Der mondhelle Pfad - Petra Wagner - E-Book

Der mondhelle Pfad E-Book

Petra Wagner

4,9

Beschreibung

Autorin: Petra Wagner, Taschenbuch mit 768 Seiten. Illustriert von Haucke Kock. „Der mondhelle Pfad“ - die Fortsetzung zu „Die Macht der weisen Schlange“ Die legendäre Salzschlacht im hercynischen Wald zwischen Chatten und Hermunduren ist entschieden. Siegreich kehren die Hermunduren in ihre Clans zurück und Loranthus, ihr griechischer Gast, genießt die Zeit im Kreise seiner neuen Freunde. Als er jedoch den lang ersehnten Brief seines Vaters in Händen hält, gerät seine heile Welt abrupt ins Wanken. Sein Vater, Spross einer uralten Händlerdynastie, wurde der Verschwörung gegen Rom bezichtigt und musste von Kreta flüchten. Nun wartet Madenius hinter dem Rhenus, in Confluentes, das zur römischen Provinz Gallia Belgica gehört. Voller Sorge macht sich Loranthus auf den Weg, um seinem Vater beizustehen. Hanibu, seine äthiopische Sklavin, sowie Viviane und Silvanus lassen ihn in der Not nicht im Stich. Sie kommen gerade zur rechten Zeit in Confluentes an, um drei Chatten am Kreuz sterben zu sehen, die sich ebenfalls gegen Rom verschworen haben sollen. Doch Viviane ist nicht umsonst eine Druidin vom Bund des Drachenschwertes und gemeinsam mit ihren Freunden startet sie eine Rettungsaktion. Ihre Täuschung ist perfekt ausgeklügelt, nur eines ist ihnen entgangen: Sie wurden schon längst ins Visier genommen.

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Seitenzahl: 1970

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Petra Wagner

Der mondhelle Pfad

„Der mondhelle Pfad“– die Fortsetzung zu„Die Macht der weisen Schlange“

Impressum

Umschlaggestaltung und Titelbild:Hauke Kock, Kiel

1. Auflage 2015

ISBN 978-3-86777-909-8-0

ISBN 978-3-86777-957-9, E-Book [ePUb]

Lektorat: Anne-Cathrin Rost, Jena

Innenlayout: Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaber: Harald Rockstuhl

Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V.

Lange Brüdergasse 12 in D-99947 Bad Langensalza/​Thüringen

Telefon: 03603/​81 22 46 Telefax: 03603/​81 22 47

www.verlag-rockstuhl.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Hüter des weißen Goldes

Fragen sind der Anfang allen Wissens

Drei gängige Schlüssel, um Gedanken aufzuschließen: Trunkenheit, Vertrauensseligkeit, Liebe

Weisheit verdient Achtung

Die Zeit geht vorbei, ob bei Spiel oder Arbeit

Wer schenkt, findet eine offene Tür

Vögel einer Farbe treffen sich am selben Ort

Sein und Schein

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

Wo ein Wille, ist eine Tat

Was der Mund spricht, kann nur die Tat beweisen

Ohne Hoffnung bricht jedes Herz

Das Ende eines Tages ist gut zum Feiern

Übung ist die Mutter der Meisterschaft

Unverhofft kommt oft

Nach Regen folgt Sonnenschein

Eile mit Weile

Drei Erfordernisse für Gerechtigkeit: Urteilsvermögen, Mäßigung und Gewissen

Hochzeit

Was, außer ein Kätzchen, sollte man von einer Katze erwarten

Wer eine Reise tut, kann vieles erleben

Wo Frauen sind, da sind auch Zaubermittel

Himmelhoch jauchzend

Zu Tode betrübt

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Kommt Zeit, kommt Rat

Personen bei den Hermunduren

Personen bei den Treverern um Confluentes (Koblenz)

Die Karte

Die Autorin

Der mondhelle Pfad

Die Hüter des weißen Goldes

Eine sanfte Brise strich durch die Schatten der Wälder, erklomm die sonnigen Bergkuppen, senkte sich hernieder in die kühlen Auen. Jedem Kiesel in den gewundenen Bächen, jedem Grashalm auf den saftigen Wiesen, jedem Blatt in den hohen Wipfeln raunte sie zu:

„Dreht euch, wiegt euch und tanzt beschwingt, denn seht:

Dieser Tag der Eiche ist einmalig.

Selbst der Strahlende strebt heute seinem Zenit besonders gleißend entgegen.“

Und so wurde es heiß, sehr heiß. Über der Antsanvia begann die Luft zu flimmern. Verlassen lag die breite Straße, wartete.

Die Alten und Mütter des Hirschclans hatten sich längst vom Wegesrand ins schattige Unterholz zurückgezogen. Auch sie warteten.

Sie warteten auf diejenigen, wegen deren Mut sie überhaupt noch warten konnten, wegen deren Tapferkeit sie noch ein Leben hatten, eine Heimat, Freiheit.

Doch vorerst war es noch nicht soweit, die siegreich Heimkehrenden in die Arme zu schließen. Noch wurden gemurmelte Worte ausgetauscht, manchmal erklang auch helles Lachen, ansonsten döste jeder vor sich hin. Nur die Kinder tobten lärmend um die Bäume herum.

Auch sie warteten – auf ihre Art.

Drei mal schon hatten sie mitten im Lauf inne gehalten und dem Erschallen der Hörner gelauscht. Jedes mal hatte ihnen eine sanfte Brise den mahnenden Ruf zugetragen – der erste nur eine Ahnung, der zweite bereits laut und vernehmlich, der dritte war das gewohnte Dröhnen.

Die Berge ringsum hatten den Schall bis tief hinein ins schattige Unterholz geworfen und der dumpfe Klang die Kinder in helle Aufruhr versetzt; ihr Spiel noch ausgelassener gemacht. Ihre Mütter und Großeltern jedoch waren träge liegen geblieben.

Nun endlich erschallten die Hörner das vierte Mal und bewirkten ein allgemeines Aufsetzen und Glieder strecken, nur die Hunde gähnten gelangweilt.

Es war immer noch Zeit.

„Beim Geweih Cernunnos! Halt endlich still, Robin!“

Im Takt ihrer Worte klatschte Lavinia ihre Hand auf Robins Rücken und schleuderte mit einem „Ich brauch Platz!“ seinen langen roten Zopf über die Schulter nach vorne. „So, freie Bahn und jetzt Ruhe! Wie soll ich denn einen ordentlichen Buchstaben auf deinen Rücken bekommen, wenn du so zappelst!“ Rabiat packte sie seine Schultern und zerrte ihn in eine gerade Sitzposition.

„He! Lass das Schütteln sein! Ich bin doch kein Apfelbaum!“

„Mit welchem Buchstaben fängt Apfelbaum an?!“, rief Lavinia sofort und schüttelte noch mehr, so dass jetzt auch ihre eigenen nussbraunen Locken ordentlich mitwippten.

„Mir ist so heiß!“

„Von dem Buchstaben hab ich noch nie was gehört und mir reißt jetzt gleich der Geduldsfaden! Also! Konzentriere dich endlich, Robin! Ich habe dich ge …“

„Ich will jetzt endlich spielen!“

„Dummes Zeug!“, schnarrte Lavinia und gab ihm einen derben Klaps auf den Rücken.

Den Schwung nutzte sie schnell noch aus, um sich ein paar hängengebliebene Ringellocken aus dem Mund zu zerren, schon hatte sie ihn wieder gepackt. Robin war allerdings auch nicht untätig geblieben und hatte es geschafft, seinen Zopf zurückzuwerfen, doch der klatschte ihm so schnell gegen die Stirn retour, dass er nicht einmal bis eins zählen brauchte. Lavinia grummelte wesentlich länger und schüttelte noch wilder, da sie eine Abneigung gegen widerspenstige Sprösslinge jedweder Art hatte, die nur mit Gewalt in die richtige Richtung gezogen werden konnten. Bloß gut, dass gerade Sommer war. Bis da die Sonne unterging …

„Ich will spielen! Ich will sp …“

„Ruhe! Der Tag ist bereits zur Hälfte um! Die Hörner sind schon ganz laut! Jetzt ist keine Zeit mehr für …“

„Dafür reicht die Zeit allemal noch! Und seit wann ist Verstecken spielen dummes Zeug?! Du redest Schwachsinn, Lavinia! Ich bin nämlich ein Kind! Genau wie du übrigens! Mit fünf Jahren dürfen wir dummes Zeug machen, soviel wir wollen! Immerzu!“

„Wer sagt das?!“

„Medan.“

„Me-dan!?“, knurrte Lavinia und zog entrüstet die Augenbrauen hoch. Doch dann entschied sie sich für ein herablassendes Schulterzucken und verzog das Gesicht zu einem verheißungsvollen Lächeln.

„Nun, ja. Medan, als mein jüngster großer Bruder, muss es wohl wissen! Wenn der erst seine Weihe hat, ist die Zeit der Dummheiten vorbei! Einen Mond später, höchstens zwei, und er will wieder ein Kind sein! Garantiert!“

„Wer sagt das!?“

„Schwatz nicht so altklug daher!“

„Nun, ja. Du musst’s ja wissen, Tantchen!“, plusterte sich Robin auf und zupfte einen langen, imaginären Bart an seinem Kinn zurecht. „Das Studium der Altklugheit hast du bekanntlich schon vor drei Jahren mit Bravour gemeistert! Vielleicht wirst du später mal … Druidin der Altklugheit!“

Lavinia klappte die Kinnlade herunter. Ihre Hand zuckte verdächtig in die Höhe und strich betont würdevoll eine äußerst widerspenstige, nussbraune Locke aus der leicht geröteten Stirn.

