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Frauke Höntzsch

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Beschreibung

Politisches Denken und Handeln setzt immer schon ein Bild vom Menschen voraus und doch bleibt der Mensch als politisches Argument häufig im Dunkeln. Frauke Höntzsch skizziert eine politikwissenschaftliche Anthropologie, deren Ziel es ist, die Struktur und den Status anthropologischer Argumente im politischen Denken offenzulegen, um sie so der Kritik zugänglich zu machen. Die Systematisierung anthropologischer Argumente im politischen Denken zeigt dabei nicht nur die Anthropologiekritik als anthropologische Argumentation, sondern generiert mit den untereinander konkurrierenden paradigmatischen Vorstellungen des Menschen zugleich ein politikwissenschaftliches Analyseinstrument.

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Frauke Höntzsch

Der Mensch als politisches Argument

Für eine politikwissenschaftliche Anthropologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BYSA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.

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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Frauke Höntzsch

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839465813

Print-ISBN 978-3-8376-6581-9

PDF-ISBN 978-3-8394-6581-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-6581-9

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

 

Für eine politikwissenschaftliche Anthropologie

I.Kritik »politischer Anthropologie«

1.Kritik herkömmlicher Verständnisse: politische Anthropologien

2.Kritik der Anthropologiekritik: Anthropologiekritik als »politische Anthropologie«

2.1Anthropologiekritik als Folge eines Paradigmenwechsels

2.2Anthropologiekritik als radikal(isiert)e Erkenntniskritik

II.Das anthropologische Argument im politischen Denken

1.Die Struktur des anthropologischen Arguments und seine politischen Implikationen

2.Dimensionen – Konfliktlinien – Grundkonzepte

2.1Erkenntnisprinzip – Determinismus/Autonomie – Freiheit

2.2Erkenntnissubjekt – Statik/Dynamik des Subjekt-Welt/Objekt-Verhältnisses – Wissen und Macht

2.3Erkenntnisobjekt – Gleichheit/Ungleichheit und Individuation/Sozialisation – (Legitimation und Organisation von) Herrschaft

III.Paradigmatische (Vorstellungen des) Menschen

1.Der metaphysisch-theologische Mensch

1.1Freiheit: Der Mensch als Teil der göttlichen Ordnung

1.3Herrschaft(sordnung): Ungleiche politische Wesen

2.Der naturalistische Mensch

2.1Freiheit: Der Mensch als Teil der natürlichen Ordnung

2.2Wissen vs. Macht: Beherrschung der Leidenschaften durch kollektiv(iert)e Vernunft

2.3Herrschaft(slegitimation): Individuen der gleichen Gattung

3.Der gesellschaftliche Mensch

3.1Freiheit: Der Mensch als Teil von Gesellschaft oder: Das Menschsein

3.2Wissen ohne Macht: Emanzipation von der Vernunft oder: Ausgang aus der selbstgedachten Unmündigkeit

3.3Herrschaft(sskepsis): Gleiche gesellschaftliche Ungleichheit

Ausblick: Paradigmatische Menschen im politischen Deutungskampf

Literatur

Danksagung

Für eine politikwissenschaftliche Anthropologie

 

Politisches Denken setzt ein Bild vom Menschen stets voraus und doch bleibt der Mensch als politisches Argument oftmals im Dunkeln. Die einander im politischen Denken widerstreitenden anthropologischen Argumentationen offenzulegen, ist Ziel dieser Arbeit. Dieses Unterfangen bezeichne ich als »politikwissenschaftliche Anthropologie«.

Hinsichtlich der zentralen Rolle anthropologischer Annahmen im politischen Denken herrscht in der Politikwissenschaft weitestgehend Konsens. Bereits einführende Werke verweisen darauf, dass »[n]ahezu jedes politisch-philosophische System [...] nicht verständlich [ist] ohne Kenntnis der ihm zugrundeliegenden anthropologischen Axiome, d. h. der Annahmen über das, was den Menschen wesentlich ausmacht« (Bellers/Kipke 2006, 239). Henning Ottmann bezeichnet die Korrelation zwischen pessimistischem bzw. optimistischem Menschenbild einerseits und starkem bzw. schwachem Staat andererseits gar als »das anthropologisch-politische Grundgesetz« und stellt fest: »Anthropologie und Politik gehören zusammen. Sie sind systematisch miteinander verbunden, so oder so« (Ottmann 1992, 69). Und Hartmut Rosa konstatiert, »dass jede Form politischer Theorie implizit oder explizit anthropologische Annahmen enthält. Diese Annahmen finden sich nicht nur in den unvermeidlichen normativen Elementen einer Theorie, sondern auch schon in der deskriptiven Dimension« (Information Philosophie 2008, 41). Trotz dieses Befunds hat eine systematische Beschäftigung mit anthropologischen Annahmen im politischen Denken bislang kaum stattgefunden, wodurch ein transparenter Umgang mit ihnen verhindert wird.

In der deutschen Politischen Theorie und Politikwissenschaft herrscht bislang, wie auch in der bzw. in Anschluss an die Philosophie, ein essentialistisches Verständnis »politischer Anthropologie« vor, das nach dem Wesen des Menschen fragt und daraus politische Ordnungsvorstellungen ableitet. »Anthropologie« gilt – solcherart einseitig essentialistisch verstanden – oftmals als vorbelasteter Begriff; »politische Anthropologie« erscheint vor dem Hintergrund der Infragestellung der Möglichkeit einer universellen Bestimmung des Menschen mit Verweis auf die kulturelle und historische Bedingtheit seiner Existenz als fragwürdiges Unternehmen. Die Beschäftigung mit anthropologischen Annahmen im politischen Denken ist durch die einseitige Festlegung auf das essentialistische Verständnis gewissermaßen blockiert und beschränkt sich, soweit sie überhaupt stattfindet, darauf, anthropologische Begründungsmuster einzelner Denker*innen kritisch nachzuvollziehen.

Diese Selbstbeschränkung erklärt sich aus dem Umstand, dass das Feld der Sache nach schwer zugänglich und terminologisch vieldeutig ist. Nicht nur ist das angesprochene dominante »philosophische« (essentialistische) Verständnis »politischer Anthropologie« – das keineswegs die Beschäftigung mit Anthropologie im Rahmen der Philosophie abbildet – zu unterscheiden von den Ansätzen der »Philosophischen Anthropologie«, zugleich steht es in Konkurrenz zu anderen fachspezifischen Verständnissen, vor allem der Kulturanthropologie und dem biopolitics-Ansatz. »Politische Anthropologie« wird im Anschluss an die allgemeine Begriffsbestimmung der Anthropologie als »Wissenschaft vom Menschen«1 je nach fachspezifischem Verständnis auf unterschiedliche Weise aufgefasst: als politisch gewendete »Wissenschaft vom Menschen«, die aus der philosophischen (essentialistischen) oder biologischen Bestimmung des Menschen politische Schlüsse zieht, oder ethnologisch gewendet als »Wissenschaft von der politischen Existenz der Menschen«, die den Menschen als kulturelles Lebewesen bzw. als »homo politicus« voraussetzt und in seiner tatsächlichen politischen Existenz untersucht. In ihrem Alleinvertretungsanspruch erweisen sich alle diese Varianten – nicht erst, wo sie aus den anthropologischen Bestimmungen Rückschlüsse auf die politische Ordnung ziehen, aber hier völlig offensichtlich – im wahrsten Sinne des Wortes als politische Anthropologien. »Politische Anthropologie« bezeichnet folglich anders als »philosophische Anthropologie« oder »Kulturanthropologie« keine disziplinäre Anthropologie; vielmehr konkurrieren disziplinäre Anthropologien um die Bestimmung des Menschen und damit implizit oder explizit um die der jeweiligen Bestimmung des Menschen entsprechende politische Ordnungsvorstellung. Anthropologie ist so verstanden immer schon politisch, unabhängig davon, ob ihre politischen Implikationen expliziert werden oder nicht.

Vor diesem Hintergrund ist (politische) Anthropologie bzw. genauer: sind (politische) Anthropologien ein politikwissenschaftlicher Gegenstand par excellence. Zugleich wird deutlich, dass Anthropologie politikwissenschaftlich nur als Metawissenschaft betrieben werden kann: durch eine Systematisierung der miteinander konkurrierenden Vorstellungen des Menschen. Anders gesagt: Politische Anthropologie wird zur Wissenschaft erst durch die wissenschaftliche Betrachtung der wissenschaftlichen (Selbst-)Betrachtungen des Menschen – anderenfalls bleibt sie anthropologische Argumentation. Die vorliegende Arbeit skizziert in diesem Sinne eine metatheoretische politische Anthropologie: eine »politische Wissenschaft von den Wissenschaften vom Menschen« bzw. eine »politikwissenschaftliche Anthropologie«, die auf die Systematisierung anthropologischer Argumente im politischen Denken zielt – im politischen Deutungskampf oft nicht explizierte, aber doch stets zugrundeliegende Argumente.2

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Das Interesse der hier zu skizzierenden politikwissenschaftlichen Anthropologie gilt nicht dem/den Menschen, sondern den politischen Implikationen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem/den Menschen. Ihr Gegenstand sind anthropologische Argumente im politischen Denken. Als wissenschaftliche Beschäftigung mit anthropologischen Argumenten im politischen Denken formuliert sie selbst keine politische Anthropologie. Statt des Anspruchs das Wesen oder universelle Merkmale des Menschen zu bestimmen, um daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen, kehrt sie die Blickrichtung um und fragt, welche Annahmen über die menschliche Existenz verschiedene politische Ordnungsvorstellungen implizieren. Die vorliegende Arbeit versteht Politische Theorie als politikwissenschaftliche Grundlagendisziplin und betreibt in diesem Sinne Grundlagenforschung, mit dem Ziel, das Fach als Ganzes über die anthropologischen Prämissen seines Gegenstands, des Politischen und der Politik, und damit seiner selbst aufzuklären.

