ich selbst jedoch nicht den Blick zurück – kein einziges Wort schrieb ich über die nicht aus der Erinnerung löschbare Vergangenheit, die in mir und um mich herum lebte, und die mir mehr bedeutete als mein bescheidenes Leben. Vielleicht war es die unterbewusste Befürchtung, die mich hemmte: Ich kann und will die Geschichte nicht zerstückeln und wie einzelne Wäschestücke an den vertrocknenden Ästen eines absterbenden Baumes aufhängen. Das würde dieser Vergangenheit nicht gerecht werden. Ich will die Erinnerung an Menschen wachhalten, die sich voller Trauer und Verbitterung über ihre von Invasoren zerstörte Heimat, ohnmächtig im Angesicht der allgegenwärtigen Verwüstung, die keine Familie verschont hatte, auf den langen und gefährlichen Fluchtweg in den Südwesten des Landes bis in die Stadt Chongqing machten. Jene, die sich allen Leiden zum Trotz nie aufgegeben und eisern an ihrer Selbstachtung festgehalten hatten. Diese ihre Geschichte muss von ganzem Herzen fühlend und mit Ehrfurcht erzählt werden.
Ich muss von den guten, unkomplizierten Menschen erzählen, die nach Taiwan gekommen waren und sich mit Leib und Seele dem Aufbau und der Gestaltung einer modernen, alten Kulturnation verschrieben hatten. Von all den Menschen muss ich erzählen, die mich begleitet haben in den Jahren meiner Jugend, als Erwachsene und im Alter. Und plötzlich überkam mich die Angst, ich hätte zu lange gewartet, gezaudert, und wäre dem Blick zurück ausgewichen, so dass es womöglich schon zu spät war. Nun, wie aus einem langen Schlaf wachgerüttelt, wurde mir schlagartig klar, dass ich so nicht aus der Welt scheiden konnte. All diese Geschichten mussten zuvor erzählt werden, und zwar von mir.
Meine Eltern sind tot, mein Bruder und meine jüngste Schwester leben im fernen Ausland. So sind nach all den Jahren nur noch meine jüngere Schwester Ningyuan und ich auf Taiwan geblieben. Unsere Beziehung wurde dadurch umso inniger und liebevoller, auch weil sie die Einzige war, die verstand, weshalb ich keine Ruhe würde finden können, wenn ich die Vergangenheit nicht niederschriebe. Ich musste mit dem Buch beginnen und ich musste es vollenden.
Es ist Frühling im Jahr 2009 und die von mir handgeschriebenen Papierhäufchen aus den vergangenen vier Jahren sind zu einem Berg herangewachsen. Ja, es ist beinahe vollbracht. Ningyuan ist mit mir zum Gipfel des Datun Shans3gefahren. Sie möchte mit mir die bevorstehende Veröffentlichung meines Buches feiern. Hierzu hat sie uns einen besonderen Ort ausgesucht. Genau hier vor mir, eingerahmt von den fruchtbaren grünen Bergen, die Taipei kesselförmig umschließen, schauen wir über die Bucht, in der der Tamsui4in die Straße von Formosa mündet, in die herrliche Weite des offenen Meeres. So frei muss das Leben sein!
Hier oben denke ich intensiv an meinen Mann, Yuchang, der schon zu Beginn meiner Arbeit an diesem Buch schwer erkrankte. Ich frage mich nun, ob er meine Sicht auf diese zumeist gemeinsamen und wechselvollen Jahre geteilt und ob dieser Blick zurück ihm den gleichen Frieden des Geistes und des Herzens geschenkt hätte wie mir. Mein einzig verbliebener Wunsch ist es, dass unsere drei Söhne meine Freude über die Vollendung dieses Buches wahrhaftig teilen mögen. Mein Leben ist erfüllt.
Juni 2009
1„Juliu He“ wurde wörtlich übersetzt:Der Mächtige Strom. Das ist auch der chinesische Originaltitel des vorliegenden Romans.
2„Yakou Hai“ aus dem Chinesischen wörtlich übersetzt:Bucht des Schweigens.
3„Datun Shan“ ist der namensgebende Vulkan der Datun-Vulkane, einer Vulkanlandschaft ca. 15 kmnördlich von Taipei, deren höchster Berg, Berg der Siebensterne, sich ca. 1.100 Meter über den Meeresspiegel erhebt.
4 Tamsui (Danshui) ist der gleichnamige Bezirk und Hafenstadtteil, wo der Danshui-Fluss in die Taiwan-Straße mündet, ca. 40 km nördlich von der Stadt Neu-Taipei.
KapitelI
Heimat nur in Liedern
Vorspann
Im letzten Jahr des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zwei Personen, die später meine Eltern werden sollten, in Dörfern geboren, die etwa zehn Kilometer voneinander entfernt in der Flussebene desLiaoin der Mandschurei lagen. Das Gebiet, in das sie hineingeboren wurden, ist ein riesengroßes fruchtbares Weideland. Eigentlich sollte es die ideale Heimat der Hirten mit ihren Rindern und Schafen sein. Aber in der Geschichte Chinas sind seit 2000 Jahren unzählige Kriege auf diesem endlosen Weideland ausgetragen worden, und so kam es, dass während der Blütezeiten der Han- und Tangdynastien auch eine Vielzahl an Kriegshelden aus dem Volke der Han entstammte. Die Mongolen und die Mandschus wiederum eroberten von hier aus ganz China und gründeten die Yuan- und Qingdynastien, die mehr als 400 Jahre über das Land herrschten. Die Familie der Chi stammte aus dem Han-Volk und hatte ihren Ursprung in Taiyuan, in der Provinz Shanxi. Nachdem sie in die Mandschurei ausgewandert war, ließ sie sich im Kreis Tieling, was so viel wie Eisenberg bedeutet, in der Provinz Liaoning nieder. Unser Gutshof Fanjiatun lag in der Nähe von Hetu’ Ala. Der Überlieferung nach dort, wo „der Drache der Qing-Herrscher aufgestiegen“5 war. Die Provinzhauptstadt Shenyang (Mukden) lag nur eine Stunde Bahnfahrt von uns entfernt.
In meiner Kindheit hörte ich bei meiner Großmutter immer von älteren Verwandten, Tieling liege am Ende der Großen Mauer. Im 17. Jahrhundert, nachdem sich die Qing-Herrschaft in Peking etabliert hatte, befahl der erste Kaiser Kangxi den Weiterbau der Großen Mauer einzustellen, denn das Feindbild der Chinesen außerhalb der Langen Mauer entwickelte sich bereits zum Herrn des Hauses, und wovor sollte man sich noch schützen? Angefangen bei der ersten Qin- über die Han-, Tang- und Song- bis zur Mingdynastie hatte China immer erhebliche Grenzprobleme mit dem Norden gehabt. Am Ende der Mingdynastie gelang es den Mandschu-Armeen, in die Reichsmitte Chinas einzudringen; nicht einmal die tausende Kilometer lange Große Mauer konnte ihnen Einhalt gebieten. Zuzeiten der Späten Qingdynastie und des Anfangs der Republik China waren die drei mandschurischen Provinzen im Nordosten mit ihrem riesigen Weideland, das eine Fläche von 1.230.000 Quadratkilometern ausmachte, zwar integraler Bestandteil Chinas, aber China war durch Konflikte mit der Außenwelt und Unruhen im Inneren bereits stark geschwächt. Die Grenzzwischenfälle mit dem Nachbarn Russland häuften sich und für Japans expansionistisches Interesse an einer „Neuordnung im Kreis Groß-Ostasiens“6 bot es ebenfalls ein einladendes Ziel. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen brachte der Mandschurei großes Unheil und verheerende Katastrophen. Doch die unnachgiebige Seele des kriegerischen Nomadenvolkes blieb am Ende unbesiegbar.
