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Nur wenige Wochen nach dem Mord an einem Nürnberger Anwalt kommt eine weitere Person aus Holger Jansens Umfeld ums Leben. Diesmal trifft es eine Frau, die in ihrem Haus erstochen wird. Während der Ermittlungen beschleicht die Kommissare der Verdacht, dass die Tat mit einem früheren Fall zusammenhängen könnte. Haben sie damals möglicherweise etwas übersehen?
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Seitenzahl: 497
Impressum
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eISBN 978-3-96215-441-7
Entgegen seiner Befürchtung war der Besuch im Baumarkt keine mittlere Katastrophe gewesen. Weder hatten die Mitarbeiter ihr übliches Versteckspiel gespielt, noch waren ihm wie beim letzten Mal aufdringliche Kunden mit den Rollwagen in die Fersen gefahren. Alles war entspannt gelaufen, genau so, wie man es sich für einen Einkaufsbummel wünschte. Zwar konnte sich Kriminaloberkommissar Mark Richter weitaus Schöneres vorstellen, als seinen freien Tag mit dem Kaufen von Tapeten, Deckfarben und Malzubehör zu verbringen, aber um manche Dinge kam man als frischgebackener Hausbesitzer einfach nicht herum.
Mark war erleichtert, dass seit gestern die leidigen Termine bei der Bank und dem Notar erledigt waren. Damit war zumindest der bürokratische Teil des Hauskaufs abgeschlossen. Das Ganze hatte viel Zeit und noch mehr Geduld gekostet. Kaum zu glauben, wie mühsam es sein konnte, alle offenen Punkte eines Vertrags abzuklären. Da waren ihm stundenlange Befragungen von Beschuldigten lieber. In einer Vernehmung konnte er wenigstens auf Psychologie und indiziengeleitete Zermürbungstaktiken setzen. Beim Immobilienkauf hingegen lief alles stur nach Schema F.
Leise Zweifel konnte Mark aber nicht unterdrücken. Ob dieser Kauf tatsächlich eine gute Idee gewesen war? Das Reihenmittelhaus im Nürnberger Stadtteil Thon hatte ein Vermögen gekostet. Und das dicke Ende würde erst noch kommen. In den nächsten zwanzig Jahren würden, finanziell betrachtet, keine großen Sprünge möglich sein. Selbst hinter etwaigen Familienurlauben stand ein dickes Fragezeichen, da Caro und er nicht überblicken konnten, ob und welche Kosten schon bald auf sie zukommen würden. Rücklagen zu bilden war wichtig, das hatte der Bankberater bei jedem ihrer Treffen betont. Beim Kauf eines Hauses aus den Sechzigern, in dem in den nächsten Jahren mit Sicherheit einiges zu erneuern sein würde, war es zwingend notwendig, Geld für Renovierungen zurückzulegen, um nicht Gefahr zu laufen, dass irgendwann der Regen durchs undichte Dach tropfte oder im Winter die Heizung ausfiel. Für den Moment passte alles. Die Frage war nur, wie lange das so blieb.
Schweigend lud Mark die Einkäufe in den Kofferraum seines Wagens und verscheuchte die unschönen Gedanken. Der Hauskauf war eine gemeinsame Entscheidung von ihm und seiner Frau gewesen. Ein lang gehegter Traum, den sie besser heute als morgen in Angriff nehmen wollten. Nicht nur, weil sie beide auf die vierzig zugingen, sondern weil sich der Nürnberger Immobilienmarkt preislich seit Langem nur in eine Richtung entwickelte: aufwärts. Eine Entspannung der Lage war nicht in Sicht. Im Gegenteil. Wohnraum war knapp und gute Angebote waren schneller weg, als sie auf den Markt gelangten.
Mark startete den Motor und verließ den Parkplatz des Baumarkts. Wahrscheinlich würde es nicht lang dauern, bis er hier wieder auf der Matte stand. Daran wollte er lieber nicht denken. Genauso wenig an all das Geld, das er ausgeben müsste. Ihm fiel ein, wie sehr Caro und er sich gefreut hatten, als der Verkäufer zwei Tage nach ihrer kirchlichen Trauung im Juni angerufen und ihnen mitgeteilt hatte, dass sie das Reihenmittelhaus haben könnten. Wie aufgeregt und glücklich sie gewesen waren. Sie hatten es kaum fassen können, dass gerade sie aus der Menge an Bewerbern herausgestochen hatten. Hatte es geholfen, dass sie aufgrund der Hochzeit nicht am ursprünglichen Termin zur Hausbesichtigung erschienen waren, sondern der Verkäufer ihnen bereits am Tag davor die Türen geöffnet hatte? Denkbar. Vielleicht war es auch der Tatsache geschuldet, dass Töchterchen Nathalie und Familienhund Felix mit von der Partie gewesen waren. Immerhin hatte der Besitzer betont, dass er das Haus seiner Eltern gerne in die Hände einer neuen Familie geben möchte. Geschadet hatte das alles vermutlich nicht.
Er setzte den Blinker und bog in die Rollnerstraße ein. Die Sonne schien und der Himmel war viel zu blau, um den Tag in der Wohnung zu verbringen. Nach Nathalies Mittagsschlaf könnten sie in den Stadtpark spazieren oder raus zum Marienbergpark fahren. Für einen Spielplatzbesuch war das acht Monate alte Baby zwar noch zu klein, aber frische Luft schadete bekanntermaßen nie, und über einen Abstecher zur dortigen Hundewiese wäre Hovawart Felix bestimmt alles andere als traurig. Wenn der Spaziergang am Eisstand vorbeiführte, würde auch Caro nicht Nein sagen.
Das Läuten seines Diensttelefons zerstörte Marks Tagtraum jedoch auf einen Schlag. Im Display erkannte er die Nummer der Telefonzentrale. Hatte das jemals etwas Gutes bedeutet? Mark drehte die Musik im Radio leiser und nahm das Gespräch an. Zwei Minuten später hatte er nicht nur einen neuen Mordfall am Hals, sondern musste auch seine Pläne für den Familiennachmittag begraben. Rasch fuhr er nach Hause, um die Einkäufe vom Kofferraum in den Keller zu schaffen. Oben in der Wohnung tauschte er sein Shirt gegen ein Hemd und erklärte Caro, dass er gleich wieder losmüsste.
Seine Frau war einen halben Kopf kleiner als er, hatte schulterlange braune Haare und haselnussbraune Augen. Sie kannte Situationen wie diese zur Genüge. In den acht Jahren ihrer Beziehung war Mark schon so oft zu Einsätzen gerufen worden, dass sie nicht mehr nach weiteren Einzelheiten fragte. Caro wusste, dass er erstens noch keine genauen Details kannte und sie zweitens die Nuancen seiner Fälle meist gar nicht hören wollte. Mark war froh, dass es dazu keine großen Diskussionen mehr gab. Er konnte genauso wenig wie sie dafür, welche Fälle er zugewiesen bekam. Um seiner Frau zu zeigen, wie dankbar er für ihr Verständnis war, verabschiedete Mark sich mit einem besonders innigen Kuss, ehe er mit Felix davoneilte. Wenigstens würde der Hund seinen Auslauf bekommen.
Obwohl er ungefähr wusste, wo sich die vom Präsidium genannte Adresse befand, tippte Mark den Straßennamen ins Navi ein und ließ sich von dem Gerät durch die Stadt lotsen. So konnte er sich während der Fahrt um den nächsten Punkt auf seiner To-do-Liste kümmern. Noch vor der ersten Ampel hatte er die Handynummer seines Partners Dominik Waldmayer gewählt und lauschte dem dröhnenden Tuten über die Freisprecheinrichtung des Passats. Nach dem vierten Klingeln meldete sich der Kollege.
„Oh weh, der Hecht vergrault ja jede Nachtigall. Ich glaube, wir müssen den Standort wechseln“, tönte es aus dem Lautsprecher.
Darauf fiel Mark nichts Kluges ein. „Was?“
Dominik seufzte. „Ach, ist nur ’ne Anspielung auf den Klassiker. Kennst du offenbar nicht.“
„Scheint fast so. Hat dich die Zentrale angerufen?“
„Hat sie. Ich war eh gerade unterwegs und komme direkt zum Tatort. Was ist mit dir?“
„Bin soeben losgefahren. Voraussichtliche Ankunftszeit in sechzehn Minuten.“
„Prima. Dann sehen wir uns da.“ Dominik legte auf, und Mark blieb einmal mehr ratlos zurück. Was um alles in der Welt hatte er mit dem Hecht und der Nachtigall gemeint? Und auf welchen Klassiker hatte Dominik angespielt? Mark schüttelte den Kopf. Selbst nach den knapp anderthalb Jahren, die sie beide nun schon zusammenarbeiteten, gab es immer noch Momente, in denen ihn sein Kollege überraschte. Was Mark im Grunde verwunderte.
Er sollte doch längst verinnerlicht haben, dass sein Partner immer etwas neben der Spur lief. Das fing bei der Klamottenwahl an und hörte bei seinen haarsträubenden Thesen und Ansichten auf. Im Vergleich zu ihm wirkte jeder andere Mensch bodenständig und spießig.
Wobei letzteres nicht unbedingt eine Schublade war, in die Mark sich stecken lassen wollte. Freilich, er war verheiratet, hatte ein Kind und seit Neuestem ein Eigenheim. Alles Merkmale, die den typischen bundesdeutschen Otto-Normal-Bürger beschrieben. Aber spießig war nur ein anderes Wort für langweilig, und so zog Mark es vor, seine eigene Individualität hervorzuheben. Wenn es darauf ankam, konnte er ebenfalls ein kleiner Nerd sein und mit unnützem Fachwissen auftrumpfen. Dominiks Sphären würde er allerdings nie erreichen. Für den zählten ganz andere Werte und Kategorien. Dominik war der Riggs in ihrem Lethal-Weapon-Team. Oder der Birkenberger-Rudi in der Eberhofer-Crew. Einziger Unterschied: Bei ihnen war mit Felix ein drittes Teammitglied im Bunde. Zusammen bildeten sie das Trio mit vier Pfoten. Möglicherweise war der Hund sogar der Vernünftigste von ihnen dreien.