„Wie recht du doch hast, liebster und – bis jetzt – einziger Neffe, Robin!“, säuselte sie honigsüß und leckte sich die Lippen. „Auch du kannst klug werden im Alter. Es ist nicht schwerer, als ein Feld mit einem Holzlöffel zu beackern.“

Robin brauchte einen Augenblick, um die versteckte Botschaft zu entschlüsseln, doch da hatte sie seinen Gedankengang schon ausgenutzt und versuchte, ihn in die Spur zu lenken. Eigentlich tat sie das immer; im konkreten Fall drückte sie allerdings dermaßen derb in Richtung Gras – je schneller er von ihr wegkam desto besser. Die einzig mögliche Option war Kapitulation – wie jedes Mal – und es war ja nicht so, dass er sich geschlagen gab … oh, nein.

Höchst betrübt drehte Robin seinen Kopf nach hinten, hielt sich an seinem Zopf fest und konterte Lavinias ironisches Grinsen mit einem bockig-verzweifelten Blick.

Tief seufzend maulte er: „Ich lerne dieses schwierige Geschreibsel sowieso nie! Da kann ich es auch gleich sein lassen!“ Und damit hatte er ihre Schwachstelle getroffen.

Wie erwartet tätschelte Lavinia sofort seine leidende Miene, nahm ihn unter ihre Lockenpracht und gurrte beschwichtigend: „Wir schaffen das gemeinsam, Robin! So wahr ich hier sitze, du lernst schreiben! Da gebe ich dir Brief und Siegel drauf.“

Robins Augen leuchteten ehrlich begeistert auf und er wurde so rot wie seine Haare.

„So einen Brief wie Afal in der Hand hatte, als er mit Königin Elsbeth bei uns war? Der mit dem Hirsch auf dem Siegel?“

„Genau so einen meine ich.“ Alles an Lavinia wippte.

„Aber der war doch in Geheimschrift, Lavinia! Da müsstest du schon eine echte Druidin werden, um den zu lesen! So eine, wie deine Schwester, Viviane!“

Lavinia ruckte kerzengerade und löste tatsächlich ihre Armklammer, um sich nachdenklich gegen die Wange tippen zu können. Mit der anderen Hand drehte sie sich noch mehr Locken.

„Jaaa, das wäre eine Überlegung wert, mein schlauer und, wie schon erwähnt, einziger Neffe … Nora sagt, ich hätte das Zeug dazu.“

Diese Reaktion hatte er zwar nicht einkalkuliert, doch Robin nutzte die Gelegenheit und rutschte ein Stück weg. Belustigt zog er die Augenbrauen hoch und kiekste: „Nora ist unsere Schafhirtin.“

„Na, und!?“

Lavinia reckte das Kinn in Angriffsposition und kniff ihre Augen bedrohlich zusammen; Robin schaute so unschuldig drein wie das frommste aller Lämmchen … ein besonders niedliches, liebes Lämmchen mit flauschiger roter Wolle … so rot wie die Rübe, die das wehrlose Lämmchen scheinbar gerade kaute, weil es nichts Besseres zu essen hatte … und so konnte sie nur nachsichtig lächeln. Natürlich nicht, ohne Achtung heischend den Zeigefinger zu heben – den, mit den aufgewickelten Haaren.

„Nora ist die beste Freundin meiner lieben Schwester Viviane, also muss sie es auch am besten wissen. Die beiden haben schließlich gemeinsam die Schafe gehütet, als sie so alt waren wie wir.“ Und bestimmt hatten auch sie ein kleines, knuddeliges und ach so treuherzig drein blickendes Lämmchen dabei gehabt, einfach zum …

„Was meinst du, Lavinia!?“, raunte Robin und beugte sich gewagt in ihre Reichweite. „Haben die Kinder früher auch Buchstaben und Zahlen gelernt, als sie auf den Weiden waren?“

„Natürlich!“, rief Lavinia und wickelte schnell ihre Haare ab, um den Finger besser schwenken zu können. „Das ist doch wohl klar wie ein Gebirgsbach! Was sollte der Hirte denn sonst den Kindern beibringen!? Ist doch viel zu langweilig, den ganzen Tag nur den Hunden Befehle geben und in aufgeblähte Bäuche stechen, damit den vollgefressenen Schafen die Luft ausgeht!“

„Oooch, Steine schleudern macht auch Spaß! Und Hirtenflö …“

„Lenke nicht vom Thema ab, Robin! Wir wollen schließlich gut dastehen, wenn unsere Leute heimkommen! Was meinst du wohl, wie dein Vater guckt, wenn wir schon Conall schreiben können! Also, mit Schwung! Wir probieren es mal im Liegen. Das Hemd kommt weg!“

Ehe Robin begriff, sprang Lavinia auf, versetzte ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken und kletterte auf sein Hinterteil.

Dieser neuartigen Lernmethode zu entkommen, war jetzt schlichtweg unmöglich und so blieb ihm nur noch ein sehnsüchtiger Seitenblick auf die anderen Kinder, die keine angehende Druidin als Spielgefährtin hatten. Daher durften sie johlend über die Wiese tollen und Hermunduren gegen Chatten spielen, während er sich seinem Schicksal ergeben musste. Er hätte einen perfekten Chatten abgegeben, sogar freiwillig.

Seufzend legte Robin den Kopf ins Gras und überlegte, wann er das letzte Mal im Ringkampf gewonnen hatte. Wie schon erwähnt: Er war immer der Chatte.

Lavinia gab sich diesmal aber nicht mit einem klassischen Sieg zufrieden, sondern raffte energisch sein Hemd unter dem Gürtel heraus, zerrte es ihm über die Schultern, stopfte seinen Zopf umsichtig hinein und setzte mit konzentrierter Miene ihren Zeigefinger auf seinen entblößten Rücken.

Sie hatte ihren Buchstaben noch nicht ganz fertig aufgemalt, da waren Robins Augen schon geschlossen und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. So machte verlieren …

„Also, Robin! Was habe ich geschrieben?“

„He? Ein A“, nuschelte er.

„Und? Ausführlich!“

„In Griechisch Alpha und Apfel fängt damit an. Womit wir wieder beim Apfelbaum wären!“

„Höchstens Sprössling, du Klugscheißer! Was noch? Ein Name, zum Beispiel!“

„Ein Name … ein Name … Ah, ich weiß! Mein Großvater! Sein Name! Arminius!“

„Sehr gut, Robin. Arminius ist absolut richtig. Aber für mich ist Arminius mein Vater.“

Ermutigt von dem Lob drehte Robin seinen Kopf bis zum Anschlag und grinste breit.

„Weiß ich doch, du kleines Nesthäkchen.“

Kaum hatte er das letzte Wort gesagt, hob Lavinia ihr Hinterteil und ließ es mit Schwung auf seinen Po sausen. Sein Gefasel über tieffliegende Hausdrachen überhörte sie galant und malte konzentriert weiter.

„Ich erwarte Respekt“, säuselte sie nebenbei. „Ich bin schließlich deine Tante, kleiner Neffe Robin! Und bald bin ich eine große Schwester. Den laschen Spruch kannst du dir also schon mal abgewöhnen. Ansonsten …“ Sie stemmte sich wieder ein Stück in die Höhe, setzte sich diesmal jedoch sachte. „Was jetzt?“

„Ein S. Griechisch Sigma und Salz fängt damit an und … Silvanus“, leierte Robin so schnell wie möglich herunter.

Lavinia inspirierte die deutliche Antwort auch prompt zu einem Lob. Sie tätschelte ihm die Flanke wie einem Pferd.

„Perfekt! Prima, Robin! Jetzt bin ich dran.“

„Oooch! Jetzt schon?“

Widerwillig erhob sich Robin, um den Platz mit ihr zu tauschen. Dabei fiel sein Blick auf die Wegbiegung am Ende der Straße.

„Was meinst du, Lavinia, wann sind sie endlich da?“

„Hm. Mal überlegen …“, murmelte Lavinia und ließ ihren Blick die Antsanvia hoch und runter schweifen.

Die Straße selbst war leer. Die Kinder ihres Clans hatten sich überall am Wegesrand zwischen den Büschen verteilt und spielten, je nach Alter – doch immer ziemlich laut – Verstecken, Fangen, Zielwerfen oder Schwertkampf. Letzteren hatte ihr Bruder Medan gerade gewonnen und stolzierte mit hochgerecktem Schwert umher wie der Gockel auf dem Mist. Seine langen kupferroten Haare gaben einen prima Hahnenkamm ab, er krähte sogar recht authentisch. Alle fast-erwachsenen Mitstreiter hielten sich die Ohren zu, bis auf einen. Der hielt sich die Hand mit dem abgebrochenen Holzschwert.

Etwas weiter die Straße hinauf hatte es sich Großmutter Mara mit den anderen alten Leuten unter mächtigen Eichen bequem gemacht. Hanibu saß mitten unter ihnen wie ein junges, schwarzes Schaf zwischen alten, weißen und redete – wie so oft – mit Händen und Füßen. Ab und zu schallte Gelächter herüber, denn Hanibu artikulierte manchmal die Mundart der Hermunduren so verquer, dass am Ende nur unsinniges Zeug heraus kam. Lavinia kannte sich damit aus, weil sie umgekehrt die Sprache der Äthiopier fleißig lernte und daher auf die gleiche Weise ihre dunkelhäutige Freundin zum Lachen brachte.

Die einzigen, bei denen es sehr ruhig zuging, waren die Frauen mit kleinen Kindern, die noch nicht schnell genug weg krabbeln konnten. Dort saß ihre Mutter, Flora, und tat so, als würde sie sehr aufmerksam ihre Schwiegertöchter, Noeira und Taberia, sowie Enkeltöchter, Belisama und Armanu, betrachten. Ihre wahren Absichten verbarg sie hinter üppig herabwallendem Kupferhaar. Lavinia hatte schon fünf Jahre geübt, diesem getarnten Kontrollblick zu entkommen und tat so, als würde sie die Mittagssonne blenden.

