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16 Kurzgeschichten über Fußball, Kinder, Großeltern, das Leben und die Liebe.
Das E-Book Ein Zwulch, viel Fußball und ein bisschen Umzug wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Fußball, Liebe, Leben, Kinder, Großeltern, Zwulch
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Seitenzahl: 75
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Petra Wagner
16 Geschichten aus dem Leben
© 2017 Petra Wagner
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-9566-0
Hardcover:
978-3-7345-9567-7
e-Book:
978-3-7345-9568-4
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Liebe Irmi,
seit der ersten Geschichte liest und fieberst du mit.
Danke!
„Wann immer man über Fußball redet, fühlen sich die meisten Leute in ihre Kindheit zurückversetzt.“
(Zitat aus einer Sportsendung im Hessischen Rundfunk)
Als ich diesen Satz vor einiger Zeit im Radio hörte, musste ich unwillkürlich nicken.
Voller Leidenschaft sehe ich Fußballspiele. Ob im Stadion, auf der heimischen Couch oder in aufgeregter Runde mit Freunden – ich fühle mich dabei oft für einen kurzen Moment wie das kleine Mädchen, das zusammen mit Vater und Großvater einem Sieg entgegenfiebert. Schießt Eintracht Frankfurt ein Tor, jubeln die beiden noch immer mit mir, wenn auch aus ganz anderen Sphären.
Alles begann im Juli 1974. Deutschland war Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft. Die ganze Nation war aufgeregt. Die ganze Nation, außer mir. Mit meinen sechs Jahren wusste ich gar nicht, dass Fußball existiert, geschweige denn, was es ist und wie man es spielt. Nicht, dass ich ein dummes Kind war. Ich hatte schon so einiges gelernt und begriffen. Zum Beispiel, dass Erwachsene streiten. Sind Papa und Mama zusammen, dann wird es laut. Noch lauter wird es, wenn Opa und Papa aufeinandertreffen. Manchmal ist Onkel Heinz da. Dann können sie zu dritt rumbrüllen. Wo Erwachsene sind, da wird gestritten. So ist das Leben.
Zum Glück können Kinder ganz gut mit Erwachsenen umgehen. Auch ich kam wunderbar mit ihnen zurecht. Im besagten Juli 1974 gab es wieder mal einen Opa-Vormittag. Ich saß in der Schreinerwerkstatt meines Großvaters und genoss den Duft von Leim und frisch geschnittenem Holz. Während ich die überaus wichtige Arbeit des Holzrestesortierens übernahm, erklärte mir mein Opa die Dinge des Lebens. An diesem Morgen erklärte er mir Fußball.
Ich erfuhr, dass am Sonntag ein ganz wichtiges Spiel sei. Und dass wir Holland nicht mögen. Es fielen Namen wie Sepp Maier, Beckenbauer, Breitner. Vielleicht würde sogar Grabowski eingesetzt. Zuerst prallten die Worte an meinem Verstand ab. Doch da sägte mein Opa geschickt eine Latte in 22 Teile und malte in das Sägemehl auf der Werkbank ein Rechteck mit Kreis in der Mitte. Dort stellte er die Holzstücke auf, die jetzt aber Fußballspieler waren und mit einer Papierkugel das kommende Finale austrugen.
„Wahrscheinlich schießen die anderen zuerst ein Tor. Aber was soll‘s. Das holen wir wieder auf. Dafür haben wir den Müller, der trifft immer.“ Opa redete, erklärte und verschob die Holzfußballer auf dem Sägemehlspielfeld. Ich hörte ihm andächtig zu, saugte die Informationen auf und versuchte, so viel wie möglich zu verstehen. Schließlich endete sein Vortrag mit: „Außerdem kriegen wir bestimmt noch einen Elfer, der ist immer drin.“
Von da an gehörte ich zu den Eingeweihten. Schon am nächsten Sonntag durfte ich mit ins Wohnzimmer. Aufregung lag im Raum. Aber alle waren zuversichtlich, dass WIR es packen. Im eigenen Land, da musste es gelingen. Ich wusste immer noch nicht so richtig, um was es eigentlich ging. Behalten hatte ich die Sache mit dem Elfer, denn ich war stolz, dass ich schon so weit zählen konnte.
