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Kommissar Mark Richter freut sich auf seine kirchliche Hochzeit in wenigen Tagen, als ihn ein dienstlicher Anruf erreicht: In Erlangen wurde am Vorabend des Internationalen Comic Salons der berühmte Zeichner Arne Brenneisen ermordet. Laut den Zeugen geschah es durch Brenneisens eigene Kreation, den diabolischen Nachträcher. Obwohl er weiß, wie knapp das Zeitfenster ist, kann Mark nicht anders, als den Fall anzunehmen. Zusammen mit Dominik und Felix bleiben ihm dadurch gerademal vier Tage, um den Fall aufzuklären und den Mörder zur Strecke zu bringen. Was soll da schon schiefgehen? Alles.
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Seitenzahl: 425
Impressum
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Copyright © 2023 Edel Verlagsgruppe GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2023 by Sören Prescher
Lektorat: Susann Harring
Vermittelt durch die Agentur Ashera.
ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com
Covergestaltung: Designomicon, München
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
eISBN 978-3-96215-440-0
Als sie Pikachu, Asterix und Wonder Woman vor ihr über die Straße gehen sah, wusste Selina Keyenburg, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Natürlich waren die Figuren nicht echt, aber die Verkleidung der drei Cosplayer war beeindruckend nah dran am Original und hätte problemlos aus dem Requisitenfundus einer Filmproduktion stammen können. Alles wirkte dermaßen maßstabsgetreu und detailverliebt, dass es sich bei den Trägern dieser Kostüme nur um echte Fans handeln konnte. Selbst Kleinigkeiten wie das Zaubertrankfläschchen des Galliers oder das Stirnband der Amazone waren genau so, wie man sie aus den Verfilmungen und Comics kannte.
Da konnte Selina mit ihrer schwarzen Jeans und dem roten T-Shirt mit Harley-Quinn-Motiv nicht mithalten. Dabei hatte sie sich extra für diesen etwas dezenteren Look und gegen jedwedes Zubehör entschieden, um sich nicht von Anfang an als nerviges Fangirl zu outen. Lediglich eine Umhängetasche mit ihrem Tablet trug sie bei sich. Andere hatten da offenbar weniger Bedenken.
Ebenfalls verblüffend war die Kombination der Charaktere. Normalerweise hatten diese drei Comicfiguren aus Japan, Frankreich und den USA nicht besonders viel miteinander zu tun, bewegten sie sich doch in völlig anderen Erzählwelten. Hier und heute schien das niemanden zu kümmern. Im Gegenteil.
Einen kurzen Moment fühlte sie sich von alledem eingeschüchtert. Wie sollte sie da mithalten und vor allem auf sich aufmerksam machen? Wie sollte irgendjemand sie wahrnehmen, wenn gleichzeitig solche exakten Kopien der Originalfiguren unterwegs waren?
Andererseits war es nicht bloß ihre normale Fanbegeisterung, die Selina an diesem frühen Mittwochabend in Richtung Erlangener Rathausplatz trieb. Klar, sie war ein totaler Comic-Fan, aber bei ihr kam ein gesteigertes berufliches Interesse dazu. Schließlich war sie vor zwei Jahren nicht nur für ihr Grafikdesign-Studium nach Nürnberg gezogen, sondern beinahe genauso sehr wegen des Comic-Salons Erlangen, dem bedeutendsten Comic-Festival im deutschsprachigen Raum, das alle zwei Jahre und immer über vier Tage am Fronleichnamswochenende stattfand.
Dieses Jahr war es wieder so weit. Nun ja, noch nicht ganz. Technisch gesehen würde das Festival erst morgen beginnen. Aber nachdem die ersten Programmpunkte bereits am Donnerstagvormittag starteten, bestand die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass sich die meisten Künstler bereits in der Stadt aufhielten. Und wer weiß, vielleicht hatte ja der eine oder andere von ihnen Lust, noch ein bisschen herumzuschlendern, bevor morgen der übliche Festivalwahnsinn begann.
So weit die Theorie. Erblickt hatte sie bisher niemanden aus der Branche. Nur etliche Flaggen und Plakate, die auf die Veranstaltungen hinwiesen, sowie jede Menge kostümierter Personen. Waren die Leute genauso auf der Suche nach den Stars der Szene oder ging es ihnen vorwiegend um ein gemütliches Beisammensein mit anderen Gleichgesinnten?
Selina hoffte auf Letzteres. Je weniger Konkurrenz sie hatte, desto größer war die Chance, mit einem der Profis ein Gespräch führen zu können. Jemanden wie Reinhard Kleist oder Don Rosa zu treffen wäre natürlich ein Traum. Doch Selina war bescheiden und würde sich über einen kleinen Plausch mit einem der zahllosen italienischen Zeichner von Disneys Lustigem Taschenbuch oder dem deutschen Shootingstar Arne Brenneisen genauso freuen. Jeder, der sich mit der Comicszene auskannte und ihr Tipps geben konnte, war ihr recht.
Exakt das war ihr Plan: Bei diesem Festival ein paar konstruktive Einschätzungen zu ihren eigenen Zeichnungen zu erhalten. Dazu ein paar Ratschläge, was sie verbessern beziehungsweise hinzufügen oder weglassen konnte. Manchmal entschieden allein die Konturen einer Figur oder das Design der Gebäude im Hintergrund darüber, ob ein Bild gelungen oder absoluter Mist war.
Was sie im Fall von Letzterem tun sollte, wusste sie nicht. Darüber wollte sie sich jetzt noch keine Gedanken machen. Immerhin war dies kein Bewerbungsgespräch, von dem ein Jobangebot abhing. Klar wäre es toll, ein bisschen Lob einzuheimsen und Kontakte zu knüpfen. Aber wenn die Experten der Meinung waren, dass sie mit ihren Fähigkeiten noch nicht fürs Big Business geeignet war, dann war dem eben so, und sie musste zurück an ihren Schreibtisch, um an ihren Skills zu feilen. Immerhin war noch kein Meister vom Himmel gefallen, wie es so schön hieß.
Sollten es ausschließlich vernichtende Einschätzungen hageln, wäre das selbstverständlich eine Katastrophe. Doch von solch einem Extremfall ging Selina nicht aus. Sie selbst hielt ihre Skizzen für ziemlich gelungen, und auch von ihren Kommilitonen war jeder voll des Lobes für ihre Arbeit gewesen. Von einem kompletten Desaster war daher nicht auszugehen.
Genau wie die drei Comicfiguren vor ihr bog sie in die alleeartige Nürnberger Straße mit all den kleinen Geschäften und Cafés ein. Zwei-, dreimal war sie bereits hier gewesen und kannte sich daher halbwegs im Zentrum der Universitätsstadt aus. Sie wusste, dass sie sich auf der Rückseite des Arkaden-Einkaufszentrums befand und weiter vorn das Kino folgte, bevor es links zum Rathausplatz ging. Mehr brauchte sie nicht zu kennen. Die meisten Comic-Künstler würden schließlich keinerlei Ortskenntnis besitzen.
Ein lauer Juniwind wehte ihr um die Nase. Die Sonne würde noch ein paar Stunden lang für Helligkeit und Wärme sorgen – ideales Wetter für einen Spaziergang am frühen Abend. Bedauerlicherweise waren etliche andere Leute offenbar derselben Meinung.
Überhaupt erschien ihr die Einkaufsmeile ungewöhnlich voll. War es bloß Einbildung oder hatte das bevorstehende Festival bereits heute viele Neugierige angezogen? Sie versuchte sich an der Kleidung der Passanten zu orientieren. Nur ein paar trugen Comic-Kostüme oder Fan-Shirts mit entsprechenden Motiven. Links von ihr spazierte eine ziemlich hagere Version von Popeye neben einem Typen mit Roadrunner-T-Shirt. Rechts vor einem Schuhladen standen drei Mädchen in schwarzen Schuluniformen. Entweder waren sie große Manga-Fans oder der Unterricht hatte heute erheblich länger gedauert als gewöhnlich.
Ihr Blick wanderte an den Geschäften und anderen Fußgängern vorbei, weiterhin auf der Suche nach jemandem, den sie kannte. Doch obwohl sie vorhin extra noch einmal die Gästeliste auf der Homepage des Comic-Salons studiert und sich zu jedem Namen im Internet das passende Gesicht herausgesucht hatte, erspähte sie niemanden, der ihr bekannt vorkäme.