Mit der Hand über den Augen drehte sie sich wieder zu Robin um.

„Nun, ja … Wann werden unsere Leute endlich da sein. Gute Frage. Also: Der letzte Hörnerklang kam vom Schleidsberg und sie sind ja nicht so schnell, weil sie im Tross ziehen. Also Geduld, Robin, Geduld. Es dauert nicht mehr lange. Mama hat gesagt, die Zeit des Hoffen und Bangen ist vorbei!“

„Den Göttern sei Dank! Meine Mama heult nachts lauter als meine kleine Schwester!“

„Wem erzählst du das?!“, seufzte Lavinia und setzte sich ins Gras. „Immerhin habe ich die ganze Zeit neben Noeira gelegen! Du schläfst ja bei Medan! Ich bin froh, wenn ihr endlich wieder in euer eigenes Haus zieht.“

„Nichts lieber als das, Medan zieht mir immer die Decke weg! Was meinst du, Lavinia? Wird mein Papa seinen Arm je wieder gebrauchen können? Königin Elsbeth hat gesagt, er hätte einen schlimmen Schwerthieb abbekommen und Onkel Tarian hat es extrem am Bein erwischt.“

„Nur keine Sorge, Robin. Meinen großen Brüdern geht es bestimmt gut! Schließlich haben sie die beste Ärztin dabei, die es hierzulande gibt. Viviane flickt alles wieder zusammen, es sei denn, der Kopf ist ab.“

Robin verzog das Gesicht und fasste sich an den Hals.

„Königin Elsbeth hat gesagt, unser Clan hätte nur vier Krieger verloren, aber es gab viele Verwundete. Im Allgemeinen hätten sämtliche Hermunduren-Clans jedoch großes Glück gehabt.“

„Dieses Glück heißt Viviane. Sie hat schließlich alles zum Guten gewendet. Sie hat die Späher der Chatten in eine Falle gelockt und sie hat unserem Amaturix geholfen, als er gegen die Könige der Chatten gezogen ist. Die Beiden haben heroisch gekämpft und unserem Hirschclan enorm viel Ehre gebracht. Sie sind unsere Helden, die Helden des geeinten Großkönigreiches der Hermunduren.“

„Genau. Wir Hermunduren haben die große Salzschlacht im hercynischen Wald gewonnen. Wir Hermunduren haben von den Göttern das Salz geschenkt bekommen. Wir Hermunduren sind die Hüter ihres weißen Goldes. So war es, so ist es, so wird es auch bleiben. Unser Land steht den Göttern am nächsten und deshalb haben die berühmt-berüchtigten Chatten jetzt Respekt vor uns ehrbaren Hermunduren.“

„Garantiert. Aber nur vor denen, die ordentlich schreiben können, besonders, wenn sie aus dem ehrenhaften Hirschclan kommen.“

Demonstrativ verdrehte Lavinia ihren Arm und tippte sich auf den Rücken, den sie schön krumm zum Buckel formte. Hinlegen tat sie sich nicht, verschränkte aber wenigstens die Hände vor den Knien und stützte ihr Kinn darauf ab.

Robin seufzte ergeben, klemmte sich die Zungenspitze zwischen die Zähne und malte auf ihren gesamten Rücken ein …

„T, griechisch Tau wie Teller, Tasse oder Tarian. Jetzt haben wir alle durch, die von unserer Familie in die Schlacht ziehen mussten. C wie Conall und V wie Viviane haben wir ja schon vorhin mit Steinchen gelegt.“

„Einen hast du noch vergessen!“

Robin malte wieder hochkonzentriert.

„Ach ja! Da hast du natürlich recht, Robin! L, griechisch Lambda wie Lamm, lesen oder Loranthus. Aber eigentlich war unser Loranthus ja nicht richtig in der Schlacht dabei, weil er ein Grieche ist und kein Hermundure. Er ist unser Gast, und Gäste dürfen nur von Weitem zusehen.“

„Aber er könnte einer von uns werden, Lavinia! Immerhin hat er sich in Elektra verliebt und Elektra sich auch in ihn!“

„Richtig. Wenn Loranthus eine Königstochter ausschlägt, und auch noch eine solche Schönheit wie Elektra, wäre er wirklich ein Dussel. Dümmer geht’s schon gar nicht mehr.“

In Anbetracht dieser potentiellen Fehlentscheidung verzog Lavinia schon einmal geringschätzig das Gesicht. Robin hingegen wiegte den Kopf, als pendele er selbst zwischen dem Leben eines Königs und dem eines Seefahrers hin und her.

„Ich weiß nicht, Lavinia … Großmutter Flora sagt, er könnte dann kein Händler mehr werden wie sein Vater! Er käme nie mehr in seine Heimat, diese herrliche griechische Insel, Kreta!“

„Da hat meine Mutter vollkommen recht, Robin. Großmutter Mara sieht das als seine schwerste Entscheidung an, immerhin ist Loranthus der Spross einer uralten und enorm reichen Händlerdynastie.“

„Da hat meine Urgroßmutter Mara vollkommen recht, Lavinia. Medan hat sie übrigens belauscht, als sie gerade über seine Sklavin Hanibu geredet haben. Er hat sich doch tatsächlich auf eine Wette mit mir eingelassen.“

Lavinias Kopf ruckte hoch und bis zum Anschlag herum.

„Hanibu mag die Sklavin von Loranthus sein, aber sie ist auch unsere Freundin, Robin!“, schnaubte sie tadelnd, um ihre wahre Absicht zu kaschieren, doch der lauernde Ausdruck in ihren Augen sagte alles. „Um was hat mein jüngster Bruder mit dir gewettet?“

„Kannst du schweigen?“

„Selbstverständlich!“

„Siehst du, ich auch!“

„Ts, dann eben nicht“, winkte Lavinia verächtlich ab und säuselte einen Wimpernschlag später: „Aber wir zwei könnten ja auch eine Wette abschließen, Robin!“

„Gut. Warum nicht.“

Ihr Blick bekam sofort einen geschäftsmäßigen Ausdruck.

„Also. Ich wette mit dir um einen Kieselstein meiner Wahl, dass Loranthus und Hanibu hier bei uns Hermunduren bleiben.“

„Dann halte ich dagegen und wette mit dir um einen ausgetrockneten Frosch meiner Wahl, dass Loranthus mit Hanibu zurück nach Kreta reist.“

„Wette angenommen!“, sagte Lavinia und verrenkte sich, um Robin mit feierlicher Miene die Hand zu schütteln.

Robin drückte fest zu und schob sie sorgsam in Richtung ihrer Füße zurück; ein bisschen schräger drücken, noch schräger nach unten, Übergewicht ausnutzen, Achtung! Drache fällt! Füße hinten … festhalten! Und mit Schwung auf das Hinterteil! Drache fixiert!

Triumphierend reckte Robin die Finger in die Luft und … fing wieder an zu malen. „Mama …“, rief Lavinia sofort und schmiegte sich ins Gras, als hätte sie sowieso dorthin gewollt.

„Nein, Lavinia! Doch nicht M wie Mama! Es ist doch ein N wie Noeira! Wie meine Mama!“

Lavinia presste ihr Ohr ins Gras und zischte: „Lass mich doch ausreden! Ich wollte sagen: Mama hat recht gehabt. Sie kommen.“

Sofort reckte Robin den Kopf, wohlgemerkt nur den, und seine Augen visierten die ferne Wegbiegung an. Feixend drehte er sich wieder zu Lavinia um.

„Da musst du dich getäuscht haben, Tantchen! Nichts zu sehen, aber guter Versu …“

Lavinia zerrte so abrupt an seinem Arm, dass er einfach zur Seite kippte und sie ihm eine Hand auf die Wange klatschen konnte. Zornig wollte er aufbegehren, doch sie hatte seinen Kopf bereits seitwärts ins Gras gedrückt, der Rest war auch schon da.

„Zu sehen vielleicht noch nicht, aber horch mal, Robin! Das hat uns doch Oen am letzten Tag auf den Weiden beigebracht, bevor er in die Schlacht ziehen musste. Deshalb ist doch seine Schwester, Nora, jetzt unsere Schafhirtin.“

Robins verdrießliche Miene hellte sich sofort auf, denn nun konnte er es auch hören: Das Trampeln der Pferde und Ochsen, das Rumpeln der Wagenräder … Er bildete sich sogar ein, die Schritte der Leute auszumachen, als er sein Ohr ganz fest ins Gras presste. Jauchzend sprang er hoch. Wo war sein Hausdrache? Ah, genau vor seiner Nase.

Wild packte er Lavinia und zerrte sie hinter sich her zu den Erwachsenen.

„Sie kommen!“, jubelte er. „Jaaa! Sie kommen endlich heim!“ Lavinia johlte mit und flatterte mit ihrem frisch gewaschenem grünen Leinkleid neben ihm her.

Auch auf der anderen Straßenseite riefen die Kinder durcheinander. Medan rannte quer durch die Büsche, stob über die Antsanvia, riss die Arme hoch und Lavinia sprang jauchzend in diese hinein. Er drückte sie an sich, schob Robin an seine Seite und sie legten das letzte Stück gemeinsam zurück, wobei Robin den beiden neidische Blicke zuwarf oder vielleicht eher skeptische.

Er selbst hatte leider nur eine kleine Schwester, Belisama, und musste daher selbst laufen. Dafür konnte er von einem winzigen, haarlosen Baby aber auch nicht herumkommandiert werden, so wie es Medan mit ihnen versucht hatte – wohlgemerkt nur ‚versucht‘. Schließlich hatte dieser Halbstarke noch nicht mal seine Weihe, auf die er sehr sehnsüchtig wartete und die Robin ihm auch gönnte. Dann hätte Medan nämlich mit in die Schlacht ziehen dürfen und er wäre der einzige Mann im Dorf gewesen. Erste Betonung auf ‚Mann‘, zweite auf ‚einzig‘.