Bei der Vorstellung musste Mark unweigerlich grinsen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu schauen, was der Vierbeiner in seiner metallenen Hundebox machte. Nichts zu sehen. Vermutlich hielt er ein Nickerchen. Was nicht verwunderlich war. Nach Hunderten gemeinsamen Autofahrten waren derartige Ausflüge alles andere als spannend für ihn. Mark nahm es dem Hund nicht übel und drehte die Musik im Autoradio wieder lauter. Auf Wild FM lief Wind in den Antennen, ein Song der deutschen Band ‚Husten’. Der Bandname war schräg, aber das Lied nicht schlecht. Auf jeden Fall passend für die Tour.
Mark steuerte den Dienstwagen zum Verkehrsknotenpunkt Plärrer und von dort aus die Rothenburger Straße entlang in südliche Richtung. Das Navigationssystem leitete ihn mühelos an sämtlichen heiklen Staupunkten vorbei, bis er das Wohngebiet unterhalb des Westparks erreichte. Sein Ziel war eine Doppelhaushälfte mit weißer Fassade und hellrotem Dach in der verkehrsberuhigten Steinmetzanlage.
Als er eintraf, hielt gerade ein in die Jahre gekommener blauer BMW Z3 auf der anderen Straßenseite. Obwohl die Fahrzeugrückseite halb durch einen Streifenwagen verdeckt wurde, erkannte Mark das verbeulte Auto auf Anhieb. Er wusste auswendig, was auf dem Sticker der zerschrammten Heckstoßstange stand: Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind. Eine Weisheit, wie sie typisch und sehr passend für Dominik Waldmayer war.
Mark suchte sich eine freie Parklücke nicht weit entfernt und schritt auf seinen Partner zu. In der Straße wimmelte es von amtlichen Fahrzeugen. Neben Ambulanz und Notarztfahrzeug erblickte er mehrere Streifenwagen sowie die Vans von Spurensicherung und Rechtsmedizin. Eine Handvoll Schaulustiger hatte sich eingefunden, hielt aber genügend Abstand. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser blickten weitere besorgte Anwohner.
Das war nicht ungewöhnlich. Jeder Tatort weckte die Neugierde der Menschen. Dennoch beschlich Mark ein ungutes Gefühl. Das Wohngebiet erinnerte ihn an die Gegend um die Kieler Straße im Stadtteil Thon. Hier wie dort gab es zahlreiche Einzel-, Doppel- und Reihenhäuser, manche davon frisch saniert, andere arg in die Jahre gekommen.
Das könnte mein Viertel sein, kam es Mark in den Sinn. Der Gedanke erschütterte ihn. Statt des Opfers hier in dieser Straße hätte es genauso gut jemanden in seiner neuen Nachbarschaft treffen können.
Freilich, die Gefahr zu sterben bestand zu jeder Zeit an jedem Ort. Trotzdem berührte ihn dieser Tatort stärker als all die anderen, die er bislang aufgesucht hatte. Was der Grund dafür war, vermochte Mark nicht genau zu sagen. Vielleicht weil ihm klar wurde, dass es an keinem Fleck der Welt hundertprozentige Sicherheit gab, auch nicht im behüteten Thon? Opfer eines Verbrechens werden konnte man jederzeit. Andererseits –das war nichts Neues für ihn. Es war eines der ersten Dinge, die einem im Polizeidienst klar wurden. Verhindern konnte die Verbrechen niemand. Alles, was die Beamten tun konnten, war, den Täter zu ermitteln, damit er seine gerechte Strafe erhielt.
Felix zog heftig an der Leine, sobald er Dominik entdeckt hatte. Wenn er gekonnt hätte, wäre der Hovawart sicherlich längst zu dem Mann in der schwarzen Cordhose und dem grellbunten Batikshirt gelaufen. Dessen Anblick irritierte Mark. Normalerweise trug sein Partner bei der Arbeit einen schlecht sitzenden Anzug von der Stange sowie Krawatten, die aussahen, als stammten sie aus einer Achtziger-Jahre-Requisitenkiste. Ihn jetzt so leger vor sich zu haben, war ungewohnt. Lediglich das immer grauer werdende Haar, das nahezu überall um den Kopf herum zu wuchern schien, war wie immer.
Dominik bemerkte Marks Blick und verzog das Gesicht. „Wie gesagt: Ich war unterwegs. Wer ahnt denn, dass es heute einen Mord gibt?“
„Mit so was sollte man stets rechnen. Vor allem während der Bereitschaft.“
„Ja, ja. Du machst auch nicht unbedingt den Eindruck, als kämst du gerade vom Gericht.“ Während er sprach, kraulte er Felix bereitwillig hinter den Ohren. Als er aufhörte, stupste ihn der Hovawart erwartungsvoll an. „Außerdem sind es knapp dreißig Grad im Schatten. Da braucht keiner zu verlangen, dass wir Sakko tragen.“
Sie schritten an den versammelten Nachbarn vorbei zum Grundstück, wo ihnen eine Streifenpolizistin bereits aus einiger Entfernung die Gartentür öffnete. Mark nickte ihr im Vorbeigehen zu und verzichtete darauf, seinen Dienstausweis vorzuzeigen. Bei den meisten Kollegen war ihr Trio ohnehin bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Viele von ihnen hatten Dominik und er bereits bei früheren Ermittlungen kennengelernt.
Beim Betreten des Hauses eilten ihnen zwei Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen entgegen. Auch ihnen winkte Mark zu, ohne weiter darauf zu achten, wer sich unter den Kapuzen verbarg. Seine Hauptansprechpartnerin war die Einsatzleiterin der Spurensicherung, Nicole Rösler, eine Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz und runden Kulleraugen, mit der sie an nahezu jedem Tatort zu tun hatten. Nicole war seit Jahren eine Freundin von ihm und seiner Familie. Caro traf sich sogar privat mit ihr. Worüber sich die zwei Frauen dann austauschten, wollte Mark lieber gar nicht wissen.
Er fand Nicole im Wohnzimmer, wo sie sich gerade mit Kollegen aus ihrem Team abstimmte. Genau wie alle anderen trug sie einen Schutzanzug, hatte die Kapuze für das Gespräch allerdings in den Nacken zurückgeschlagen.
Mark kannte derartige Koordinationsbesprechungen: Es würde nicht lang dauern. Sinnlos, die Kollegen dabei zu unterbrechen. Stattdessen nutzten Dominik und er die Zwischenzeit dazu, sich im Raum umzuschauen. Das Wohnzimmer war großzügig geschnitten, mit breiter Fenster- und Terrassenfront auf der Südseite. Die einfallenden Sonnenstrahlen tauchten alles in ein gleißendes Licht, in dem kein Staubpartikel und kein Schmutzfleck auf den Glasscheiben verborgen blieben. Das großflächige Mobiliar bestand aus Glas und lackbeschichtetem Holz. Es schien erst wenige Jahre alt und recht teuer gewesen zu sein. Bücher, Filme und CDs suchte Mark auf den ersten Blick vergebens. Stattdessen entdeckte er mehrere Skulpturen sowie Steinfiguren aus allen Ecken der Welt. Dazwischen standen auf den Schränken gerahmte Fotos, die eine sportliche Frau in den Fünfzigern mit blonden Haaren, vollen Lippen und schmalen Gesichtszügen zeigten. Abgesehen von zwei professionellen Porträts schien es sich um Schnappschüsse von Urlauben und feierlichen Anlässen zu handeln. Auf zahlreichen Bildern war sie in Begleitung anderer Personen.
Eindeutig handelte es sich um die gleiche Frau, die wenige Meter entfernt regungslos neben dem länglichen Esstisch am Boden lag. Ihre Gliedmaßen waren verdreht, so als hätte sie noch versucht, sich von ihrem Angreifer abzuwenden. Sie trug eng anliegende Joggingkleidung. An Brust und Bauch schimmerte es rot und nass. Auf dem Laminat unter der Toten hatte sich eine längliche Blutlache gebildet, die wie ein makabrer Schatten ihres Oberkörpers anmutete. Felix zog an der Leine, um an dem Blut zu schnüffeln, doch Mark hielt ihn so fest, dass er nicht weit kam. Näher heran gelangte ein Kollege von der Spurensicherung, der vor der Leiche in die Hocke ging und Fotos mit einer digitalen Spiegelreflexkamera knipste.
„Was für ein Schlamassel“, erklang es in dem Moment von rechts.
Mark erkannte Nicoles Stimme sofort und drehte sich zu ihr um. Scheinbar hatte sie ihre Unterredung inzwischen beendet, denn die anderen Schutzanzugträger entfernten sich, während sie langsam auf das Trio zuschlenderte.
Als Mark zu einer Begrüßung ansetzte, kam Dominik ihm zuvor. „Hallo, Nicole.“ Er schüttelte tadelnd den Kopf. „Dass wir uns ständig unter solchen Umständen treffen müssen!“
„Ich wünschte auch, es wäre anders“, bestätigte sie. „Ein schickes Shirt trägst du da.“
Mark kannte seine Kollegin und deren Geschmack gut genug, um zu wissen, dass sie dieses Kompliment nicht ernst meinte. Dominik hingegen bemerkte die Ironie nicht und bedankte sich brav.