Das hieß … beinahe. Rechts vor einem Eiscafé stand eine Handvoll Leute und wartete darauf, an der Reihe zu sein. Einer von ihnen war Anfang bis Mitte dreißig, hatte kurze dunkelblonde Haare und einen fein ausrasierten Backenbart. War das nicht Arne Brenneisen, der Comic-Zeichner, der unter anderem den Nachträcher erfunden hatte und angeblich mit Marvel und DC in Verhandlungen stand, um diesen neuen Antihelden in eine von deren Superheldenwelten zu integrieren?
Selina war unschlüssig. Eine gewisse Ähnlichkeit bestand durchaus. Leider stand er mit dem Seitenprofil zu ihr und tat Selina nicht den Gefallen, sich zu ihr umzudrehen. Skeptisch zückte sie ihr Smartphone und gab den Namen des Mannes in die Suchmaschine ein. Noch bevor sie die Ergebnisse mit dem Mann vor dem Eisstand vergleichen konnte, wurden auch Wonder Woman und Asterix auf ihn aufmerksam. Im Gegensatz zu einer gewissen Studentin zögerten sie nicht, gleich auf den vermeintlichen Promi zuzugehen. Das brachte Selina unter Zugzwang, und sie setzte sich ebenfalls in Bewegung, beschloss aber abzuwarten und erst mal die anderen ihr Ding machen zu lassen. Sollten sie sich ihr Autogramm holen oder ihre Beweisfotos für die Sozialen Medien knipsen. Selina würde sich gedulden und anschließend den Mann höflich fragen, ob sie ihm einige ihrer Zeichnungen auf dem Tablet zeigen durfte. Sofern dieser Typ überhaupt Arne Brenneisen war.
Sie steckte ihr Telefon ein und beeilte sich, mit Wonder Woman Schritt zu halten. Eine leichte Note ihres süßlichen Parfüms stieg ihr in die Nase.
Inzwischen hatte auch der Mann am Eiscafé gemerkt, dass sich ihm jemand näherte. Er drehte sich zu den Superhelden um und nun sah auch Selina, dass er auf der Vorderseite seines gelben T-Shirts ein kreisrundes Bild mit der Figur des Nachträchers auf der Brust trug. Das konnte kein Zufall sein.
Den verkleideten Comicfans vor ihr fiel das Motiv offenbar in derselben Sekunde auf. Sie gaben euphorische Geräusche von sich und eilten auf den Zeichenkünstler zu. Allerdings nicht nur sie. Weitere Menschen folgten ihrem Beispiel. Einige davon in Verkleidungen, darunter eine Person ganz in Schwarz. Nein, mehr als das. Selina traute ihren Augen kaum. Da war jemand mit dunkler Hose und dunklem Oberteil, mit schwarzem Umhang und Lederhandschuhen, dem charakteristischen Zylinder und der Maske, die den oberen Teil des Gesichts bedeckte. Er erinnerte ein wenig an die Figur Tuxedo Mask aus der Animé-Serie Sailor Moon und wirkte gleichzeitig wie die Steampunk-Superheldenversion von Zorro. Es war der Nachträcher.
In dem Moment kamen Selina Zweifel, ob das alles Zufall sein konnte. Wohlmöglich hatte der Zeichner eine Situation wie diese abgewartet und dann einem Freund ein geheimes Zeichen gegeben.
Wie aufs Stichwort zog der Nachträcher den für ihn typischen dunklen Dolch aus dem Gürtel und sprang damit auf seinen Erfinder zu. Dieser tat überrascht, wich sogar zwei Schritte zurück. Das Ganze wirkte wie ein gut einstudiertes Schauspiel. Dazu passte, dass der Nachträcher direkt vor Arne Brenneisen stehen blieb und ihm den Dolch in einer fließenden Bewegung in den Oberkörper rammte. Zuerst in den Bauchraum, anschließend ins Herz. Brenneisen schrie auf, als würde er Höllenqualen erleiden, verlor die Kontrolle über seine Arme und Beine, bevor er scheinbar tödlich verletzt zusammenbrach.
Die anderen Zuschauer wichen erschrocken zurück, einige kreischten entsetzt.
„Keine Angst, das ist nur Show“, sprach Selina im Brustton der Überzeugung aus. Nicht eine Sekunde lang glaubte sie, dass das eben Geschehene echt gewesen sein könnte. Obwohl authentisch inszeniert, war es nichts anderes als ein Schauspiel. Der Nachträcher befand sich noch immer mitten in seiner Rolle und hob seinen behandschuhten Zeigefinger warnend in Richtung der Passanten. Die Botschaft war klar. Dann wirbelte er mit seinem Umhang herum und jagte genauso davon, wie er es in seinen Comicabenteuern tat. Es wirkte dermaßen überzeugend, dass einige Menschen beeindruckt klatschten. Keiner dachte daran, sich gegen die Warnung des Nachträchers aufzulehnen.
Ein paar Leute hatten ihre Mobiltelefone gezückt, schossen Fotos und drehten Clips von der spontanen Show.
Einige Sekunden verstrichen. Der Comic-Zeichner lag regungslos am Boden, während die Menschen drum herum ihn beobachteten.
Noch mehr Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah.
Schließlich setzte ein leises Gemurmel ein. Die Leute wurden unruhig. Und Brenneisen rührte sich noch immer nicht.
Selina kam ins Grübeln. Ein unangenehm flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Sie fand, dass die Aktion allmählich zu ihrem Ende kommen konnte. Nicht dass die Menschen anfingen, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Menschen wie sie.
Je länger Selina dastand, desto unruhiger wurde sie. Die zwei tiefroten Flecke auf Brenneisens T-Shirt breiteten sich weiter aus. Sie glänzten nass, als wären es echte Wunden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich der Brustkorb des Künstlers weder hob noch senkte. Brenneisen konnte erstaunlich lang die Luft anhalten. Oder war es … etwa nicht bloß eine gut abgestimmte Inszenierung?
Selinas Knie zitterten, als sie aus der Gruppe der Zuschauer heraustrat und auf den Zeichner zuging. Sie suchte nach Anzeichen dafür, dass alles nur eine Show gewesen war. Es gab keine. Weder eine versteckte Kamera noch sonst irgendwas. Stattdessen sah sie, dass Brenneisens T-Shirt verrutscht war und an der blassen Haut seines Bauchs dünne rote Streifen hinabliefen. Selina ging neben ihm in die Hocke und suchte nach seinem Puls. Erst am Hals, dann am Handgelenk. Nirgendwo spürte sie das charakteristische Pochen.
O nein!
Ihr dämmerte, was geschehen war, aber ihr Verstand weigerte sich noch, es zu akzeptieren. Sie nahm nur beiläufig wahr, wie die Menge hinter ihr nervös flüsterte und jemand fragte, was los sei. Selina beugte sich über Brenneisen, um seine Atmung zu prüfen. Auch die gab es nicht.
Am ganzen Körper zitternd richtete sie sich auf. Ein dicker Kloß saß in ihrer Kehle. „Ruft einen Krankenwagen. Schnell! Es war keine Show. Ich glaube, er ist tot.“
Ein feister Jugendlicher mit dichtem rotem Haar lachte auf. Wahrscheinlich dachte er, dass dieser Teil ebenfalls zur Aktion dazugehörte.
„Das ist keine Show. Das ist echt“, beteuerte Selina.
Nun endlich begriffen sie. Unruhe erfasste jeden um sie herum. Gleich mehrere Personen zückten zeitgleich ihre Telefone und wählten die 110. Jemand hinter ihr kreischte auf.
Pfarrer Holstein besaß eine angenehm sonore Stimme, der man gerne zuhörte. Aus seinem Mund klangen selbst die größten Probleme und die schlimmsten Hiobsbotschaften nicht so gravierend. In seiner Nähe fühlte man sich geborgen und gut aufgehoben. Zumindest empfand Kriminaloberkommissar Mark Richter das so. Er lauschte entspannt den Worten des Kirchenmannes und hatte das Gefühl, dass nichts ihn aus der Ruhe bringen konnte.