Robin war so mit diesem verlockenden Szenario beschäftigt, dass er gar nicht merkte, wie sich die Leute erhoben und nach Familien ordneten. Erst als Hanibu in ihre dunkelbraunen Hände klatschte, erkannte er seine Chance und hüpfte in ihre ausgebreiteten Arme. Er widerstand allerdings der Versuchung, auf ihre Schultern zu klettern, so wie es Lavinia gerade bei Medan tat, und begann schon ein wenig zu schmollen, da fühlte er plötzlich, wie ihm jemand zärtlich von hinten den Zopf aufmachte und noch einmal neu flocht.

Es war Flora. Sie gab ihm noch einen großmütterlichen Kuss auf die Wange, bevor sie sich mit jugendlichem Schwung über die Lockenpracht ihrer Tochter, Lavinia, hermachte. Nach erfolgreicher Entfernung jeglicher Grasrückstände legte sie ihre Hände irgendwie feierlich bei Medan und Hanibu auf die Schultern, um ihre Ruhe auf die Gruppe zu übertragen.

Gleich daneben kämmte sich Noeira ebenfalls ihre rotblonde Mähne durch. Kaum war sie damit fertig, hatte Belisama auch schon ein paar Strähnen in der Zerre und riss ihr kleines Mündchen auf. Ungeduldig brummelte Noeira vor sich hin und rutschte Belisama im Tragetuch zurecht, denn ganz offensichtlich hatte die Kleine Hunger, ausgerechnet jetzt. Taberia brachte schnell ihren langen blonden Zopf in Sicherheit und lugte zu ihrer Armanu hinunter, die gerade mit der gleichen Absicht und ziemlich gierig an ihrem Kleid zerrte. Seufzend öffnete sie gleichfalls die Fibel auf der rechten Schulter und zog das Gewand ein Stück herab, während kleine Füße gegen ihren Bauch rempelten und grapschende Finger sich ihre Brustwarze einverleibten.

Großmutter Mara schnalzte belustigt mit der Zunge, als die Babys zu schmatzen begannen und legte den beiden jüngeren Generationen feierlich die Hand auf. Es war wirklich schön, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zu sein. So war es, so ist es, so würde es auch bleiben, dank derer, die da siegreich heimkehrten.

Aufrecht und voller Freude standen alle Leute da wie angewurzelt und schauten gespannt in die gleiche Richtung, weit die Straße hinunter zur Biegung, wo endlich König Gort erschien. Hoch zu Ross, Langschwert und Kurzschwert im Gürtel, den runden Schild leger daneben gehängt, den Speer triumphierend in der Hand und das Haupt hoch erhoben wie der stolze Hirsch, trabte er majestätisch um die Biegung der Antsanvia. Seine langen braunen Haare wehten weit über sein grau glänzendes Kettenhemd, als wollten sie nach hinten deuten. Da setzten sich ihre Füße von ganz alleine in Bewegung – zögerlich; sie brauchten noch mehr Gewissheit.

Und wirklich: Die ersten Krieger kamen hinter König Gort in Sicht, während er sein Signalhorn an den Mund hob und ein herrlicher, tiefer, dumpfer Klang die Luft zum Vibrieren brachte.

Plötzlich ertönte auch bei ihnen das Dröhnen und Afal, in seinem reinweißen Druidengewand, das Horn an den Lippen, hob die Hand und schwenkte sie weit ausholend zum Gruß. Sämtliche Kinder, Mütter und alte Leute jauchzten auf und rannten los, rannten, sprangen, hüpften, schritten dem Tross entgegen, der sich schwerfällig um die Biegung wand.

Beim Anblick der heranpreschenden Meute aus stampfenden Füßen, aufgerissenen Mündern und fuchtelnden Armen kam der Wagenzug ins Stocken.

Nun brachen auch die Heimkehrenden in Jubelgeschrei aus, sprangen von den Ochsenkarren und stürmten den langen Tross entlang, eilten den Daheimgebliebenen entgegen. Manch einer entwickelte auch ohne Pferd eine so extrem schnelle Gangart, dass die Krieger ihre tänzelnden Pferde zügeln mussten, damit niemand zu Schaden kam. Umsichtig warteten sie daher auf ihre Kameraden in den Streitwagen, die nur langsam über den bebenden Boden rumpelten, weil sie nicht an ein paar humpelnden Männern vorbei kamen, die wuchtig ihre Gehstöcke schwangen. Die Insassen der Streitwagen stiegen jedoch einfach heraus und huschten wie der Wind an den Hindernissen vorbei. Johlend sprangen auch die anderen Krieger von ihren Pferden und mischten sich ins Gedränge.

König Gort blieb auf seinem Hengst sitzen und stieß die ganze Zeit ins Horn; am anderen Ende der Straße tat es Afal, sein oberster Druide, ihm gleich.

Der mächtige Hörnerklang und Jubel von zwei Seiten schwoll zu einem einzigen, vielstimmigen Triumphgetöse, auf dessen Höhepunkt sich die Menschen beider Seiten mit Wucht vermischten wie zwei Flüsse, die ineinander brausten.

Sofort ebbte der Strom ab und jeder versuchte, so schnell wie möglich seine Lieben in die Arme zu schließen. Namen wurden gerufen, Leiber schoben sich gegeneinander vorbei, prallten zusammen, pressten sich aneinander, umarmten sich … Kleine Kinder wurden hochgehoben, jauchzten gemeinsam mit ihren Eltern, Brüdern, Schwestern, Großeltern. Die Freudenschreie triumphierten über die besorgten Rufe wegen der Verletzungen. Tränen tropften aus glücklichen Augen.

Aber es gab auch einige in dieser mächtig wogenden Menschenmenge, die still dastanden und unförmige Lederbeutel an ihr Herz pressten. Auch sie wurden umarmt, gedrückt, gestreichelt, geküsst und getröstet, doch bedächtig traten sie aus dem Freudentaumel heraus, stellten sich abseits unter die Bäume.

Voll Wehmut schauten sie auf die kläglichen Reste ihrer Angehörigen herab und betrachteten die, die lebend heimgekommen waren, mit einem suchenden Blick, als müssten ihre Leute doch unter ihnen sein – irgendwo, sie sahen sie in dem Gewühl nur nicht.

Erst als ihr oberster Druide, Afal, erneut in sein Horn blies, wurde ihnen endgültig bewusst, dass niemand mehr kommen würde, den sie vielleicht doch noch in die Arme schließen könnten.

Genau wie alle anderen fielen auch sie auf die Knie und pressten ihre Stirn gegen die Erde, während König Gort sein Trinkhorn hob und Mutter Erde in allen vier Himmelsrichtungen ein Trankopfer darbrachte. Und genau wie alle anderen dankten sie den Göttern für die Heimkehr ihrer Lieben. Denn heimgekehrt waren auch die Toten. Das war das Wichtigste.

Nachdem sich der gesamte Hirschclan wieder erhoben hatte, reichte Königin Elsbeth König Gort einen kleinen Laib frisches Brot und er brach ihn bedächtig entzwei. Sorgfältig streute sie Salz darüber und er reichte ihr eine Hälfte.

Während der ganzen Zeremonie hatten sie sich angesehen und auch jetzt, als sie gemeinsam aßen, schauten sie sich tief in die Augen.

Nun war es an den anderen, Brot und Salz miteinander zu teilen.

Natürlich hatten die Leute aus den Dörfern gleich mehrere kleine Brote dabei, denn alle: Kinder, Mütter, Großmütter, Großväter, Urgroßmütter und Urgroßväter brachen mit ihren heimgekehrten Familienmitgliedern das Brot. Danach standen sie zusammen und erzählten. Schlacht, Gefahren, Strategien, Verletzungen, Heimweg, Getreidefelder, Gemüsefelder, Viehzeug, Gesundheit, Wetter, Neuigkeiten …

Erwachsenengespräche. Da konnte Robin endlich zum Spielen gehen und sogar Lavinia mühelos mit sich ziehen.

Lavinia sah beim Versteck spielen immer mal zu ihren Leuten hinüber, dort war ihr nämlich etwas aufgefallen, sie kam nur nicht drauf …

Ihre ganze Familie war endlich wieder vereint: Mutter und Vater, Schwester und Brüder, Schwägerinnen, Neffe und Nichten, Gast aus Griechenland und Gast aus Äthiopien.

Gäste, ah, ja. Hatte Loranthus früher schon so alt ausgesehen? Selbst seine Sklavin, Hanibu, die sonst so gerne lachte, runzelte heute sorgenvoll die Stirn beim Anblick seiner bekümmerten Miene und den hängenden Schultern. Dabei war es nicht mal einen Mond her, als er mit ihren Leuten losgezogen war, nur um eine keltische Schlacht aus der Ferne sehen zu können.

Keltoi, so sagten die Griechen zu ihnen, was wohl so viel wie ‚die Hohen‘ bedeutete, und weil sie ihren griechischen Gast sehr gerne hatte, tat sie ihm den Gefallen und ließ ihn reden. Schließlich hatte sie dafür Verständnis, dass sich ein Auswärtiger nicht alle zweitausend oder sonst wie viele Clans sämtlicher Stämme mit Namen merken konnte, das schaffte sie ja selbst nicht. Außerdem war ‚die Hohen‘ eine sehr schöne und irgendwie treffende Beschreibung für ihre Leute, aber Keltoi hin und keltisch her – in einem Mond konnte doch kein Grieche so schnell altern!

Obwohl … Ihr Vater sah auch ganz anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, genau wie ihre Brüder und ihre Schwester. Irgendwie sahen alle Heimgekehrten seltsam aus. Und die Daheimgebliebenen?