Fußball ergriff mich sofort. Anfangs nicht das Spiel an sich. Mit sechs Jahren ist es schwierig, beim ersten Zusehen Sinn, Zweck und die Richtung der vielen Männer zu erfassen. Erst recht, wenn der Fernseher die Welt nur in schwarz und weiß darstellen kann. Fasziniert war ich von Stimmung und Einigkeit, die plötzlich diesen Raum erfüllten. Da saßen mein Vater, mein Opa und mein Onkel zusammen und stritten nicht. Nicht nur, dass sie nicht stritten, sie waren sich einig. Sie ärgerten sich über die gleichen Dinge und jubelten zur selben Zeit.
Ich hatte noch nicht richtig begriffen, dass es bereits begonnen hatte, da legte sich ein Schatten über das Spiel. Holland schoss ein Tor. Gemeinsames Entsetzen. Wenig später gefolgt von Jubel. Denn es kam tatsächlich dieser Elfer, und die Welt wurde wieder etwas heller. Auch Müller erfüllte noch seine Mission und ich sah zum ersten Mal, wie erwachsene Männer aufsprangen und miteinander tanzten.
Irgendwann war das Spiel zu Ende und WIR waren Weltmeister. Ich schwöre, ich kann noch heute dieses Gefühl spüren, dieses riesige Wir-Glücks-Gefühl, das beim anschließenden Abendessen über, unter, um und wahrscheinlich sogar im Tisch zu spüren war.
Am 7.7.1974 habe ich drei Dinge gelernt: Fußball macht glücklich. Fußball macht gemeinsam. Und mein Opa ist ein echter Fußballexperte. Gegentor, Müller, Elfer – alles hatte er vorher gewusst.
Diese Geschichte vorneweg. Der Vollständigkeit halber. Entschuldigungshalber.
Vielleicht geht es in diesem Buch ab und zu ein ganz kleines bisschen zu viel um Fußball. Aber Sie haben jetzt ja gelesen, wie es dazu kam. Ich wurde als kleines Mädchen beeinflusst, geprägt. Ich kann nicht anders.
Sie sind kein Fußballfan? Lesen Sie ganz ruhig weiter. Es ist nicht alles Fußball auf den nächsten Seiten. Nur hin und wieder blitzt er halt durch.
Ein bisschen handelt dieses Buch auch von dem großen Traum eines Umzugs. Mein Umzug in eine andere Welt.
Alles in mir sehnt sich nach einem Leben in der Nähe der Zivilisation.
Natürlich hat das Wohnen am östlichen Rand der Wetterau, kurz vor dem Vogelsberg, seinen Reiz. Ich will trotzdem weg.
Ich will da wohnen, wo das Leben einfacher ist. Einfacher und verständnisvoller …
„Das tut mir leid. So etwas führen wir nicht. Es ist mir auch nicht bekannt, dass ein solches Buch jemals erschienen ist. Höchstens vielleicht in den Sparten Humoristisches oder Karnevalsreden.“
Verständnislos blickte ich die Buchhändlerin an. Karneval? Humor? Mir war nicht zum Lachen zumute. Mein Problem war ernst. Jetzt wohnte ich hier schon eine gefühlte Ewigkeit. Hier, bei meinem Freund, hier hinter den sieben Bergen. Doch noch immer konnte ich keinen Menschen verstehen.
Alles begann, als ich Michael das erste Mal zu Hause besuchte. Bis zu diesem Tag wusste ich nur, dass mein neuer Freund der Spezies „junger Mann vom Land“ angehörte. Was das wirklich bedeutete, davon hatte ich nicht die geringste Vorstellung. Die Realität traf mich plötzlich und unvorbereitet.