„Kannst du schon was zum vermutlichen Tathergang sagen?“, fragte Mark, um das Thema zu wechseln.
Nicole nickte. „Für mich sieht es ganz danach aus, als …“
„Moment!“, erscholl plötzlich eine Männerstimme aus dem hinteren Teil des Wohnzimmers. Eine geschlagene Sekunde später erhob sich aus dem Ledersessel, der dem Terrassenfenster gegenüberstand, ein Mann in den Fünfzigern. Er hatte kurze graue Haare und erinnerte mit seinen herabhängenden Mundwinkeln ein wenig an die Ex-Kanzlerin Angela Merkel; selbst bei bester Laune wirkten seine Züge miesepetrig. Es war Rechtsmediziner Dr. Ziegler.
„Was um alles in der Welt …“, begann Dominik.
Der Arzt ignorierte den Einwurf. „Die Herren kennen noch gar nicht das Gesamtbild.“ Er fixierte Dominiks grellbuntes Shirt einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf, als wollte er auf diese Weise den Anblick vergessen machen. „Kommen Sie, hier hinten gibt es noch mehr zu untersuchen.“ Mit den Worten winkte er die Kommissare zu sich.
Mark und Dominik schauten erst sich, dann Nicole fragend an. Als die Einsatzleiterin mit den Schultern zuckte, folgte das Trio der Aufforderung des Rechtsmediziners. Gleichzeitig war Mark neugierig, welches Bild der Rechtsmediziner meinte. Sie waren schließlich gerade erst am Tatort eingetroffen und besaßen noch längst nicht alle Informationen.
Gleich darauf wurde die Situation noch bizarrer.
Hinter dem Ledersessel lag etwas. Etwas Kleines, Schwarzes. Zuerst hielt Mark es für ein zusammengeknülltes Kleidungsstück oder ein zu Boden gefallenes Kissen. Kurz darauf wünschte er, es wäre tatsächlich so harmlos.
Leider vergebens.
Das, was er da am Boden erblickte, war der Körper eines kleinen Hundes. Einer französischen Bulldogge, um genau zu sein. Mark erkannte den muskulösen Rumpf, die charakteristischen Fledermausohren und den massiven Kopf. Eine Blutspur hinter dem Nacken des Tieres ließ das Schlimmste vermuten. Das und die Tatsache, dass sich die Hundebrust weder hob noch senkte. Mark wurde es schwer ums Herz.
Felix schien nicht recht zu verstehen, was es mit dem toten Hund auf sich hatte, und schnüffelte in Richtung des leblosen Körpers. Nah heran kam er auch diesmal nicht.
„Was ist in diesem Haus passiert?“, fragte Mark mit belegter Stimme. Obwohl die Tatsachen für sich sprachen, wollte er, dass jemand die grausame Wahrheit aussprach.
„Das ist das Gesamtbild“, erklärte Dr. Ziegler. „Meiner Meinung nach hat sich der Täter über die Terrassentür Zutritt verschafft, wo der Hund ihn bemerkte.“ Der Rechtsmediziner wies auf die genannte Tür, die zwar verschlossen, jedoch nicht abgesperrt war. Der Hebel zeigte nach links und die Tür schien lediglich herangezogen worden zu sein. „Vermutlich hat das laute Gebell sein Frauchen auf den Plan gerufen. Als sie zur Hilfe eilen wollte, wurde sie ebenfalls ermordet. Würde die Spurensicherung dem zustimmen?“
„Das wäre eine Möglichkeit“, bestätigte Nicole.
Der Doc hob die Brauen. „Welche andere gibt es außerdem?“
Nicole ließ ihren Blick noch einmal aufmerksam durch den Raum wandern. „Basierend auf dem bisherigen Kenntnisstand wäre es auch denkbar, dass die Frau zur Zeit des Einbruchs nicht zu Hause gewesen war, sondern erst später zurückkehrte. Sie könnte draußen beim Joggen gewesen sein. Wieder daheim hat sie sich nach ihrem Hund umgeschaut und lief dem Mörder direkt in die Arme.“
„Das ist bloß die verlängerte Fassung von dem, was ich ausgeführt habe“, erwiderte Ziegler unbeeindruckt. „So oder so musste zuerst das Tier, danach die Besitzerin dran glauben. Beide starben durch Stichwunden. Der Hund in den Hals, die Frau in den Abdomen. Möglicherweise durch die gleiche Waffe. In beiden Fällen dürfte der Tod sehr rasch eingetreten sein. Abwehrverletzungen konnte ich bislang keine feststellen. Anhand der Körpertemperatur würde ich schätzen, die zwei sind etwa fünf bis sechs Stunden tot. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt, ist aber noch nicht vollständig ausgeprägt. Genaueres kann ich vermutlich nach der Obduktion sagen.“
Mark spähte zu der achteckigen Wanduhr über der Schrankzeile. Fünf bis sechs Stunden, das bedeutete, dass die Morde offenbar zwischen acht und neun Uhr am Morgen passiert waren. Das war eine recht späte Uhrzeit für jemanden aus der arbeitenden Bevölkerung, um noch im Hause zu sein. Sofern die Tote zu dieser Gruppe zählte. Was hatte die Frau um diese Zeit noch daheim gemacht? Oder fing ihr Job erst später an?
„Die Verstorbene …“, fuhr Ziegler fort.
„Die Verstorbene hat doch bestimmt einen Namen“, unterbrach ihn Mark.
„Oh … ja … selbstverständlich.“ Ziegler schaute auffordernd zu seiner Kollegin von der Spurensicherung. Nicole nickte und griff nach einer transparenten Plastiktüte, die das aufgeklappte Portemonnaie der Toten sowie den bereits daraus entnommenen Personalausweis enthielt.
„Karolina Fritsche. Alter: dreiundfünfzig.“
„Dafür hat sie sich gut gehalten“, fand Dominik.
Mark achtete nicht darauf. Der Name des Opfers hatte ihn zusammenzucken lassen. Das ungute Gefühl war in aller Deutlichkeit zurückgekehrt. Die Frau hieß Karolina. So ähnlich wie Caro, deren vollständiger Name Caroline lautete – obwohl sie den nicht mochte und auf die Kurzform bestand. Natürlich war die Ähnlichkeit reiner Zufall, wenn auch ein ziemlich gruseliger.
„War sie verheiratet? Hatte sie Kinder?“, verscheuchte er den Gedanken hastig.
Nicole schüttete den Kopf. „Darauf deutet nichts hin. Ring trägt sie keinen.“
„Wer hat sie gefunden?“
„Ihr Bruder Steffen“, antwortete Nicole. „Er war mit ihr für den Morgen zum Frühstück verabredet. Sie kam nicht und war auch telefonisch nicht erreichbar. Also ist er zu ihr gefahren. Keiner hat auf sein Klingeln reagiert. Der Bruder wusste allerdings, wo der Zweitschlüssel versteckt war, und hat sich damit Zutritt verschafft.“
„Wo ist der Mann jetzt?“
„Draußen, bei den Sanis.“
„Habt ihr Einbruchspuren an der Terrassentür entdeckt?“
Erneutes Kopfschütteln. „Bisher nicht. Es wurden zahlreiche Fingerabdrücke sichergestellt, aber die müssen nicht zwangsläufig vom Täter stammen.“
„Gibt es weitere Anhaltspunkte?“, fragte Dominik.
„Bislang nicht viel. Einen Meter von der Leiche entfernt lagen einige Haare am Boden. Ob sie dem Opfer, dem Bruder oder jemand anderem zuzuordnen sind, wird die DNS-Prüfung zeigen. Im Garten haben wir einen Teilabdruck einer Schuhsohle gefunden. Was es damit auf sich hat, kann ich noch nicht sagen. Die Untersuchung von Haus und Grundstück ist noch im Gange. Wenn ihr mich fragt, dürfte der Leichenfundort auch der Tatort sein. Einige Zimmer im Haus sind verwüstet. Scheint so, als hätte der Täter nach etwas gesucht, vermutlich nach Wertgegenständen. Ob etwas fehlt, ist schwer abzuschätzen. Vielleicht weiß der Bruder was.“
„Mit dem unterhalten wir uns nachher“, verkündete Mark. „Erst mal wollen wir uns einen eigenen Eindruck verschaffen.“
„Passt nur bitte auf, dass der Hund nichts kontaminiert“, warf Ziegler mit mahnendem Blick auf Felix ein.
„Tun wir immer“, beschwichtigte Mark, während er den Tatort um die ermordete Bulldogge herum musterte. Es nervte ihn, dass der Mediziner ihn jedes Mal auf diesen Punkt hinwies. Als ob sie den Hovawart alles ablecken und beschnuppern lassen würden, nur damit die Spuren unbrauchbar wurden. Wenn überhaupt, verlor der Vierbeiner mal ein Haar. Das konnte jedem Kollegen, der keine Schutzkleidung trug, ebenso passieren. Davon abgesehen dürfte ein Hundehaar ziemlich leicht von dem eines Menschen zu unterscheiden sein.
„Der Hund – oder vielmehr: die Hündin – hieß übrigens Cookie“, sagte Nicole über die Schulter hinweg. „So wie der Keks.“
„Auf den kann sie jetzt leider keinem mehr gehen“, meinte Dominik trocken, während er ebenfalls den Hunde-Tatort überprüfte. Besondere Auffälligkeiten schien auch er nicht zu erkennen.
Gemeinsam begaben sich die Kommissare zum zweiten Tatort. Aufgrund des länglichen Esstisches waren auf den ersten Metern ausschließlich die Beine und die in schwarzen Sneakersocken steckenden Füße der Toten auszumachen. Es wirkte, als hätte die Frau versucht, die Beine übereinanderzuschlagen, um sich ein wenig auszuruhen. Eine Ruhepause, aus der sie bedauerlicherweise nie wieder zurückkehren würde.