Ich wurde in eine leidvolle Zeit hineingeboren. Mein Leben war eine einzige Wanderschaft. Für mich gibt es kein heimisches Fleckchen Erde, wohin ich zurückkehren kann. Für mich existiert die Heimat nur in den von Sehnsucht ergriffenen Gesängen. Und diesen Liedern lauschte ich schon während meiner Kindheit – lauschte meiner Mutter, die häufig voller Schwermut sang. Es war immer dasselbe Lied: „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee. Er lebte als Gefangener neunzehn lange Jahre, umgeben von Eis und Schnee …“7 20 Jahre später, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, in der subtropischen, schneefreien Stadt Taizhong auf Taiwan, unweit vom nördlichen Wendekreis des Krebses, sang sie noch immer dieses Lied, diesmal an der Wiege meines Sohnes. Da sagte ich zu ihr: „Aber Mutter, kannst du denn nichts anderes singen?“, woraufhin sie das Lied „Frau Meng Jiang klagt an der Großen Mauer“8 anstimmte, das von ihrem großen Schmerz über den bitteren Verlust des Ehemannes handelte.
Mutter war 19 Jahre alt, als sie mit Vater verheiratet wurde und zur Familie Chi kam. Einen Monat später ging Vater bereits zum Studium ins Ausland. Er kam nur einige wenige Male während der Sommerferien nach Hause. Unmittelbar nach seiner endgültigen Rückkehr aus dem europäischen Ausland schloss er sich General Guo Sunglings Revolutionsbewegung in der Mandschurei an. Er wurde schließlich ins Exil verbannt. Etliche Jahre lang war es ihm verboten, nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu besuchen. Während all dieser Zeit musste meine Mutter sich und uns Kinder ganz allein durchbringen. Die schiere Hoffnungslosigkeit des langen Wartens hatte tatsächlich sehr viel Ähnlichkeit mit der verzweifelten Lage des Han-Beamten Su Wu und dessen historisch belegter Verbannung. Während all der langen Jahre konnte auch er nichts anderes tun als zu warten und dafür zu sorgen, dass aus seinen Lämmern Schafe heranwuchsen.
Als Mutter bereits 30 Jahre alt war, wurde es ihr endlich gestattet, die drei Tage und zwei Nächte dauernde Bahnfahrt über den Shanhai-Guan9, einen weitläufigen Berg- und See-Pass, ins Landesinnere zu unternehmen, um doch noch ein gemeinsames Leben mit unserem Vater zu beginnen. Von nun an begleitete sie ihren Mann von Ort zu Ort. Dabei entfernten sie sich immer weiter von der Heimat. Es verwundert also kaum, dass Mutter wirklich kein anderes Wiegenlied kannte außer „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee“.
Noch bevor ich mein 20. Lebensjahr erreicht hatte, war ich bereits vom nordöstlichen Abschnitt des Liao-Flusses bis nach Südchina gewandert, von dort aus am Jangtse-Jiang 10 und Min Jiang11 entlang Richtung Südwesten bis nach Dadu He12. In dem acht Jahre andauernden Widerstandskrieg gegen Japan existierte meine Heimat für mich weiterhin nur in den Liedern. Unzählige Menschen aus allen Himmelsrichtungen Chinas waren nach Chongqing13 unterwegs, und sie sangen gegen ihre wachsende Verzweiflung an, während sie auf der Suche nach Rettung jeden noch so abgelegenen Fluchtweg probierten, immer wieder hilflos umherirrten und sich selbst durch knietief verschlammte Pfade kämpften, oftmals inmitten der Bombenhagel und begleitet vom Donnern der Kanonen. Was waren das für Lieder, die sie sangen? Was waren das für Lieder, die sie nicht aufgeben ließen?
Es war das Lied:
„Zehntausend Meilen lang ist die Große Mauer,
Zehntausend Meilen lang …
Jenseits der Mauer, dort liegt meine Heimat …“14
Doch wie sollte ich mir eine solche Heimat vorstellen?
„Meine Heimat liegt im Nordwesten am Sungari-Fluss …
unendlich sind dort die saftigen Weiden,
unzählig die Herden von Vieh darauf …“
Während wir diese Lieder sangen, sehnte sich ein jeder nach dem eigenen Heimatfluss, der einem dann so unbeschreiblich schön vor Augen schwebte, wie der Yongding-Fluss, der Gelbe Fluss, der Han, der Huai, der Gan, der Xiang, der Gui, der Yi oder all die anderen herrlichen Flüsse des Landes. So begleitete mich meine Heimat in den sich stets fortbewegenden Strömungen:
„Unter meinem Holzfenster rauschet Nacht für Nacht der Fluss dahin, sein Schluchzen jedoch bleibt, es flutet mir durch Herz und Seele!“
1 - Der Anfang
Ich wurde am Tag des Laternenfestes15 im Jahre 1924 geboren. Um diese Jahreszeit herrscht in meiner Heimat, der Provinz Liaoning, eine strenge Kälte mit Temperaturen von minus 20 bis minus 40 Grad Celsius. Meine Mutter war während der Schwangerschaft sehr krank gewesen, weshalb ich schon mit einer schwachen Konstitution zur Welt kam. Als Säugling kränkelte ich häufig, und eines Tages, ich war kaum ein Jahr alt, bekam ich sehr hohes Fieber, welches sich nicht mehr senken lassen wollte. Mein Zustand wurde immer kritischer. Am Ende konnte ich kaum noch atmen. Mutter saß auf dem Kang, einem beheizten Bett aus Lehmziegeln, welches bei uns im Nordosten Chinas gebräuchlich war, und presste mich ganz fest an sich. Eine Verwandte, die angereist war, um bei uns das Frühlingsfest zu feiern, sagte zu ihr: „Das Kind ist doch so gut wie tot. Es atmet kaum noch. Warum hältst du noch an ihr fest? Lass es doch einfach sein!“ Meine Mutter konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, aber sie gab mich auch nicht her. Es war bereits Mitternacht, als meine Großmutter schließlich den Beschluss fasste: „Schickt einen der Diener in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Mal sehen, ob der das Mädchen noch retten kann!“ Der Diener ritt also zu einem etwa fünf Kilometer weit entfernten Städtchen und fand auch tatsächlich einen Arzt, der nicht nur reiten konnte, sondern auch noch willens war, sich mitten in der Nacht und bei Eiseskälte zu unserem Landgut zu begeben. Und so wurde ich tatsächlich gerettet. Der sterbende Säugling, den Mutter beharrlich umklammert gehalten hatte, gewann bald wieder an Lebenskraft und sollte diese zurückgewonnene Vitalität nie wieder verlieren.