Nebenbei wippte er seine sechseinhalbmonatige Tochter Nathalie auf dem Oberschenkel auf und ab, um sie erstens bei Laune und zweitens ruhig zu halten. Dass sich dabei die leichten Andeutungen eines herannahenden Krampfes bemerkbar machten, nahm er gerne in Kauf. Es war allemal besser, als zu riskieren, dass die Babysirene anging. Denn wenn das geschah, wäre an eine vernünftige Fortführung des Gesprächs nicht mehr zu denken. Den krassen Gegensatz dazu bildete der Hovawart Felix. Der Hund lag brav zu ihren Füßen und hatte seit dem Beginn der Besprechung keinen einzigen Mucks von sich gegeben.
„Die Organistin weiß Bescheid?“, fragte Caro neben ihm. Seine Frau hatte einen Großteil der Hochzeitungsplanung übernommen, und auch jetzt hatte sie das Ruder übernommen. Mark freute sich über ihr Engagement. Durch seine Arbeit als Kriminaloberkommissar bei der Kripo Nürnberg war an eine vernünftige Festplanung seinerseits ohnehin nicht zu denken gewesen. Er hatte zwar versucht, bei so vielen Bestell- und Besprechungsterminen wie möglich dabei zu sein, aber nicht immer war es ihm gelungen. Wie die Hochzeitstorte und der Blumenschmuck für das Auto und die Tische im Lokal aussehen würden, wusste er zum Beispiel bloß von Fotos. Aber das war in Ordnung. Mark vertraute Caro in diesen Dingen vollkommen und war, wenn er ganz ehrlich zu sich war, sogar ein bisschen froh, dass sie sich um all diese Details kümmerte. Er selbst wäre an solchen Aufgaben bestimmt längst verzweifelt. Zu viel von diesem ganzen theoretischen Blablabla drum herum war nichts für ihn. Er war ein Mann der Tat, der schnell mal ungeduldig werden konnte.
„Selbstverständlich“, bestätigte der Geistliche. „Ich habe ihr die Liedwünsche mitgeteilt, und sie sagt, das ist alles kein Problem. Sie ist erleichtert, dass Sie nicht auch Hallelujah hören wollen.“
„Für eine kirchliche Hochzeit wäre das wohl eher unpassend“, sagte Mark, der sofort Leonard Cohens Überhit im Ohr hatte. Allerdings in der genialen Fassung von Jeff Buckley.
Pfarrer Holstein nickte. „Genau. Wem sagen Sie das? Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute mich nach dem Song fragen. Besonders für Hochzeiten. Dabei haben die Strophen rein gar nichts Romantisches an sich. Schließlich geht es um Verzweiflung und das Scheitern in der Liebe und im Leben. Doch wir kommen vom Thema ab. Die Organistin wird am Sonntag ab zwölf Uhr in der Kirche sein, falls Sie noch letzte Anmerkungen oder Änderungswünsche haben.“
„Wir wollen nicht, dass etwas geändert wird“, sagte Caro. „Im Gegenteil: Wir sind froh, wenn alles genau so abläuft, wie wir uns das vorstellen.“
„Das wird es“, versicherte Mark seiner Frau. „Wir haben alles perfekt geplant. Da kann gar nichts schiefgehen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Sie grinste dem Pfarrer verschmitzt zu.
„Möchten Sie nach der Trauung eine kurze Pause oder gehen wir direkt zur Kindstaufe über?“, fragte er.
„Ohne Pause“, versicherten beide Eheleute unisono. Wahrscheinlich konnten sie eh von Glück reden, wenn Nathalie die ganze Zeremonie durchhielt, ohne dass ihr langweilig wurde, sie Hunger bekam oder einen anderen Grund zum Jammern fand. In den vergangenen Tagen war das Mädchen etwas unruhig gewesen, beinahe so, als wüsste es, dass am Wochenende ein wichtiges Ereignis für sein noch junges Leben anstand.
Mark hoffte, dass die Kleine gut durchhielt. Wenigstens in der Kirche. Wenn sie danach bei der Feier etwas quengelig wurde, konnte er damit leben. Das zählte zum nicht offiziellen Teil und war daher nicht ganz so wichtig.
In der Hinsicht war das Baby ebenso ein Risikofaktor wie der Haushund. Obwohl Felix bereits über ein Jahr bei ihnen lebte und sich bestens integriert hatte, waren sie mit ihm noch nie bei einer Veranstaltung mit mehr als fünfzig Leuten auf engstem Raum gewesen. Es hatte sowieso viel gutes Zureden gebraucht, damit der Vierbeiner mit in die Kirche und den Gasthof kommen durfte. Üblich war das nämlich nicht. Doch dies war ein Punkt gewesen, bei dem Caro und Mark absolut nicht mit sich verhandeln ließen. Felix gehörte zu ihnen und würde dabei sein. Ohne ihn gäbe es keine Feier. Punkt. Aus. Ende.
Zum Glück hatten weder der Pfarrer noch der Wirt großartig protestiert. Vor allem, nachdem sie bei den ersten Treffen gesehen hatten, wie friedliebend die Fellnase war. Wie ein Musterhund vor dem Herrn, hatte Holstein es scherzhaft ausgedrückt. Das traf es ganz gut. Hoffentlich würde das auch am Samstag so sein.
Caro ging kurz die Liste auf ihrem Notizblock durch und sprach die letzten offenen Punkte an. Viele waren es nicht mehr. Keine zehn Minuten später verabschiedeten sie sich. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Krampf in Marks Oberschenkel wirklich schmerzhafte Züge annehmen konnte.
Zufrieden verließen sie das Gotteshaus und genossen die frühabendlichen Sonnenstrahlen. Mark wollte gerade einen Abstecher zu einer Imbissbude in der Nähe vorschlagen, als sein Diensttelefon klingelte.
Das verhieß nichts Gutes.
Der gleichen Meinung schien auch Caro zu sein, denn sogleich nahm sie ihm Nathalie ab, damit er ungestört telefonieren konnte. Nur wenige Sekunden darauf hatte er die Einsatzzentrale am Ohr.
Das Gespräch dauerte nicht mal zwei Minuten und warf die gesamte Abendgestaltung über den Haufen. Mit betrübter Miene drehte er sich zu seiner Frau um, die offenbar bereits auf das Schlimmste gefasst war.
„Du musst los?!“
Er nickte und bedauerte schon jetzt, sie mal wieder mit Nathalie allein lassen zu müssen. Es hätte so ein schöner Abend werden können. „In Erlangen hat es offenbar einen Mord gegeben. Ein Mann ist mitten in der Einkaufsmeile erstochen worden.“
„Meine Güte! Aber wieso betrifft das dich? Ich dachte, die in Erlangen haben eine eigene Kriminalpolizeiinspektion?“
„Haben sie auch. Nur leider herrscht dort gerade personeller Notstand. Deshalb haben sie die Nürnberger Kollegen um Amtshilfe gebeten.“
„Hast du noch Zeit, uns nach Hause zu fahren?“
Das Vibrieren seines Handys hielt ihn von der Antwort ab. Sein Partner Dominik Waldmayer war am Apparat und kam ohne Umschweife auf den Punkt: „Es gibt Arbeit für uns. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“
„Zu mir?“
„Ihr habt doch heute diesen Kirchentermin, oder?“
„Ja, schon …“ Mark verstand noch immer nicht.
„Dann seid ihr bestimmt mit nur einem Auto hingefahren. Konnte ja keiner ahnen, dass ausgerechnet heute jemand umgebracht wird. Wenn ich da bin, kann Caro mit Nathalie meinen Z3 nehmen und wir düsen im Passat weiter. Außer du willst in meinem kleinen Sportwägelchen fahren, aber das dürfte für Felix ein bisschen eng werden.“
Der pragmatische Vorschlag seines Kollegen überraschte Mark. Normalerweise war Dominik eher für seine verschrobene Denkweise bekannt. Diesmal hatte er sich selbst übertroffen.
Während sie auf die Ankunft des Partners warteten, fiel Mark ein neues Problem auf. Dominiks BMW war ein Zweisitzer. Caro würde den Kindersitz folglich neben sich auf den Beifahrerplatz schnallen müssen, der üblicherweise mit einem Airbag ausgestattet war. Würde man den so einfach abschalten können? Nicht dass es zu einem Unfall kam und der explodierende Luftsack mit voller Wucht gegen den Maxi Cosi knallte! Bei so etwas konnte es zu tödlichen Genick- und Kopfverletzungen kommen.