Mark kniete sich neben dem linken Tischbein nieder und betrachtete die vor ihm liegende Gestalt. Ihre Mimik war versteinert, der Blick starr auf einen unsichtbaren Punkt an der Zimmerdecke gerichtet. Was wohl ihre letzten Gedanken gewesen waren? Welche Sorgen hatten sie geplagt? Hatte sie ihren Angreifer gekannt?
Mark suchte nach Anzeichen, die ihm eine mögliche Antwort auf diese Fragen liefern könnten. Doch da war nichts und niemand vor Ort, der ihm weiterhelfen konnte.
„Sie war eine hübsche Frau“, flüsterte Dominik neben ihm. „Echt schade um sie.“
Und bei einer hässlichen wäre es wohl anders, lag es Mark auf der Zunge. Er ließ die Bemerkung unausgesprochen und betrachtete stattdessen schweigend die Einstichstellen im Bauch des Opfers. Drei waren es insgesamt. Irgendwas klingelte bei dem Anblick in Marks Hinterkopf, doch ihm fiel nicht ein, worum es sich handelte. Vermutlich erinnerten ihn die länglichen Wunden oder ihre Anordnung an einen früheren Fall. Stichverletzungen zählten zu den häufigsten Todesarten, die Dominik und er untersuchten, gefolgt von stumpfen Traumata und Strangulierungen. Die in Krimis gerne auftauchenden Schussverletzungen kamen hingegen vergleichsweise selten vor, zumindest bei ihnen. Was sicherlich damit zusammenhing, dass die Krimis und Thriller größtenteils aus den USA und Großbritannien stammten, wo man deutlich leichter an Pistolen und Gewehre gelangte. In Deutschland war das zum Glück nicht ganz so einfach.
Nachdem sie sich einen ersten Eindruck von der Umgebung und der Ermordeten verschafft hatten, verließen die beiden Kommissare das Wohnzimmer, um sich in den anderen Räumen des dreistöckigen Hauses umzusehen. Die Unordnung, die Nicole erwähnt hatte, erstreckte sich hauptsächlich auf die Küche, das Schlafzimmer und einen Büroraum, der sich im Stockwerk direkt über dem Wohnzimmer befand. Überall waren Gegenstände aus den Schränken und Regalen zu Boden geworfen worden. Zerbrechliches war dabei kaputtgegangen, auch das Notebook hatte deutlich Schlagseite erhalten. Ob die IT-Abteilung hier noch etwas rekonstruieren konnte, war fraglich. Die restlichen Sachen schienen nur Kratzer, Knicke und Falten davongetragen zu haben. Wonach der Täter gesucht hatte, ließ sich aus dem Szenario nur schwer ableiten. Der Grad der Verwüstung in den drei Räumen war moderat und dürfte Marks Einschätzung nach in maximal zwei, drei Stunden behoben sein.
Auf dem restlichen Grundstück fanden sich keine nennenswerten Schäden. Der lang gezogene Garten bestand größtenteils aus Wiese und Obststräuchern. An einem mickrigen Apfelbaum hingen die frühen Anzeichen dessen, was im Herbst einmal Früchte werden könnten. Für Einbrecher und Eindringlinge dürfte er ähnlich interessant sein wie der kleine Geräteschuppen, der ausschließlich das zu enthalten schien, was sein Name vermuten ließ. Selbst Felix mit seiner sehr viel sensibleren Spürnase erschnüffelte darin nichts von Belang.
Mark überprüfte die Vorder- und Rückseite des Gartens und stellte fest, dass man das Anwesen ohne große Mühe betreten konnte. Auf beiden Seiten gab es unversperrte Türen und dank der gerade mal anderthalb Meter hohen Maschendrahtzäune hätte sich jemand theoretisch sogar über eines der angrenzenden Nachbargrundstücke Zutritt verschaffen können. Eine solche Aktion dürfte kaum eine Minute dauern. Überwachungskameras entdeckte Mark am Haus nicht. Ob einer der Anwohner etwas bemerkt hatte? In manchen Fällen bekamen die Nachbarn mehr mit als jedes noch so ausgeklügelte Sicherheitssystem.
Deshalb führte der nächste Weg zu den Streifenpolizisten. Mark und Dominik sprachen mit den Kollegen, die zuerst am Einsatzort gewesen waren, und baten diese, sich in der Nachbarschaft nach etwaigen Zeugen zu erkundigen. Diese Befragungen zählten zur üblichen Vorgehensweise und wurden in der Regel von der Streifenpolizei übernommen. Sollte sich dabei etwas ergeben, würde sich die Kripo im Nachgang darum kümmern. Fürs Erste war ihre Aufgabe hiermit erledigt, und die beiden Kommissare zogen weiter zu dem ein Stück die Straße hinauf parkenden Rettungswagen. Zwei junge Sanitäterinnen standen an der offenen Heckseite des Fahrzeugs und kümmerten sich um einen hageren Mann in den Vierzigern, bei dem es sich zweifellos um den Bruder von Karolina Fritsche handelte. Die Ähnlichkeit war unverkennbar: dieselben blonden Haare, dieselben schmalen Gesichtszüge. Allerdings zierte das Kinn des Bruders eine kleine, lange verheilte Narbe. Vermutlich von einem Unfall in Kindertagen.
„Herr Fritsche?“, hakte Mark trotzdem nach.
Mehrere Sekunden verstrichen, bevor dem Mann aufzufallen schien, dass die Polizisten offenbar ihn meinten. Mit todtrauriger Miene hob er den Kopf. „Entschuldigen Sie, dass ich nicht reagiert habe. Mein Name ist nicht Fritsche. Ich heiße Steffen Mangor.“
„Aber Sie sind der Bruder von Karolina Fritsche?“, stellte Dominik klar.
„Das ist korrekt. Karolina hat bei der Eheschließung den Nachnamen ihres Mannes angenommen.“
Welche Ehe, hätte Mark am liebsten gefragt. Er hatte noch genau im Ohr, was Nicole zu ihnen gesagt hatte: Die Verstorbene war wohl nicht verheiratet gewesen und trug keinen Ring am Finger. Bevor Mark sich deswegen erkundigen konnte, lieferte der Bruder selbst die gewünschte Antwort: „Sie ist mit Richard Fritsche verheiratet, jedenfalls auf dem Papier. In Wahrheit leben die beiden schon seit mehreren Monaten getrennt. Er ist aus dem Haus ausgezogen und wohnt jetzt in Fürth.“
Dominik notierte sich das in seinem Notizbuch. „Weswegen haben die zwei sich getrennt?“
„Sie hatten sich auseinandergelebt, hieß es. Keine Ahnung, was genau damit gemeint war. Ich habe den Typen immer für eine Flachpfeife gehalten.“
„Hatten die zwei häufiger Streit?“
„Sicherlich. Das wurde erst besser, als Richard ausgezogen war.“
Einen Moment lang fixierte Steffen Mangor den vor ihm sitzenden Felix und schien sich förmlich im Anblick des Hundes zu verlieren. Rasch schob Dominik die nächste Frage nach: „Gab es jemand Neues in Karolinas Leben?“
„Sie hat nichts dergleichen erwähnt. Vermutlich war da niemand. Oder es war noch nicht der Rede wert.“
„Hat ihr Ex jemanden kennengelernt?“
„Woher soll ich das wissen? Ich habe Richard seit einer Ewigkeit nicht getroffen. Muss ich auch nicht.“
„Sie haben Ihre Schwester heute Morgen gefunden?“
„Ja, wir gehen einmal im Monat gemeinsam frühstücken. Das haben wir vor ein paar Jahren eingeführt, weil wir beide viel um die Ohren haben und uns sonst bloß alle Jubeljahre sehen würden. Das ist unser Ritual. Oder vielmehr, es war unser Ritual …“
Der Bruder seufzte schwer und ließ Kopf und Schultern hängen.
„Demnach sind Sie Ihrer Schwester vor dem heutigen Tag schon länger nicht mehr begegnet?“, erkundigte sich Mark. Er hoffte, den Mann aus seinem mentalen Tief reißen zu können, bevor es dafür zu spät war.
„Tatsächlich war unser letztes Treffen vor knapp einem Monat“, erwiderte Mangor nach kurzem Nachdenken. „Wir haben zwar ein paar SMS ausgetauscht und mal telefoniert, aber zu einem Treffen hat es nicht gereicht. Meine Schwester ist durch ihren Job viel unterwegs, und ich ebenso.“
„Was arbeiten Sie denn? Und was hat Ihre Schwester beruflich gemacht?“
„Karo war Unternehmensberaterin. Manchmal war sie in ganz Deutschland unterwegs. Und ich bin durch meine Steuerkanzlei auch sehr eingespannt.“
Als Mangor seine Schwester bei deren abgekürztem Namen nannte, überlief es Mark kalt. „War es ungewöhnlich, dass Ihre Schwester etwas später zu Ihren Verabredungen erschien?“
„Nein“, meinte Mangor. „Für gewöhnlich war sie sehr pünktlich. Deshalb habe ich gar nicht lang gewartet, bis ich sie anrief. Das heißt: Ich habe es probiert. Als sie sich nicht meldete, bin ich zu ihr gefahren. Ich dachte, vielleicht hat sie ja verschlafen oder sie wäre durch Cookie – so hieß ihre Hündin – aufgehalten worden. Wer ahnt denn, dass so was passiert?“ Mangors Stimme wurde dünn und brüchig. In seinen Augen quollen Tränen, die er hastig wegwischte. „Entschuldigen Sie.“
„Da gibt es nichts zu entschuldigen“, versicherte Mark. „Es tut uns sehr leid, dass wir Sie mit all diesen Fragen behelligen müssen. Es sind nicht mehr viele, versprochen. Also: Ist Ihnen hier am Haus etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein, es wirkte alles wie immer. Bloß, dass es sehr still war. Trotzdem hätte ich nie gedacht …“ Weitere Tränen flossen. Diesmal wischte Steffen Mangor sie nicht weg, sondern ließ sie einfach laufen.