Laut Statistik betrug die Sterberate von Säuglingen zu jener Zeit um die 40 Prozent. Ein Leben wie das meine war also vergleichbar mit einem flackernden Öllämpchen im Wind. Die Liebe meiner Mutter jedoch und die Hilfe aller guten Menschen um uns herum waren wie ein Lampenschirm, der diese winzige, beinahe erlöschende Flamme vor dem Wind schützte. Einige Tage später kam der Arzt erneut in unser Dorf, um einen seiner Patienten zu besuchen. Meine Mutter brachte mich zu ihm und dankte ihm aufs Herzlichste: „Sie haben dieses Kind gerettet. Ihr Vater studiert in Deutschland und hat ihr noch keinen Namen gegeben. Würden Sie ihr nun einen Namen geben, um diese schicksalhafte Patenschaft des Glücks zwischen ihnen zu besiegeln?“ Der Arzt wählte für mich den Namen „Pang-Yuan“ (Bangyuan) und ließ mir damit bereits seinen zweiten Segen zu Beginn meines Lebens zuteilwerden.
Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass sich mein Name aus der Verszeile „Jene, die mit Gott im Herzen alt wird“ herleitete, welche aus dem „Buch der Lieder“16 stammte: „Ihre klaren Augen strahlen voller Liebe und wohlgeformt ist ihre hohe Stirn. Wahrhaft, sie ist eine Person von großer Schönheit! Sie ist die Prinzessin unseres Landes.“ Wie großzügig er war, dass er mir solch einen Segen gab. Den Namen einer Frau, die etliche Jahrhunderte zuvor gelebt hatte und für ihre Tugendhaftigkeit bekannt blieb. Er erwies mir damit eine Ehre, die ebenso groß wie furchteinflößend war. Ich, die ihr halbes Leben in dieser modernen Welt darum gekämpft hat, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, denke oft an jenen Arzt im Bergdorf meiner Heimat. Ich hoffe, dass er weiß, wie hart ich gearbeitet habe, um mich der Ehre seiner Segnungen würdig zu erweisen. Jener Segnungen, die er mir in einer Zeit zuteilwerden lassen hatte, wo das Leben eines Mädchens keinen Pfifferling wert war.
2 - Familie Chi aus Tieling
Während meiner Kindheit erlebte ich die Welt als einen Ort ohne Vater. Als ich zwei Jahre alt war, sah ich ihn zum ersten Mal, doch das war nur eine flüchtige Begegnung. Mein Vater befand sich damals auf der Flucht, und eines Nachts, während draußen ein eisiger Schneesturm tobte, schlich er sich ins Haus und war im Morgengrauen bereits wieder verschwunden. Zwei Tage später brachten Großmutter und Mutter meinen älteren Bruder und mich zu einem nahegelegenen Dorf, welches noch kleiner war als das unsrige. Dort mussten wir uns eine Zeitlang bei Verwandten verstecken, weil die Truppen von Marschall Zhang Zuolin17 den Auftrag hatten, meinen Vater Chi Shiying festzusetzen. Als Verbündeter des abtrünnigen Generals Guo Sungling18, der einen Putschversuch gegen den Marshall unternommen hatte, war er der Verschwörung mitschuldig und sollte daher, gemeinsam mit seiner gesamten Familie, hingerichtet werden. Während wir uns dort versteckt hielten, schrie ich jeden Abend, wenn es dunkel wurde: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause!“ Für Großmutter und Mutter war es eine unerträgliche Situation, da mein Verhalten alles noch schwieriger machte und sie befürchten mussten, unsere Verwandten in Gefahr zu bringen. Um dies zu vermeiden, beschlossen alle gemeinsam, dass wir wieder nach Hause zurückkehren sollten, und so legten wir unser Schicksal in Gottes Hände.
Der erste Vorfahre der Chi-Familie, von dem ich Kenntnis habe, war als Beamter des Landkreises Xugou in der Provinz Shanxi Anfang des 18. Jahrhunderts nach Fengtien19 versetzt worden, wo er sich nach einigen Jahren dauerhaft niederließ. Innerhalb dieser Ahnenreihe gehörte mein Vater zur inzwischen achten Generation. Unser Gut befand sich in Xiao Xishan, was Klein-Westberg bedeutet, weil es westlich der Stadt Fanjiatun lag und etwa 2,5 km von der Luanshi-Berg-Bahnstation entfernt war. Unser Grundbesitz hatte eine Fläche von etwa 400 Tian20, also ungefähr 4000 Mu21, was umgerechnet etwa 267 Hektar Ackerland sind. Nach damaligen Verhältnissen zählten wir zu den durchschnittlichen Großgrundbesitzern.
Mein Großvater Chi Pengda hatte vier Brüder. Als Jugendlicher wollte er nicht zu Hause bleiben und Bauer werden. Also ging er nach Baoding in der Provinz Hebei und besuchte dort die Offiziersschule. Er diente mehr als 20 Jahre lang in der Fengtian-Armee22 unter Marschall Zhang Zuolin, wo er zuerst vom Bataillons- zum Regimentskommandeur aufstieg und schließlich Brigadekommandeur wurde. Während dieser Jahre blieb er Zhang Zuolin stets treu ergeben. Mein Vater hingegen, Großvaters einziger Sohn, hatte Unmengen neuer Ideen im Kopf, als er von seinem Auslandsstudium in Deutschland zurückkehrte, und vor allem solche, wie man das eigene Land nach westlichen Prinzipien retten könnte. Deshalb schloss er sich Guo Sunglings revolutionären Bestrebungen gegen Marschall Zhang an. Der Putsch hat von seinem Anfang in Tianjin bis zum tragischen Fehlschlag gerade einmal einen Monat gedauert. Großvater war zu dieser Zeit gerade in Baoding, in der Provinz Hebei stationiert und hatte von Vaters Aktivitäten keine Ahnung. Jeder in der Mandschu-Armee erwartete, dass Marschall Zhang meinen Großvater exekutieren lassen würde, doch dieser erklärte zur Überraschung aller: „Der Vater ist des Vaters Generation, der Sohn entspringt einer anderen. Ich habe kein Interesse daran, die Zeche des einen mit dem anderen abzurechnen. Der alte Chi ist mir in all den Jahren immer treu ergeben gewesen. Sein Sohn, dieser Mistkerl, ist durch sein Auslandsstudium ein Wirrkopf geworden, doch das kann nicht bedeuten, dass ich deshalb den Vater töten lasse.“ Später wurde mein Großvater in einem Gefecht leicht verwundet. Er starb jedoch nicht an seiner Verletzung, sondern an einer darauffolgenden Erkältung. Sein Leben endete mit nur 50 Jahren.
Marschall Zhang Zuolin stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Bandit begonnen. Doch er besaß eben jenen Edelmut und ausgeprägten Sinn für Rechtschaffenheit, welche den raubeinigen Volkshelden dieser Epoche zu eigen war. Wegen seiner Unnachgiebigkeit den Japanern gegenüber wurde er bei einem von diesen inszenierten Bombenattentat während einer Zugfahrt in der Nähe des Ortes Huanggutun getötet. Auf solche Weise endete die legendäre Ära dieses Kriegsherren, der eine unermessliche Erbschaft hinterließ: die von allen Seiten bedrohte Mandschurei. Sein Sohn Zhang Xueliang (genannt „Jungmarschall“, 1901–2001) erbte seinen Titel, seine Macht und sein Vermögen. Doch es fehlten ihm die Führungsqualität, Weisheit und Würde, um ein derart großes Gebiet zu regieren. Der Traum von einer autonomen, in Wohlstand gedeihenden Mandschurei sollte niemals Wirklichkeit werden.
Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!
Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige, wohlwollende Frau. Sie mochte ihre Schwiegertochter sehr und hatte großes Mitgefühl mit ihr – der Frau ihres einzigen Sohnes, meiner Mutter. Doch auch sie selbst war von einer Schwiegertochter zur Hausherrin geworden, und deshalb wusste sie nur zu gut um die zwingende Notwendigkeit einer strengstens eingehaltenen Hausordnung. Auch wenn sie meine Mutter stets mit Güte behandelte und ihr niemals Steine in den Weg legte, so waren und blieben Regeln eben Regeln! Jedoch an diese erinnerte meine Großmutter stets mit sanfter Stimme. Obwohl wir eine große Dienerschaft besaßen, war es die Aufgabe der Schwiegertochter, der Mutter ihres Gatten das Essen stehend zu servieren und in respektvollem Abstand bei Tisch zu warten, bis diese ihre Mahlzeit beendet hatte. „So gehört es sich für eine Familie gehobenen Standes“, meinte Großmutter. Für mich hegte sie eine besonders herzliche Zuneigung, war sie es doch gewesen, die mir das Leben gerettet hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass sie, als ich etliche Jahre später ins Xishan-Sanatorium in Peking eingeliefert werden musste, so bitterlich um mich weinte.
Die Heimkehr des Großvaters war immer ein riesiges Ereignis. In jenen Tagen war er bereits ein mächtiger Offizier, daher standen vor unserem Haustor immer vier Soldaten mit Mauser Pistolen auf Wachposten.In Bezug auf Garderobe und Tischmanieren stellte Großvater hohe Ansprüche. Wenn es ihm nicht passte, explodierte er gleich. Die ganze Familie hielt so lange den Atem an, bis er wieder fort war. Mein Vater behauptete, Großvater sei durchaus offen für modernes Gedankengut gewesen, aber da er eine Person von solch großer Autorität war, habe es einfach niemand gewagt, mit ihm zu diskutieren.
Eines Tages, kurz nach meiner Geburt, kam Großvater nach Hause. Er blickte nur flüchtig auf den in Decken gehüllten Säugling, der auf den warmen Kang gebettet lag. Dann nahm er mit bedeutungsschwangerem Gebaren im Hauptsaal Platz und verlangte: „Bringt mir mal dieses Kätzchenmädel, damit ich es auch richtig sehen kann!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erweckte dieser Winzling, der kaum 2500 Gramm wog und es nicht einmal wert war, getragen zu werden, seinen Beschützerinstinkt. Er befahl daraufhin kurz und bündig: „Niemand darf meiner Enkelin etwas zu Leide tun! Das ist mein letztes Wort!“ Dieser Befehl galt insbesondere meinem älteren Bruder, seinem erstgeborenen und recht stämmigen Enkelsohn. Obwohl wir in einem Zeitalter lebten, da Jungen mehr zählten als Mädchen, so waren die Chis doch eine recht kleine Familie, und deshalb wurde jedes Kind als Schatz betrachtet. Durch Großvaters „militärischen Befehl“ war mein Stellenwert in der Familie deutlich gestiegen.
Während seiner Zeit beim Militär erhielt Großvater zum 40. Geburtstag ein hübsches Geschenk: eine zierliche und anmutige Konkubine im Alter von 20 Jahren. Jedes Mal, wenn seine Truppe versetzt wurde oder er in den Krieg zog, schickte er sie zu uns nach Hause, wo sie von Großmutter mit Freundlichkeit und Fürsorge aufgenommen wurde. Nur wenige Jahre später verstarb die junge Frau an den Folgen einer Tuberkulose und hinterließ einen Sohn, Chi Shihao. Kleiner Onkel Shihao war in meinem Alter, und so spielten wir als Kinder recht häufig miteinander. Mein großer Bruder und meine Vettern liebten es, ihn an der Nase herumzuführen. Und auch mir spielten sie gern Streiche, das machte ihnen einfach einen Heidenspaß. Kleiner Onkel hatte trotzdem das Glück, unter der schützenden Hand meiner Großmutter aufzuwachsen, denn sie erzog ihn stets mit viel Liebe. Nachdem die Japaner Nordchina besetzt hatten, wurde er als Absolvent der Mittelschule umgehend zum Wehrdienst in einer der Hilfstruppen für die japanische Armee eingezogen. Eines Tages, während er in seiner japanischen Uniform eine schmale Dorfstraße entlanglief, schoss ihm jemand in den Rücken. Vermutlich war dieser Jemand ein antijapanischer Widerstandskämpfer. Kleiner Onkel starb alleingelassen auf dieser abgelegenen Dorfstraße, was unserer Großmutter eine kaum zu verkraftende Trauer zufügte.
Großmutters Leben war überwiegend von Kummer und Einsamkeit geprägt. Es waren ihr nur wenige echte Glücksmomente vergönnt. Ihr einziger Sohn verließ bereits im Alter von 13 Jahren sein Zuhause, um in der Großstadt Shenyang die Schule zu besuchen, worauf er später zum Studium nach Tianjin, Japan und zuletzt nach Deutschland ging. Lediglich während der Sommerferien kam er sie besuchen, und auch das mit den Jahren immer seltener, da ihn seine Studien weiter von der Heimat weggeführt hatten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland schloss er sich der Revolution an und führte ab da ein Leben in ständiger Verfolgung, stets auf der Flucht, und rastete nur noch im Verborgenen. Nach dem Mukden-Zwischenfall im Jahre 193123 zog meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern und dem Kleinen Onkel nach Peking, welches damals noch den Namen Beiping hatte24. Später dann, als sie langsam in die Jahre kam und Vater mit uns im Krieg auf der Flucht war, wurde sie häufig krank und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Sie hat ihren einzigen Sohn bis zu ihrem Tode nie mehr wiedergesehen.
Meine beiden Tanten waren wohlauf, nachdem sie geheiratet hatten. Die ältere von beiden, Tante Chi Jinghuan, welche wir „Vierte Tante“ nannten, entsprechend ihrer Stellung in der Familie, folgte ihrem Mann Shi Zhihong nach Japan. Sie durfte dort sogar studieren, denn sie war eine wirklich intelligente und zudem sehr mutige junge Frau. Ab 1933 organisierte mein Vater den antijapanischen Widerstand in Nordchina und führte diesen dann einige Jahre lang an. Seit dieser Zeit bis kurz vor dem Sieg im Antijapanischen Krieg 1945 hat Vierte Tante regelmäßig Untergrundkämpfer am Bahnhof von Peking und anderen Treffpunkten abgeholt oder verabschiedet. Jedem dieser Mitglieder des Widerstands stellte sie sich mit ihrer Tarnbezeichnung als „Kusine“ vor. Nach einiger Zeit, als sie für das Bahnhofspersonal schon ein bekanntes Gesicht darstellte, trat einer von ihnen an sie heran und fragte: „Wie kommt’s denn, dass Sie so viele Vetter haben?“ Natürlich wusste man, dass an der Sache etwas faul sein musste, da damals jedoch alle eine Abneigung gegen die Japaner hegten, mochte niemand sie denunzieren. Zudem hielt sie meist auch noch einen Säugling im Arm und verteilte äußerst diskret Geschenke zu Neujahr und an anderen wichtigen chinesischen Feiertagen. Jahre später auf Taiwan sprachen etliche dieser „Vettern“, denen ich begegnete, noch gern über meine Vierte Tante. – Ihre Erzählungen waren voller Dankbarkeit und Bewunderung für diese tapfere Frau. Ich teilte ihre Empfindungen, denn als der Große Krieg ausbrach, waren die Ehemänner beider Tanten gezwungen, das von den Japanern besetzte Peking zu verlassen, da sie schon früh an antijapanischen Aktionen teilgenommen hatten. Also flohen sie gemeinsam mit uns nach Chongqing, wo sie tragischerweise binnen kurzem schwer erkrankten und dann verstarben, während die beiden Tanten und ihre sieben Kinder bei unserer Großmutter in Peking blieben. Sie kümmerten sich redlich weiter um ihre Mutter, bis sie im Alter von 64 Jahren an Krebs verstarb.