Fünf Minuten später fuhr der rund zwanzig Jahre alte dunkelblaue Z3 vor und hielt direkt am Straßenrand. Dominik stieg aus, kam mit großen Schritten auf sie zu und trug noch immer den nicht gut passenden Anzug sowie das viel zu weite Hemd, über das Mark vorhin im Präsidium schon den Kopf geschüttelt hatte. Das zu kommentieren brachte gar nichts. Es war eher die Ausnahme als die Regel, dass sein Partner Klamotten trug, die nicht wie zum halben Preis bei einem Räumungsverkauf erstanden aussahen.
Ganz der Gentleman umarmte er zuerst Caro, strich dann Nathalie über ihren kleinen Kopf und alberte kurz mit dem Hund herum. Für Mark, mit dem er vor nicht ganz zwei Stunden im Großraumbüro gesprochen hatte, hatte er lediglich ein kurzes Nicken übrig.
„Schön, dass du so schnell hergekommen bist“, sagte Caro.
„Na logo. Das lag doch praktisch auf dem Weg.“ Er drehte sich zu seinem Kollegen um. „Dann können wir ja gleich den Kindersitz umladen und uns auf den Weg machen. Nicht, dass die Leiche schon kalt ist, wenn wir ankommen.“
„Also bitte, nicht solche Worte vor dem Kind.“ Caro hielt Nathalie scherzhaft die Ohren zu.
Mark fand den Spruch weniger amüsant. „Du, sag mal, kann man in deinem Luxusmobil eigentlich den Airbag abstellen? Vorzugsweise den auf der Beifahrerseite.“
„Mhm … Wenn du mich so fragst: nein. Wenn man den deaktivieren will, geht das nur über den Hersteller. Das hab ich schon mal überprüft. Du kannst natürlich probieren, die Sicherung abzuklemmen, aber das führt zu Fehlfunktionen im restlichen Airbagsystem. Aber keine Sorge, der Beifahrerairbag ist eh defekt.“
„Ach so. Na, dann ist ja alles im Lot.“
„Ich nehme mir schon seit Jahren vor, das beheben zu lassen. Doch so selten, wie bei mir einer mitfährt, lohnt sich das eigentlich nicht. Wäre bestimmt auch nicht gerade billig.“
„Ein Hoch auf deinen Geiz und deine Faulheit.“
„Ich wusste, dass sich das irgendwann auszahlt.“
Mit einem symbolischen Kopfschütteln fixierte Mark den Maxi Cosi im Auto seines Kollegen, während dieser Caro eine kurze Einweisung in die Bedienung des Z3 gab. Es waren dermaßen viele Dinge zu beachten, dass er sich wunderte, dass der alte Hobel überhaupt noch fahrtüchtig war, geschweige denn eine gültige TÜV-Plakette besaß.
Mark beschloss, gar nicht erst darüber nachzudenken, sondern verabschiedete sich lieber innig von seiner Frau und seiner Tochter. Während er hinterherschaute, wie sie mit dem alten BMW davonfuhren, las er zum gefühlt tausendsten Mal den Spruchaufkleber an der zerschrammten Heckstoßstange: Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind. Die Weisheit passte zu Dominik immer noch perfekt.
Da sie sich praktischerweise bereits im Norden Nürnbergs befanden, waren es über die Bundesstraße 4 gerade mal sechzehn Kilometer bis zur Nachbarstadt. Eine Strecke, die sie zu dieser Uhrzeit in schätzungsweise einer Viertelstunde schaffen dürften.
Viel über den Fall wussten sie noch nicht, nur dass es irgendwie mit dem morgen startenden Comic-Salon zusammenhing. Allein diese Randbemerkung hatte genügt, um Mark hellhörig werden zu lassen. Das könnte eine höchst interessante Ermittlung werden.
Dennoch hielt sich seine Euphorie in Grenzen. Nicht mal unbedingt, weil ihre Arbeit dort begann, wo jemandes Leben geendet hatte. Das war für ihn längst zum grausamen Alltag geworden. Aus dem Grund vermied er auch im Vorfeld jedwede Spekulation über den Tathergang oder das Opfer.
Vielmehr sorgte er sich, ob es sinnvoll war, ausgerechnet jetzt einen neuen Fall zu übernehmen. Das Timing hätte kaum schlechter sein können: Nicht nur, dass am kommenden Sonntag seine kirchliche Trauung und Nathalies Taufe anstanden. Ab dem darauffolgenden Montag hatte er zwei Wochen frei, und er hatte Caro hoch und heilig versprochen, in der Zeit nicht einmal an die Arbeit zu denken. Würde er das tatsächlich durchhalten können, wenn ihre Ermittlungsarbeit noch nicht abgeschlossen war?
Mark bezweifelte es. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die gern eine Sache zu Ende brachte, bevor sie sich der nächsten widmete. Schon bei dem Fall mit dem Loch in der Wand hatte vom Timing her alles auf Messers Schneide gestanden. Caro war hochschwanger gewesen, sodass Mark permanent der Zeitdruck im Nacken gesessen hatte.
Die jetzige Situation war dem durchaus ähnlich. Nun, vielleicht einen Hauch positiver: Immerhin wusste er, wie viele Tage ihm blieben, bevor der Urlaub regulär beginnen würde. Bis Sonntagabend waren es gerade mal vier Tage. Würde das genügen, einen kompletten Mordfall von A bis Z aufzuklären? Besonders gut standen die Chancen nicht.
Einen Atemzug lang überlegte er daher tatsächlich, den Fall nicht anzunehmen, sondern seinem Kollegen Jan Schuster zu überlassen. Bei einem anderen Ermittlungsumfeld hätte er es durchaus in Betracht gezogen. Diesmal allerdings hing die Sache mit Comics und anscheinend ja auch dem Erlangener Comic-Salon zusammen.
Wie oft hatte er sich als inniger Fan der Sprechblasengeschichten schon ausgemalt, wie es wäre, dort beruflich zu tun zu haben? Dabei hatte er nie ernsthaft geglaubt, dass es tatsächlich einmal dazu kommen würde. Von der Warte aus betrachtet war es geradezu seine Pflicht, sich um diesen Mordfall zu kümmern.
Dennoch wäre ihm ein anderer Zeitpunkt lieber gewesen. Er würde sich ohnehin am liebsten in den Hintern beißen, dass der Termin seiner kirchlichen Hochzeit auf das gleiche Datum wie der ECS gefallen war. Eine Woche früher oder später wäre ihm deutlich lieber gewesen.
Als ihm die Überschneidung der zwei Daten aufgefallen war, hätte er die Kirchentrauung gerne verschoben – aber mit solch einem Vorschlag brauchte er Caro gar nicht erst anzukommen. In der Hinsicht verstand sie keinen Spaß und hätte es zweifellos als Grundsatzdebatte verstanden. Also hatte er in den sauren Apfel gebissen und die Überschneidung zähneknirschend akzeptiert.
Nüchtern betrachtet wäre es ohnehin bloß um den Sonntag gegangen, an dem er nicht nach Erlangen fahren könnte. Wenn es bei den Hochzeitsvorbereitungen keine Probleme gäbe, hätte nichts dagegengesprochen, am Donnerstag, Freitag oder besser noch am Samstag zur Comic-Börse zu fahren. Tja, und nun waren es nicht die Hochzeitsvorbereitungen, sondern ein Mordfall, der ihm einen Strich durch die Rechnung machte.
Es gab eben Tage, da verlor man, und es gab Tage, da gewannen die anderen.