„Haben Sie im Haus etwas berührt oder an sich genommen?“
Der Bruder schüttelte den Kopf. „Danach haben mich Ihre Kollegen schon gelöchert. Warum hätte ich das denn tun sollen? Jeder weiß doch, wie wichtig Fingerabdrücke für Sie sind.“
„Hat sich Ihre Schwester bei Ihrem letzten Treffen oder bei Ihren Telefonaten anders als sonst verhalten?“
„Nicht wirklich. Sie hatte wie immer viel um die Ohren und war deshalb etwas müde und urlaubsreif. Karo hatte überlegt, im September für ’ne Woche auf die Bahamas zu fliegen. Das hätte ihr sicher gutgetan.“
Erneut lief es Mark kalt den Rücken hinunter. „Hatte sie irgendwelche Feinde? Gab es Leute, mit denen sie öfter in Streit geriet?“
„Ich … keine Ahnung! Meine Schwester hat nichts dergleichen erwähnt.“
„Wie steht es um plötzliche berufliche Veränderungen?“
Steffen Mangor zuckte mit den Schultern. Noch mehr Tränen flossen und sein Schluchzen nahm zu.
Mark fand, dass sie den Mann lang genug gequält hatten. „Sollen wir jemanden für Sie verständigen? Wir haben ausgebildete Seelsorger, die Ihnen in dieser Situation …“
„Nein, das brauche ich nicht“, unterbrach ihn Mangor. „Es muss niemand informiert werden. Um die Familie kümmere ich mich. Unsere Mutter wohnt draußen in Altdorf. Ich habe vorhin schon mal versucht, sie anzurufen.“
„Vielen Dank für Ihre Zeit“, beendete Mark die Unterredung und reichte Mangor seine Visitenkarte. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, geben Sie uns bitte Bescheid.“
„Mach ich. Bitte sehen Sie zu, dass Sie den Typen erwischen, der ihr das angetan hat.“
„Das werden wir“, versprach Mark, obwohl er wusste, dass man derartige Zusicherungen niemals geben sollte. Als Ermittler setzte man sich damit nur noch weiter unter Druck. Und es suggerierte den Angehörigen, dass das Verbrechen aufgeklärt werden würde. Gelogen war das zwar nicht, denn Statistiken zufolge lag die Aufklärungsquote typischerweise um die neunzig Prozent, teilweise sogar deutlich darüber. Aber ein Restrisiko blieb nun mal, den Fall nicht lösen zu können. Dennoch waren die Zahlen ein gewaltiger Ansporn dafür, sich ins Zeug zu legen. Mark würde alles ihm Mögliche unternehmen, um den Verantwortlichen zu finden und zu überführen. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Zwanzig Minuten später erreichten Mark und Dominik das Polizeipräsidium Mittelfranken, einen wuchtigen, vierstöckigen Steinbau mit blassgelber Fassade und dunklem Dach direkt am Nürnberger Jakobsplatz. Wie üblich wählten sie die Strecke über die Schlotfegergasse zum Innenhofparkplatz der Behörde, um den dichten Verkehr in der City zu vermeiden. Sie hatten Glück und fanden auf Anhieb zwei freie Plätze für den Passat und den Z3. Auf dem Weg zum Eingang trafen sie sich wieder und legten den Rest des Weges gemeinsam zurück.
Ihr Ziel war das Großraumbüro in der zweiten Etage, das sie sich mit mehreren Kommissaren teilten. Im Vorbeigehen winkte Mark dem Kollegen Jan Schuster zu. Ein kurzer Plausch war – auch sehr zum Bedauern von Felix, wie es schien – nicht möglich, weil Jan telefonierte. Vermutlich würde der Kollege später bei ihnen vorbeischauen. Bei einem bisschen Small Talk sagte keiner von ihnen Nein, schließlich wollte man auf dem Laufenden bleiben. Nicht nur in beruflicher Hinsicht.
Der Hovawart steuerte zielstrebig seinen Platz hinter Marks Seite des Doppelschreibtisches an. Zuerst stoppte er an der Wasserschüssel, deren Inhalt sich gleich darauf von halb voll auf komplett leer änderte. So warm, wie es draußen war, wunderte es Mark kein bisschen. Dank seines dichten Felles litt der Hovawart unter der Hitze noch mehr als die Kommissare. Als der Hund sich auf seiner Decke ausstreckte, ließ er die Zunge heraushängen und hechelte erschöpft.
„Ach, du Armer.“ Mark beeilte sich, die leere Wasserschüssel wieder aufzufüllen. Wahrscheinlich würde Felix sich sogleich wieder darauf stürzen, doch nein, sein tierischer Kumpel blieb liegen. Ausruhen schien die eindeutig bessere Alternative zu sein.
Mark war beides recht. Er ließ sich an seiner Seite des Doppelschreibtisches nieder und überprüfte, was sich hier seit seinem letzten Büroaufenthalt vor ein paar Tagen getan hatte. Links von der Tastatur lag ein dünner Stapel mit mehreren Mappen voller zu unterzeichnender Dokumente. Den ignorierte er bewusst, ebenso wie die alte Kaffeetasse, die er vor dem Wochenende eigentlich noch in den Geschirrspüler in der Küche hatte stellen wollen. Hätte, hätte, Fahrradkette.
Wichtiger als Akten und altes Geschirr war sein elektronisches Postfach auf dem PC. Zwar hatte er seine Mails in den vergangenen Tagen über das Diensthandy im Auge behalten, aber da er freigehabt hatte, waren seine Checks recht halbherzig ausgefallen. Zumindest wusste er, dass bis gestern Abend keine dringend zu bearbeitenden Nachrichten eingetroffen waren.
An diesem Zustand hatte sich seither nichts geändert. Bei dem meisten seiner ungelesenen Mails handelte es sich um Rundschreiben und Auswertungen, die er lediglich zur Kenntnis nehmen musste. Mark hatte die Nachrichten rasch gesichtet und konnte anfangen, die To-do-Liste zu seinem aktuellen Mordfall abzuarbeiten.
Punkt Eins war ein Schreiben an Karolina und Richard Fritsches Mobilfunkanbieter, um die Funkzellendaten sowie die aktuellen Verbindungsnachweise der Handys anzufordern. Dazu noch einen Funkzellenabgleich für das Tatortgebiet in einem Zeitraum von einigen Stunden vor und nach der Tat. Diese Daten waren in der Regel zwar nicht das Entscheidende bei einer Fallaufklärung, dafür aber meist eines der zeitaufwendigsten Dinge. Nur weil die Kripo etwas als dringend betrachtete, bedeutete das nicht, dass es der Provider genauso sah. Bevor Mark von den dortigen Mitarbeitern eine Rückmeldung erhielt, würden mit Sicherheit einige Stunden ins Land gehen. Eventuell sogar Tage, je nach Aufwand und Sachbearbeiter.
Für Mark war es bloß eine kurze Mail nach vorgefertigtem Muster an eine der bereits bekannten Mailadressen. Nicht mal fünf Minuten später war der Antrag beim Provider gestellt und Mark konnte sich den Personenüberprüfungen widmen, die ebenfalls mit jeder Todesfallermittlung einhergingen.
Die Tote, Karolina Mechthild Fritsche, war vor dreiundfünfzig Jahren in Eichstätt geboren worden. Eltern: Mechthild und Ferdinand Mangor. Vater bereits verstorben, Mutter wohnhaft in Altdorf. Ein Bruder. Verheiratet war Karolina seit 2003 mit Richard Fritsche. Nach ihrem Betriebswirtschaftsstudium an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg hatte sie in verschiedenen finanzwirtschaftlichen Unternehmen in München, Frankfurt, Celle und Hannover gearbeitet, bevor sie vor vierzehn Jahren zusammen mit ihrem Mann nach Nürnberg gewechselt war. Auslöser war ein attraktives Jobangebot der Hannoveraner Firma Roeblin Consulting gewesen, die auch in Mittelfranken ein Büro besaß. In ebendiesem hatte sich Karolina in den vergangenen Jahren bis zur Geschäftsführerin hinaufgearbeitet.
Die Verstorbene war polizeilich unauffällig gewesen, sofern man über verschiedene Verkehrsdelikte wie häufiges Zu-schnell-Fahren und Falschparken hinwegsah. Vor drei Jahren war ihr wegen einer Geschwindigkeitsübertretung für einen Monat der Führerschein entzogen worden. Viel daraus gelernt hatte sie anscheinend nicht, wie mehrere danach gesammelte Bußgeldbescheide bewiesen. Einmal Bleifuß, immer Bleifuß, überlegte Mark.
Karolinas Noch-Ehemann Richard Fritsche hatte es mit dem Tempo ebenfalls nicht so genau genommen, war deswegen jedoch nicht halb so häufig wie seine Gattin aufgefallen. Seine Strafakte war sauber. Dennoch wollte Mark den Mann näher überprüfen, denn insbesondere bei Gewaltdelikten kannte die Mehrheit der Geschädigten ihren Peiniger. In Mordfällen stammte der Täter oftmals aus dem näheren Umfeld des Opfers und besaß eine persönliche Verbindung zu ihm.
Aus diesem Grund konzentrierten sich Todesfallermittlungen zunächst immer auf das nähere Umfeld, vor allem auf die Familie und die Ehepartner.