Bereits im ersten Kriegsjahr hatten wir flüchten müssen und die damals unabhängige Hafenstadt Hankou erreicht, nur 20 Tage bevor Nanking (Nanjing) den Japanern in die Hände fiel. Nach kurzer Verschnaufpause brachen wir erneut auf und gingen nach Xiangxiang in der Provinz Hunan, wo wir uns ein halbes Jahr aufhielten. Dann machten wir uns auf den beschwerlichsten Teil unserer tausende von Kilometern langen Fluchtreise nach Chongqing, die uns unter widrigen Umständen über die Xiangqian-Straße, welche die Provinzen Hunan und Guizhou miteinander verband und schließlich quer durch die Provinz Sichuan führte. In Chongqing verbrachten wir dann die restlichen Kriegsjahre. Dort erreichte uns dann auch, mit einem Jahr Verspätung, die Nachricht von Großmutters Tod. Vater hat es zeitlebens von ganzem Herzen bedauert, dass er ihr während der letzten Stunden nicht zur Seite hatte stehen können.
3 - Schluchzer aus dem Weidegras
Mein Großvater mütterlicherseits, Pei Xincheng, war Han-Chinese und hatte eine Mongolin geheiratet. Sie lebten in Xinchengzi (Neustadt), einem kleinen Dorf etwa zehn Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Großvater war ein wohlhabender und sehr einflussreicher Mann. Er betrieb eine Mühle und besaß zudem viele Ländereien. Im Jahre 1904 begleitete er den von der Präfektur entsandten Bildungsinspektor, Herrn Jiang, während dieser die Dorfschule von Fanjiatun besichtigte. In einer der Klassen wurde gerade Ethik unterrichtet, als einer der kleineren Schüler den Lehrer fragte: „Wieso führen die Japaner und die Russen Krieg in unserer Heimat?“ Es war die erste Begegnung meines Großvaters mit meinem Vater. Die zwei Besucher waren von Vater und seinem Vetter Shichang, welcher auch Zweiter Bruder genannt wurde, zutiefst beeindruckt. Erst kurz zuvor hatte Vater aus einiger Entfernung das Trommelfeuer der Artillerie in der Schlacht am Südberg erlebt, während die Russen zerstreut wurden und den siegreichen Japanern diese strategisch bedeutsame Stellung überlassen mussten. Bevor es dann zu einem endgültigen Waffenstillstand kam, hatten die Japaner in unserem Gutshof Quartier bezogen. Nach knapp zwei Monaten war mein Großvater väterlicherseits mit seiner Geduld am Ende, er beorderte seine eigenen Soldaten zu uns nach Hause, woraufhin die Japaner gezwungenermaßen ihre Zelte abbrachen und weiterzogen. Einige Jahre später kamen angesehene Leute als Heiratsvermittler im Auftrag von Großvater Pei und Bildungsinspektor Jiang zu meinen Großeltern und schlugen die Vermählung der Kinder der drei Familien vor. Die Tochter von Inspektor Jiang war im gleichen Alter wie Onkel Shichang, und Herr Peis Tochter Yuzhen passte altersmäßig hervorragend zu meinem Vater. Die Jungen waren attraktiv und die Mädchen bildhübsch, zudem waren alle drei Familien von gleichwertig sozialem Stand. Die Familienoberhäupter wurden sich daher schnell einig und machten die Verlobungen offiziell.
Da mein Vater und mein Onkel zu dieser Zeit die Mittelschule in Shenyang besuchten, bekamen sie keine Gelegenheit, ihre eigene Meinung zu den Verbindungen zu äußern. In den Sommerferien begleitete Vater einige Verwandte zu einer Besichtigung des familieneigenen Weinbergs, welcher in jener Zeit eine große Rarität in der Mandschurei darstellte. Während dieses Ausflugs begegnete der 14-jährige Junge zum ersten Mal seiner zukünftigen Braut. Das junge Mädchen war durchaus positiv beeindruckt von ihrem Verlobten, den auch sie zum ersten und vorerst letzten Mal sah, und dachte bei sich, dass er mit Sicherheit einen besseren Ehemann abgeben würde als irgendein Bauernsohn. Und so begann sie sich in ihren Träumen das Leben auszumalen, welches sie schon bald führen würde, und sah natürlich nur die schönen Seiten. In ihr erwachte eine tiefe Sehnsucht nach jener Welt, welche weit über die Grenzen ihres bisherigen Lebens hinausreichte.
Bereits seit frühester Kindheit hatte Vetter Shichang einen großen Einfluss auf meinen Vater gehabt. Shichang war vier Jahre älter als er und voller fortschrittlicher Ideen. Als Nachrichten von der Revolution in Wuhan 1911 endlich bis nach Shenyang durchgedrungen waren, ließ er sich sofort den altmodischen Zopf abschneiden. Sein jüngerer Cousin, der gerade einmal neun Jahre alt war, machte es ihm in bewunderndem Eifer sogleich nach. Ebenso folgte er seinem Vetter auch zum Haus des Gouverneurs, vor dem die beiden dann stundenlang knieten, als Teilnehmer einer öffentlichen Petition zur Einführung einer parlamentarischen Volksvertretung. Aus Unzufriedenheit über den Lehrplan an ihrer Mittelschule gingen sie ohne Wissen und Erlaubnis ihrer Eltern nach Tianjin, wo sie gemeinsam die Prüfung zur Aufnahme an einer von englischen Missionaren geführten und sehr modernen anglikanische Schule ablegten und auch bestanden. Nachdem sie dort ihren Schulabschluss gemacht hatten, gingen sie gemeinsam zum Studium nach Japan. Mein Vater erhielt dank seiner überragenden Prüfungsergebnisse ein Stipendium, welches von der Stadtverwaltung finanziert wurde, und konnte somit an der First Tokio High School studieren. Ein Jahr später wurde er der Kanazawa Fourth High School zugeteilt. Er war mittlerweile 19 Jahre alt. Während der Sommerferien erreichte ihn ein Brief von zu Hause: Großmutter sei krank und deshalb nun eine frische Hand bitter nötig, die sich an ihrer Stelle um den Haushalt kümmert. Er solle umgehend heimkommen und heiraten. Mein Vater weigerte sich jedoch, nach Hause zu reisen. Daraufhin schickte Großvater einen seiner Vettern nach Japan, um meinen Vater doch noch umzustimmen, und gelänge dies nicht, dann solle man ihn einfach nach Hause zurückschleppen. Bis ins hohe Alter erzählte uns Vater immer wieder gern diese Anekdote. Nach eigener Aussage hatte er daraufhin einige Bedingungen aufgestellt, damit er sich zur Heirat bereit erklären würde: Es dürfen keine Kotaus gemacht werden, es dürfe keine rote Kleidung getragen werden und auch auf den roten Schleier muss verzichtet werden. Es würde auch keine überdachte Sänfte geben, stattdessen dürften sie auf Pferden reiten. Überdies forderte er, dass seine Braut ihn nach der Eheschließung ins Ausland zum Studium begleiten dürfe. Würde allen seinen Bedingungen stattgegeben, dann kehre er heim, wenn nicht, dann würde er bleiben, wo er sei. Die Familie versprach dann, seine Forderungen zu erfüllen. Aber eingehalten wurde nur, dass er während der Hochzeitsprozession hoch zu Ross thronen durfte. Alles andere verlief nach guter alter chinesischer Tradition. Einen Monat später war er bereits wieder in Japan, jedoch ohne die Braut.