„Du bist recht schweigsam“, stellte Dominik fest. „Ist in der Kirche alles klargegangen oder hat deine Kleidung Feuer gefangen, als du eintreten wolltest?“
„Haha. Die Gefahr hätte wohl eher bei dir bestanden. Im Gegensatz zu gewissen anderen Personen in diesem Auto bin ich getauft.“
„Du meinst bestimmt den Hund.“
„Ganz bestimmt nicht.“
„Ich versteh eh nicht, wieso ihr das Ganze mit der Hochzeit noch einmal in der Kirche durchziehen wollt. Vor dem Standesamt wart ihr ja schon vor Nathalies Geburt.“
„Caro legt auf solche Traditionen viel Wert. Und ich auch.“
„Jaja, schon klar.“
In Erlangen verließen sie die Bundesstraße und bogen rechts in die Nürnberger Straße ein. Noch war es links und rechts des Weges ziemlich grün mit jeder Menge Bäume und Sträucher um sie herum. Doch je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto mehr nahm die Zahl der Wohnhäuser und Geschäfte zu. Auch die vielen bunten Plakate und Flaggen wiesen ihnen eindeutig den Weg. Das Navi führte sie bis zum Rathausplatz und erklärte dann, sie hätten das Zielgebiet erreicht. Gleich darauf kamen die ersten Blaulichter in Sicht, und sie parkten auf dem Platz vor der Deutschen Bank. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß.
Verlaufen konnten sie sich nicht. Das grelle Blaulicht und die große Menge an Schaulustigen wiesen ihnen unmissverständlich den Weg. Manche der Gaffer machten nur widerwillig Platz, wichen jedoch sofort zurück, als Felix verärgert knurrte. Es besaß eindeutig seine Vorteile, einen Hund bei sich zu führen.
Ein rot-weißes Plastikband grenzte den Bereich rund um das Eiscafé großräumig ab. Was genau dahinter vor sich ging, konnte Mark aufgrund mehrerer aufgestellter Blickschutzwände zunächst nicht genau erkennen. Lediglich eine Menge Beamte in Uniformen oder der Schutzkleidung der Spurensicherung wuselten schwer beschäftigt in dem abgesperrten Bereich umher.
Das erste vertraute Gesicht gehörte dem SpuSi-Kollegen René Birkner. Er wirkte recht mitgenommen und trat beiseite, ohne die Ankunft des Trios mit vier Pfoten wahrzunehmen.
Hinter der ersten Sichtschutzwand erblickten sie Renés Kollegin Nicole Rösler im Gespräch mit Rechtsmediziner Dr. Ziegler. Erstere trug ebenfalls einen weißen Schutzanzug, allerdings mit der Kapuze im Nacken, sodass ihr brauner Pferdeschwanz deutlich zu sehen war. Ziegler war in Jeans und eine tiefblaue Softshelljacke gekleidet, so als wäre er beim Erhalt der Mordnachricht gerade auf dem Weg zu einer anderen Verabredung gewesen.
„Genau die beiden Leute, die wir suchen“, begrüßte Mark sie.
Ziegler drehte sich irritiert zu ihnen um. „Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von Ihnen und Ihrem Fellteufel behaupten. Beim letzten Tatort habe ich ein ganzes Büschel dunkle Haare gefunden.“
„Die stammen eindeutig von mir“, erklärte Dominik und zeigte auf seine grauer werdende Haarpracht.
„Sicher nicht“, widersprach der Doc und warf dem Vierbeiner einen vernichtenden Blick zu. „Bitte achten Sie darauf, dass Sie nicht wieder alles kontaminieren.“
„Das tun wir immer.“ Mark fixierte Ziegler mit möglichst entschlossener Miene. Bei jedem einzelnen Leichenfundort hielt er den Hovawart buchstäblich an der kurzen Leine und stellte sicher, dass der Vierbeiner nicht einmal in die Nähe der oder des Toten kam. Darauf, dass der Hund trotzdem manchmal einige seiner Haare verlor und diese umhergeweht wurden, hatte er genauso wenig Einfluss wie darauf, dass einem der anwesenden Menschen einige Haare ausfielen. So etwas passierte einfach. Und im Gegensatz zum Menschenhaar ließ sich das Tierfell relativ unkompliziert als solches identifizieren.
„Wissen wir bereits, wer da gestorben ist?“, fragte Dominik und lenkte das Gespräch so auf den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit.
Nicole hob eine transparente Beweismitteltüte in die Höhe, in der sich die aufgeklappte Brieftasche des Opfers befand. Es handelte sich um ein dünnes, anthrazitfarbenes Exemplar aus Leder. „Ein gewisser Arne Brenneisen, 34 Jahre. Gebürtiger Hamburger, wohnte aber in Köln. Er ist für den Comic-Salon nach Erlangen gekommen.“
Marks Gedärme zogen sich zusammen. Der Name kam ihm entfernt bekannt vor, ohne dass er ihn spontan zuordnen konnte. Beunruhigt spähte er an den beiden Kollegen vorbei zu dem am Boden liegenden Körper. Zwei kreisrunde dunkelrote Flecken bedeckten fast die gesamte Oberseite seines gelben T-Shirts. Jemand von der Spurensicherung schoss gerade Fotos davon. „Was wissen wir über den Tathergang?“
„Brenneisen wollte sich hier offenbar ein Eis holen. Plötzlich kam ein maskierter Typ, hat ihn niedergestochen und ist abgehauen.“
„Einfach so? Am helllichten Tag?“, fragte Dominik. „Keiner hat versucht, ihn aufzuhalten?“
„Die Leute haben es für eine Inszenierung gehalten“, sagte Nicole.
Dominik schaute sie ungläubig an. „Eine Inszenierung?“
„Was denn für ein maskierter Typ?“, fragte Mark. Er hielt Felix nah bei sich, ganz gleich, wie begierig der Vierbeiner darauf war, die Gegend zu beschnüffeln. Für Hundenasen musste solch eine Einkaufspassage ein wahres El Dorado sein.
„Gesichtsmaske, Umhang und so. Er war angezogen wie einer von diesen gottverdammten Superhelden“, sagte Ziegler. „Es gibt sogar Handyvideos und Fotos von der Tat.“
„Die Leute haben es aufgenommen?“ Dominik schüttelte den Kopf.
„Wie gesagt, alle hielten es für eine Show. Ein Werbegag für das Festival.“
„Unglaublich!“
„Können wir die Aufnahmen sehen?“, fragte Mark.
„Augenblick.“ Nicole ließ die Geldbörse sinken und drehte ihm stattdessen den Bildschirm eines Smartphones zu. „Das ist bislang die beste Aufnahme, die wir von der Tat gefunden haben. Wir sind noch dabei, die Daten auszuwerten.“
Sie drückte auf Play, und eine verwackelte Filmaufnahme startete. Ein quicklebendiger Arne Brenneisen stand in einer kleinen Schlange vor dem Eiscafé, bis plötzlich eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt mit Zylinder und Umhang auf ihn zutrat. Mark traute seinen Augen nicht. Mit einem Mal verstand er, was Nicole mit dem Begriff Inszenierung gemeint hatte. Und ihm war außerdem klar, woher er den Namen des Ermordeten kannte.
„Das mit Hut und Maske … das ist der Nachträcher. Und der, den er umgebracht hat, ist der Mann, der ihn erfunden hat: Arne Brenneisen. Ist das zu fassen?“
„Ach, Sie sind vom Fach?!“, stellte der Rechtsmediziner mit einem ironischen Unterton fest.