Insofern eine politikwissenschaftliche Anthropologie politische Anthropologien (im Plural) zum Gegenstand hat, wird sie erst denkbar vor dem Hintergrund der sogenannten »Anthropologiekritik«, die eben die Erkenntnis einer zeitlos gültigen Anthropologie als unmöglich ausweist. Sie geht aber zugleich über die Anthropologiekritik hinaus, indem sie diese selbst als nur eine weitere Variante »politischer Anthropologie« offenbart. Die Kritik der Anthropologiekritik wird zeigen: Das sogenannte »nachanthropologische« Denken ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Die Anthropologiekritik ist Ausdruck einer Revolution im Denken, vergleichbar mit derjenigen zu Beginn der Neuzeit. Ausgangspunkt (auch) des politischen Denkens wird die Annahme der Kontingenz menschlicher Erkenntnis. So wie am Übergang zur Neuzeit Philosophie bzw. Theologie durch die Naturwissenschaft als die die Erkenntnis des politischen Denkens leitende Wissenschaft abgelöst wurde, so wird die Naturwissenschaft in Folge der Historisierung des Denkens und der Erfahrung der geschichtlichen Diskontinuität, die in der totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts kulminiert, durch die Sozialwissenschaft bzw. wird »Natur« als bestimmender Faktor durch »Gesellschaft« abgelöst, wie zuvor »Kosmos«/»Gott« durch »Natur« als Erkenntnisprinzip ersetzt wurde; dadurch aber werden anthropologische Argumente nicht abgeschafft, sondern nur im Rahmen eines neuen Paradigmas formuliert, wodurch sich ihr Status ändert.

Die Kritik der Anthropologiekritik, die diese selbst als (wenngleich formale) politische Anthropologie ausweist, legt dabei die Struktur des anthropologischen Arguments offen, indem sie in der Darstellung der Paradigmenwechsel – vom metaphysisch-theologischen zum naturalistischen und vom naturalistischen zum gesellschaftlichen Paradigma – das Erkenntnisprinzip (»Kosmos«/»Gott«, »Natur«, »Gesellschaft«) als zentrales Moment der Objektivierung bzw. der (wie die Anthropologiekritik zeigt:) Selbstobjektivierung des Menschen ausmacht. Entscheidend für die Struktur des anthropologischen Arguments ist folglich weniger das Was als das Wie der (Selbst-)Objektivierungen, das heißt die Frage, wie sich der Mensch selbst zum Objekt seiner Erkenntnis macht, als einer Dimension, welche »politische Anthropologie« nicht reflektiert bzw. »politische Anthropologie« und auch die sogenannte »Anthropologiekritik« – die sich in der Kritik selbst als, wenn auch formale politische Anthropologie erweist – nicht mitdenken kann, da sich jede politische Anthropologie letztlich als die Anthropologie verstehen muss. Eine politikwissenschaftliche Anthropologie, die verschiedene im politischen Denken enthaltene anthropologische Argumente systematisiert, wird also zwar, insofern sie Anthropologien (im Plural) zum Gegenstand hat, erst vor dem Hintergrund der Anthropologiekritik denkbar, die die Möglichkeit einer ein für alle Mal gültigen inhaltlichen Anthropologie (im Singular) in Frage stellt, geht aber in der Offenlegung des Erkenntnisprinzips als des Prinzips der Selbstobjektivierung und dessen fundamentaler Funktion für die Struktur des anthropologischen Arguments über die Anthropologiekritik hinaus und erweist sich in dieser Offenlegung als politikwissenschaftliche Anthropologie.

Die Systematisierung anthropologischer Annahmen im politischen Denken erfolgt im Rahmen dieser Studie auf drei Abstraktionsebenen, die auch terminologisch klar zu differenzieren sind: Das anthropologische Argument bezeichnet die formale Struktur jeglicher anthropologischen Argumentation vor ihrer inhaltlichen Bestimmung; die paradigmatischen anthropologischen Argumentationen (paradigmatischen Vorstellungen des Menschen) im politischen Denken ergeben sich durch die Setzung eines inhaltlich spezifischen Erkenntnisprinzips (»Kosmos«/»Gott«, »Natur«, »Gesellschaft«); sie konkretisieren sich bei einzelnen Autor*innen als Menschenbilder. Anders gesagt führt die Systematisierung anthropologischer Argumente zu einer Offenlegung der formalen Struktur und der paradigmatischen inhaltlichen Ausrichtung konkreter Menschenbilder und macht diese dadurch vergleichbar.

Das anthropologische Argument bildet das systematische Gerüst der hier zu skizzierenden politikwissenschaftlichen Anthropologie. Es lässt sich, wie zu zeigen sein wird, in drei hierarchische Dimensionen unterteilen, die jeglicher inhaltlich bestimmten anthropologischen Argumentation und jeglichem Menschenbild zugrunde liegen: Für die formale Struktur des anthropologischen Arguments ist im vorliegenden Verständnis die Frage nach 1) dem die Erkenntnis bzw. Welterschließung des/der Menschen leitenden Prinzip fundamental, woraus sich gleichursprünglich 2) der Modusdes Zugriffs des/der Menschen auf die Welt (sprich die Konzeption des Erkenntnisvermögens als Objektivierung des Erkenntnissubjekts) und das Verhältnis, in das sich der Mensch als Erkenntnissubjekt zur Welt und damit zu sich selbst als Erkenntnisobjekt setzt (sprich das Erkenntnisinteresse), ergibt sowie daraus abgeleitet 3) die Bestimmung des/der Menschen als Teil der erschlossenen Welt (sprich als Erkenntnisobjekt/e im engeren Sinn). Das heißt alle (politische) Anthropologie, auch die Anthropologiekritik, ist auf der formalen Ebene durch das jeweilige Erkenntnisprinzip strukturiert. Eine solche Aufschlüsselung des anthropologischen Arguments in seine drei Dimensionen bringt Klarheit für die Analyse anthropologischer Argumente im politischen Denken, da sich unterschiedliche Argumente unterschiedlichen Ebenen zuordnen und folglich systematisieren lassen.

Den drei Dimensionen entsprechen drei anthropologische Konfliktlinien des politischen Denkens: Die Wahl des Erkenntnisprinzips bestimmt den Grad 1) des Determinismus/der Autonomie; die Konzeption des Erkenntnisvermögens und des Verhältnisses des so konstituierten Erkenntnissubjekts zur Welt und zu sich selbst als Erkenntnisobjekt bestimmt die 2) Statik/Dynamik des Subjekt-Welt/Objekt-Verhältnisses; die daraus abgeleitete Bestimmung des Menschen als Teil der erkannten Welt bestimmt den als politisch relevant angenommenen Grad der 3) Gleichheit/Ungleichheit und Individuation/Sozialisation. Die drei anthropologischen Konfliktlinien des politischen Denkens adressieren zugleich drei politische Schlüsselkonzepte, die maßgeblich durch die Verortung auf der entsprechenden Konfliktlinie bestimmt sind: Die Bestimmung des Grads an Determinismus/Autonomie adressiert die Frage nach 1) der Konzeption der Freiheit, die Bestimmung der Statik/Dynamik des Subjekt-Welt/Objekt-Verhältnisses adressiert die Frage nach 2) der Konzeption von Wissen und dessen Übersetzung in Macht und die Festlegung des Grads der Gleichheit/Ungleichheit und Individuation/Sozialisation adressiert die Frage nach 3) der Konzeption von Legitimation und Organisation von Herrschaft. Je nach Erkenntnisprinzip liegt der Schwerpunkt auf einer der Dimensionen des anthropologischen Arguments und kreist das politische Denken entsprechend um das dieser Dimension zugeordnete politische Grundkonzept.

Aus der inhaltlichen Bestimmung des die Erkenntnis leitenden Prinzips (»Kosmos«/»Gott«, »Natur«, »Gesellschaft«) und den daraus sich ergebenden Bestimmungen im Rahmen der abgeleiteten Dimensionen des anthropologischen Arguments lassen sich auf einer zweiten Abstraktionsebene drei paradigmatische Vorstellungen des Menschen ableiten. Diese paradigmatischen Vorstellungen des Menschen sind dem Verständnis einer politikwissenschaftlichen Ideengeschichte (vgl. Höntzsch 2015) folgend als abstrakte Argumentationen im Sinne von Unbestimmtheitsstellen zu verstehen: als paradigmatische anthropologische Argumentationen, die sich auf einer dritten Abstraktionsebene bei verschiedenen Denker*innen nachweisen lassen, hier allerdings immer schon kontextualisiert, als Menschenbilder, vorliegen; es handelt sich um vom jeweiligen Kontext abstrahierende, aus dem anthropologischen Argument durch die Setzung eines inhaltlichen Erkenntnisprinzips abgeleitete Argumentationen. Die im Anschluss an den Wechsel des Erkenntnisprinzips zu unterscheidenden Paradigmen und die ihnen entsprechenden paradigmatischen (Vorstellungen des) Menschen – der metaphysisch-theologische Mensch, der naturalistische Mensch sowie der gesellschaftliche Mensch – sind in einem grundlegenden, erkenntnistheoretischen Sinne zu verstehen; sie lösen einander nicht ab, sondern koexistieren, wenn auch je nur ein Paradigma und damit eine paradigmatische anthropologische Argumentation vorherrschend ist.

Die Darstellung der paradigmatischen Menschen wie ihrer Konkretisierungen dient nicht nur der Explikation des anthropologischen Arguments, sondern zeigt diese paradigmatischen anthropologischen Argumentationen zugleich als spezifisches Deutungsschema der politischen Ideengeschichte, durch das sich Brüche im politischen Denken wie Widersprüche im Rahmen einzelner Ansätze ebenso wie Kontinuitäten zwischen einzelnen Denker*innen oder Strömungen erklären lassen. Über die Ideengeschichte hinaus generieren die durch die Offenlegung der formalen Struktur des anthropologischen Arguments und die Setzung eines inhaltlichen Erkenntnisprinzips gewonnenen, paradigmatischen Menschen einen politikwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, auf den diese Arbeit zuletzt zielt. Sie ermöglichen nicht nur eine politik-theoretische Analyse politischer Ordnungsvorstellungen anhand der ihnen zugrundeliegenden paradigmatischen anthropologischen Argumentationen, sie lassen sich vor allem auch in systematischer Hinsicht nutzen, um politische Positionen (im politischen Diskurs, aber auch in verstetigter Form wie in Gesetzestexten, Parteiprogrammen u. ä.) auf paradigmatische anthropologische Positionen zurückzuführen und so der Kritik zugänglich zu machen. Das heißt: Die Systematisierung anthropologischer Argumente im politischen Denken generiert ein politikwissenschaftliches Analyseinstrument – nicht den »homo politicus«, sondern miteinander konkurrierende paradigmatische Menschen.