Während der ersten zehn Jahre ihrer Ehe war es meiner Mutter weder erlaubt noch praktisch möglich, das Gelände unseres Anwesens zu verlassen. Lediglich in Ausnahmefall wurde ihr gestattet, das Familiengrundstück zu verlassen. Mein Vater war der einzige Sohn der Familie, daher hatte sie als Einzige all jene Aufgaben zu erfüllen, die der chinesischen Tradition gemäß einer Schwiegertochter zufielen. In ihrer dürftigen Freizeit nähte sie Kleider, stichelte Schuhsohlen25 oder stickte die Außenschafte der Schuhe. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es jedoch, Kopfkissenbezüge mit selbsterdachten Mustern zu besticken. Es war die einzige Tätigkeit, die sie als wirklich entspannend empfand. Als Angeheiratete hatte meine Mutter keine Freunde in der Nähe und auch keinerlei gesellschaftliches Leben. Umso dankbarer war sie für die Erlaubnis, zweimal im Jahr ihr zehn Kilometer entferntes Elternhaus besuchen zu dürfen. In meinen Kindheitserinnerungen erscheint meine Mutter entweder als die Frau, die mit hängenden Armen demütig bei Tisch stand und meinen Großeltern das Essen servierte, oder als die, die verborgen im hohen Weidegras bitterlich weinte und schluchzte. Während dieser zehn Jahre war mein Vater nur vier- oder fünfmal in den Sommerferien nach Hause gekommen und kaum zwei bis drei Monate geblieben. Eines Tages, als meine Mutter gerade schwanger war, verspürte sie einen großen Heißhunger auf Kirschen. In unserer Region gab es nur eine Saison für Kirschen, daher waren sie nur kurze Zeit von Juli bis August erhältlich. Ein Wanderhändler, der mit Körben an seiner Schulterstange von Ort zu Ort zog, verkaufte gerade seine Kirschen am Eingang zu unserem Dorf. Mein Vater, der damals 21 Jahre alt war, lief schnell hinaus, um noch welche zu ergattern, und vergaß in der Eile, einen Beutel mitzunehmen. Kurzerhand raffte er den vorderen Teil seines langen Gewandes zusammen und ließ sich die Kirschen hineinfüllen. Mit einem Schoß voller Kirschen lief mein Vater vom Dorfeingang zurück zu unserem Gutshof. Die Erinnerung an diesen Schoß voller Kirschen sollte meiner Mutter in den folgenden neun Jahren voller Einsamkeit die Kraft zum Durchhalten geben. In jenen Ferien entschied mein Vater auch, dass der Name meiner Mutter, „Yuzhen“, welcher Leben in Keuschheit bedeutet, zu altmodisch und zu gewöhnlich sei, und gab ihr daraufhin einen neuen Namen. Von da an war ihr Name „Chunyi“, denn er vertrat die Ansicht, dass Rein und Dauerhaftigkeit viel angemessener für sie wäre und auch wesentlich besser zu ihm passen würde.
Nach seinem Studium in Japan ging mein Vater direkt nach Deutschland. Alle seine Briefe und die darin enthaltenen Fotos waren an meine Großeltern adressiert. Sie begannen allesamt mit „Hochverehrte liebste Eltern“ und lediglich am Schluss eines Briefes schrieb er gewöhnlich „Grüße auch an Yuzhen“. Vielleicht lag es daran, dass Männer sich in jener Zeit noch genierten oder er sich aufgrund seiner bedeutenden Position als erstgeborener Sohn des Hauses nicht die Blöße zu geben wagte, persönliche Gefühle für seine Frau in einem Familienbrief, wobei das Familienoberhaupt der Adressant war, zu zeigen. Ganz zu schweigen von einem privaten Brief an seine Frau als deutliches Liebeszeichen. Und so beschritten meine Eltern, obwohl sie im gleichen Alter waren, vollkommen verschiedene Lebenswege. Während mein Vater sich in der weiten Welt mit Büchern, neuen Ideen und gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigte, blieb meine Mutter daheim und kümmerte sich tagein tagaus um die nicht enden wollenden Aufgaben im Haushalt und auf dem Gehöft. Auf ihrer Liste stand: Täglich drei Mahlzeiten kochen, danach Geschirr und Töpfe abwaschen. Sand und Staub wegfegen, die ohne Unterlass von den unendlichen Weiten hinter der Großen Mauer herüberwehten. Zwischendurch nach dem Wohlbefinden der Schwiegereltern erkundigen und alle Wünsche erfüllen. Dazu noch das Polieren auf Hochglanz der rituellen Gegenstände für das Frühlingsfest sowie die Vorbereitung der zahlreichen Familienfeste und Feiertage im Allgemeinen. Jedes Jahr im Oktober musste sie dafür Sorge tragen, dass die Knechte und Mägde rechtzeitig den Chinakohl und die großen Rettichwurzeln im Keller als Wintervorrat einlagerten. Dann wurde ihr erst bewusst, dass sich ein weiteres Jahr bereits dem Ende zuneigte. Die Wege dieser zwei Menschen entfernten sich immer weiter voneinander und meine Mutter vermochte sich schon längst nicht mehr vorzustellen, welche Kreise das Leben ihres Mannes zog und wie es in seiner Welt aussah. Ihr Leben und Erleben konnten unterschiedlicher nicht sein, und selbst wenn sie den Wunsch verspürt hätten, die starke Zuneigung, welche sie füreinander empfanden, dem jeweils anderen mitzuteilen, so gab es doch keine gemeinsame Sprache mehr, um dies noch zu tun.
Den wichtigsten Rückhalt in ihrem von Einsamkeit geprägten Dasein erhielt meine Mutter durch die Ankunft meines älteren Bruders und meine Geburt. Wir Kinder erschienen ihr wie Geschenke des Himmels, wie ein Unterpfand der Treue und der Liebe, somit in gewisser Weise auch wie ein Abbild ihres abwesenden Ehemannes. Mein Bruder Zhenyi, dessen Name Aufschwung und Dauerhaftigkeit bedeutet, war im Frühling zur Welt gekommen, nachdem Vater in den Sommerferien zuvor nach Hause gekommen war. Zwei Jahre später zur selben Jahreszeit wurde ich geboren. Wieder drei Jahre vergingen, da erblickte Bruder Zhendao, was so viel wie Aufschwung des natürlichen Weges bedeutet, das Licht dieser Welt. Die für damalige Verhältnisse kleine Familie Chi besaß keine große Nachkommenschaft, umso bedeutender für sie und vor allem für meine Eltern war die Geburt und das gesunde Aufwachsen von uns Kindern. Insbesondere in Zeiten, da die medizinische Versorgung noch sehr rückständig war, und dementsprechend hoch fiel auch die Sterberate bei Kleinkindern aus. Mein jüngerer Bruder war erst drei Jahre alt, als er sich eines Tages beim Herumtollen im Haus versehentlich mit den Händen auf dem beheizten Ofen abstützte und sich dabei schwere Verbrennungen zuzog. Er wurde zur ärztlichen Behandlung nach Shengyang geschickt, wo er bei meiner Tante untergebracht wurde. Während seines Aufenthaltes dort steckte er sich bei seiner Kusine mit einer Hirnhautentzündung an und starb zwei Wochen später an den Folgen der Infektion.