Arminius und Flora, der Schmied und die Kräuterfrau: Wann hatten ihre Eltern jemals geweint? Wann hatten sich ihre Eltern jemals so fest aneinander geklammert oder gar der Vater einen Kniefall vor der Mutter gemacht und ihren Bauch geküsst?

Conall und Noeira, der Sattler und die Holzschnitzerin: Wann hatte ihr ältester Bruder jemals vor Schmerz geschrien, als seine winzige Belisama ihm die noch winzigere Hand auf den Arm geklatscht hat?

Tarian und Taberia, der Tischler und die Töpferin: Wann hatte ihr zweitältester Bruder jemals seiner heißgeliebten Frau die kleine Armanu aus den Händen gerissen und zitternd an sich gedrückt? Wann hatte ihn die zierliche Taberia je dabei stützen müssen?

Viviane und Silvanus. Sie, die Ärztin und Elitekriegerin im Bund des Drachenschwertes, er, der Schuster, Wagenbauer und Glasmacher: Wann hatten ihre Schwester und ihr Gefährte jemals beide gleichzeitig die Arme um Großmutter Mara gelegt und sich unter ihren grauen Haaren versteckt?

Nun, Großmutter Mara hatte massenweise davon, da passte noch viel mehr drunter, und dennoch heulte sie so laut, als würden sie ihr jedes Haar einzeln ausreißen. Manchmal, nachts im Traum, hatte sie auch so geschluchzt, weil sie wegen der großen Schlacht in Sorge war. Das hatte sie Lavinia ganz genau erklärt, weil sie es einfach nicht begreifen wollte.

Eigentlich verstand sie es immer noch nicht, warum jemand so friedliche Menschen wie ihre Familie bedrohte und sie zwang, in einer Schlacht zu kämpfen nur wegen Salz, das hier überall aus der Erde sprudelte. Was wäre passiert, wenn sie verloren hätten?

Lavinias Betrachtungen waren in dem Augenblick zu Ende, als sie abgeschlagen wurde und nun mit Suchen dran war. Als sie das nächste Mal ihre Familie beobachten konnte, hatte sich die Situation so vollkommen verändert, dass sie heftig zwinkern musste, weil sie ihren Augen nicht traute.

Alle standen im Kreis, knabberten an ihren Broten, nippten an ihren Hörnern und lachten. Sie lachten sogar lauthals.

Viviane bildete den Mittelpunkt und drehte sich langsam um sich selbst.

Sie erzählte sehr lebhaft, fuchtelte immerzu vor ihrem Bauch herum und zuckte mit den Schultern. Loranthus grinste über beide Ohren und Hanibu schaute so schnell von einem zum anderen, dass es ihr bestimmt bald schwindelig werden würde.

Flora rutschte das Brot aus der Hand und sie konnte es gerade noch erwischen, ohne Viviane dabei aus den Augen zu lassen. Erstaunt über ihre eigenen Fangkünste, stand ihr Mund ganz weit offen und sie starrte Arminius an, der feixend seine großen Hände auf ihren Schultern ablegte.

Noeira beugte sich so weit zu Viviane hin, dass sie eigentlich vornüber kippen müsste, zumal Belisama schon mit den Füßen in der Luft zappelte und der Rest von ihr bedrohlich im Tragetuch baumelte. Conall schüttelte grinsend den Kopf und hielt irgendwie beides fest, Noeira mit den Beinen und sein Töchterchen mit einer Hand.

Großmutter Mara hatte sich mit beiden Händen in den langen dunkelbraunen Haaren von Silvanus verkrallt und wollte sich daran hängen. Ach, nein. Sie zerrte ihn zu sich herunter. Silvanus – zuvorkommend wie immer – beugte sich grinsend zu ihrer faltigen Wange herab und gab ihr einen Kuss. Plötzlich packte er sie und warf sie so weit hoch in die Luft, dass Großmutter Mara jauchzte wie eine junge Maid beim Tanz.

Lavinia gab ihr perfektes Versteck auf und rannte dorthin, wo die Musik spielte.

Flora fing sie ab, hockte sich zu ihr runter und strahlte.

„Lavinia, wir bekommen ein Baby!“

„Aber Mama!“, schnaubte Lavinia und winkte ab. „Das ist doch nichts Neues! Wir wissen schließlich alle, dass du zur Zeit der Ulme ein Baby bekommst.“ Sie stellte sich auf die Zehen. „Und dann werde ich endlich große Schwester sein.“

Flora lächelte ihre Jüngste an und deutete auf ihre große Tochter, die sofort den Kopf schräg legte.

„Viviane bekommt auch ein Baby, etwa zur Zeit des Apfelbaumes. Du wirst also wieder Tante genau wie bei Robin, Belisama und Armanu.“

Lavinia hörte sofort mit ihrem Spitzentanz auf und kippte den Kopf zur Seite. Sie war, bis auf die Haarfarbe, die Miniatur ihrer großen Schwester. Wie zwei ungleiche Ebenbilder betrachteten sie sich nun beide höchst nachdenklich, Viviane kniff nur die Augen nicht so zusammen. Im Gegenteil, ihre wirkten recht groß, wegen der hochgezogenen Augenbrauen.

„Moment mal! Da stimmt doch was nicht!“, stellte Lavinia auch sogleich fest und sah ihrer großen Schwester prüfend in die Augen. „Der Apfel ist vor der Ulme dran! Da müsstest du ja schon etwa einen Mond vor Mama ein Kind empfangen haben.“

Viviane schmunzelte.

Lavinia kniff die Augen noch mehr zusammen, legte den Kopf noch schiefer und drehte sich ziemlich langsam zu Silvanus um. Auch ihn bedachte sie mit diesem taxierenden Blick und bekam prompt ein freches Grinsen zurück. Jetzt sah sie fast gar nichts mehr. Nachdenklich tippte sie sich an die Wange und widmete sich wieder Viviane, die irgendwie verlegen oder verärgert wirkte. Je nachdem, wie schnell sie ihr langes Mahagonihaar um den Finger wickelte, war das immer ganz offensichtlich. Diesmal war sie gerade dabei, sich den Finger abzuschnüren.

„Dann ist das Kind gar nicht von Silvanus,“ sagte Lavinia gut verständlich und machte die Augen weit auf. „Du hast es aus Britannien mitgebracht, bestimmt von diesem Merdin, von dem du uns erzählt hast.“

Vivianes Miene hatte sich bei jedem Wort mehr verfinstert, während sie nebenbei ihren Finger langsam ausgewickelt hatte, aber ihre Stimme klang bewundernd, als sie sich hin hockte und die Hände ihrer kleinen Schwester nahm.

„Lavinia. Du bist schneller von Begriff, als ich für möglich gehalten hätte. Ich habe für diese Erkenntnis ganze drei Monde gebraucht. Und wenn ich nicht zufällig Großmutter Dana verdächtig vorgekommen wäre …“ Viviane hob in einer hoffnungslosen Geste die Hände. „Ich glaube, ich würde noch ein paar Monde weiter denken, ich hätte ein wachsendes Geschwür im Bauch.“ Sie klatschte sich die Hand gegen die Stirn. „Geschwür! Beim Geweih von Cernunnos! Ich will eine Ärztin sein und erkenne meine eigenen Symptome nicht!“

Lavinia kicherte und drückte sich in die Arme ihrer großen Schwester.

„Viviane. Spätestens beim ersten ordentlichen Tritt gegen deinen Bauch wäre dir was verdächtig vorgekommen und wenn nicht, dann spätestens im Winter, wenn es raus kommt und ‚Überraschung!‘ ruft. Da fällt mir gerade ein: Weißt du, wer außer mir noch so schnell von Begriff ist, große Schwester?“

„Sag es, kleine Schwester!“

„Madite, natürlich! Sie hat es schon vorausgesehen, damals zum Beltaine-Fest, weißt du noch? Sie hat gesagt, dass dem stolzen Hirsch ein Sohn geboren wird, wenn es zum dritten Mal schneit. Na, und dieser Merdin aus Britannien ist ja auch ein Nachfahre des Cernunnos, genau wie wir. Und weil er der Sohn des obersten Druiden dort ist, hat er auch einen hohen Status, also ist er dieser stolze Hirsch.“

Viviane klappte den Mund auf und wieder zu. Lavinia spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Wenn du später mal Druidin werden willst, Schwesterchen, wäre es mir und Viv eine Ehre, wenn wir dich unterstützen dürften“, erklang eine leicht belustigte Stimme in ihrem Rücken.

Lavinia drehte sich strahlend zu Silvanus um, der feixend zu ihr herab sah.

„Danke, Silvanus. Ich werde dich daran erinnern. Schließlich kann ich jede Hilfe gebrauchen, wenn ich die Rechtsprechung studieren will. Das soll ja so unheimlich lange dauern, bis man endlich in diesen hohen Rat aufgenommen wird.“

Silvanus schaute zu Viviane. Die beiden grinsten sich an und meinten einstimmig: „Du brauchst höchstens die Hälfte der Zeit!“

Robin zupfte Silvanus am Hemd.

„Silvanus? Wenn du Viviane zu Lugnasad heiratest, baust du dir doch auch ein Haus. Kann ich dann bei euch schlafen, bis euer Baby da ist? Belisama schreit nämlich immer so laut, wenn ich schlafen will. Ein paar Monde Ruhe täten mir gut.“

Robin blickte hoffnungsvoll in die Augen von Silvanus, doch der sah verlegen zu ihm herab.

„Also, Robin. Wir wollen schon zu Lugnasad heiraten, aber … wie soll ich dir das jetzt erklären …“

„Vielleicht kann ich dir dabei helfen, Silvanus“, sagte Arminius, stellte sich zwischen Viviane und Silvanus und legte ihnen die Hände auf die Schultern. Alle drei hatten den gleichen stolzen Gesichtsausdruck.