Die Arbeit folgt in ihrem Aufbau dem eben Dargelegten. Teil I setzt sich mit den herkömmlichen Verständnissen »politischer Anthropologie« und der sogenannten »Anthropologiekritik« auseinander. Die Arbeit verfolgt hier ein kritisches Anliegen: Sie weist nicht nur die herkömmlichen Verständnisse »politischer Anthropologie« als politische Anthropologien, sondern auch die Anthropologiekritik als in Folge eines Paradigmenwechsels radikal(isiert)e Erkenntniskritik und damit selbst als anthropologische Argumentation unter anderen aus. Behandelt werden hier die anthropologiekritischen Positionen Max Horkheimers, Hannah Arendts, Michel Foucaults und Richard Rortys. Teil II skizziert im Anschluss an die Kritik der Anthropologiekritik die Struktur des anthropologischen Arguments und seine politischen Implikationen. Dargestellt werden die drei Dimensionen des anthropologischen Arguments sowie die darin je implizierten anthropologischen Konfliktlinien im politischen Denken und politischen Grundkonzepte. Hier also wird das systematische Argument entfaltet, das im Anschluss ideengeschichtlich plausibilisiert werden soll. Teil III skizziert entlang der drei anthropologischen Dimensionen und ihrer politischen Implikationen drei paradigmatische (Vorstellungen des) Menschen – den metaphysisch-theologischen, den naturalistischen und den gesellschaftlichen Mensch – sowie ihre Konkretisierung in für das jeweilige Paradigma exemplarischen politischen Theorien.

Der Mehrwert einer die anthropologischen Argumente politischer Positionen reflektierenden Politikwissenschaft soll im Ausblick aufgezeigt werden: zusammenfassend für den Zugriff auf die Ideengeschichte, politik-theoretisch mit Blick auf die gegenwärtig vielfach konstatierte Krise der liberalen Demokratie, die durch einen paradigmatischen Widerspruch der anthropologischen Argumentation des individualistischen Liberalismus zu erklären ist sowie etwas ausführlicher in systematischer Hinsicht mit Blick auf den Diskurs der Menschenrechte, der sich als Ausdruck einander widerstreitender paradigmatischer Argumentationen verstehen lässt, deren unreflektiert bleibende paradigmatische Differenz eine produktive Lösung verhindert.

1Wie die Begriffsgeschichte zeigt, ist »Anthropologie« kein Begriff des Altgriechischen, sondern ein Begriff der Neuzeit (vgl. Marquard 1971, 362).

2Mit Blick auf die anthropologischen Argumente im politischen Denken bestätigt sich so auf einer grundlegenden Ebene, dass, wie Marcus Llanque festhält, »politische Theorie als Deutungsarbeit an der Frage, welches Ordnungsmuster das richtige sei, [...] selber im Deutungskampf« steht (2007, 15) ebenso wie auch die Ideengeschichte, verstanden als Archiv und Arsenal, die sich mit diesen Deutungen befasst und sie für den Deutungskampf der Gegenwart aufbereitet (vgl. u. a. Llanque 2004; 2008, 3). Teil des Deutungskampfs sind so verstanden nicht nur politische Anthropologien, sondern selbstverständlich auch die hier vorgeschlagene politikwissenschaftliche Anthropologie, insofern die Offenlegung anthropologischer Argumente im politischen Denken zugleich politisches Denken anhand anthropologischer Argumente zu ordnen vorschlägt und diese dadurch für das Verständnis des politischen Denkens als maßgeblich annimmt.

I.Kritik »politischer Anthropologie«

 

Um zu einem politikwissenschaftlichen Umgang mit anthropologischen Argumenten zu gelangen, sollen im Folgenden zunächst die vorherrschenden Verständnisse politischer Anthropologie in ihrer Eigenschaft (und Einseitigkeit) als je nur eine Variante der »politischen Anthropologie« dargestellt werden sowie die Argumentation der sogenannten »Anthropologiekritik« analysiert und eingeordnet werden, die jegliche Anthropologie infrage zu stellen scheint. Die Auseinandersetzung mit der Anthropologiekritik relativiert dabei nicht nur den Geltungsanspruch der herkömmlichen Verständnisse von »politischer Anthropologie«; die Kritik der Anthropologiekritik weist diese selbst als »politische Anthropologie« aus und führt so zur Offenlegung der Struktur des anthropologischen Arguments als des Kerns einer politikwissenschaftlichen Anthropologie, das in Teil II auf dieser Grundlage dargestellt und auf seine politischen Implikationen hin befragt werden soll.

1.Kritik herkömmlicher Verständnisse: politische Anthropologien

Die Schwierigkeit einer Beschäftigung mit »politischer Anthropologie« beginnt damit, dass kein einheitliches Verständnis von »Anthropologie« existiert. In den Geistes- und Sozialwissenschaften lassen sich zwei dominante Verständnisse unterscheiden:1 zum einen das im angelsächsischen Bereich und in Frankreich vorherrschende Verständnis einer cultural anthropology (USA), social anthropology (GB) bzw. anthropologie sociale (Frankreich), das im Deutschen der Ethnologie entspricht, also einer empirischen Anthropologie; zum anderen das in Deutschland vorherrschende Verständnis einer philosophischen Anthropologie. Beide, sowohl die Kulturanthropologie (wie sie im Folgenden zusammenfassend bezeichnet werden soll) als auch die philosophische Anthropologie, greifen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse über den Menschen zurück, die spätestens seit Charles Darwins Evolutionstheorie den geistes- und sozialwissenschaftlichen Blick auf den Menschen nachhaltig verändert haben und ihn angesichts neuster (neurobiologischer) Erkenntnisse weiter verändern (vgl. Roth 2008). Trotz des am Einfluss naturwissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich werdenden Wechselverhältnisses verschiedener Betrachtungsweisen des Menschen unterscheiden sich die beiden für die Geistes- und Sozialwissenschaften maßgeblichen Anthropologieverständnisse grundlegend in Methode und Erkenntnisanspruch und ihrem Verständnis dessen, was politische Anthropologie ist und leisten soll.

Das Verständnis »politischer Anthropologie« richtet sich nach und variiert mit dem zugrundeliegenden Anthropologieverständnis. Im deutschen Sprachraum wird die politische Anthropologie überwiegend einer »philosophischen« Anthropologie zugeordnet, die nach dem Wesen des Menschen fragt und in ihrer politischen Variante aus diesen Wesensbestimmungen politische Ordnungsvorstellungen ableitet. Im angelsächsischen (und im französischen) Sprachraum versteht man political anthropology dagegen als Zweig der Kulturanthropologie, die sich zunächst auf die Untersuchung politischer Organisationsformen und Institutionen sogenannter ›primitiver Völker‹ konzentriert hat und erst in jüngerer Zeit einen Diskurs über Aspekte des Politischen (Herrschaft, Macht etc.) in entwickelten Staaten führt. Die beiden genannten Verständnisse ersetzen bzw. ihnen eine naturwissenschaftliche gentheoretische Grundlage geben, wollen die Vertreter der sociobiology bzw. biopolitics, die alles soziale Verhalten von Mensch und Tier mit dem Selbsterhaltungsinteresse ihres Genotyps erklären.

Die Pluralität der Verständnisse dessen, was unter »politischer Anthropologie« zu verstehen ist, stellt nicht nur mit Blick auf den länderübergreifenden wissenschaftlichen Austausch ein gewisses Hindernis dar, entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist, dass es sich bei den vorgestellten Verständnissen um Varianten politischer Anthropologie handelt, die den Fragestellungen und Methoden einzelner Disziplinen bzw. einzelner Wissenschaftsfamilien untergeordnet sind und dennoch einen Alleinvertretungsanspruch erheben. Sie betrachten das Politische ausgehend vom Menschen als eine unter vielen menschlichen Daseinsformen aus ihrem je übergeordneten philosophischen, ethnologischen, biologischen bzw. geisteswissenschaftlichen, sozial-/kulturwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Blickwinkel, nehmen aber jeweils für sich in Anspruch, die politische Anthropologie zu formulieren. Keine der vorgestellten Varianten kann folglich das gesamte Spektrum anthropologischer Argumente im Rahmen des politischen Denkens und Handelns erfassen – und will das auch gar nicht, denn das entspricht nicht dem jeweiligen Erkenntnisinteresse. Dies aber ist das Erkenntnisinteresse einer politikwissenschaftlichen Anthropologie.

Das im deutschen Sprachraum dominierende »philosophische« (essentialistische) Verständnis der (politischen) Anthropologie fragt nach dem Wesen des Menschen und leitet daraus in der politischen Variante Ordnungsentwürfe ab. Dieses Verständnis ist verkürzt, das gilt bereits für die Disziplin, der es entstammt, selbst, bildet es doch keineswegs die Beschäftigung mit Anthropologie im Rahmen der Philosophie ab. Zudem ist das Verständnis der »philosophischen« Anthropologie selbst in sich nicht eindeutig, weil oft nicht klar unterschieden wird zwischen essentialistischer »philosophischer Anthropologie« als einer philosophischen Subdisziplin und der in den 1920er Jahren aufkommenden »Philosophischen Anthropologie« als einem philosophischen Ansatz, der mit den Namen Max Scheeler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner verbunden ist und der die Bestimmung des Menschen als Fundament jeder philosophischen Erkenntnis setzt.2 Das ist problematisch, weil der Stellenwert der anthropologischen Annahmen in beiden Fällen ein anderer ist. Die Ansätze der Philosophischen Anthropologie stehen durch den Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die Ablehnung des Körper-Geist-Dualismus in einem anderen Verhältnis zur Kulturanthropologie und den biopolitics: »[I]n Wahrheit handelt es sich um das Projekt einer empirischen Wissenschaft vom Menschen in interpretierender, sinnstiftender und identitätssichernder Absicht, und nur in diesem Sinne ist die Philosophische Anthropologie philosophisch.« (Schnädelbach 1983, 269; Herv. i. O.)3 Entsprechend wird bereits hier – v. a. im Werk von Helmuth Plessner und seinem Konzept der »exzentrischen Positionalität« (1975, 288 ff.) – eine Skepsis gegenüber der Bestimmbarkeit des Wesens des Menschen deutlich;4 ein Umstand, den die Anthropologiekritik von Seiten der Kritischen Theorie auch aufgrund der Nichtbeachtung von Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1975) geflissentlich übersah (vgl. Weiland 1995). Für Herbert Schnädelbach erklärt sich dagegen gerade aus der Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Selbstbild des Menschen »die prekäre Verbindung des Philosophischen mit dem Empirischen im Konzept einer Philosophischen Anthropologie« (1983, 269).