„Hätte ich mir ja gleich denken können, dass du dich da auskennst“, schob Nicole hinterher. „Du und deine Comic-Leidenschaft.“
„Er ist ein richtiggehender Nerd“, stimmte Dominik zu. „Ich sag’s ja.“
Mark seufzte genervt. „Mir ist nur nicht klar, wieso der Nachträcher seinen eigenen Erfinder umbringen sollte.“
„Das hat schon fast Symbolcharakter. Vielleicht wollte der Held über sich hinauswachsen. Oder er hatte keine Lust mehr, sich was von seinem Erzeuger vorschreiben zu lassen. Das ist so ähnlich wie bei Hamlet.“
Die letzte Bemerkung schien Nicole entweder überhört oder ignoriert zu haben, denn sie wies auf einen Mann in den Dreißigern mit fliehender Stirn und leichtem Bauchansatz, der von den Sanitätern betreut wurde. Passend zum Anlass trug er eine schwarze Jeans und ein dunkles Langarmshirt. „Das da drüben ist Christoph Herzner. Er ist ein Kollege von Brenneisen und war mit ihm hier unterwegs. Zur Tatzeit war er kurz drüben im Wöhrl und kam hergelaufen, als er jemanden schreien hörte. Vielleicht weiß er was über die Hintergründe. Das Mädchen bei dem anderen Rettungswagen ist Selina Keyenburg. Sie war als Erste bei Brenneisen und hat noch versucht, Rettungsmaßnahmen einzuleiten.“
„Wir werden uns mit beiden unterhalten“, bestätigte Mark. „Danke für den Hinweis. Habt ihr schon irgendwelche verwertbaren Spuren sichern können?“
„Bisher nicht. Wir sind noch voll dabei.“
„Gut. Dann wollen wir euch nicht länger davon abhalten. Gibt es schon ein paar Infos aus der Rechtsmedizin?“
Ziegler schüttelte den Kopf. „Im Moment kann ich nur sagen, dass unser Mordopfer höchstwahrscheinlich durch zwei Stichverletzungen in den Oberkörper gestorben ist. Wenn ich mir die Einstichstellen und den Blutverlust so anschaue, scheint der Täter beide Male lebenswichtige Organe getroffen zu haben. Wahrscheinlich wusste Brenneisen gar nicht, wie ihm geschah. Der Tod dürfte ihn ziemlich rasch ereilt haben. Da hätten wohl keine Rettungsmaßnahmen mehr was genützt.“
„Klingt nach ziemlicher Präzision“, fand Dominik.
„Es könnten auch Glückstreffer gewesen sein. Mal sehen, ob ich nach der Obduktion was Genaueres sagen kann.“
Damit war diese Weide ebenfalls abgegrast. Mark und Dominik ließen die Kollegen ihre Arbeit fortführen und traten näher an den Verstorbenen heran. Für ihre Ermittlungen war es wichtig, dass sie den unveränderten Tatort mit eigenen Augen sahen und so eine erste Verbindung zu dem Mordopfer aufbauten.
Mark betrachtete das bleiche Gesicht des Toten einige Sekunden lang. Die Augen waren geschlossen, besonders auffällige Merkmale an Wangen, Kinn oder Lippen fand er nicht. Er versuchte sich zu entsinnen, wann und wo er von dem Mann erfahren hatte. Vermutlich war es ein Bericht in einem Magazin gewesen. Spontan fiel ihm nichts Genaues ein.
Mit Brenneisens Werk selbst hatte er sich nicht weiter beschäftigt. Marks Comic-Glanzzeit lag einige Zeit zurück. Vor zehn bis fünfzehn Jahren hatte er noch einen recht guten Überblick über die Neuerscheinungen und aktuellen Trends gehabt. Inzwischen las er nur noch vereinzelte Graphic Novels, meist mit abgeschlossenen Geschichten. Soweit er sich erinnern konnte, war keine einzige Geschichte vom Nachträcher darunter gewesen.
Sie gingen weiter und gaben Felix die Gelegenheit, das Gebiet abseits der Leiche ausgiebig zu beschnüffeln. Einen direkten Geruchstreffer erwartete Mark nicht. Der Hovawart war ein ausgebildeter Geldspürhund, dessen Nase in der Regel nur bei bestimmten Stoffen und Chemikalien anschlug. Dennoch hatte der Vierbeiner ihnen schon mehrere Male bei ihren Nachforschungen weitergeholfen. Es schadete definitiv nicht, ihn alles genau überprüfen zu lassen.
Als Felix genug vom Beschnuppern hatte, gingen sie weiter zu den Sankas, die rückseitig direkt hinter dem Eiscafé parkten. Der Rettungswagen, in dem die Zeugin betreut wurde, stand ihnen am nächsten, weshalb sie zuerst dort anhielten.
Selina Keyenburg saß auf der Kante des offenstehenden Zugangsbereichs und starrte ins Leere. Dass zwei Sanitäter bei ihr waren und ihr eine Flasche Wasser anboten, schien sie nicht mal zu bemerken. Sie schaute erst auf, als ihr die Kommissare die Dienstausweise vor die Nase hielten und um eine Schilderung des Ablaufs aus ihrer Perspektive baten.
Selina war Studentin, Anfang zwanzig, hatte zierliche Gesichtszüge und glatte brünette Haare, die ihr bis knapp über die Schultern reichten. Auf der Nase trug sie eine dunkle Brille. Mit dünner Stimme berichtete sie davon, wie ihr der Mann in dem gelben Shirt beim Eiscafé aufgefallen war und sie das Auftauchen des Nachträchers zunächst für einen Werbegag gehalten hatte. „Der Anschlag auf Brenneisen hat wie ein einstudiertes Programm gewirkt. Ich meine, da war diese Dolch-Replik, die haargenau wie in den Comics aussah: breite Hauptklinge mit zwei dünnen, geschwungenen Nebenklingen, so ähnlich wie bei einer Saigabel. Und dazu das Kostüm mit dem Umhang, der Maske und dem Zylinder. Das hat alles völlig übereingestimmt.“
„Du scheinst dich recht gut mit der Materie auszukennen“, quittierte Dominik. Wie üblich duzte er jüngere Menschen einfach, ohne sie um Erlaubnis zu bitten.
Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf. „Na ja, ich bin Comicfan und habe deswegen angefangen, Grafikdesign zu studieren. An der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg.“
„Alle Achtung, dann bist du definitiv vom Fach“, sagte Mark. Wie selbstverständlich tat er es seinem Partner gleich und duzte Selina ebenso. Es fiel ihm erst auf, als es bereits zu spät war. Die Studentin schien es nicht sonderlich zu stören. Ihre Sorgen drehten sich um andere Dinge.
„Schön wär’s. Ich kann noch immer nicht fassen, dass Brenneisen tot ist. Er war so talentiert und hatte noch so viel vor. Ich hab einige seiner Arbeiten als Vorlagen und Inspirationsquellen genutzt. Und dass es dann noch ausgerechnet jemand in einem Nachträcher-Kostüm war. Das klingt wie ein schlechter Scherz.“
„Ist dir an dem Täter etwas Markantes aufgefallen?“
„Sie meinen, außer seiner Verkleidung und dem speziellen Dolch? Sein Anzug wirkte relativ neu. Gesprochen hat der Typ kein einziges Wort. Es ging alles so schnell.“
„Auf den Handyaufnahmen haben wir gesehen, dass du nach der Tat als Erstes bei Brenneisen warst. Hat er noch etwas gesagt oder getan?“
„Leider nicht. Er war überhaupt nicht mehr ansprechbar. Ich habe versucht, ihn zu reanimieren, aber auf seinem Brustkorb wollte ich nicht rumdrücken, wegen der Stichverletzungen. Irgendwann kam dann dieser Freund von Arne, der da drüben in dem anderen Rettungswagen sitzt. Er hat mich bei den Erste-Hilfe-Maßnahmen so gut wie möglich unterstützt. Das haben wir gemacht, bis die Sanis kamen und übernommen haben. Sie konnten aber auch nichts mehr für ihn tun.“
Tränen rannen der Studentin über das Gesicht, und sie senkte bedrückt den Blick. Als der Hovawart neugierig an ihren Beinen schnüffelte, reagierte sie nicht darauf.
„Du hast dein Bestes getan“, versicherte Dominik. „Niemand hätte noch etwas für ihn tun können.“
„Ich weiß.“ Selina holte tief Luft und stieß sie zitternd wieder aus.
Mark sah ein, dass sie von ihr nichts Neues mehr erfahren würden. Also reichten Dominik und er der Studentin ihre Visitenkarten und baten sie, sich zu melden, falls ihr noch etwas einfallen sollte. Sie nahm die Karten an sich und nickte kraftlos.
Die Kommissare gingen weiter zum nächsten Rettungswagen, wo sie bereits erwartet wurden. An Christoph Herzners Unterarmen und seiner Hose glänzten nasse Flecken auf dem dunklen Stoff, die vermutlich von den Wiederbelebungsmaßnahmen stammten. Er selbst sah unversehrt aus, zumindest rein körperlich.
„Sie wollen sicher mit mir sprechen“, vermutete er, nachdem sein Blick von Mark über Dominik zu Felix gewandert war. Als der Hund an ihm zu schnüffeln begann, hob er die Brauen und wich ein Stück zurück. Mark im Gegenzug zog den Hovawart an der Leine näher zu sich heran. Er wollte nicht, dass Felix das Blut auf Herzners Hose zu intensiv beschnüffelte oder eventuell sogar noch daran leckte.