Mark notierte sich Richards private und berufliche Anschrift, bevor er Dominik auf den neuesten Stand brachte. Sein Partner lauschte aufmerksam und informierte ihn im Gegenzug über das, was er in der Zwischenzeit herausgefunden hatte. „Das Ehepaar hat insgesamt drei Bankkonten“, erklärte er. „Ein gemeinsames, auf dem im vergangenen Jahr nicht mehr viel passiert ist – warum wohl –, und dazu jeweils eins für sie und ihn. Die Bankunterlagen zeigen, dass bei den Einzelkonten der Ehepartner ebenfalls Zugriff hat – offenbar haben die zwei es bislang nicht für nötig gehalten, das zu ändern.“
„Vielleicht war die Trennung ja nicht ganz so endgültig, wie es der Bruder behauptet hat.“
„Denkbar. Die beiden scheinen jedenfalls ein gutes Auskommen mit ihren Einkommen gehabt zu haben“, fuhr Dominik fort. „Sie hat mehr verdient als er und wusste vermutlich schon von Berufs wegen besser, wie man mit der Kohle haushaltet. Bemerkenswerte Schulden oder abzustotternde Kredite besitzt keiner von beiden. Die Doppelhaushälfte ist komplett abgezahlt, schon seit zwei Jahren. Da kann man neidisch werden, oder?“
„Nicht unbedingt. Ich lebe lieber weiterhin mit meiner Ehepartnerin zusammen und möchte nicht, dass einer von uns ermordet wird.“
„Ah … ich habe das auf den Hauskredit bezogen!“
„Darauf sag ich nur: Geld ist nicht alles. Du siehst ja, dass mehr Kohle auf dem Konto kein zufriedenes Leben garantiert.“
„Aber Geld allein macht nicht unglücklich. Jeder ist selbst seines Unglückes Schmied, wie es so schön heißt.“
„Ich bin überrascht. Heute gar keine englischen Weisheiten?“
„Kommt schon noch. Good thing wants to have a while, wenn du so willst.“
Mark verdrehte die Augen. „Will ich nicht. Erzähl mir lieber, ob du auf den Bankkonten irgendwelche auffälligen Transaktionen festgestellt hast.“
„Leider nicht. Bloß die üblichen Abbuchungen von Supermärkten, Tankstellen, Restaurants und Onlineshops. Ich glaube nicht, dass uns was davon weiterbringt.“
„Dann bleibt bloß das direkte Gespräch. Meinst du, der Richard ist um diese Zeit schon zu Hause?“
Dominik schaute auf seine Armbanduhr. „Kurz nach halb fünf. Bis wir bei ihm sind, ist es nach fünf. Da dürften die Chancen nicht schlecht stehen. Bis Fürth fährt man nachmittags ’ne Weile.“
Als die beiden aufstanden, hob Felix neugierig seinen Kopf. Sowie ihm klar geworden war, dass ein Ausflug anstand, sprang er auf und verließ zusammen mit den Kommissaren das Großraumbüro. Wie Mark sah, telefonierte Kollege Jan Schuster entweder schon wieder oder immer noch.
Der Stadtteil Hardhöhe befand sich im Westen der Nachbarstadt Fürth und bedurfte – egal welcher Route man folgte –einer Fahrt quer durch die Stadt. Um dem Feierabendverkehr wenigstens halbwegs auszuweichen, entschieden sich Mark und Dominik für einen Weg über die Südwesttangente. Das entsprach zwar nicht der kürzesten, während der Rushhour aber vermutlich der schnellsten Strecke. So oder so waren sie eine gute Weile unterwegs, und nur durch die Klimaanlage hielt sich die Temperatur im Wagen in einem erträglichen Rahmen.
Wie üblich dauerte es nicht lang, bis Dominik auf das zu sprechen kam, was ihm durch den Kopf geisterte, während er den Blick über den Stau vor ihnen schweifen ließ. Auf dem Bürgersteig liefen einige Fußgänger, die sich den Schweiß von der Stirn wischten. Dass Mark gerade dem Foo-Fighters-Song Waiting on a War auf seinem Lieblingssender lauschte, schien Dominik wenig zu bekümmern. „Oh Mann, nix geht voran und wir kochen hier im eigenen Saft“, stöhnte er.
„Ich kann die Klimaanlage gerne höherstellen“, antwortete Mark und überlegte, ob er nicht eher die Lautstärke des Radios erhöhen sollte.
„Das bringt uns hier drinnen was, aber denen da draußen nicht. Im Gegenteil. Dann verbrauchen wir mehr Sprit. Das tötet den Planeten noch schneller.“
Überrascht hob Mark die Brauen. „Woher auf einmal dein Interesse an der Umwelt?“
Dominik brummte verächtlich. „Das kommt nicht auf einmal. Ich bin seit jeher der Meinung, dass wir was für Umwelt und Klima tun sollten.“
„Sagt der, der einen mehr als zwanzig Jahre alten Sportwagen fährt.“
„Der verursacht auch nicht viel mehr Abgase als andere Pkws mit Verbrenner. Da kenne ich ganz andere Schmutzfinken. Der Z3 ist nicht mal ein Tropfen auf dem berühmten heißen Stein. Nein, wir müssten viel umfassender was ändern. Also nicht länger so tun, als gäbe es keinen Klimawandel, und ständig irgendwelche neuen Wischiwaschi-Regelungen auflegen. Der Politik ist das Problem seit über sechzig Jahren bekannt und die Verantwortlichen kriegen nichts auf die Reihe. Weil ständig irgendwelche Lobbyisten dagegen sind. Warum sollten wir auch überall Solar anbringen, wenn Erdöl so viel billiger ist? Nicht zu vergessen die großen Konzerne, die damit ihren fetten Reibach machen. Glaubst du, dass die auf ihre Kohle verzichten wollen? Wohl kaum …“
„Ich … äh …“, begann Mark, kam jedoch nicht zu Wort.
Einmal in Fahrt geraten, war sein Partner kaum mehr zu bremsen: „So wie es im Moment ist, kann es mit der Umwelt nicht weitergehen. Besser wird das nimmer. Das Wetter wird stetig heißer und keinen scheint es wirklich zu stören. Auch dass immer weniger Insekten herumfliegen, lockt niemanden hinterm Ofen hervor. Früher musste man ständig die Autoscheiben putzen, heutzutage ist das überflüssig. Es existieren auch weniger Vögel und Igel – eben weil die Insekten fehlen. Auf der anderen Seite werden alle möglichen Wälder gerodet, weil man das Holz für Papier braucht und die Flächen anderweitig nutzen will – um Soja anzubauen. Und nicht, weil das so ein tolles Bioprodukt ist, sondern weil man es als billiges Viehfutter verwenden kann.“
„Okay …“
Der Stau vor ihnen hatte sich inzwischen aufgelöst und sie bewegten sich recht zügig auf der Südwesttangente voran. Ein Grund, mit seinem Vortrag aufzuhören, war das für Dominik nicht. „Hast du gewusst, dass wir doppelt so viel von unserem globalen CO²-Budget verbrauchen, als uns zusteht? Selbst wenn alle Pkws elektrisch fahren würden, wäre das wahrscheinlich nicht genug, um grüne Zahlen zu schreiben. Solange die Fabriken weiter die Luft verpesten, bringt das nicht viel.“
„Nun gut, Dr. Greenpeace. Und was sollen wir dagegen tun?“, versuchte Mark einen neuen Ansatz. Prinzipiell fand er das Thema wichtig. Er als Familienvater besaß ein gesteigertes Interesse, seiner Tochter eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Und wenn Dominik schon entschieden hatte, dass sie sich heute über die Umwelt unterhielten, warum dann nicht gleich richtig? Es war auf jeden Fall besser, als mal wieder über den Einfluss von Geheimbünden und mysteriösen Organisationen auf die Politik zu philosophieren. Auch das war ein Thema, das Dominik gerne anschnitt. Vor allem, wenn er glaubte, neue Beweise für die Verwicklung einer geheimen Handwerksgilde namens Pantokratoren gefunden zu haben.
„Wir brauchen endlich Sofortmaßnahmen“, antwortete er jetzt und hob die linke Hand, um eine Aufzählung zu starten. Mit jedem neuen Punkt hob er einen weiteren Finger. „Mehr Naturschutzgebiete. Aufforsten und Fischerei umstellen und auf Wegwerfprodukte verzichten. Noch ein sogenannter Funfact, von dem ich neulich gelesen habe: Deutschland ist Weltmeister im Papierverbrauch – vor allem durch Verpackungsmüll wegen all der Onlinebestellungen. Gleichzeitig sterben die Läden in den Innenstädten. Das kann so nicht der Sinn der Sache sein. Da müssen die Regierungen endlich mal den Arsch hochkriegen und sich nicht länger von der Industrie schmieren lassen. Dann werden auch endlich die schon lange geplanten Solarkraftwerke in der Sahara gebaut. Damit könnte man den gesamten Energiebedarf des Planeten abdecken. Die Fläche nutzt eh keiner. Und wenn nicht dort, existieren noch zig andere gewaltige Wüsten. Man müsste nur wollen … Deshalb lob ich mir die Kids von Fridays for Future und der Letzten Generation. Scheiß egal, dass man versucht, die zu instrumentalisieren. Diese Leute haben wenigstens begriffen, was die Doomsday Clock geschlagen hat. Die unternehmen noch was, nicht so wie die steinalten Politiker und Manager, die das nicht mehr betrifft, weil die in zehn bis fuffzehn Jahren eh alle tot sind.“
Zusammen mit einem Ford Transit verließen sie die Südwesttangente auf Höhe der Breslauer Straße. Ein Stück ging es an Feldern vorbei gen Norden (allerdings ohne alternative Energieträger zu sehen), bis die Zahl der Häuser wieder zunahm. Zwei Linksabbiegungen später bogen Mark und Dominik in das Wohngebiet in der Zoppoter Straße ein und hielten Ausschau nach der Anschrift, unter der Richard Fritsche beim Einwohnermeldeamt geführt war. Lang mussten sie danach nicht suchen. Hinter seiner Adresse verbarg sich ein dreistöckiges Mietshaus mit heller Fassade und rotem Ziegeldach. Ein freier Parkplatz fand sich direkt am Straßenrand vor dem Haus.