Im Rahmen der deutschsprachigen Politikwissenschaft wird politische Anthropologie der Sache nach vor allem im Rahmen der Politischen Theorie und Ideengeschichte thematisiert; entsprechend ist das Verständnis der politischen Anthropologie im Rahmen der Politikwissenschaft, wenn auch oftmals unreflektiert, ein geisteswissenschaftliches und übernimmt hier das dominante Verständnis der »philosophischen« (essentialistischen) Anthropologie, die nach dem Wesen des Menschen fragt. Die angelsächsische Politikwissenschaft dagegen spricht in diesem Zusammenhang von »human nature«, gerade auch in Abgrenzung zu »anthropology« (verstanden als Kulturanthropologie, sprich Ethnologie).5 Exemplarisch für die »philosophische« (essentialistische) Verwendung des Begriffs »politische Anthropologie« im deutschen Sprachraum kann Dirk Jörke angeführt werden, der sich mit seiner Einführung in die politische Anthropologie als einer der wenigen dem Gegenstand angenommen hat. Jörke konstatiert dabei nicht nur die unklare Begrifflichkeit und die unterschiedlichen Verständnisse »politischer Anthropologie«, er setzt sich auch mit der Anthropologiekritik sowie anthropologisch angereicherten Begründungen von Menschenrechten und neueren sozialphilosophischen Anthropologien auseinander. Er legt seinem umfassenden und differenzierten Überblick über das Feld der politischen Anthropologie gleichwohl einen Anthropologiebegriff zugrunde, der »auf humane Universalien, mithin auf das Wesen des Menschen vor aller kulturellen Differenzierung abzielt« und damit ein Verständnis politischer Anthropologie, das »zunächst an die Vorgehensweise der philosophischen Anthropologie« anschließt (Jörke 2005, 10). Er fasst politische Anthropologie – insofern er in das bestehende Forschungsfeld aus der Perspektive der Politischen Theorie einführt, durchaus folgerichtig – als Unterkategorie bzw. als »Sonderform« einer »philosophischen Anthropologie«: »Im Gegensatz zu ihr besteht der Gegenstand jedoch nicht in dem Menschen als Ganzem, sondern sie zielt auf die Begründung von politischen Werten und Institutionen mittels des Rekurses auf universelle menschliche Eigenschaften.« (ebd., 11) Hier wird folglich die politische Anthropologie mit der »philosophischen« als einer essentialistischen Anthropologie gleichgesetzt, der Unterschied liegt lediglich darin, dass ihr Anwendungsbereich auf das Politische beschränkt bleibt.

Dem vorherrschenden »philosophischen« Verständnis entsprechend beschränken sich Vertreter*innen der Politischen Theorie und Philosophie in ihrem Umgang mit anthropologischen Argumenten weitestgehend darauf, Menschenbilder (bzw. essentialistische Anthropologien) einzelner Theorien oder Theorieschulen nachzuvollziehen. So existieren zahlreiche Abhandlungen und Aufsätze zur »Anthropologie« bzw. zum Menschenbild einzelner Denker*innen (vgl. exemplarisch Kullmann 1980; Fromm 1982; Gerhardt 2007), einige Sammelbände, die anhand einzelner Ansätze die geschichtliche Entwicklung der so verstandenen politischen Anthropologie nachzeichnen und problematisieren (vgl. Höffe 1992a; Jörke/Ladwig 2009) und nur vereinzelt auch Überblicksdarstellungen, wie die zitierte von Dirk Jörke (2005); auch werden anthropologische Argumente in bestimmten Debatten, wie etwa der um die Begründung der Menschenrechte (vgl. Höffe 1992b; Ladwig 2007), vermehrt thematisiert und problematisiert, doch ein umfassender Vergleich verschiedener Positionen mit dem Ziel einer Systematisierung anthropologischer Argumentationsmuster, eine Untersuchung, die verschiedene Ansätze zusammenführt, um daraus allgemeine Erkenntnisse zu gewinnen, liegt bislang nicht vor.

Es scheint kein Zufall, dass das Feld disziplinär gesehen überwiegend von Philosophen und nur ausnahmsweise von Vertretern der politikwissenschaftlichen Subdisziplin Politische Theorie bearbeitet wird, was nicht an sich ein Problem darstellt, da die Grenzen zwischen Philosophie und politischer Theorie fließend sind. Es wird aber zum Problem dort, wo die Verengung auf ein spezifisches (essentialistisches) »philosophisches« Verständnis politischer Anthropologie eine politikwissenschaftliche Perspektive, deren Interesse nicht nur essentialistischen anthropologischen Annahmen, sondern jeglichen anthropologischen Annahmen als politischen Argumenten gilt, blockiert. Was nicht zuletzt in der, angesichts der eingangs aufgezeigten Einigkeit über die zentrale Bedeutung anthropologischer Annahmen, überraschend geringen Beschäftigung mit denselben zum Ausdruck kommt. Die bereits genannten Dirk Jörke und Bernd Ladwig bilden hier in den Reihen der Politischen Theorie eine Ausnahme, wobei die Auseinandersetzung Ladwigs mit der politischen Anthropologie im Kontext der eigenen theoretischen Arbeit, genau genommen im Kontext seiner Beschäftigung mit den Menschenrechten steht. Er setzt sich hier letztlich mit der Frage nach der Möglichkeit anthropologischer Begründungen angesichts der Infragestellung der Möglichkeit der Erkenntnis des Menschen durch die Anthropologiekritik auseinander. Ladwig (2007) argumentiert vor diesem Hintergrund überzeugend für ein Verständnis der Menschenrechte als Institutionen zum Schutz und zur Förderung fundamentaler Interessen, das nicht nur diejenigen einschließt, die ein menschenrechtliches Interesse als erheblich erkennen können (»Nichts rechtfertigt es, die epistemologisch privilegierte Position moralisch einsichtsfähiger Personen in die menschenrechtliche Axiologie hinein zu verlängern« [ebd., 94]) und hält die Grenzen zur nichtmenschlichen Natur in Anschluss an die Unterscheidung vier verschiedener Dimensionen menschenrechtlicher Interessiertheit für unhaltbar. Allein Jörke (2005) setzt sich so, wie dargelegt, aus dem Fach heraus umfassend mit dem Verständnis »politischer Anthropologie« selbst auseinander, legt seiner Darstellung aber – im Sinne einer Einführung in die »politische Anthropologie« konsequenterweise – das vorherrschende »philosophische« Verständnis zugrunde.

Es lässt sich konstatieren: Die Politische Theorie wird mit Blick auf das Feld der politischen Anthropologie ihrer Funktion als Reflexionsinstanz der Politikwissenschaft nicht gerecht. In der Folge ist auch in den anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft die Behandlung anthropologischer Argumente von einem verengten »philosophischen« (essentialistischen) Verständnis geprägt. Anthropologische Argumente spielen hier, meist ebenfalls adressiert als Menschenbilder, die gleichwohl nur essentialistische Anthropologien fassen, v. a. mit Blick auf die dem Handeln politischer Akteure zugrundeliegenden Normen eine Rolle, wenngleich sie – wohl auch aufgrund der Unklarheit ihrer Struktur und ihres Status – nur vereinzelt bzw. oft nur am Rande thematisiert werden.6

Eine systematische Beschäftigung mit anthropologischen Argumenten im Rahmen politischen Denkens hat bislang nur ansatzweise stattgefunden.7 Innerhalb der politischen Theorie existierende Ansätze einer Systematisierung verschiedener Menschenbilder nehmen zwar eine Strukturierung vor, basieren aber nicht auf einer systematischen Untersuchung anthropologischer Argumente im Rahmen politischen Denkens. Unterscheidungen zwischen optimistischem und pessimistischem8 bzw. zwischen idealistischem und realistischem Menschenbild, wie sie auch im Rahmen der Theorien der Internationalen Beziehungen vorgenommen wird,9 sowie Klassifizierungen wie ›das liberale Menschenbild‹, ›das christliche Menschenbild‹ u. ä., auch normativer Individualismus und Kollektivismus10, die allerdings selbst je eine anthropologische Positionen bezeichnen, bilden wiederum nur die essentialistischen Argumentationen einzelner Theorieschulen und Strömungen ab (und nehmen sie im Anschluss teils zum Ausgangspunkt normativer Theoriebildung). Die Politikwissenschaft thematisiert folglich bislang – wenn überhaupt – überwiegend explizite, essentialistische Anthropologien, die sie für einzelne Theorien, Diskurse, Akteure lediglich abbildet. Die genannten Systematisierungsansätze wollen weder die Gesamtheit anthropologischer Argumente im politischen Denken fassen, noch sind sie geeignet bzw. es ist gar nicht ihr Ansinnen, Aussagen über Struktur und Status anthropologischer Argumente im politischen Denken zu treffen.

Die Verengung als Sonderform einer »philosophischen« (essentialistischen) Anthropologie schränkt eine politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Anthropologie unnötigerweise und von der Sache her ungerechtfertigterweise ein. Im Fall der »philosophischen« (wie auch der Philosophischen) Anthropologie ist die Frage nach der politischen Existenz des Menschen nur eine nachgeordnete, sekundäre Frage; sie wendet ihre Ergebnisse erst in einem zweiten Schritt politisch. Ihr geht es zunächst und vornehmlich um das Wesen des Menschen; die Politische Theorie als Teildisziplin der Politikwissenschaft (und im Anschluss das Fach als Ganzes) verfolgt diesen Vorgang gewissermaßen nur zurück, sie stellt also den argumentativen Zusammenhang zwischen anthropologischen Argumenten und politischen Ordnungsvorstellungen nur für einzelne, explizite und überwiegend essentialistische Anthropologien dar und problematisiert ihn, insbesondere vor dem Hintergrund der sogenannten »Anthropologiekritik«, teilweise auch. Die »philosophisch« verstandene politische Anthropologie (und mit ihr eine sich an diesem Verständnis orientierende Politische Theorie und Politikwissenschaft) kann den Bereich politisch relevanter Aussagen über den Menschen jenseits essentialistischer anthropologischer Aussagen nicht fassen. Gegen eine so verstandene politische Anthropologie richtet sich auch die »Anthropologie«kritik, die im Rahmen dieser Studie als Neuausrichtung politischer Anthropologie in Folge eines Paradigmenwechsels verstanden wird und damit zugleich auf die Begrenzung einer »philosophisch«, im Sinn von essentialistisch, verstandenen politischen Anthropologie verweist.