Derweil hatte Dominik der Ordnung halber seinen Dienstausweis vorgezeigt und nach seinem Notizbuch gegriffen. „In welcher Beziehung standen Sie zu Arne Brenneisen?“
„Ich bin … war … sein Freund und Geschäftskollege. Wir haben bei Hasardeur – das ist der Name des Verlags – zusammen an den Nachträcher-Comics gearbeitet. Er war das kreative Hirn, ich habe mich um die Nachbearbeitung der Bilder gekümmert.“
„Sind Sie deswegen hier in Erlangen?“, wollte Mark wissen.
Herzner nickte. „Wir sind erst heute Nachmittag angekommen.“
„Nur Sie zwei oder haben Sie weitere Personen begleitet?“
„Nur wir zwei. Die anderen Leute vom Verlag sind separat gereist.“ Er blickte kurz auf die Uhr. „Beziehungsweise noch unterwegs hierher. O Mann! Keiner von denen weiß, was los ist. Ich muss sie anrufen und ihnen Bescheid sagen.“
„Das können Sie später gerne tun“, versicherte Mark. „Vorher bräuchten wir Sie noch für einen Moment, um uns ein paar Fragen zu beantworten: Was können Sie uns zum Tathergang sagen?“
„Nichts. Als es passierte, war ich in dem Laden dort drüben.“ Er wies auf die große Wöhrl-Filiale nur wenige Meter entfernt. „Ich wollte mich da drin nach einem neuen Hemd umschauen. Arne hatte keinen Bock darauf und meinte, er holt sich in der Zwischenzeit ein Eis.“
„Wie haben Sie von dem Angriff erfahren?“
„Ich habe einen Schrei gehört und bin rausgelaufen, um zu schauen, was los ist. Als ich gesehen habe, dass was beim Eiscafé passiert ist, bin ich gleich losgerannt. Aber da war es schon zu spät. Arne lag am Boden, und dieses Mädchen war bei ihm.“ Er nickte kurz in Selinas Richtung.
„Haben Sie den Täter gesehen?“
„Nein, überhaupt nicht. Von der Verkleidung habe ich erst später gehört. Ist das nicht vollkommen bizarr?“
„Wer wusste alles, dass Sie heute schon in Erlangen sein würden?“
„Boah … da fragen Sie was! Das dürfte jeder und niemand gewusst haben. Keine Ahnung! Wir haben es nicht an die große Glocke gehängt, aber es war auch kein Geheimnis. Wieso auch?“
„Wen haben Herr Brenneisen und Sie seit Ihrer Ankunft alles getroffen?“
Herzner runzelte die Stirn. „Es gab ein bisschen Small Talk mit ein paar Leuten. Von den meisten kenne ich nicht mal die Namen. Es sind die üblichen Leute, die man bei allen Cons und Messen trifft. Unsere Ankunft im Hotel haben sicher auch zig Personen mitgekriegt. Die Empfangshalle war ziemlich voll.“
„Welches Hotel haben Sie gebucht?“
„Das Eisner Hotel, nur ein paar Minuten von hier. Das nehmen wir jedes Mal, wenn wir zum Salon kommen. Das hat schon Tradition.“
„Dort verlief alles wie üblich?“, hakte Dominik nach.
Herzner zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. „Ja, keine besonderen Vorkommnisse. Arne hat sich auch nicht anders verhalten als sonst, falls Sie darauf hinauswollen. Er hat sich sehr auf die nächsten Tage gefreut. Das Treffen mit den Fans und den Kollegen war ihm immer wichtig.“
„Woher kamen Sie vor dem Besuch in der Einkaufsstraße? Oder sind Sie direkt vom Hotel aus hergelaufen?“
„Eigentlich direkt. Wir kennen uns in Erlangen nicht so gut aus. Aber die Läden hier sind uns von früheren Besuchen recht gut in Erinnerung.“
„Hatte Herr Brenneisen irgendwelche Feinde oder gibt es Menschen, mit denen er kürzlich in Streit geraten ist?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Wie steht es um neidische Konkurrenten?“ Mark zog Felix ein weiteres Mal zu sich. Allmählich wurde der Vierbeiner unruhig. Nicht unbedingt wegen des Blutgeruchs an der Kleidung des Mannes, eher aus Langeweile. Im Beisein der Zweibeiner gab es für ihn nichts zu tun, und das Beschnuppern des Bodens war keine abendfüllende Angelegenheit.
„Viele aus der Branche dürften neidisch auf ihn gewesen sein“, sagte Herzner mit einem dünnen Lächeln. „Immerhin hat Arne mit dem Nachträcher den Überraschungserfolg schlechthin geschafft. Bis dahin dachten alle, der Superhelden-Markt wäre längst übersättigt. Es gibt ja schließlich schon alle möglichen Variationen und Kombinationen. Aber der Nachträcher ist anders. Er ist teils Held, teils Schurke. Es war ein ständiger Drahtseilakt, keiner konnte sich sicher sein, wie die Geschichte weitergeht. Genau das macht es ja so spannend.“
Diese Lobpreisung machte Mark neugierig, doch dies war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um sich über dieses Thema zu unterhalten. „Wie steht es um das Liebesleben von Herrn Brenneisen? Irgendwelche Probleme oder kürzlichen Trennungen? Vielleicht eine Affäre mit jemandem?“
„Arne war im Moment nicht liiert. Seine letzte Beziehung liegt …“ Herzner schien im Kopf nachrechnen zu müssen. „Bestimmt zwei Jahre zurück. Seitdem hat er sich ganz auf die Arbeit konzentriert. Das Universum des Nachträchers hat ihn völlig in Beschlag genommen.“
„Das Universum?“, wiederholte Dominik mit spöttischem Unterton.
Herzner schien es allerdings überhaupt nicht witzig zu finden. „Ja, klar. Es geht ja bei so was nicht bloß um eine eindimensionale Figur, sondern einen Charakter mit realistischen Sorgen und Problemen. Dazu gibt es etliche Nebenfiguren mit Verstrickungen und Subplots. Außerdem Handlungsorte – reale und fiktive. Je tiefer man da in die Materie eintaucht, desto komplexer wird es. Oftmals werden verschiedene Handlungsstränge über mehrere Hefte vorbereitet, bevor sie endlich zum Hauptthema werden. So was kommt nicht von ungefähr, sondern bedeutet harte Arbeit. Manchmal, wenn ihm wieder ein ganz besonders cooler Story-Twist eingefallen ist, kam Arne aufgeregt wie ein kleines Kind zu mir. Er hat dann gegrinst, geklatscht und wie verrückt gekichert. Oder er ist völlig überdreht rumgelaufen. Wie auf Droge. Die Comics waren für ihn wie ein Rausch. Ein ständiges Opium. Verstehen Sie? Da gab es gar keine Zeit für so was wie Beziehungen. Die Arbeit war sein Leben und seine Geliebte … sie …“ Er keuchte und bekam feuchte Augen. „O Gott, ich … das ist alles zu Ende jetzt …“
„Was für Termine hatte Arne für den Comic-Salon geplant?“
„Alles Mögliche. Podiumsdiskussionen, Workshops, das eine oder andere Meet-and-Greet. Außerdem war er für den Max-und-Moritz-Preis nominiert. In mehreren Kategorien. Scheiße, das muss ich alles absagen! Ich …“
Herzner stöhnte und schien der Panik nahe. Obwohl sein Gesicht weiß wie ein Laken war, glänzten Schweißperlen auf seiner Stirn. Auch die Sanitäter, die das Gespräch aus einigen Metern Abstand verfolgt hatten, traten besorgt auf ihn zu.
„Bleiben Sie ruhig.“ Mark legte ihm sanft die Hand auf den Oberarm. „Diese Dinge spielen jetzt keine Rolle. Wer weiß, ob der Comic-Salon überhaupt noch stattfinden wird.“
„Aber …“
„Da gibt es kein Aber. Das ist alles nichts, was Sie belasten muss. Wie es weitergeht, ist erst mal zweitrangig …“
„Das sagen Sie so leicht. Ich habe keine Ahnung, was nun wird.“
„Im Moment müssen Sie das auch nicht.“
Inzwischen hatten die Mediziner das Kommando übernommen, und die Kommissare traten zurück, um sie ihre Arbeit machen zu lassen.