„Unsere Kinder bekommen ein Stück Land geschenkt, weil sie so tatkräftig an unserem Sieg beteiligt waren als Späher, im Vorkampf und als Wagenkämpfer. Das ist übrigens das Beste für uns und alle Hermunduren, außerdem hätten die ganzen Pferde auf unserem Land sowieso nicht genug Futter.“

Flora sah ihren Mann fragend an, aber Noeira war schneller.

„Pferde? Was denn für Pferde!? Erbeutete?! Doch nicht etwa alle, die da hinten stehen?!“ Silvanus kickte Conall seinen Ellenbogen in die Seite. Conall rempelte zurück und legte seiner Frau beruhigend den Arm um die Schultern.

„Nein, natürlich nicht alle, Noeira. Viviane und Silvanus haben den anderen Kämpfern auch noch einen kleinen Rest übrig gelassen. Aber wenn du schon so fragst, hat es noch einen weiteren Vorteil, wenn die beiden ein Haus und einen Schuppen auf eigenem Land bauen können … Und damit meine ich nicht, dass Robin auf die Entfernung nichts mehr hört von dem Geschrei unserer kleinen Belisama.“

Conall streichelte seinem Töchterchen die rosigen Wangen und bekam ein zahnloses Lächeln mit viel Spucke dafür. Er räusperte sich und deutete die Antsanvia hinunter.

„Komm mal mit zu unserem Ochsenkarren, Noeira! Dann zeig ich dir die Köpfe, die Viviane und Silvanus erbeutet haben. Die passen keinesfalls alle zusammen an ein Haus. Wenn man die ganzen Schädel so dicht aneinander nageln täte, würde das viel zu protzig aussehen.“

Viviane protestierte sofort, sie habe nicht die Absicht, irgendwelche Schädel an irgendwelche Hauswände zu nageln, doch Noeira hörte ihr gar nicht zu. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen, beugte sich um Conall herum und betrachtete seine Rückansicht. Erschrocken weiteten sich ihre Augen.

„Wo ist dein Zopf, Conall?!“

Conall fasste sich ins Genick und zog verlegen den kläglichen Stummel seines Zopfes aus dem Hemd heraus.

„Ach, Noeira! Der ist auch hinten im Wagen. Ich hatte wirklich gehofft …“

Noeira presste ihre Lippen auf seinen Mund und klammerte ihre Arme fest um seinen breiten Rücken.

„Viel wichtiger ist doch, dass dein Kopf nicht mit dran war, als das Schwert von dem Chatten ihn abgeschlagen hat!“ Abrupt drückte sie sich weg, schlug ihre Faust in die andere Hand und knurrte: „Den Kopf von diesem mordgierigen Übeltäter will ich als erstes sehen, damit ich ordentlich drauf spucken kann!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie die Antsanvia hinunter und Belisama gluckste vergnügt, weil sie es liebte, schwungvoll geschaukelt zu werden. Conall rannte hinterher und hatte sie bald eingeholt.

Tarian und Taberia schauten ihnen nach, wie sie jetzt langsam und eng umschlungen die breite Straße hinuntergingen. An der Biegung sahen sie plötzlich Conalls fliegende Beine und grienten sich an.

„Vater, ich zeige Taberia auch mal unsere Kriegsbeute. Sie ist bestimmt auch … äh … neugierig.“

„Tu das, mein Sohn. Taberia wird staunen. Unser Karren ist allein damit schon voller, als mit dem Proviant für den Hinweg. Aber pass auf dein verwundetes Bein auf! Bleib nicht in den Büschen hängen, die stehen ja ziemlich nah am Wegrand. Da werden wir im Winter wohl mal ordentlich auslichten müssen, sonst wird unsere Antsanvia noch … unübersichtlich.“

König Gort ließ sich Zeit, bis er das Signal zum Aufbruch gab, doch irgendwann blies er in sein Horn und alle liefen zu den Karren und Pferden. Gemächlich setzte sich der Tross wieder in Bewegung, diesmal mit allen Leuten des Hirschclans. An der Kreuzung verließen sie die breite Straße und schlugen den Fuhrweg zur Burg ein.

Loranthus sah noch einmal zurück auf die Antsanvia, auf der er mittlerweile schon mehr Schritte getan hatte als in seinem gesamten alten, griechischen Leben, wie er es neuerdings nannte. Vor ihm rumpelte der Ochsenkarren seiner Gastfamilie mitsamt den Frauen den Uhsineberga hinauf, Tarian, ziemlich eingequetscht, mittendrin. Arminius und Conall trabten neben her, weil sie keine Beinverletzungen hatten, aber schon genug Schürfstellen.

Loranthus, seine Sklavin Hanibu, Silvanus und Medan liefen leichtfüßig neben dem Streitwagen. Lavinia und Robin hielten jeder einen Zügel in den Händen und Viviane lenkte umsichtig ihren Tatendrang.

„Hast du eigentlich von deiner Warte aus gut sehen können, Loranthus?“, fragte Robin und beugte sich neugierig aus dem Wagen heraus, behielt seinen Zügel jedoch wachsam im Auge.

„Oh ja, Robin! Der Aussichtsplatz war sehr hoch und mit diesen Fernrohren, die eure Wachtposten haben, kann man wirklich wunderbar weit sehen. Ich wusste gar nicht, dass ihr derartige Gerätschaften euer eigen nennt!“

Silvanus sah zu Viviane und machte Grimassen. Viviane ließ sich davon aber nicht abschrecken.

„Silvanus hat sie gebaut, zusammen mit Großvater Anu und Afal.“

„Oh!“

Loranthus betrachtete Silvanus von oben bis unten und wieder zurück, als würde er alles glauben, nur das nicht. Silvanus winkte auch sogleich ab und verzog wieder das Gesicht.

„Viv übertreibt. ‚Gebaut‘ kann man dazu nämlich nicht sagen, und außerdem war Afal der wirkliche Schöpfer.“

„Afal?“ Loranthus schwenkte seinen Kopf zur Spitze vom Tross und wieder zurück, diesmal aber nicht ungläubig sondern neugierig. „Ich dachte, euer oberster Druide sei Astronom?“

Silvanus nickte eifrig.

„Afal ist ein großer Denker, ein Genie. Er ist für alles zu haben, was es noch nicht gibt.“

„Was es noch nicht gibt?“, echote Loranthus und sah dabei aus, als zähle er in Gedanken durch.

„Darf ich erzählen?“, fragte Medan hoffnungsvoll und quetschte sich zwischen Loranthus und Silvanus. Letzterer verdrehte die Augen, doch Viviane nickte feixend und sogleich warf sich Medan in die Brust. Lavinia kicherte, weil ihr Bruder nun so steif bergan lief, dass er eigentlich rückwärts umkippen müsste.

„Also, das war so, Loranthus“, begann Medan und passte seine Stimme seinem Gang an. „Zu Lugnasad kommen doch immer die Händler aus den fernen Ländern. Ein Händler hatte Glasbarren aus Ägypten dabei und schrie über den ganzen Markt, er hätte die Augen des Sonnengottes mitgebracht. Natürlich wollten alle dieses Wunder sehen und rannten zu ihm hin. Silvanus quetschte sich erfolgreich durch den Massenauflauf, denn er war damals noch ein dürres, kleines Ästchen. Er …“

„Du kriegst gleich einen Hieb von dem dürren Ästchen!“, warf Silvanus grinsend ein und wollte Medan im Genick packen. Doch der tauchte unter seiner Hand weg und sprang um Loranthus herum in Deckung. „Mittlerweile taugt er natürlich schon als Bohnenstange“, säuselte er aus sicherer Entfernung und wankte hin und her, als sei er die dazugehörende Bohnenranke.

„Ich fühle mich geehrt, Medan“, meinte Silvanus galant und reckte seine frei gebliebene Hand nach oben. „Bohnenstange wollte ich schon immer werden. Da hat man eine tragende Aufgabe im Leben. Erzähl ruhig weiter, Brüderchen! Bohnenstangen schlagen nicht aus, meistens.“ Und dabei streckte er seine Arme dermaßen weit nach hinten, als wolle er beweisen, wie gut er sich auch als Langbogen eignen würde.

Medan verzog das Gesicht, da ihm bei derartigen Verrenkungen nur vom Zusehen alles weh tat. Erst als Silvanus wieder wie ein normaler Mensch lief, kam er vorsichtig aus seiner Deckung, räusperte sich und sah Loranthus vielsagend an.

„Also. Silvanus schacherte so lange mit dem Händler, bis der ihm einen Glasbarren gegen einen Hirschhundwelpen tauschte. Um genau zu sein: Der Händler jauchzte ganz begeistert, weil ihn der kleine gleich abschleckte. Silvanus war natürlich sehr stolz auf seine Errungenschaft und hat jedem den Glasbarren gezeigt. Ich war damals noch sehr klein …“

„Ein Bohnensprössling, um genau zu sein!“, präzisierte Silvanus und schlug Medan die Hand so derb auf die Schulter, dass er nach vorne kippte wie ein zartes Pflänzchen im Wind.

Medan brachte das aus dem Rhythmus; er bekam seinen steifen Schritt nicht mehr zustande und lief wieder normal.