Im Begriff der Kulturanthropologie kommt die Kritik an einer essentialistischen Anthropologie ebenfalls bereits zum Ausdruck, insofern die Menschen hier immer schon als kulturell bedingte Lebewesen gedacht werden. Die Infragestellung eines verallgemeinerbaren Wesens des Menschen findet in der Ethnologie eine fachspezifische Ausgestaltung, die mit der Historisierung des Denkens im 19. Jahrhundert in Zusammenhang steht und die wiederum den Blick auf den/die Menschen im Rahmen politiktheoretischer Erörterungen geprägt hat – etwa in Frankreich vermittels des Einflusses von Claude Lévi-Strauss11 oder in den USA vermittels der von den Begründern der Cultural Anthropology um Franz Boas geteilten Grundannahme des Kulturrelativismus12. Man muss also gewissermaßen unterscheiden zwischen der fachspezifischen ethnologischen Anthropologie, die den Menschen objektiviert und der Reflexion der Implikationen einer solchen Kulturanthropologie im Rahmen einzelner Theorierichtungen, die über das Fach und die Kulturwissenschaften hinaus gewirkt haben, wie etwa der Strukturalismus in Frankreich Mitte des 20. Jahrhunderts (vgl. Kohl 2000, 145).

Die fachspezifische politische Anthropologie, die sich in den 1940er Jahren im Umfeld der Afrikaforschung entwickelte, die frühe Politikanthropologie, konzentrierte sich auf die Organisation staatenloser Gruppen und interessierte sich für das Phänomen des Politischen und des »homo politicus« in erster Linie aus entwicklungstheoretischer Perspektive. Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer bringt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe zu Politische Anthropologie (1972) des französischen Ethnologen George Balandier die Fragestellung dieser frühen Politikanthropologie treffend auf den Punkt: »Wie wird aus dem Mythos von einst die politische Doktrin von heute, wie aus der Stammesverfassung die politische Organisation eines modernen Staates?« (Sontheimer 1972, 9; vgl. auch Balandier 1972, 21) Kurt Sontheimer sieht die Politikanthropologie im Vorteil gegenüber der politischen Anthropologie als Teil der Philosophie, die die Bestimmung des Wesens des Menschen an den Anfang stellt und daraus politische Schlüsse zieht. Sontheimer meint, nur die »universal ausgerichtete anthropologische Grundlegung des Politischen auf empirischer Basis der empirischen Politikanthropologie« (Sontheimer 1972, 9) könne den Provinzialismus der philosophisch orientierten Politologie korrigieren, indem sie das Erfahrungsmaterial nichtzivilisierter Gesellschaften und sogenannter Urvölker in die politische Wissenschaft einbringe (vgl. ebd., 8).

Das kulturwissenschaftliche Modell des »homo politicus« konnte sich jedoch in der Politikwissenschaft, wohl auch weil sich die moderne Politikwissenschaft als Sozialwissenschaft versteht, nicht gegen die ungleich wirkmächtigeren Akteurmodelle des »homo oeconomicus« (vgl. Downs 1957) und »homo sociologicus« (vgl. Dahrendorf 2010) durchsetzen. Ebenso wie kein genuin politikwissenschaftliches Verständnis der Anthropologie existiert, existiert auch kein genuin politikwissenschaftliches Akteurmodell, vielmehr greift die Politikwissenschaft auf Modelle anderer Disziplinen zurück. Der »homo oeconomicus« etwa liegt der politischen Theorie des Rational Choice zugrunde (vgl. Behnke 2009); er findet in der Politikwissenschaft vor allem im Bereich der Wahlforschung Anwendung (vgl. Arzheimer/Schmitt 2014, 338 f.), der »homo sociologicus« gilt hier als Gegenmodell (vgl. Rudi/Schoen 2014, 424). Die genannten Akteurmodelle können als Operationalisierungen des Menschen für einen bestimmten Bereich bzw. einzelne Wissenschaften verstanden werden.13

Anders als beim »homo politicus« handelt es sich beim »homo oeconomicus« wie beim »homo sociologicus« folglich nicht um aus der Empirie gewonnene Modelle, sondern um axiomatische Annahmen.14 In Abgrenzung zu deren eindeutig analytischen Verwendung wird die Bezeichnung »homo politicus« sowohl im essentialistischen Sinne als Bezeichnung des Menschen als politisches Wesen wie im empirischen Verständnis der Kulturanthropologie verwandt, die den Menschen gerade in Abgrenzung zur philosophischen Anthropologie in seiner tatsächlichen politischen Existenz in den Blick nimmt. Die verschiedenen Akteurmodelle eint so allein die Handlungsorientierung. Sie könnten wie methodologischer Individualismus und Kollektivismus15 als analytische Anthropologien bezeichnet werden, insofern sie keine Wesensaussagen vornehmen, wohl aber Handlungslogiken universalisieren und dadurch nicht rein deskriptiv verfahren, sondern eine normative Komponente enthalten.

Auch wenn sich der Fokus der Politikanthropologie mittlerweile auf die entwickelten Gesellschaften ausgeweitet hat und sich die Politikanthropologie seit den 1970er Jahren zunehmend auch der Anthropologie in entwickelten Staaten und der Problematik politischen Handelns von Menschen in seiner prozessualen Komplexität zugewandt hat,16 bleibt als wichtigster Unterscheidungspunkt zur philosophisch verstandenen politischen Anthropologie die empirische, vergleichende Vorgehensweise und die damit verbundene Infragestellung essentialistischer Annahmen über den Menschen, die als ethnozentrisch abgelehnt werden. Der Politikanthropologie, als Subdisziplin der Kulturanthropologie, geht es dabei jedoch keineswegs nur »um die kulturell gefärbten politischen Verhaltensweisen von Menschen in je spezifischen zeitlichen und räumlichen Kontexten« (Jörke 2005, 10). Das beweist Balandiers eigener Anspruch:

»Als Projekt zielt sie, über die Einzelerfahrung und die besonderen politischen Doktrinen hinaus, auf die Begründung einer Wissenschaft des Politischen, die den Menschen als homo politicus auffaßt und die Merkmale untersucht, die allen in ihrer historischen und geographischen Vielfalt anerkannten politischen Organisationen gemeinsam sind.« (Balandier 1972, 17)

Das entspricht dem Selbstverständnis der Ethnologie als Fach. Die kulturelle Differenz ist zwar der Ausgangspunkt ethnologischer Forschung, sie führt in ihrer theoretischen Konsequenz jedoch keineswegs nur zu partikularistischen, sondern auch zu universalistischen Ansätzen, die gleichwohl nicht in essentialistischen Aussagen über den Menschen gründen. So erklärt etwa der in der französischen Ethnologie dominante Strukturalismus kulturelle Leistungen durch kulturübergreifende Strukturen und Denkmuster (vgl. u. a. Lévi-Strauss 1967), der in Großbritannien geprägte Funktionalismus durch gemeinsame biologische Grundbedürfnisse der Menschen (vgl. u. a. Radcliffe-Brown 1971; Malinowski 1975). Liegt der Fokus der Ethnologie auch auf der Differenz und ist ihr Gegenstand der gängigen Definition von Kohl zufolge das »kulturell Fremde« (zu verstehen im Sinne eines relationalen Fremdheitsbegriffs, der auch das Fremde in der eigenen Kultur einschließt), benennt Kohl doch, auch wenn das Studium der Unterschiede zwischen den Kulturen die primäre Aufgabe der Ethnologie sei, die Untersuchung von Gemeinsamkeiten als zweiten nicht weniger wichtigen Gegenstand des Fachs, wobei es in einem dritten Schritt zu klären gelte, weshalb die einzelnen menschlichen Kulturen in bestimmten Grundzügen übereinstimmen und sich in anderen unterscheiden – folglich ginge es letztlich allen Schulrichtungen um eine allgemeine Theorie der Kultur (vgl. Kohl 2000, 94 ff.) bzw. im Fall der Politikanthropologie um eine allgemeine Theorie des Politischen. Der Unterschied der Politikanthropologie als Subdisziplin der Ethnologie zur philosophischen Anthropologie liegt folglich im empirischen Vorgehen, keineswegs aber im universellen Geltungsanspruch.

Abgesehen davon, dass zumindest infrage gestellt werden kann, ob die (politische) Kulturanthropologie die ethnozentrische Perspektive tatsächlich überwinden kann oder diese nicht bereits durch den Gegenstand der Ethnologie, das kulturell Fremde, stets voraussetzt, nimmt die Politikanthropologie zwar anders als die politisch gewendete philosophische Anthropologie den »homo politicus«, also nicht einfach den Menschen, sondern den politischen Menschen in den Blick, aber auch sie hat wie die philosophische Anthropologie kein primär politikwissenschaftliches Erkenntnisinteresse, es geht ihr nicht primär um Fragen der politischen Ordnung, sondern um die tatsächliche politische (als eine Form kultureller) Existenz der Menschen. Sie erklärt das Politische einseitig empirisch, aus seiner Entwicklung heraus bzw. aus der (kulturinternen und -vergleichenden) Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns im politischen Kontext. Auch sie stellt ein universalistisches Verständnis des Menschen, nämlich des Menschen »als ein kulturell geprägtes und Kultur produzierendes Lebewesen«, an den Anfang ihrer Überlegungen: »Kultur gehört [...] mit zum Wesen des Menschen« (ebd., 24) und erhebt damit den Anspruch die politische Anthropologie zu formulieren. In diesem universalistischen Anspruch offenbart sie sich als eine Variante politischer Anthropologie unter anderen, die andere anthropologische Argumente logisch ausschließen muss.

Gegen beide die Sozial- und Geisteswissenschaften dominierenden Verständnisse politischer Anthropologie und die dort vorzufindende Konzentration auf den Menschen (und insbesondere gegen das in den Sozialwissenschaften vorgeblich vorherrschende »Standard Social Science Model« [Barkow/Cosmides/Tooby 1992]) richten sich neodarwinistische naturwissenschaftliche Erklärungen, die den Menschen in Anschluss an Darwin als eine unter vielen Tierarten und entsprechend menschliches Verhalten analog zu tierischem verstehen: »So groß nun auch nichtsdestoweniger die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag, so ist sie doch sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art.« (Darwin 1875, 139) Menschliches Verhalten ist aus dieser Perspektive durch Artenvergleich erklärbar: »Sachverhalte, die den Menschen betreffen, allein aus Untersuchungen am Menschen erklären zu wollen, ist ein ähnlich hoffnungsloses Unterfangen, wie etwa der Versuch, den Mahagonibaum einzig durch Forschungen an dieser Baumart erklären zu wollen.« (Kotrschal 2003, 26) Eine neue Qualität erhielt diese biologistische Anthropologie und vor allem auch ihr Einfluss auf die Sozialwissenschaften durch die Fortschritte der Gen-Forschung, die seit den 1960er Jahren eine Transformation der darwinistischen Evolutionstheorie in die gentheoretisch fundierten Disziplinen sociobiology und biopolitics zur Folge hatten. So erhebt Wilson in seinem grundlegenden Werk Sociobiology. The New Synthesis (1975) den Anspruch, Natur- und Sozialwissenschaften auf eine gemeinsame Basis zu stellen und so die traditionelle Ethnologie durch Genetik zu erneuern und den Sozialwissenschaften den Status einer wirklichen Wissenschaft zu geben, sprich die (kulturanthropologische) politische Anthropologie durch eine gentheoretische Sozialwissenschaft zu ersetzen (vgl. Euchner 2001). Die »biologistischen Landnahmen im sozialwissenschaftlichen Territorium« haben sich dabei vornehmlich im angelsächsischen Bereich abgespielt, im deutschsprachigen Raum wird die ›Biopolitik‹ dagegen verhaltener rezipiert (Euchner 2001, 371). Das scheint zum einen an der traditionell philosophischen Ausrichtung der Anthropologie zu liegen; zum anderen aber auch am Missbrauch vermeintlich wissenschaftlich erwiesener, anthropologischer Erkenntnisse durch den Nationalsozialismus, der die Auseinandersetzung mit den Diskursen der sociobiology bzw. biopolitics in Deutschland hemmt.