Sobald Mark eingeparkt hatte, wurde die Umweltschutzdiskussion obsolet. Nun ja, beinahe. Einen letzten Kommentar konnte sich Dominik beim Anblick der freien Dachschrägen nicht verkneifen. „Dort oben wäre definitiv Platz für Solarpanels. Eigentlich könnten wir jedes bundesdeutsche Hausdach damit ausstatten.“
„Mit dem Traum stehst du nicht alleine da. Dein Freund Holger Janssen würde dir bei solch einem Vorschlag um den Hals fallen.“
Dominik verzog das Gesicht. „Von Freund kann hier keine Rede sein. Bei der Geburt von dem Typen wusste der Arzt nicht, wo er draufklopfen sollte. Der ganze Kerl ein Arsch. Ich bin froh, wenn ich nichts mit dem zu tun habe.“
„Und das, obwohl ihr in Sachen Sonnenenergie so sehr übereinstimmt.“
„Wir atmen dieselbe Luft. Das macht uns nicht zu Kumpels. Und wird es nie.“
Zusammen mit Felix blieben die beiden Kommissare vor dem Hauseingang stehen und studierten die Klingelschilder. Fritsches Name war der zweite auf der linken Seite. Mark betätigte den dazugehörigen Knopf, und nur Sekunden darauf ertönte der Türsummer. Auf dem Weg durchs Treppenhaus schwiegen die beiden.
In der zweiten Etage erwartete sie ein kräftig gebauter Mann in den Fünfzigern mit leichtem Bauchansatz und mehr Haaren im buschigen Vollbart als auf dem Kopf. Seine Miene war finster. Irritiert musterte er die Kommissare. Wahrscheinlich wegen des grellbunten Batikshirts, das Dominik trug. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine Befragung, überlegte Mark.
Die beiden zeigten ihre Dienstausweise und stellten sich vor. Der Mann nickte und ließ sie eintreten. „Dachte mir schon, dass es nicht lang dauern würde, bis Sie bei mir auf der Matte stehen. Sind Sie in einem Undercover-Einsatz?“
„Nein, wieso?“, fragte Dominik.
„Ach, ich hatte es nur vermutet. Wegen der Kleidung.“
Die Kommissare tauschten einen Blick. Um wessen Klamotten es ging, lag auf der Hand.
„Das … äh … tut nichts zur Sache“, erwiderte Dominik hastig. „Und wir sind offiziell hier.“
„Sie meinten, dass Sie uns erwartet haben“, übernahm Mark. „Demnach kennen Sie den Grund für unseren Besuch bereits?“
Sie folgten dem Mann zu einer bemerkenswerten Kombination aus Küche und Wohnzimmer. Es war nicht auszumachen, wo das eine aufhörte und das andere begann. Leeres Geschirr gab es überall. Auf dem Tisch vor der Eckcouch entdeckte Mark eine halbleere Bierflasche. Die kleinen Wasserperlen am Flaschenhals bewiesen, dass das Getränk vor noch nicht allzu langer Zeit im Kühlschrank gestanden hatte. Ob es die erste Flasche des Tages war, war schwer zu sagen. Zumindest klang Fritsche nicht schwerfällig oder wirr.
„Ja, ich weiß Bescheid“, bestätigte der Mann, nachdem er sich auf das Eckstück der Couch gesetzt hatte. Durch das Fenster hinter ihm fiel helles Sonnenlicht herein und ließ seinen fast kahlen Schädel glänzen. „Mechthild – Karos Mutter – hat mich angerufen und mir alles erzählt. Ich kann es noch gar nicht glauben. Tot. Ermordet. Wer macht denn so etwas?“
„Genau das möchten wir herausfinden.“ Dominik ließ sich ungefragt auf der anderen Seite der Couch nieder und zückte sein Notizbuch. Nach kurzem Zögern folgte Mark seinem Beispiel und setzte sich auf die Kante. Dann lockerte er Felix’ Leine, damit der Hund den Raum beschnüffeln konnte.
„Wo waren Sie heute Morgen, zwischen sieben und zehn Uhr?“, fragte Mark.
Die Reaktion darauf folgte prompt: „Verdächtigen Sie etwa mich?“
„Im Moment ist jeder verdächtig, der mit ihr in Kontakt stand“, lautete die Antwort, die Mark bei so etwas meistens gab. „Das ist die übliche Vorgehensweise bei einem Tötungsdelikt.“
„Ich habe Karolina nicht getötet!“, wehrte der Mann entrüstet ab.
„In dem Fall haben Sie nichts zu befürchten.“
„Dennoch benötigen wir für unsere Ermittlungen einige Informationen“, warf Dominik ein. „Unter anderem, wo Sie heute Morgen waren.“
„Ich war daheim. Habe im Homeoffice gearbeitet.“
„Kann das jemand bezeugen?“
„Nur die E-Mails, die ich in der Zeit geschrieben habe, können das beweisen. Um halb neun hatte ich einen Webcall. Der hat ungefähr vierzig Minuten gedauert.“
Ein stabiles Alibi war das nicht, fand Mark, doch für den Moment genügte es. Ein dringender Tatverdacht bestand bei Fritsche bislang nicht. „Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?“, fragte er.
Der Witwer reckte das Kinn in die Luft und ließ seinen Blick grübelnd in die Ferne schweifen. „Getroffen habe ich sie seit fünf oder sechs Wochen nicht mehr. Das genaue Datum muss ich in meinem Terminplaner nachschlagen, dort hatte ich es mir eingetragen.“ In einer beinahe obszön wirkenden Bewegung streckte er ihnen seinen Vorderleib entgegen, um besser an das Smartphone in seiner Hosentasche zu gelangen. Mit dem Daumen suchte er auf dem Gerät nach dem entsprechenden Eintrag. „Ah, das ist es. Am Donnerstag, 16. Juni. Das war ein Feiertag, wenn ich mich recht entsinne.“
„Dürfte Fronleichnam gewesen sein“, überlegte Mark, dem das makabre Wortspiel sogleich bewusst wurde. Überdies erinnerte es ihn daran, wo Dominik, Felix und er an jenem Tag gewesen waren: In Erlangen, um beim Comic Salon zu ermitteln. Ein talentierter Künstler war während des Festivals von einer seiner Figuren getötet worden, beziehungsweise von jemandem in der entsprechenden Verkleidung. Bei den Ermittlungen hatte Mark gewaltig unter Zeitdruck gestanden, weil am darauffolgenden Sonntag seine kirchliche Trauung stattfand. Das alles hatte jede Menge Stress verursacht und ihn gewaltig ins Schwitzen gebracht. Kaum zu glauben, dass das schon wieder so lange zurücklag.
Richard Fritsche stimmte der Bemerkung mit einem Nicken zu. „Genau. Danach haben wir gelegentlich telefoniert und Nachrichten geschrieben. Aber das war bloß das übliche Blabla. Da gab es kein böses Blut oder so.“
„Können Sie präzisieren, was Sie mit böses Blut meinen?“, bat Mark.
„Na ja, wir waren nicht sauer aufeinander. Unsere Trennung war nicht irgendwelchen hitzigen Gefühlsausbrüchen geschuldet oder weil einer von uns jemand anderen kennengelernt hat. Es war alles einvernehmlich. Sie war dafür, und ich ebenso. Ich schätze, es hat sich schon lange vorher abgezeichnet.“
Mark war erschüttert, wie abgeklärt der Witwer über seine Ehe sprach. Immerhin ging es hier um die Frau, die er mal geliebt hatte. Der er versprochen hatte, in guten wie in schlechten Zeiten für sie da zu sein. Die jetzt ermordet worden war. Wie abgestumpft und kaltherzig konnte man sein, dass einen das nicht mehr kümmerte?
„Was genau meinen Sie mit lange vorher abgezeichnet?“, hakte Dominik nach.
„Unsere Berufe. Jobs können manchmal echte Beziehungskiller sein. Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man sich knallhart entscheiden muss, was einem wichtiger ist: Liebe oder Karriere? Wir haben uns wohl beide für die Arbeit entschieden.“
„Womit verdienen Sie denn Ihr Geld?“
„Ich bin im Außendienst und viel unterwegs. Schon seit Langem. In manchen Jahren haben wir uns kaum mehr als hundert Tage gesehen, meist bloß am Wochenende. Hin und wieder nicht mal dann, weil Karolina wohin musste oder ich einen Termin hatte. Für eine Ehe ist das auf Dauer pures Gift. Da lebt jeder sein eigenes Leben, und nach einer Weile verliert man die gemeinsamen Berührungspunkte. Im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Dann kümmert es Sie kein bisschen, dass Ihre Frau tot ist?“
„Selbstverständlich kümmert mich das“, rief Fritsche empört. „Ich bin doch kein Unmensch! Die Nachricht hat mich umgehauen. Ich bin noch immer völlig fertig.“
Ja, das sieht man, lag es Mark auf der Zunge. Er verkniff sich die Worte, weil sie ihm zu sarkastisch erschienen. Selten zuvor war er einem Angehörigen begegnet, der nach der Todesnachricht dermaßen ausgeglichen wirkte. Hätte nicht die geöffnete Bierflasche auf dem Tisch vor ihm gestanden, man hätte vermuten können, dass Fritsche gleich noch zu einem Geschäftstermin oder einem x-beliebigen Alltagsereignis fahren würde. Sicherlich waren die Menschen verschieden und jeder ging anders mit Trauer um, dennoch wäre in diesem Fall ein wenig mehr Emotion wünschenswert gewesen, überlegte Mark. Wahrscheinlich hatte Fritsche auf den Vorschlag der Trennung ebenso enthusiastisch reagiert.