„Äh, ja, Silvanus. Das hätte ich mir denken können. Jedenfalls wollte ich dieses Glas auch sehen, wie Kinder eben so sind. Ich konnte den Barren kaum hochheben, so schwer war er. Silvanus hat ihn mir vor die Augen gehalten, damit ich hindurchsehen konnte. Er rief: ‚Du hast gaaanz große Augen, Medan!‘ Dann hat er sich den Glasbarren vors Gesicht gehalten und ich habe gerufen: ‚Du hast auch gaaanz große Augen, Silvanus!‘ Belustigt hat Silvanus den Glasbarren gegen die Sonne gehalten und wir haben zusammen gerufen: ‚Du hast auch gaaanz große Augen, Sonnenkönig!‘

Das war ein schönes Spiel und jeder, der vorbeikam, wollte mitspielen. Plötzlich stand Afal bei uns und sagte, er wolle auch gerne einmal hindurchsehen. Kaum hatte er durchgeguckt, bat er Silvanus, ihm den Glasbarren zu leihen und winkte Großvater Anu heran. Tuschelnd gingen sie im Eilschritt zum Lagerabschnitt der Händler und bald darauf war auch Afal der stolze Besitzer eines Glasbarren.

Den folgenden Winter über haben Afal und Großvater mit diesem Glasbarren experimentiert. Silvanus hat den ganzen Winter über aus seinem Perlen geformt. Es waren wunderschöne Perlen in leuchtenden Farben. Mutter war anfangs skeptisch, weil er sich bei ihr Farben erbettelt hatte, doch dann war sie ganz begeistert und hat ihm sogar mehr Farben versprochen, wenn er einen neuen Glasbarren hätte.

Als es wieder wärmer wurde und wir die Felder bestellten, hat Mutter ganz oft vor sich hin gesungen, weil sie so stolz auf ihre Glasperlenkette war. Zum Beltaine-Fest hat sie jeder angestarrt, als wäre sie eine Fee, die gekommen sei, um mit uns die gelungene Aussaat zu feiern. Afal musste sich sogar hinsetzen. Er sagte, dass die Kunst der Glasmacher schon lange verschwunden wäre. Keiner wüsste heute mehr davon. Er betrachtete die Kette ganz genau und ein paar Tage später kam er zu uns ins Dorf. Silvanus sollte ihm zeigen, wie die Perlen geformt werden. Er verfolgte die Prozedur höchst interessiert und als Silvanus die fertige Perle in seine Schiene zum Abkühlen legte … Da ist etwas passiert.“

Medan machte eine Pause, hob den Zeigefinger und sah Loranthus Achtung heischend an.

„Silvanus hatte für seine Perlen Schilfrohre gespalten, damit sie nicht weg rollen konnten. Und als er eine neue Perle in diese Rille legte … und sie rollte auf die vorherige Perle zu … da hat sich Afal vor den Kopf geschlagen, dass es richtig laut klatschte. Überaus hastig hat er sich für die Vorführung bedankt und ist mit Großvater Anu wieder auf die Burg. Großvater hat sich einen ganzen Mond nicht mehr bei uns im Dorf blicken lassen, aber als er wiederkam, brachte er Afal mit und die beiden haben uns etwas vorgeführt.“

Medan machte eine Handbewegung, als hielte er sich ein Fernrohr vor die Augen und sah Loranthus abwartend an. Irgendwie schien seine Geschichte nicht den gewünschten Erfolg zu haben, sein erwartungsvolles Grinsen ging in ein verhaltenes Lächeln über.

Jetzt erkannte Loranthus, dass er anders reagiert hatte, als von Medan erhofft und beeilte sich, den Jungen zu tätscheln. Dabei setzte er ein erfreutes Strahlen auf.

„Ich kenne dieses Glas aus Ägypten, Medan. Du weißt doch: Mein Vater ist ein Händler, meine Familie treibt schon seit Generationen Handel mit vielen Ländern!“

„Ach, so“, sagte Medan schlapp, als hätte er sich völlig umsonst so viel Mühe gegeben. Da huschte ein neugieriges Funkeln in seine Augen.

„Du hast doch deinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet, Loranthus! Hast du dieses Glas etwa selbst gesehen?! Ich meine, wie es gemacht wird.“

Loranthus tätschelte Medan wieder die Schulter.

„Ganz recht, Medan! Das habe ich wirklich! Und ich habe auch gesehen, was sie dort alles aus diesem Glas herstellen. Du musst bedenken: Schon seit der Hochepoche der Ägypter werden die Stoffe für Glas in riesigen Wannen zusammengemischt. Die sind übrigens so lang wie du, aber wesentlich breiter! Ein weiser Herrscher hat die Rezeptur sogar in Stein meißeln lassen, damit jeder weiß, wie man die Bestandteile zusammen bringen muss.“

Robin reckte den Hals über die Wand des Streitwagens.

„Wenn ich groß bin, dann laufe ich durch alle Länder und sehe mir an, was es überall für wundersame Dinge gibt. Nach Ägypten gehe ich natürlich auch!“

„Nimm lieber ein Schiff wie mein Vater. Das geht viel schneller und du siehst viel mehr von der Welt, als wenn du zu Fuß unterwegs bist.“

„Von mir bekommst du ein Pferd, Robin!“, warf Viviane lachend ein. „Bis zum nächsten Hafen ist es ziemlich weit!“

Bei Robin klappte die Kinnlade herunter und bei Silvanus ruckten die Augenbrauen hoch.

Viviane zuckte nur mit den Schultern.

„Ich meine das vollkommen ernst. Wenn Robin gerne in die Welt ziehen will, werde ich ihm helfen. Reich genug sind wir ja jetzt. Da kommt es auf ein Pferd mehr oder weniger nicht an. Am besten noch ein Ersatzpferd dazu – für’s Gepäck.“

Robin japste nach Luft, doch Viviane hob mahnend den Finger.

„Natürlich erst, wenn du deine Ausbildung beendet hast. Vorzugsweise solltest du etwas lernen, was man allerorts gut gebrauchen kann. Dann kannst du dir überall deinen Lebensunterhalt verdienen und bist so unabhängig, wie ein Weltreisender sein sollte. Denk mal darüber nach, Robin.“

Robin nickte derart stürmisch, dass sein Kopf gefährlich wackelte, genauso wie der Zügel, den er fest umklammert hielt. Viviane legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

„Nun ist es aber genug geschwatzt und du, Loranthus, solltest dein Wissen um unsere Fernrohre für dich behalten. Es hat nämlich seine Vorteile, wenn andere Völker nicht alles von einem wissen.“

„Keine Sorge! Ich musste schon Königin Birgie schwören, dass ich nichts davon erzähle!“

Viviane legte sofort den Kopf schräg und sah ihn von der Seite her scharf an. Loranthus presste die Lippen zusammen, war ihm doch plötzlich bewusst geworden, dass er sich verplappert hatte. Offiziell war er ja gar nicht bei Königin Birgie auf der Burg gewesen, sondern hatte nur mit Großmutter Dana auf einem einzelnen Wachturm gestanden. Also hätte ihn Großmutter Dana über sein Stillschweigen verpflichten müssen und nicht Königin Birgie.

Schnell dachte er nach, wie er seine vorlaute Rede berichtigen könnte und beeilte sich zu sagen: „Großmutter Dana hat mir natürlich auch schon erklärt, dass ich niemandem etwas über eure Fernrohre erzählen darf, es sei denn, es ist ein Hermundure. Aber als wir schließlich mit Königin Birgie zu eurem Kriegslager unterwegs waren, habe ich mich verplappert und da hat sie mich schwören lassen. Und damit ich meinen Schwur auch nicht vergesse, hat sie mir noch einen Fluch auf den Hals gehetzt.“

Alle rissen Augen und Münder auf, nur Viviane schmunzelte.

„So, so! Einen Fluch! Das sieht meiner Tante Birgie ähnlich.“

Loranthus sah Viviane verdutzt an und tastete seinen Hals ab.

„Hetzt Königin Birgie öfters Leuten einen Fluch auf den Hals?“

„Ständig. Die Königin der Bären ist berühmt-berüchtigt dafür. Jeden Tag muss mindestens einer dran glauben und wenn sie schlechte Laune hat auch mal zwei … oder drei“ Loranthus schnaubte.

Viviane feixte: „Mit welchem Fluch hat sie dich denn belegt?“

„Das darf ich auch nicht sagen!“, wimmelte er alle ab, die sich schon erwartungsvoll zu ihm hingebeugt hatten. „Der Wortlaut ist im Fluch mit inbegriffen!“

Alle Oberkörper kippten enttäuscht in die Ausgangsposition zurück, bis auf den von Viviane. Sie hatte ihre gerade Haltung mit dem schräg gelegten Kopf gar nicht geändert gehabt. Loranthus wollte ihrem forschenden Blick möglichst unauffällig ausweichen.

Daher schwenkte er seine Augen zum Waldrand und murrte: „Aber ohne diese Fernrohre hätte ich die Schlacht doch niemals so genau beobachten können! Ich darf also niemandem berichten, wie ihr gesiegt habt!?“ Er zog noch einen Schmollmund, einen möglichst traurigen.

Mit diesem Ablenkungsmanöver war er wohl übers Ziel hinausgeschossen, Viviane beugte sich weit aus dem Streitwagen und tätschelte ihm mitleidig die Schulter.

„Doch, doch Loranthus! Das kannst du ruhig jedem erzählen, der dir über den Weg läuft! Lass einfach die Fernrohre weg! Das merkt sowieso niemand, wenn du nicht sagst, wie weit du entfernt warst. Lenke die Aufmerksamkeit deiner Zuhörer auf die Geschehnisse der Schlacht. Je mehr du dabei übertreibst und je schrecklicher du alles darstellst, umso besser.“

Loranthus fuhr sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken und der Staub der langen Reise tanzte in den Sonnenstrahlen, als er sich am Hinterkopf kratzte.

„Das verstehe ich nicht.“

Viviane kicherte.

„Das liegt am Blickwinkel, Loranthus. Beleuchte es von allen Seiten.“

„Blickwinkel?“

Loranthus sah nach vorne auf den Wagentross, der sich rumpelnd und stampfend gemächlich den staubtrockenen Weg bergan schob. Er lugte durch die Baumwipfel hoch zur Sonne, zwischen die Sträucher hindurch ins Dickicht und erspähte sogar ein paar leuchtend gelbe Schmetterlinge, die mitten im dichtesten Wald anmutig dahin schwebten. Schließlich ließ er seine Augen bei den Blumen am Wegrand zur Ruhe kommen.