Meine Mutter konnte den Tod ihres jüngsten Sohnes nicht verwinden. Sie machte sich schwere Vorwürfe, weinte unaufhörlich und versank tief traumatisiert zusehends in einem Zustand der Verwirrung. Die traditionelle Gesellschaft betrachtete es als unheilvolles Omen, wenn eine junge Schwiegertochter schwermütig wurde und ständig „ohne nennenswerten Grund“ in Tränen ausbrach. Mutter war sich dessen nur allzu bewusst, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so lange zusammenzureißen, bis sie das Abendessen serviert hatte, und erst dann lief sie aus dem Haus, tief hinein ins meterhohe Weidegras, wo sie endlich ihrer tiefen Trauer freien Lauf lassen konnte. Tag um Tag, Woche für Woche hockte sie dort nach Sonnenuntergang im Verborgenen und weinte. Während all dieser Monate, da das zarte Grün im Frühling nach der Schneeschmelze zu sprießen begann, bis zu dem Zeitpunkt, da es zu einem faden Grau verblasst war und wieder unter einer dichten Schneedecke versank, bot ihr das Dickicht aus mannshohem Weidegras am hinteren Ende unseres Gartens eine Zuflucht, wo sie ihrer tagsüber unterdrückten Trauer endlich mit gedämpften Schluchzern Luft machen konnte. Als der Frühling zurückkehrte und der Schnee endlich wieder geschmolzen war, nahm meine Mutter mich mit zum nahegelegenen Familiengrab. Dort angekommen warf sie sich auf den kleinen Erdhaufen, welcher die letzte Ruhestätte meines kleinen Bruders markierte, und weinte bitterlich. Ich kann mich noch erinnern, dass um den kleinen Friedhof herum Fichten wuchsen, welche wild im Frühlingswind tanzten. Überall auf den Gräbern blühten langstielige rosarote Blumen. Die üppige Fülle dieser zarten, beinahe transparenten Blütenblätter im Kontrast mit den viel zu dünnen Stängeln erschienen mir wie eine zierliche und edle Schönheit, die ihresgleichen weit und breit nicht zu finden vermochte. Sie waren so gänzlich anders als die mir bekannten Wildblumen, die überall bei uns in der Gegend wuchsen. Begleitet vom leisen, schmerzerfüllten Weinen meiner Mutter pflückte ich geschäftig eine große Anzahl dieser herrlichen Blumen. Auf dem Weg nach Hause trug ich dann voller Stolz den riesigen Blumenstrauß vor mir her. Großmutter freute sich sehr über die wunderschönen Blumen, als wir nach Hause kamen, und erklärte mir, dass es Pfingstrosen seien. Seither verbinde ich mit Pfingstrosen das unermesslich, unvergänglich Schöne und die ewige Trauer zugleich. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, klingen in meinen Ohren das leise Schluchzen meiner Mutter und die Leiden jener Frauen einer vergangenen Epoche.
Seit jenem Besuch am Familiengrab saß meine Mutter häufig apathisch auf der Bettkante. Ihr starrer Blick auf das Fenster gerichtet ging in eine ferne Leere. Selbst Großmutters Rufe konnten sie manchmal nicht wachrütteln. Nach dem Qingming-Fest im April, dem Gedenktag für die Verstorbenen, an dem ihre Grabstätten gefegt werden, kam die Schneeschmelze und die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf. Überall schoss das zarte Grün der Pflanzen aus der Erde empor, und dann zeigte sich unter ihnen auch wieder eine besondere Seltenheit: die Gänsedistel, die einen frischen und leicht bitteren Geschmack hat. Die Frauen unseres Dorfes sammelten sie am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und ich ging natürlich sehr gern mit. Als wir das Brachland erreichten, erschienen am Himmel immer wieder Scharen von Wildgänsen, welche in typischer V-Formation aus dem Süden heimkehrten, und wir konnten deutlich ihre Schreie hören, rau und klagend. Meine Mutter richtete sich zwischendurch immer wieder auf und schaute ihnen lange Zeit unbewegt nach. Sie kehrte erst heim, nachdem alle anderen schon längst gegangen waren.
4 - Abschied von der Heimat
Eines Morgens kam mein Großvater mütterlicherseits unangekündigt auf einen Besuch vorbei. Jemand hatte ihm erzählt, seine Tochter Yuzhen sei mittlerweile derart verstört, dass sie beim Kochen die Hand mit dem Brennholz zu weit in den glühenden Ofen gesteckt habe, ohne dabei irgendwelche Schmerzen zu spüren. Auch solle sie sich bereits seit einiger Zeit in diesem Zustand von Geistesabwesenheit befinden, erklärte er meinen Großeltern väterlicherseits, weshalb er sich große Sorgen um seine Tochter mache. Außerdem sei ihm noch zu Ohren gekommen, dass mein Vater derzeit in Nanking mit den sogenannten fortschrittlich-modernen Studentinnen und Studenten in einer Wohngemeinschaft zusammenlebe, und das könne er keinesfalls gutheißen. Schließlich willigten meine Großeltern ein, dass er meine Mutter und uns zwei Kinder zu meinem Vater nach Nanking bringen dürfe, damit wir künftig mit meinem Vater leben konnten. Großvater musste ihnen jedoch versichern, dass er uns wieder nach Hause mitnehmen würde, falls mein Vater uns nicht aufnehmen wollte.
Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass es Spätherbst war. Fast alle Blätter waren schon von den Bäumen gefallen und die Hirse war bereits geerntet. Zwei Angestellte fuhren uns mit einer Pferdekutsche zu dem fünf Kilometer entfernten Bahnhof. Die Station hieß Luanshishan (wörtlich: chaotischer Steinberg), und dort sah es wirklich nach Geröllberg aus. Die losen Felsbrocken, die sich überall auftürmten, wurden von der Ostmandschurischen Eisenbahngesellschaft zum Ausbau der Strecke verwendet. Für die Reise nach Nanking, in die Hauptstadt der Republik China, trugen mein Bruder und ich unsere neuen baumwollgefütterten Roben. Meine Mutter hatte die Roben eigens zu diesem Anlass in Shenyang anfertigen lassen. Meine war aus rotem Stoff gefertigt und mit zierlichen blauen Blümchen bestickt. Für mich war das alles unheimlich aufregend.
Kaum hatte die Kutsche unser Dorf verlassen, da tauchte vor uns auch schon die trostlose Landschaft mit den kahlen Geröllhügeln auf. Kein einziger Baum wuchs dort. Ich stieß eine Frage aus: „Mama, wie heißt dieser Berg?“ Meine Mutter, die bereits seit den frühen Morgenstunden meine lautstarke Fragerei erdulden musste, antwortete leicht genervt: „Das ist der Geister-Weinen-Wölfe-Heulen-Berg!“ Dieser sonderbare Name und der eigenartige Gesichtsausdruck meiner Mutter während sie ihn mir nannte, machten auf mich einen so gruseligen Eindruck, dass er noch sehr lange in meiner Erinnerung nachwirken sollte.