Die Erklärungskraft einfacher Analogisierungen von tierischem auf menschliches Verhalten im Rahmen der sociobiology und biopolitics wurde nicht nur von Seiten der Sozialwissenschaften, sondern auch von Biologen angezweifelt (vgl. Dupré 2009, 85 ff.). Der grundlegende Kritikpunkt aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist dabei, dass ein solches biologistisches Verständnis den Menschen (und seine kulturellen Leistungen) auf seine »erste Natur« reduziert und durch diese Vereinfachung die politische Existenz als kulturelle Erscheinung in ihrer Komplexität nicht erfassen kann bzw. dass es den Gegenstand der Sozialwissenschaften letztlich nicht als eigenständigen wissenschaftlichen Gegenstand versteht und damit eine Erörterung mit den eigenen Methoden für ausreichend erklärt. Die Analogisierung, so Euchner, laufe auf die Frage hinaus, »ob es zulässig ist, komplexere Entscheidungs- und Handlungssysteme durch einfachere zu erklären«; genau das Gegenteil aber passiere, so stammten die Begriffe, die zum Vergleich tierischen und menschlichen Verhaltens dienten aus der Menschenwelt: »Zoologisierung ist Anthropologisierung« (Euchner 2001, 399). Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist, dass ein solches Verständnis abgesehen von der Frage nach der Validität der Ergebnisse mit den oben dargestellten Anthropologien den Alleinvertretungsanspruch teilt: Auch hier wird ein Verständnis vom Menschen, das biologistische, vorausgesetzt und wie auch im Fall einer empirisch und einer philosophisch verstandenen »politischen Anthropologie« der Anspruch erhoben, allgemeingültige Aussagen über den Menschen bzw. die menschliche Existenz und damit die (politische) Anthropologie zu formulieren.

Allen drei Varianten politischer Anthropologie geht es nicht primär um die wissenschaftliche Analyse politischer Ordnung bzw. Ordnungsvorstellungen, deren Analyse bzw. Konzeption ist vielmehr immer schon eine aus den fachspezifischen Anthropologien abgeleitete. Politische Anthropologie wird im Anschluss an die allgemeine Begriffsbestimmung der Anthropologie als »Lehre/Wissenschaft vom Menschen« auf unterschiedliche Weise verstanden: als politisch gewendete »Lehre/Wissenschaft vom Menschen«, die aus der philosophischen oder biologischen Bestimmung des Menschen politische Schlüsse zieht oder als »Lehre/Wissenschaft von der politischen Existenz der Menschen«, die den Menschen als kulturelles Lebewesen bzw. als »homo politicus« voraussetzt und in seiner tatsächlichen politischen Existenz untersucht. Die fachspezifischen Varianten politischer Anthropologie erweisen sich so im wahrsten Sinn des Wortes als »politische« Anthropologien, da sie um die Deutungshoheit der Bestimmung des Menschen kämpfen, die nicht erst, wo sie aus den anthropologischen Bestimmungen Rückschlüsse auf die politische Ordnung ziehen, aber hier völlig offensichtlich, Teil des politischen Deutungskampfs werden. Anthropologie als »Wissenschaft vom Menschen« ist so verstanden immer schon politisch, unabhängig davon, ob die politischen Implikationen expliziert werden oder nicht.

Aus politikwissenschaftlicher Perspektive sind diese fach- bzw. bereichsspezifischen politisch gewendeten Anthropologien durchaus von Interesse, jedoch nur als Varianten, wie der/die Mensch/en im Bereich des Poltischen gedacht wird/werden, sprich als Gegenstand ihrer Analyse. Eine politikwissenschaftliche Anthropologie hat nicht den/die Menschen selbst zum Gegenstand, sie formuliert selbst keine politische Anthropologie, ihr Gegenstand sind vielmehr Aussagen über den/die Menschen oder anders: anthropologische Argumente im Rahmen politischen Denkens. Eine politikwissenschaftliche Anthropologie als wissenschaftliche Betrachtung des Menschen im politischen Denken, die also politische Anthropologien bzw. anthropologische Argumentationen und deren politischen Implikationen zum Gegenstand hat, ermöglicht es, auch jene Aussagen über den Menschen zu berücksichtigen, die davon ausgehen, dass der Mensch nicht als Ausgangspunkt politischer Überlegungen dienen kann. Auch die Anthropologiekritik lässt sich so auf ihre anthropologischen Argumente hin befragen. In der Kritik zeigt sich die Anthropologiekritik zugleich als Voraussetzung und Gegenstand der in dieser Studie zu skizzierenden politikwissenschaftlichen Anthropologie.

2.Kritik der Anthropologiekritik: Anthropologiekritik als »politische Anthropologie«

So selbstverständlich im klassischen Sinne philosophisch verstandene anthropologische Begründungsmuster in der Geschichte des politischen Denkens waren, so fragwürdig sind sie spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts, vollends aber im 20. Jahrhundert geworden. Die Möglichkeit einer Bestimmung des Wesens des Menschen wurde aus verschiedenen Richtungen unter Verweis auf die historische, die kulturelle bzw. die gesellschaftliche Bedingtheit der menschlichen Existenz infrage gestellt (vgl. Rölli 2015a); wofür nicht zuletzt das Aufkommen der Kulturanthropologie wie der Philosophischen Anthropologie Ausdruck ist.

Dirk Jörke fasst die »Anthropologiekritik«, die sich gegen die anthropologische Begründung politischer Theorien wendet, treffend in drei Vorwürfe zusammen: Anthropologische Begründungen politischer Theorien basieren demnach auf Fehlschlüssen naturalistischer Art (vom Sein aufs Sollen), ethnozentrischer Art (von historisch-kulturellen auf universelle menschliche Eigenschaften) oder rationalistischer Art (von einer politischen Theorie auf nachträglich ausgewählte menschliche Merkmale) (vgl. Jörke 2005, 56 ff.). Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist dabei, dass alle Vorwürfe sich gleichermaßen gegen die als unzulässig verstandene Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen und die Fixierung des Menschen richten (vgl. Höffe 1992b, 10). Die sogenannten »Anthropologiekritiker« bestreiten die Möglichkeit der Erkenntnis (nicht notwendig die Existenz) eines überzeitlichen Wesens des Menschen bzw. menschlicher Universalien und erst in der Konsequenz die Möglichkeit, politische Prinzipien durch anthropologische Annahmen zu begründen. Anthropologiekritik ist meines Erachtens im Kern radikale Erkenntniskritik.

Von der Anthropologiekritik mithin von den erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten auf einen Verzicht anthropologischer Annahmen im Rahmen des politischen Denkens zu schließen, würde so verstanden selbst einen Fehlschluss bedeuten, nämlich einen erkenntnistheoretischen Fehlschuss. Denn die Annahme, dass universell gültige, a-historische Aussagen über das Wesen des Menschen nicht möglich sind, bedeutet nicht, dass man im Rahmen politischen Denkens systematisch auf Annahmen über den/die Menschen verzichten könnte. Aus der Kritik folgt nicht, dass politische Theorien von dem/den Menschen abstrahieren könnten, sondern nur, dass a-historische Aussagen über den Menschen nicht als Begründung für politische Ordnungsvorstellungen dienen können. Entsprechend lassen sich auch im Denken der sogenannten »Anthropologiekritiker« Aussagen über den/die Menschen bzw. das Menschsein ausmachen. Diese sind, obwohl politik-theoretisch relevant, im Rahmen des bisher in der (deutschsprachigen) Politikwissenschaft vorherrschenden philosophischen Verständnisses »politischer Anthropologie«, gegen das gerade sich die Anthropologiekritik richtet, nicht zu fassen. Die Begriffe »Anthropologiekritik« und »nachanthropologisches Denken« scheinen insofern unpassend, weil »Anthropologie« hier einseitig essentialistisch verstanden wird, was es unmöglich macht, die anthropologischen Argumente der Kritiker der Anthropologie zu fassen. Nur wenn Anthropologie systematisch bzw. als Metawissenschaft konzipiert wird, kann sie alle politisch relevanten Aussagen über den Menschen fassen und vergleichen und so einem politikwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse entsprechen, das auf die Offenlegung der politischen Ordnungsvorstellungen inhärenten anthropologischen Annahmen zielt. Dort, wo in Abgrenzung dazu im herkömmlichen Sinne von »Anthropologie« und »Anthropologie«kritik gesprochen wird, tritt diese zwangsläufig als die Anthropologie auf bzw. kritisiert eine solche. So handelt es sich bei der »Anthropologie«kritik um eine durch eine radikale Erkenntniskritik bedingte Kritik essentialistischer (und auch universalistischer) »Anthropologie«. Auch die Anthropologiekritik als umfassende Position, die also nicht nur die »Anthropologie«kritik, sondern auch die zugrundeliegende radikale Erkenntniskritik bezeichnet, ist dann eine Variante unter anderen, den/die Menschen im Bereich des Politischen zu denken.