„Also“, seufzte er tief. „Selbst wenn ich es nicht noch gruseliger mache, als es ohnehin schon für mich war … Ja …“ Er nickte überzeugt. „Meinen Zuhörern würden die Haare zu Berge stehen.“

„Und?“

„Es würde ihnen kalt den Rücken runter laufen, inklusive Gänsehaut. Eventuell sogar Ohnmachtsanfälle.“

Viviane sah ihn tadelnd an.

„Ach so! Jetzt weiß ich, was du meinst, Viviane! Keiner würde noch mal einen Krieg gegen euch führen wollen, und ihr könntet wieder das friedliche Leben führen, dass ihr immer schon geführt habt.“

Nun schien Viviane mit der Antwort zufrieden.

Robin genügte solch allgemeines Geschwätz jedoch nicht.

„Uns kannst du es auch erzählen, Loranthus! Wir halten unsere Haare fest und frieren tut heute eh keiner bei der Hitze. Wir haben nämlich Nora schon ausgefragt, als wir auf den Weiden bei den Schafen waren. Aber die hat doch noch nie eine Schlacht gesehen. Kämpfen da alle mit Schwertern, Speeren und Streitwagen?“

Loranthus zog scharf die Luft ein.

„Streitwagen gab es zum Glück nicht so viele, Schwerter und Speere dagegen um so mehr, Robin. Es kamen aber auch Äxte, Lanzen, Schleudern und Pfeile zum Einsatz.“

„Pfeile!?“ Robin rümpfte die Nase. „Ich würde zuerst Steine schleudern. Die fliegen noch weiter! Aber wenn die Chatten auch …“

„Unsere Schleuderer waren besser. Oen und Harthu waren mit dabei und Tarian gehörte zu den Bogenschützen.“

Robin riss die Augen auf und streckte seinen Kopf weit über den Wagenrand. Lavinia lugte mit einem ziemlich langen Hals hinter Viviane vorbei. „Erzähl!“, riefen sie im Chor und grinsten synchron.

Loranthus seufzte und ergab sich strahlend seinem Schicksal.

„Stellt euch eine riesige Wiese vor, so breit, dass man einen Speer mindestens ein Dutzend Mal werfen muss, bis man zur anderen Seite kommt.“

„So weit auseinander standen die Heere?!“, rief Robin ungläubig, schlug sich aber schnell die Hand auf den Mund. „Erzähl weiter, Loranthus!“

Loranthus tat so, als würde er in weite Ferne sehen und sprach mit geheimnisvollen Unterton: „Die Schlacht begann, als der Hochkönig der Chatten in seine Carnyx blies. Oooh, das hörte sich schauerlich an, kann ich euch sagen! Aber ich höre mir lieber den ganzen Tag zwei Dutzend Carnyx auf einmal an, als noch einmal so eine Schlacht sehen zu müssen und hören noch dazu.“

„So schrecklich war das alles?“, fragte Robin ungläubig, schlug sich wieder die Hand vor den Mund und nuschelte zwischen den Fingern hervor: „Ich will alles ganz genau wissen!“

Loranthus holte tief Luft und tat so, als würde er in enorm langes, aufrecht stehendes Horn blasen. Er brauchte beide Hände, um es fest zu halten, die eine am Mund, die andere weit ausgestreckt über seinem Kopf.

„Die Chatten blasen ihre Carnyx, grölen Schmährufe und schlagen wie die Irren gegen ihre Schilde. Der Lärm ist entsetzlich, absolut grauenvoll. Plötzlich herrscht mit einem Schlag Ruhe. Warum? Nicht, weil ihnen die Luft ausgegangen wäre, oh, nein! Weil die Erde bebt.

Alle Chatten glotzen wie blöde auf ihre Füße. Und ihre Füße, ha, ha! Es war genial! Ihre Füße, die zittern. Ihre Füße vibrieren so stark, dass ihre Knie aneinander scheppern. Das Rütteln und Schütteln zieht ihre Knochen bis hoch und sie fangen an, mit den Zähnen zu klappern. Sie klappern so laut, man kann es noch bis zu uns Hermunduren rüber hören! Auf die Entfernung, das müsst ihr euch mal vorstellen! Wie die Chatten dastehen, mit wackelnden Knien und aufgerissenen Mäulern und sich total entsetzt anstarren! Alle rufen durcheinander: ‚Die Götter der Unterwelt kommen! Hall kommt uns alle holen! Bei allen Göttern, wie kann das sein! Wir haben doch geopfert und die Götter haben uns den Sieg versprochen!‘ Oh! Sie haben geheult wie getretene Hunde, das kann ich euch versichern! Bis sie auf die Idee gekommen sind, nicht mehr auf ihre Füße zu schauen, sondern wieder nach vorne, auf die Hermunduren. Vielleicht haben sie gehofft, sämtliche Götter der Unterwelt hätten die Hermunduren verschlungen! Das wäre ja praktisch gewesen! Aber nein, oh nein! Beim Anblick der Hermunduren sind ihnen die Kinnladen runter geklappt!

Dort hat sich nämlich ein noch viel größeres Heer aus dem Boden gestampft! Stellt euch vor! Wie aus dem Nichts stehen da plötzlich an den Flanken der Hermunduren neue Krieger mit neuen Pferden, neuen Kettenhemden, neuen Schilden, neuen Speeren, neuen Äxten, neuen Schwertern und die anderen Hermunduren jubeln ihnen zu, es wird sich begrüßt und auf die Schultern geklopft … ihr wisst ja selbst, wie es zugeht. Und als sich dann alle Hermunduren fertig in Schlachtlinie aufgestellt haben, grinsen sie rüber zu den Chatten.

Ha, ha! Da reißen die Chatten wieder die Mäuler auf, aber diesmal bringen sie keinen Ton heraus. Sie können nur wie schwachsinnig da stehen und der Sabber tropft ihnen aus den offenen Mündern.

Der Hochkönig der Chatten glotzt am dämlichsten, da tobt er plötzlich wie ein wütender Stier und kreischt, dass man ihn noch auf unserer Seite hört. Wie ein Irrer reißt er mit einem Ruck seine Carnyx hoch, bläst hinein und sofort stürmen seine Bauern los. Oh, ja! Sie stürmen los!

Was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn ihr Hochkönig befielt. Vielleicht hat er sie mit irgendwas besoffen gemacht, dass sie so wild auf’s Kämpfen waren! Die waren ja alle wie im Rausch!

Stellt sie euch vor! Wie sie angestürmt kommen! Nicht wie unzählig viele Bauern, oh, nein! Dicht an dicht wie eine einzige, feste Wand schieben sie sich über das Schlachtfeld. Eine Masse aus rasenden, brüllenden, wahnsinnigen, besoffenen Irren mit wilden Mähnen! Ihre Augen glühen, der Speichel spritzt auf ihre Bärte … Ich sage euch, so sehen Dämonen aus der Anderswelt aus!

Hinter ihnen schlagen die restlichen Chatten wieder dröhnend gegen ihre Schilde und johlen Schlachtgesänge, damit die Bauern auch wirklich wissen, dass sie sich nicht blamieren dürfen! Nicht, dass einer umkehrt oder vor Angst in die Hosen seicht oder gar scheißt! Muss ja schließlich irgendeinen Zweck haben, das ganze Geschrei! Also grölen die anrückenden Bauern auch wie irre und schwingen dabei derart rasant die Beine, das Gras wird hochgewirbelt, die Fetzen fliegen … Es ist der reinste Wahnsinn! Ihre Arme rudern wie verrückt durch die Luft und ihre Waffen … so viele tödliche Waffen! Scharfe Äxte, Speere, riesige Messer und weiß der Geier noch was!

Auf unserer Seite bläst Hochkönig Eryrrix ebenfalls in seine Carnyx, sofort preschen die Streitwagen im wilden Galopp los und teilen sich auf. Es sieht richtig anmutig aus, wie die Kolonne erst zusammen ausrückt und sich dann mit einem spektakulären Wendemanöver in drei Gruppen aufteilt. Ein Teil fährt gerade aus weiter, die anderen Teile schwenken nach rechts und links ab.

Viviane rast mit ihrem Streitwagen zur rechten Flanke, unser Amaturix reitet auf seinem Hengst mit. Gemeinsam jagen sie am Rande des Schlachtfeldes entlang. Die Streitwagen der Chatten kommen ihnen so schnell entgegen, dass man nur noch fliegende Hufe und hoch stiebendes Gras sieht. Wie Donnergrollen hört es sich an. Tiefes, bedrohliches Donnergrollen.

Auch im Mittelfeld preschen die Streitwagen vorwärts. Oen und Harthu und andere Schleuderer jagen damit über das Schlachtfeld und steigen dann auf halber Höhe aus. Die haben die Ruhe weg, sag ich euch, denn sie sind natürlich viel schneller, als die Chatten-Bauern zu Fuß, auch wenn die noch so schnell rennen. Bis die ihnen gefährlich werden, haben unserer Schleuderer schon Unmengen an Wurfgeschossen abgeschleudert.

Diese Wurfgeschosse sind aber keine glatten Steine oder die praktischen Tonkugeln, wie ihr sie macht, oh, nein! Es sind Kugeln aus Metall! Unser Amaturix hat sie gegossen. Diese Kugeln fliegen viel, viel weiter als normale Schleudersteine und schlagen dermaßen durch, selbst durch Schilde! Bei Zeus und Pallas Athene! Blut spritzt, Knochen splittern, Augen bersten, Nasen … ja, ganze Gesichter!“