Da wirkte sogar Felix mitfühlender, der seine Schnüffelrunde im Wohnzimmer beendet hatte und sich enttäuscht neben ihm auf dem Boden niederließ. Offenbar hatte er nichts Verdächtiges oder seiner Meinung nach Relevantes entdeckt.
„Können Sie sich vorstellen, wer es auf Ihre Frau abgesehen haben könnte?“, fragte Dominik.
„Nicht wirklich. Vielleicht irgendein Kunde, dem die Beratung nicht passte? Oder ein Konkurrent, dem Karo einen wichtigen Fall vor der Nase weggeschnappt hat? Ich habe keine Ahnung. Wir hatten immer die Regel, uns nach Feierabend möglichst nicht über die Arbeit zu unterhalten, weil der Job eh schon viel zu viel Lebenszeit in Anspruch nimmt. Nach der Trennung habe ich noch weniger mitgekriegt. Karo hat nie erwähnt, dass sie mit jemandem im Clinch lag.“
Inzwischen hatte sich Mark zwar an den abgekürzten Namen der Ermordeten gewöhnt und zuckte nicht mehr jedes Mal zusammen. Angenehm fand er es trotzdem nicht. „Gab es bei ihr irgendwelche Veränderungen? Beruflich oder privat?“
„Sie meinen, abgesehen von der Trennung?“ Richard Fritsche wartete einen Moment. Als niemand auf die rhetorische Frage einging, fuhr er fort: „Davon weiß ich nichts. Sie hat für dieselbe Firma wie früher gearbeitet. Ob sich bei ihr privat was getan hat? Also ob sie einen anderen Typen kennengelernt hat? Da fragen Sie den Falschen. So was hätte sie ihrem Ex ganz sicher nicht verraten.“
„Sie hatte doch bestimmt Freundinnen, mit denen sie sich darüber ausgetauscht hat.“
„Sicher hatte sie die, zum Beispiel Raluca Eigenmann und Beatrice Vogel. Ja, die könnten was dazu sagen. Vielleicht auch ein Mitarbeiter von Roeblin. Roeblin Consulting, ihren Brötchengeber. Mit einigen Kolleginnen hat sich Karo gut verstanden. Namen habe ich leider vergessen. Aber die kriegen Sie raus, wenn Sie dort nachfragen.“
„Werden wir machen“, bestätigte Dominik. „Fällt Ihnen noch etwas ein, das Sie uns zu Ihrer Frau mitteilen können?“
„Sie war recht zielstrebig und ein echtes Arbeitstier. Sie hat immer alles zu hundert Prozent gemacht. Larifari war nicht ihre Sache.“
Als die Kommissare aufstanden, erhob sich der Hovawart ebenso. Einen Moment später folgte auch der Witwer. Die Kommissare verabschiedeten sich, und Mark bedankte sich für die Informationen. Er glaubte nicht, dass es hier noch etwas zu besprechen gab. Er war froh, als das Haus hinter ihm lag.
Für die Rückfahrt nach Nürnberg wählten sie eine Strecke über den nördlich gelegenen Frankenschnellweg. Zum Glück ging es mit großen Schritten auf achtzehn Uhr zu und der Verkehrsfluss nahm allmählich ab. Im Gegensatz zu vorhin kamen sie diesmal recht zügig voran.
Wie üblich dauerte es nicht lang, bis Dominik ein neues Gespräch startete. Das Thema Umweltschutz blieb diesmal außen vor. Stattdessen beschäftigte er sich mit einer Auswertung der eben geführten Befragung. Solche Diskussionen hatten bei ihnen Tradition und Mark war schon oft überrascht gewesen, wie unterschiedlich ihre Eindrücke waren. Nicht selten fielen dem einen Dinge auf, die der andere überhaupt nicht bemerkt hatte.
Heute stimmten sie beide allerdings überein, dass der Ehemann der Toten wohl nie einen Preis in Sachen Nächstenliebe gewinnen würde. „Hast du gesehen, wie entspannt der Typ dasaß?“, fragte Dominik. „Als würde es nicht um seine Ex, sondern um einen umgefallenen Sack Reis in Zentralchina gehen. Zuerst dachte ich, das wäre einfach seine Art. Ich sag ja immer wieder, dass wir in einer kalten Welt leben. Doch irgendwas hat mich an dem Typen gestört. Und weißt du, was das war?“
„Vermutlich nicht das gekühlte Bier.“
„Nein, das hat mich eher angelächelt. War mächtig warm in der Hütte. Aber das meine ich nicht. Es war der Spruch, er müsse erst mal im Kalender nachschauen, wann er seine Ex das letzte Mal getroffen hat. Warum sollte man sich so einen Termin eintragen? Wenn ich kacken gehe, schreibe ich mir das auch nicht auf.“
„Vielleicht hatten die zwei was Wichtiges zu besprechen. Oder sie hatten das Datum schon lange vorher ausgemacht. Er sagte ja selbst, dass sie beide viel um die Ohren hatten. Da dürfte es nicht schaden, so was im Voraus zu planen.“
„Das wäre eine Möglichkeit. Oder Fritsche hat sich das absichtlich notiert, weil er wusste, dass ihn jemand danach fragen würde. Ist sehr praktisch, wenn das letzte Treffen schon lange zurückliegt und man dennoch auf den Tag genau nachweisen kann, wann es war.“
„Ein Alibi für die Tat ist es nicht.“
„Nein, in der Tatzeit hat er ja im Homeoffice gearbeitet. Und seine Mails sollen das beweisen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass er heute Morgen auffällig viele Mails verschickt hat. Das kann man zufälligerweise sogar vom Handy aus, genau wie den Webcall. Und wenn Fritsche kein Firmentelefon besitzt, hat er eben einfach seinen Laptop über sein Smartphone verbunden. Dafür einen Hotspot einzurichten, kriege selbst ich hin. Das ist kinderleicht.“
„In dem Fall hat er eine Datenspur hinterlassen, die wir nachweisen können.“
„Vom Provider bekommen wir bloß den Funkzellenabgleich seines Mobiltelefons. Und wenn er sich noch ein Gerät besorgt hat, von dem wir nichts wissen?“
„Dann wird uns das über die generelle Funkzellenortung für das ganze Tatortgebiet angezeigt. Irgendwo finden wir schon eine Spur von ihm. Aber glaubst du wirklich, dass er der Täter ist?“
„Nicht unbedingt. Aber ich schließe die Möglichkeit nicht aus, wie du dem Typen ja selbst erklärt hast. Im Moment ist jeder verdächtig, der die Tote kannte.“
Sie verließen die Stadtautobahn an der Ausfahrt An den Rampen, wo es sich erfahrungsgemäß immer staute. Von dort aus ging es über Haupt- und Nebenstraßen zum Businessareal Tullnau-Park, nicht weit von der Wöhrder Wiese entfernt. In diesem Gebiet kannte sich Mark bestens aus und wusste genau, welche Wege er nehmen und welche er um diese Uhrzeit lieber meiden sollte.
Skeptisch war er eher in anderer Hinsicht. Inzwischen war es nach sechs. Viele Leute befanden sich um diese Zeit längst im wohlverdienten Feierabend. „Meinst du, bei der Consulting Firma ist jetzt überhaupt noch jemand da?“, erkundigte er sich besorgt bei Dominik.
Sein Partner lachte auf. „Klar, die Karrieretiere arbeiten doch alle länger. Von denen verschwindet keiner nach Hause, bevor der Chef nicht gegangen ist.“
„Ähm … Karolina war die Geschäftsführerin des Nürnberger Büros.“
„In dem Fall ist die Chefin definitiv gegangen. Trotzdem ist bestimmt jemand da. Wir brauchen auch keine Vollbesetzung. Der obere Angestelltenkreis reicht völlig. Für den Anfang jedenfalls.“
Mark war beeindruckt, wie überzeugt sein Partner war. Zumindest bis dieser nach kurzem Innehalten noch einen Satz hinzufügte: „Falls wider Erwarten alle weg sind, unterhalten wir uns mit dem Reinigungspersonal. Die Leute kriegen eh deutlich mehr mit, als man annimmt.“
Sie wechselten vom Prinzregentenufer zum Wöhrder Talübergang. Links von ihnen befand sich der funkelnde Wöhrder See, auf dem etliche Wasserfans mit ihren Booten unterwegs waren. Mark warf ihnen im Vorbeifahren einen flüchtigen Blick zu und setzte den Blinker, um in die Kressengartenstraße einzubiegen. Der Straßenname erinnerte ihn sogleich an einen anderen, noch nicht lang zurückliegenden Fall. Es war im April gewesen, als eine Reihe mysteriöser Todesfälle sie ganz schön auf Trab gehalten hatte. Eine wichtige Spur hatte ihn und Dominik in diese Straße geführt, zu einem Supermarkt, um genau zu sein.
Auch heute lag ihr Ziel in diesem Gebiet, allerdings ein gutes Stück vor dem Discountladen. Mark bremste ab und lenkte den Passat zum Businessareal am Tullnau-Park. Allein dass sich die Einfahrt dazu direkt neben einer Niederlassung von Daimler Benz befand, war ein Statement für sich. Insbesondere dafür, welche Klientel man hier erwartete.