Meine Mutter fuhr also mit zwei kleinen Kindern zu ihrem Mann, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, um die Familie wieder zusammenzuführen. Das Ziel war eine Großstadt, die tausende Kilometer von der Mandschurei entfernt lag. Ein riesiger, unvorstellbarer Ort, wo sie niemanden kannte und wo es nicht einmal ein paar Verwandte gab. Kann es da verwundern, dass sie ängstlich und voller Furcht dieser vollkommen fremden Welt entgegensah? Einer Welt, wo die „Geister weinen und die Wölfe heulen“? Meine Mutter wusste nur zu gut, dass die Zukunft keineswegs gesichert sein würde, doch sie war entschlossen, nie wieder in das kleine Dorf jenseits der Großen Mauer im Niemandsland zurückzukehren, wo sie zehn lange Jahre isoliert und einsam wie eine junge Witwe gelebt hatte.
Während meiner Kindheit erzählte Mutter uns häufig Geschichten und Märchen, denn sie war eine ausgezeichnete Erzählerin. Es gelang ihr auf faszinierende Weise, die Wildheit der Natur, die unermessliche Weiten dieser Erde, die bedrohlichen Raubtiere der Mandschurei und die unbeschreibliche Einsamkeit des Lebens einer jungen Frau in diesen Geschichten zu verschmelzen, die sie uns während der Sommerabende am Kinderbett erzählte. Durch ihre lebendige und eindringliche Art der Schilderung erschien uns Kindern, als würden wir alles hautnah miterleben. In vielen ihrer Erzählungen klangen die eigenen stillen Erwartungen und auch eine immerwährende Traurigkeit durch. Und es gab auch solche, in denen sie ihre tief sitzende Unruhe unverblümt äußerte, angefüllt mit den Schrecken, wie sie der Berg der weinenden Geister und heulenden Wölfe bereithielt, sie offenbarte schonungslos und in kraftvollen Bildern ihre eigenen Ängste vor der Größe Nankings und die Sorge um ihr eigenes Schicksal. Für sie war es eine Möglichkeit, sich all die Dinge von der Seele zu reden, worüber sie im Alltag nicht klagen mochte. Meine lebenslange Leidenschaft und das tiefe Verständnis für Literatur verdanke ich, ebenso wie das Vergnügen an der eigenen Schriftstellerei, eigentlich nur meiner Mutter, und damit einer Frau, der nicht mehr Bildung zugestanden worden war als der Besuch einer Mittelschule.
Am deutlichsten ist mir von jener Reise der Augenblick in Erinnerung geblieben, als mein Großvater mütterlicherseits meinen Bruder und meine Mutter mich bei der Hand nahm und wir am Bahnhof von Shenyang in den Zug einstiegen. Der Zug fuhr Tag und Nacht, vorbei an unzähligen Feldern, die längst abgeerntet waren, so dass wir nichts als die endlose Weite der schwarzen Erde bis hin zum Horizont erblickten, nur ab und an unterbrochen von schmalen Waldstücken, welche als Windschutz dienten. Großvater sagte, erst wenn die Zeit des Frostes vorüber sei, im kommenden März, könnten die Äcker wieder bepflanzt werden.
Der Zug fuhr von Shenyang über Shanhaiguan bis nach Peking. Dort stiegen wir um und fuhren weitere drei Tage und zwei Nächte mit der Jin-Pu-Bahn bis Nanking. Als wir in den Bahnhof Xiaguan in Nanking einfuhren, sah meine Mutter aus dem Fenster und erblickte ihn sofort, diesen attraktiven „Fremden“ mit den lebhaften, klaren Augen und dem selbstsicheren Gesichtsausdruck. So stand er auf dem Bahnsteig, kerzengrade, wartend und von Schwaden weißen Kesseldampfes umhüllt. Diese aufrechte Haltung sollte ihm bis zu seinen letzten Jahren erhalten bleiben, kerzengrade und ungebeugt. Während sich die weißen Schwaden langsam lichteten, sah der junge Mann die Frau aus dem Zug aussteigen, mit der er im Alter von 19 Jahren verheiratet worden war. Ihre Schritte waren zögerlich, und ihre Hand, welche die meine hielt, zitterte so heftig wie Espenlaub. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Schüchternheit, der ihre wahre Freude verbarg. So stand sie dort auf dem Bahnsteig, zwischen ihren beiden Kindern, unübersehbar ihre Provinzialität, auch wenn man sie in nagelneue, baumwollgefütterte Roben gesteckt hatte.
Großvater war keine zwei Wochen in Nanking gewesen, als er bereits wieder in den Zug stieg, um nach Hause in die Mandschurei zu fahren. Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, brach meine Mutter in Tränen aus. Es war herzzerreißend. Als fünftes und zuletzt geborenes Kind war sie auch die einzige Tochter im Hause gewesen. Die Familie hatte sie daher behütet wie eine zerbrechliche Eierschale. Umso schwerer fiel es dem Großvater in jenem Augenblick, sein geliebtes Küken hilflos in einem Meer von Menschen hier im Süden zurückzulassen. Doch es musste sein! Geprägt durch eigene Erfahrungen oder einfach nur aus Angst vor der beständigen Unsicherheit im Leben ermahnte uns Mutter in den folgenden Jahren regelmäßig: „Wenn ihr nicht fleißig lernt, wird euer Vater uns bestimmt wegschicken.“ Es war nicht wirklich verwunderlich, dass ich bereits im zarten Kindesalter begonnen hatte, mich zu sorgen. Vor lauter Kummer schlief ich oft sehr schlecht, und manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aus wirren Träumen aufschreckte, hörte ich Vater im Nebenzimmer leise mit meiner Mutter sprechen. Seine Stimme klang sanft und gelassen. So schlief ich doch beruhigt wieder ein.
Kurz nach unserer Ankunft in Nanking wurde ich in der Volksschule angemeldet, wo ich in die erste Klasse kam. Für mein Alter war ich eher klein und viel zu dünn. Vermutlich wirkte ich wie ein richtiges Landei, und es fiel mir schwer, den Nanking-Akzent zu verstehen. Am ersten Tag hatte ich von dem, was der Lehrer uns gesagt hatte, nur so viel verstanden: „Es ist nicht erlaubt zu trinken und gleich darauf aufs Klo zu gehen!“ Und schon hatte ich große Angst, zur Schule zu gehen. Außerdem fiel es mir anfangs schwer, neue Kontakte zu knüpfen, doch mit der Zeit gelang es mir schließlich und ich fand neue Freunde unter den Mitschülern. Eines Tages schenkte mir eine dieser Schulfreundinnen einen bunten Radiergummi. Grün und rot strahlten die Farben. Ich hatte so etwas auf dem Lande noch nie gesehen und war sehr glücklich darüber. Ein paar Tage später, als sie schlechte Laune hatte, verlangte sie den Radiergummi wieder zurück. Ich fühlte mich furchtbar und war sehr traurig. Bis heute kann ich mich noch an diesen herrlichen Radiergummi erinnern. Das war auch der Grund dafür, warum ich damit anfing, auf meinen vielen Reisen schöne Radiergummis zu kaufen.