„Wir unterhalten uns ein andermal weiter“, sagte Dominik und reichte ihm ihre Visitenkarten. Ohne seine Reaktion abzuwarten, gingen sie davon.
Anders als bei früheren Fällen gab es diesmal haufenweise Zeugen, die den Tathergang praktisch von Anfang an verfolgt hatten. Mark schätzte, dass es etwa ein Dutzend Männer und Frauen waren, die sich in unmittelbarer Nähe des Eiscafés aufgehalten hatten. Hinzu kam eine unklare Anzahl von Anwohnern und Angestellten der umliegenden Geschäfte. Obwohl sie alle dasselbe beobachtet hatten, war es nicht gewiss, dass alle von ihnen auch das Gleiche aussagen würden. Jemandem von ihnen könnte ein Detail aufgefallen sein, dass den anderen entgangen war. Überdies beeinflussten subjektive Eindrücke jede Zeugenaussage. Daher war es wichtig, jede einzelne Anwesende und jeden einzelnen Anwesenden zu befragen, um einen möglichst umfassenden Überblick zu bekommen.
Wie üblich wurde die allgemeine Befragung von der Streifenpolizei übernommen. Mark und Dominik trafen sich mit den Kollegen bei den Dienstfahrzeugen und besprachen, auf welche Punkte sie besonders achten sollten. Sofern sich dabei ungeahnte Besonderheiten ergaben, würden die Kommissare im Nachgang bei den entsprechenden Personen noch einmal gezielt nachhaken.
Während die Streifenbeamten ausströmten, war das Trio mit vier Pfoten mit seiner Arbeit am Tatort fertig. Die drei kehrten zum Passat zurück und machten sich auf den Weg zum Nordteil der Stadt. Wie von Herzner erwähnt, dauerte es nur wenige Minuten, bis sie das Eisner Hotel erreichten. Inzwischen war es kurz nach 21 Uhr, allmählich ging die Sonne unter. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es bereits stockfinster sein, wenn sie das Gebäude wieder verließen. Obwohl dies dem natürlichen Lauf der Dinge entsprach, betrübte Mark der Gedanke an die zunehmende Schwärze und die damit einhergehende Vergänglichkeit. Er dachte daran, wie das Leben für Arne Brenneisen am Nachmittag noch voller Hoffnungen und Möglichkeiten gewesen war. Wie er sich in der Sonne geaalt und die Wärme genossen hatte. Sicherlich hatte er nicht eine Sekunde daran gedacht, dass er noch vor Einbruch der Dunkelheit tot sein würde. Die wenigsten Menschen zogen so etwas ernsthaft in Betracht. Bis es plötzlich so weit war und alles andere zur Nebensache wurde.
Bedingt durch die späte Stunde hielt sich nur noch ein knappes halbes Dutzend Personen in der Eingangshalle des Hotels auf. Zwei davon waren Mitarbeiter, die in weißen Hemden und blauen Stoffjacketts hinter dem Tresen standen und gerade ein paar Mittzwanziger eincheckten. Der ECS-Sticker vom zwei Jahre zurückliegenden Event auf einem der Koffer erlaubte eine ziemlich konkrete Vorstellung vom Zweck ihres Besuchs. Entsprechend drehte sich auch ihr Gespräch um all die für die kommenden Tage angekündigten Programmpunkte. Als der Name Nachträcher fiel, zogen sich Marks Innereien zusammen. Sollte er ihnen sagen, was sich wenige Kilometer entfernt ereignet hatte, oder sie darauf hinweisen, dass der Comic-Salon aufgrund eines Todesfalls eventuell kurzfristig abgesagt werden würde?
Nach kurzem Abwägen entschied er sich dagegen. Er hatte kein Recht, den drei Gästen ihre Anreise zu vermiesen. Sie würden noch früh genug von der Tragödie in der Innenstadt erfahren. Sofern nicht bereits geschehen, dürfte es nur noch eine Frage von Minuten sein, bis erste Meldungen dazu im Internet auftauchten.
Nachdem die Gäste eingecheckt hatten, traten die Kommissare an den Tresen und zeigten diskret ihre Dienstausweise vor. Wie erwartet, wussten die beiden Angestellten vor lauter Aufregung gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollten. Auf die Ausweise oder auf den Diensthund, der mit den Polizisten das Hotel betreten hatte, obwohl hier Tiere offenbar nicht so gern gesehen wurden. Ein entsprechendes Zutritt-Verboten-Schild war Mark am Eingang allerdings nicht aufgefallen.
„Wir würden gern das Hotelzimmer von Herrn Arne Brenneisen sehen“, erklärte Dominik.
„Das … äh … brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbefehl?“, fragte der Linke der beiden Männer im blauen Jackett. Auf einmal bekam er einen knallroten Kopf. Selbst seine Ohren schienen zu glühen.
„Nicht in dem Fall. Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt. Herr Brenneisen ist der Geschädigte.“
„Der Geschädigte?“, fragte der Rezeptionist irritiert. Dann verstand er die Umschreibung richtig, und genauso schnell, wie das Blut in seinen Kopf geschossen war, verließ es ihn wieder. Binnen eines Atemzugs war er kalkweiß. Es war ein höchst beeindruckender Effekt, mit dem der Mann bestimmt ein Star in den Sozialen Medien werden könnte. Neben ihm keuchte sein Kollege entgeistert. Mit einer solchen Situation waren die beiden offenkundig noch nicht konfrontiert worden. Auf Dominiks Nachfrage hin verrieten sie, dass sich Brenneisens Unterkunft im dritten Stock befand, und händigten bereitwillig die Schlüssel dafür aus.
Nachdem die Aufzugskabine die Maße einer zu klein geratenen Besenkammer aufwies und offenbar ein höheres Alter als die Kommissare zusammen besaß, entschieden sie sich für den Weg durchs Treppenhaus. Zwei Etagen höher betraten sie einen rustikalen Flur mit dunklen Holzvertäfelungen und abgewetzten Teppichen, die Mark wie Überbleibsel aus den Sechzigerjahren vorkamen.
„Dazu fällt mir das berühmte Wort Altbaucharme ein“, sagte Dominik grinsend. „Als ich das Wort zum ersten Mal gelesen habe, habe ich ’ne ganze Weile gebraucht, um dahinterzusteigen, was gemeint ist.“
„So wie bei Blumentopferde und Europaletten?“
„Genau.“
Felix schnüffelte sich an der Holzvertäfelung entlang und stoppte auch nicht, als sie das Zimmer 313 erreicht hatten. Wer wusste schon, was für wundervolle Aromen sich hier im Laufe der Jahrzehnte im Holz breitgemacht hatten? In der Unterkunft dürfte es ebenfalls genug Material für jede wissbegierige Schnüffelnase geben. Deshalb zögerte Mark auch nicht, den Hovawart von der Leine zu lassen, sobald sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatten. Der Vierbeiner verstand die Geste auf der Stelle und flitzte neugierig von dem schmalen Flur in den dahinterliegenden Raum. Dort standen ein breites Doppelbett mit Holzgestell, ein wuchtiger Kleiderschrank und ein kleiner Schreibtisch mit antiquiertem Lederstuhl.
„So weit, so unauffällig. Das Inventar sieht ziemlich urig aus“, fand Dominik nach dem ersten Umschauen. „Nicht unbedingt das, was ein aufstrebender Superstar normalerweise bevorzugt.“
„Aufstrebend heißt nicht vermögend“, sagte Mark. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob man in der Comic-Branche noch so groß abräumen kann. Das dürfte im ganzen Literatursektor so sein. Klar gibt es die eine oder andere Berühmtheit, aber die sind eher die Ausnahme als die Regel. Der Großteil wird mit seiner Kohle schon gut haushalten müssen.“
„Eine deprimierende Vorstellung. Mit der Musik kommst du heutzutage auch auf keinen grünen Zweig mehr. Kein Wunder, dass sich die Jugend lieber an Influencer hält. Da musst du nix können und kommst trotzdem groß raus.“
„Es ist immer wieder beeindruckend, wie aufgeschlossen du neuen Sachen gegenüber bist.“