Im Folgenden geht es weniger darum, die sogenannte »Anthropologiekritik« in allen Einzelheiten darzustellen, noch sollen sämtliche »nachanthropologischen« Denker*innen behandelt werden. Exemplarisch werden Max Horkheimer (1895-1973), Hannah Arendt (1906-1975), Michel Foucault (1926-1984) und Richard Rorty (1931-2007) dargestellt. Die Wahl fällt auf diese vier Autor*innen, einerseits weil sie sich explizit gegen eine essentialistisch verstandene Anthropologie als Begründung für politische Ordnungen wenden, andererseits um ein möglichst breites Spektrum politik-theoretisch relevanter Positionen abzudecken. Während unter dem Etikett der »Anthropologiekritik« meist die Kritik der Frankfurter Schule an der Philosophischen Anthropologie17 und das »Verschwinden des Menschen« bei Foucault18 und nur teilweise der Pragmatismus19 thematisiert werden, wird Arendt normalerweise nicht zu den »Anthropologiekritikern« gezählt bzw. unter dem Etikett »Anthropologiekritik« gefasst. Das ist nachvollziehbar, da Arendt zwar Wesensaussagen über den Menschen ablehnt (vgl. Arendt 2002, 20), zugleich aber am deutlichsten von den hier genannten Autor*innen eigene anthropologische Überlegungen anstellt, sodass man ihre Position durchaus als eine verstehen kann, die »das menschliche Fundament der Politik, auf das politische Theorie zuvor immer nur vertraut und verwiesen hat, freizulegen versucht« (Gerhardt 2007, 218) bzw. als eine, die »die politische Anthropologie des Aristoteles existentialistisch radikalisiert« (Brunkhorst 2015, 30). Damit aber wird in Arendts Denken nur besonders deutlich, was die Analyse in der Zusammenschau der genannten Theoretiker*innen zeigen soll. Die These lautet: Im sogenannten »nachanthropologischen« Denken wird das seit der Neuzeit dominierende naturalistische Paradigma durch ein gesellschaftliches Paradigma abgelöst. Indem die Naturwissenschaft als Leitwissenschaft des politischen Denkens durch die Sozialwissenschaft bzw. »Natur« als bestimmender Faktor durch »Gesellschaft« ersetzt wird, werden anthropologische Argumente nicht abgeschafft, sondern nur im Rahmen eines neuen Paradigmas formuliert, wodurch sich ihr Status ändert. Die Anthropologiekritik ist in diesem Verständnis Ausdruck einer Revolution im Denken bzw. des Denkens, vergleichbar mit derjenigen zu Beginn der Neuzeit, sprich Ausdruck eines Paradigmenwechsels.

Unter »Paradigmenwechsel« wird im Rahmen der vorliegenden Studie der Wechsel der Annahmen über Struktur und Möglichkeit menschlicher Erkenntnis verstanden, die wissenschaftlicher Erkenntnis logisch vorausgehen, auch wenn im Zuge eines Paradigmenwechsels keine vorgängigen Annahmen über menschliche Erkenntnis formuliert werden, sondern die Annahmen eines Wissenschaftszweigs zur Leitidee und damit im wahrsten Sinne des Wortes zum grundlegenden Denkmuster (bzw. zum grundlegenden Erkenntnismuster, weil dadurch vorgegeben ist, wie Denken bzw. Erkenntnis selbst gedacht wird) erhoben wird. Paradigma und Paradigmenwechsel wird hier folglich in einem grundlegenderen Sinne als in Thomas Kuhns Verständnis verstanden.20 So gilt für den hier konstatierten Paradigmenwechsel zwar Kuhns Unterscheidung zwischen normaler Wissenschaft und wissenschaftlicher Revolution und die damit zusammenhängenden Prozesse, doch wird wissenschaftliche Revolution hier nur im »herkömmlichen Gebrauch«, das heißt für offensichtlich revolutionäre Episoden verwendet und nicht in dem »erweiterte[n] Sinn wissenschaftlicher Revolution«, der auch »nicht so offensichtlich revolutionäre Episoden« (Kuhn 1976, 22) umfasst. Dabei sind diese großen Umbrüche (die gleichwohl durch zahlreiche Zwischenschritte vorbereitet sind) im vorliegenden Verständnis dadurch gekennzeichnet, dass hier die Frage nach der Struktur und Möglichkeit menschlicher Erkenntnis selbst neu gestellt und beantwortet wird. Paradigmenwechsel meint hier den Wechsel der vorherrschenden (durch je ein Wissenschaftsverständnis geprägte) Vorstellungen über menschliche Erkenntnis selbst, die gleichwohl notwendig Auswirkungen auf einzelwissenschaftliche Fragestellungen und Gegenstände haben. Paradigma ist damit zugleich weniger exklusiv zu verstehen als bei Kuhn. Ein Paradigma löst ein anderes nicht ab, vielmehr werden im Zuge des Paradigmenwechsels die erkenntnistheoretischen Annahmen einer in dieser Hinsicht zur Leitwissenschaft avancierenden Wissenschaft lediglich vorherrschend; die jeweilige Leitwissenschaft gibt also den Modus der wissenschaftlichen Erkenntnis als solcher – im westlichen Kulturkreis – vor und wirkt auf die zuvor vorherrschenden, fortbestehenden Argumentationsmuster ein und verändert sie dadurch möglicherweise, löscht diese aber nicht aus. Das heißt, dass verschiedene Annahmen über Struktur und Möglichkeit menschlicher Erkenntnis koexistieren, sprich dass verschiedene paradigmatische Argumentationen koexistieren, jedoch nicht zu jeder Zeit gleichermaßen wirkmächtig sind. Weder herrscht folglich ein erkenntnistheoretisches Paradigma absolut, noch lassen sich einzelne Epochen, Strömungen, Texte oder Autor*innen völlig eindeutig einem Paradigma zuordnen.

Vor dem Hintergrund dieses grundlegenderen Verständnisses und mit Blick auf den im Folgenden beschriebenen Paradigmenwechsel hin zum gesellschaftlichen Paradigma kann Kuhns Darstellung der Geschichte der Wissenschaft selbst als Folge des beschriebenen Paradigmenwechsels verstanden werden. Kuhn beschreibt nicht nur die Auswirkungen der erkenntnistheoretischen Grundannahme des Historismus, der Wertrelativität (die, wie noch zu zeigen sein wird, als Ausgangspunkt des neuen Denkens gelten kann), für die Wissenschaftsgeschichte, sondern formuliert zugleich den Anspruch, mit seiner Studie eine »theoretische Neuorientierung« der Wissenschaftsgeschichte zu bewirken (ebd., 23). Er expliziert gewissermaßen die Folgen des neuen Denkens bzw. des hier angenommenen Wechsels der paradigmatischen Annahmen wissenschaftlicher Erkenntnis für eine Disziplin, was überdeckt wird durch den Umstand, dass die Wissenschaftsgeschichte die revolutionären Umbrüche im Denken, die ihr eigenes Fundament wie das der Wissenschaft überhaupt verändert, zugleich zum Gegenstand hat.

Kuhn beschreibt die neue Ausgangslage der Wissenschaftshistoriker, die je sorgfältiger sie einzelne wissenschaftliche Errungenschaften studieren, »desto sicherer sind [...], daß jene einmal gültigen Anschauungen über die Natur, als Ganzes gesehen, nicht weniger wissenschaftlich oder mehr das Produkt menschlicher Subjektivität waren als die heutigen« und verweist zugleich auf die »Zweifel an dem kumulativen Prozeß, von dem man glaubte, er habe die einzelnen Beiträge zur Wissenschaft zusammenfügt«. Entsprechend benennt Kuhn die Intention seines Essays wie folgt:

»Das Ergebnis all dieser Zweifel und Schwierigkeiten ist eine historiographische Revolution in der Untersuchung der Wissenschaft, auch wenn sie sich noch im Frühstadium befindet. Allmählich, und oft ohne sich völlig darüber klar zu sein, daß sie es tun, haben die Historiker der Wissenschaft begonnen, eine neue Art von Fragen zu stellen und andere, oft keineswegs kumulative Entwicklungslinien der Wissenschaft zu verfolgen. Anstatt die beständigen, heute noch wertvollen Beiträge einer älteren Wissenschaft zu suchen, bemühen sie sich, die Ausgewogenheit jener Wissenschaft in ihrem eigenen Zeitalter darzulegen. Sie fragen zum Beispiel nicht nach der Beziehung der Auffassungen Galileis zu denen der modernen Wissenschaft, sondern nach den Beziehungen seiner Anschauungen zu jenen seines Kreises [...]. Implizit zumindest deuten diese Studien die Möglichkeit eines neuen Bildes der Wissenschaft an.« (ebd., 17, Herv. F. H.)

Kuhns Blick auf die Wissenschaftsgeschichte ist also selbst Ausdruck des Paradigmenwechsels in Folge der Historisierung des Denkens und entsprechend wird auch er (wie die hier behandelten Autor*innen des gesellschaftlichen Paradigmas) mit dem Vorwurf des Relativismus konfrontiert (vgl. ebd., 216 ff.) und verwirft auch er – wie das wesentlich für den Wechsel zum gesellschaftlichen Paradigma ist – in seiner Verteidigung (wenngleich er den Fortschrittsgedanken in gewisser Weise aufrechterhält) den traditionellen Wahrheitsbegriff (vgl. ebd., 217/218). Mit anderen Worten: Kuhns Studie argumentiert selbst paradigmatisch im Sinne des gesellschaftlichen Paradigmas.

2.1Anthropologiekritik als Folge eines Paradigmenwechsels

Während der Paradigmenwechsel, der Antike und Mittelalter von der Neuzeit trennt, Gegenstand vieler Studien ist, ist der Paradigmenwechsel hin zum gesellschaftlichen Paradigma – wohl nicht zuletzt aufgrund der geringeren zeitlichen Distanz – bislang weit weniger erforscht. Der Umstand, dass sich in der Frühen Neuzeit im westlichen Denken eine Revolution vollzogen hat, ist vielfach dargelegt worden. So hält Alexandre Koyré in seiner wissenschaftshistorischen Abhandlung Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum einleitend fest: »Allgemein herrscht die Ansicht, daß das siebzehnte Jahrhundert eine radikale geistige Revolution erlebt und vollzogen hat, deren Wurzel und zugleich Frucht die moderne Naturwissenschaft ist.« (Koyré 1969, 11) Die nicht erst mit Kopernikus einsetzende und nicht durch ihn vollendete, aber oft mit ihm verbundene Revolution des Denkens kann dabei mit Koyré

»als Ursache für die Zerstörung des Kosmos bezeichnet werden, das heißt dafür, daß die Vorstellung von der Welt als endliches, geschlossenes und hierarchisch geordnetes Ganzes [...] aus den philosophisch und wissenschaftlich gültigen Auffassungen schwand und daß sie abgelöst wurde durch ein grenzenloses und sogar unendliches Universum, das durch die Identität seiner fundamentalen Bestandteile und Gesetze zusammengehalten wird und in dem alle diese Bestandteile auf derselben Stufe des Seins stehen.« (ebd., 12)

Der Mensch wurde damit nicht nur der Welt, in der er lebte und mit ihr seiner Stellung in ihr beraubt, sondern zugleich der Grundlage seines Denkens und Erkennens (vgl. ebd.).