„Wunn Säj aach en Kaffee?“
Ich zuckte zusammen.
„Sunn eich Ihne innschenke?“
Kein Zweifel, ich war gemeint. Aber was wollte man von mir? Was sollte ich tun? Meine Gehirnzellen versuchten, die aufgenommenen Laute zu sortieren. Zwecklos.
„Willst du einen Kaffee?“
Erleichtert vernahm ich Michaels Übersetzung. Vorsichtig reichte ich meine Tasse Richtung Kaffeekanne. Mein Freund, der mir plötzlich sehr fremd vorkam, gab der Frau hinter mir Anweisungen: „Omma, dou musst huchdeutsch schwetze. Sunst kunn däj Petra deich näj verstiehn.“
Wo war ich bloß hingeraten? Irgendwie musste ich unbemerkt die Grenze passiert haben. Warum hatte mich niemand nach meinen Papieren gefragt? Hatte ich meinen Ausweis überhaupt dabei? Was, wenn ich ohne Reisepass nicht wieder zurückkam? Dorthin zurück, wo die Leute meine Sprache beherrschten. Denn mit dem „Lange ma däj Weck enab“, das gerade über den Tisch flog, war ich restlos überfordert.
Das war vor zwei Jahren. Der tägliche Umgang mit den Eingeborenen hat mir zwar geholfen, die wichtigsten Urlaute zu deuten. Doch für eine richtige Unterhaltung reichen meine Kenntnisse noch immer nicht aus. Was mir fehlt, ist ein Wörterbuch. Deutsch-Vogelsberger-Dialekte oder so ähnlich. Wieso gibt es das nicht? Meiner Meinung nach müsste jeder Zugezogene eine Fibel mit den gebräuchlichsten Redeformeln als Begrüßungsgeschenk erhalten. Hätte ich so eine Hilfe, wäre mir schon einiges erspart geblieben.
Vor allem der gestrige Tag, den ich mit Michaels Oma auf dem Friedhof verbracht habe. Höflich, wie ich nun mal bin, bot ich neben meinen Chauffeur-Diensten noch weitere Hilfe an. Also stand ich, so unauffällig wie möglich, neben dem Eingangstor und füllte eine Gießkanne. Nicht unauffällig genug. Innerhalb weniger Sekunden gesellte sich eine ältere Frau zu mir. Ich grüßte höflich. Leider antwortete sie nicht mit einem einfachen „Guten Tag“. Nein, ein Guss mir unbekannter Worte prasselte auf mich nieder. Und meine Dolmetscherin war unerreichbar, irgendwo zwischen den Grabsteinen, verschwunden. So blieb mir nichts anderes übrig, als mein höflichstes Lächeln aufzusetzen und zu warten, bis der Redeschwall ein Ende fand. Der Trick funktionierte. Kurze Zeit später zog die Einheimische zufrieden von dannen.
Ich widmete mich wieder meinen Pflichten. Als ich mit der gefüllten Gießkanne bei Michaels Oma ankam, fuchtelte sie mit ihren Händen über der Graberde. Mit einem Seufzer richtete sie sich auf: „Däj Vichel, däj Vichel, däj Vichel. Däj woihle in de Erd erimm.“
Erde - wühlen, soviel hatte ich verstanden. Doch wer wühlte hier? Mein Blick wanderte suchend über den Boden. „Was für Viecher?“
„Ei, däj Vichel.“
Ich war so schlau wie vorher.
„Däj schworze Vichel, däj woihle alles durchenanner.“
Toll, jetzt wusste ich mehr. Das, was da wühlte, war wohl schwarz. Und es wühlte in der Erde herum. Für gewöhnlich vergraben sich dort Würmer. Aber sind die schwarz?
„Sind da Käfer im Boden?“, wagte ich einen neuen Versuch.