Wie Hans Blumenberg zeigt, vollzog sich dieser Wandel selbstverständlich weniger abrupt, als es der Terminus »Revolution« nahelegt.21 Er war vielmehr schon in der im Rahmen der Rezeption antiken Denkens durch das christliche Mittelalter entstandenen Umkehr des Verhältnisses von Teleologie und Theologie und der damit einhergehenden Gefährdung der antik-christlichen Synthese angelegt (vgl. Blumenberg 1957). In der Tat scheinen die erkenntnistheoretischen und damit anthropologischen Implikationen der Entwicklung ›von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum‹ bereits im mittelalterlichen Universalienstreit auf, den Heinrich Schmidinger als »den folgenschwersten Einschnitt in der Geschichte der gesamten abendländisch-europäischen Kultur« (Schmidinger 2006, 152) bezeichnet:

»Die Ganzheit der Wirklichkeit, die während der Antike und des Mittelalters etwas darstellte, das allem konkret Realen als das eigentlich Wirkliche und eminent Wahre vorhergeht, wurde damit zu etwas, was sich die menschliche Vernunft entwirft und konstruiert, um in das konkret Reale Ordnung und Sinn hineinzubringen.« (ebd., 154; Herv. i. O.)

Damit ändert sich zugleich die Rolle des Menschen: »Durch den Universalienstreit des späten Mittelalters setzt ein Paradigmenwechsel ein, der zu einem neuen Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit führt. Aus ihm resultiert das, was man später die Anthropozentrik nennen wird.« (ebd., 164; Herv. i. O.) Der Mensch wird Ausgangspunkt der Erkenntnis, die Wirklichkeit eine durch menschliche Erkenntnis vermittelte: »Wann immer der Mensch etwas über die Wirklichkeit aussagt, muß er sie bereits erkannt haben.« (ebd.; Herv. i. O.) Dabei lassen sich in der Neuzeit ausgehend von René Descartes’ Überlegungen mit Schmidinger zwei Positionen unterscheiden, eine absolutistische und eine skeptische:

»Die absolutistische wird behaupten, daß der Mensch zu sicheren und objektiven Erkenntnissen fähig ist und von diesen aus dazu kommen kann, Aussagen über die Wirklichkeit im Ganzen zu machen. Die skeptische Position wird beides zwar nicht rundweg leugnen, aber doch so erheblich modifizieren, daß die Metaphysik eine zunehmend fragwürdigere Unternehmung wird.« (ebd., 178)

Die skeptische Position wird damit im vorliegenden Verständnis zugleich zum Ausgangspunkt eines neuen, des gesellschaftlichen Paradigmas.22

Selbstverständlich blieb auch, wie vielfach benannt, das politische Denken von dem frühneuzeitlichen Paradigmenwechsel nicht unberührt. Mit Blick auf die Entwicklung einer den Naturwissenschaften analogen Wissenschaft von der Politik führt Horkheimer in »Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie« in kritischer Absicht aus:

»In der Renaissance wurde der Grund zur Naturwissenschaft der neueren Zeit gelegt. Es ist der Sinn dieser Wissenschaft, mit Hilfe systematisch angestellter Erfahrung Regelmäßigkeiten im Naturlaufe festzustellen, um mittels ihrer Kenntnis bestimmte Wirkungen nach Wunsch herbeiführen oder verhindern zu können, mit anderen Worten: um die Natur in möglichst großem Umkreis zu beherrschen. Während das intellektuelle Verhalten der Menschen im Mittelalter wesentlich darauf gerichtet war, Sinn und Zweck der Welt und des Lebens zu erkennen, und sich darum zum weitaus größten Teil in der Auslegung der Offenbarung sowie der kirchlichen und antiken Autoritäten erschöpft hatte, begannen die Menschen der Renaissance, anstatt nach dem jenseitigen Zweck, den man aus der Überlieferung ermitteln wollte, nach den diesseitigen Ursachen zu fragen, die durch sinnliche Beobachtung festzustellen sind.« (Horkheimer 1987a [1930], 181)

Nicht weniger kritisch, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, unterscheidet Henning Ottmann: »Dem Menschen vor der Neuzeit war es selbstverständlich, daß seiner Macht etwas Vorgegebenes voraus liegt: der Kosmos, der transzendente Gott, die Traditionen und Institutionen, die man nicht jeden Tag neu machen kann.« Das ändert sich in der Neuzeit: »Der Mensch der Neuzeit wiegt sich in der Illusion, daß ihm eine Anerkennung des Vorgegebenen nicht zuzumuten ist, er die Natur schlichtweg beherrschen, sich selber sein Gesetz geben und seine Geschichte machen kann.« (Ottmann 2006, 2)

Während also, wie ich das im Folgenden nennen möchte, in Antike und Mittelalter ein metaphysisch-theologisches Paradigma vorherrschend ist, das von einem vorgegebenen, dem Menschen unverfügbaren, aber bis zu einem gewissen Grad einsehbaren und der Politik als Orientierung dienenden Ordnungsgefüge ausgeht, findet in der Neuzeit ein Paradigmenwechsel hin zum naturalistischen Paradigma statt. Die Naturwissenschaften ersetzen die Metaphysik bzw. Theologie als Leitwissenschaft bzw. als Erkenntnis leitende Wissenschaft, zur Bezugsgröße politischen Denkens werden dadurch die gleichen Individuen, die als Teil der gleichförmigen Natur, deren Gesetzen unterworfen sind; naturalistische Annahmen über den Menschen ersetzen metaphysische und theologische Begründungsmuster als Ausgangspunkt des politischen Denkens. Wobei »Natur« einen »Kosmos« bzw. »Gott« in deren Absolutheit ähnlichen Status für die Erkenntnis einnimmt. Es besteht jedoch ein struktureller Unterschied: »Natur« ist nicht gleichermaßen unverfügbar, sodass der Mensch bzw. seine höhere Natur von einem durch ein höheres Prinzip Bestimmten selbst zum das höhere Prinzip Bestimmenden wird. In der Geschichte des politischen Denkens markiert besonders prominent Thomas Hobbes diesen Neubeginn, der eine an den Naturwissenschaften orientierte objektive Betrachtung des Menschen zum Ausgangspunkt seiner politischen Theorie macht.

Wie bereits vorweggenommen liegt der vorliegenden Arbeit die These zugrunde, dass der geänderte Status der anthropologischen Argumente im nachanthropologischen Denken ebenfalls auf einem Paradigmenwechsel beruht. Genau genommen, dass im sogenannten »nach-anthropologischen« Denken die Naturwissenschaft als Leitwissenschaft, der die grundlegenden Annahmen über Umfang und Struktur menschlicher Erkenntnis entnommen sind, durch die Sozialwissenschaft abgelöst wird, sprich dass anthropologische Argumente nicht abgeschafft werden, sondern nun im Rahmen eines neuen Paradigmas formuliert werden, wodurch sich zugleich ihr Status ändert. Nun bestimmen die gesellschaftlichen Prägungen das Bild vom Menschen, »Menschenbilder« werden verstanden als Ausdruck dieser Prägungen, Anthropologie im essentialistischen Sinne wird ebenso abgelehnt wie biologistische Generalisierungen. Das »nachanthropologische Denken« impliziert selbst anthropologische Aussagen,23 nur werden diese nicht länger durch »Kosmos«/»Gott« oder »Natur«, sondern – so die These – durch »Gesellschaft« strukturiert. Im Unterschied zu »Kosmos«/»Gott« bzw. »Natur« ist »Gesellschaft« kein a-historischer Bezugspunkt, sondern gerade durch die fehlende inhaltliche Bestimmung gekennzeichnet; Gesellschaft ist hier die (inhaltlich leere) Form des Menschseins.

Auch hier liegt dem Wandel eine erkenntnistheoretische Erschütterung zugrunde: Ausgelöst durch die Erfahrung der geschichtlichen Diskontinuität, die in der totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts kulminiert, findet eine endgültige Abkehr von metaphysischen Begründungen und letzten Wahrheiten bzw. eine radikale Erkenntniskritik statt. Ausgangspunkt auch des politischen Denkens wird die Annahme der Kontingenz menschlicher Erkenntnis. Insofern menschliche Erkenntnis als durch nie völlig fixierbare, gesellschaftliche Voraussetzungen bedingte gedacht wird (sodass man eigentlich nicht mehr von »Erkenntnis« sprechen kann) und ihren Ausgangspunkt in der neu begründeten Soziologie hat, scheint es sinnvoll das entsprechende Paradigma als gesellschaftliches Paradigma zu bezeichnen.

Wird der Wechsel zum gesellschaftlichen Paradigma – als ein Wechsel der der wissenschaftlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Denkmuster und so in seiner grundstürzenden Qualität dem Wechsel vom metaphysisch-theologischen zum naturalistischen Paradigma vergleichbar – auch nur selten als solcher benannt, so doch dessen Ergebnis, das in verschiedenen Strömungen zum Ausdruck kommt. So etwa bei Jean-François Lyotard, dessen Werk über Das postmoderne Wissen für die entsprechende Diskussion in der Philosophie prägend war: postmodern bedeutet für ihn vereinfacht gesagt »die Skepsis gegenüber Metaerzählungen« (Lyotard 2012, 24). Die Metaerzählungen, die die Moderne ausgezeichnet haben, suchen demnach die Legitimität in einer einzulösenden Zukunft, einer noch zu verwirklichenden Idee (der Freiheit, der Aufklärung, des Sozialismus usw.) (vgl. Lyotard 2015, 49). Lyotards Annahme besteht darin,

»daß das Projekt der Moderne (die Verwirklichung der Universalität) nicht aufgegeben, vergessen, sondern zerstört, ›liquidiert‹ worden ist. Es gibt mehrere Modi der Zerstörung, mehrere Namen, die sie symbolisieren. ›Auschwitz‹ kann als ein paradigmatischer Name für die tragische ›Unvollendetheit‹ der Moderne genommen werden« (ebd., 50).

So beschreibt Lyotard zwar der Sache nach durchaus einen Bruch, versteht aber dennoch die Postmoderne nicht als neues Zeitalter, sondern als eine der Moderne innewohnende kritische Gegenbewegung (vgl. Lyotard 1987, 26) und würde mithin gerade nicht von einem Paradigmenwechsel sprechen.24