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Das Trio mit zwei Pfoten ist zurück. In ihrem fünften Fall untersuchen Mark, Felix und Dominik den Mord an Familienvater Christoph Schwarz, der erst vor kurzem mehrere Millionen Euro im Lotto gewonnen hat. Zunächst glauben die Ermittler an einen unglücklichen Zufall, aber das ist, bevor sie herausfinden, dass der Mann kurz vor seiner Ermordung eine beträchtliche Summe Bargeld abhob und seine Ehefrau und Tochter nicht die einzige Familie waren. Wurde Schwarz vielleicht das Opfer eines schiefgelaufenen Erpressungsversuchs oder steckt etwas völlig anderes dahinter?
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Seitenzahl: 443
Kurzbeschreibung: Das Trio mit zwei Pfoten ist zurück. In ihrem fünften Fall untersuchen Mark, Felix und Dominik den Mord an Familienvater Christoph Schwarz, der erst vor kurzem mehrere Millionen Euro im Lotto gewonnen hat. Zunächst glauben die Ermittler an einen unglücklichen Zufall, aber das ist, bevor sie herausfinden, dass der Mann kurz vor seiner Ermordung eine beträchtliche Summe Bargeld abhob und seine Ehefrau und Tochter nicht die einzige Familie waren. Wurde Schwarz vielleicht das Opfer eines schiefgelaufenen Erpressungsversuchs oder steckt etwas völlig anderes dahinter?
Sören Prescher
Der unglückliche Glückspilz
Der fünfte Fall für Mark und Felix
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2021 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2021 by Sören Prescher
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.
Covergestaltung: Designomicon, München.
Lektorat: Susann Harring
Korrektorat: Vera Baschlakow
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-383-0
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Sonntag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Montag
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Dienstag
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Mittwoch
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Donnerstag
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Freitag
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Samstag
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Nachwort und Danksagung
Playlist
So wundervoll die Zeit mit einem Hund auch war, es gab weiß Gott Schöneres, als an einem nasskalten Februarvormittag durch den Wald zu stapfen. Vor allem, wenn der Vierbeiner mal wieder dermaßen energiegeladen war, dass Herrchen kaum hinterherkam. Über am Boden liegende Äste, durchs Gestrüpp, zwischen den Bäumen hindurch, selbst wenn der Abstand nicht mal einen halben Meter betrug. Dem Hund war das egal.
Zum Glück lag kein Schnee, und die Temperatur bewegte sich über dem Gefrierpunkt. Wenigstens etwas.
„Nicht so schnell, Rupert“, rief Gerold Trews seinem Beagle hinterher, doch die Fellnase ließ sich selbst davon nicht beeindrucken. Dass die Tiere viel Auslauf und Bewegung brauchten, wusste Gerold. Das hatte er bei der Abholung vom Züchter bereitwillig akzeptiert. Das Problem war nur, dass Gerold vor acht Jahren von der Kondition her noch ein ganz anderer Mensch gewesen war. So ein Herzinfarkt veränderte vieles, wenn nicht gar alles. Inzwischen war er pensioniert und sollte seinen Lebensabend eigentlich gemütlich und ohne Stress verbringen. Aber sag das mal einer dem Hund! Der Beagle preschte unaufhaltsam vorwärts, so als hätte er noch einen Termin, zu dem er nicht zu spät kommen durfte. Vielleicht ein Mittagessen mit einer hübschen Collie-Dame? Oder trainierte Rupert möglicherweise für einen Marathon, von dem Herrchen nichts mitbekommen hatte?
Plötzlich raschelte und knackte es nicht weit entfernt im Unterholz. Gerold drehte sich nach links und kniff die Augen zusammen. Zu sehen war zwischen den kahlen Baumstämmen nichts. Bloß ein Wildtier, sagte er sich. Dann erinnerte er sich daran, dass es Anfang Februar war und zu der Zeit die meisten Waldbewohner für gewöhnlich ihren Winterschlaf hielten. Zumindest hatten sie das getan, ehe die Erderwärmung ihren Biorhythmus komplett durcheinandergebracht hatte. Möglicherweise war es daher also doch ein aufgescheuchter Hase oder ein Reh. Von Wildschweinen wusste er im Erlenstegener Forst jedenfalls nichts.
„Rupert, nicht so schnell“, mahnte Gerold erneut.
Keine Reaktion. Selbst das Knacken und Rascheln schien den Beagle wenig zu beeindrucken. Er jagte weiter unaufhaltsam vorwärts, sodass Gerold es fast schon bereute, den Vierbeiner ohne Leine herumstromern lassen zu haben. Wenn ihm Rupert hier ausbüxte, könnte er ewig und drei Tage nach ihm suchen.
Da half nur, ihm hinterherzulaufen. So als wäre er ein Kommissar und der Hund ein flüchtiger Ganove. Wie in dem Fantomas-Film mit Louis de Funès und Jean Marais, den Gerold gestern Abend gesehen hatte. War es da nicht auch um eine Jagd durch den Wald gegangen? Allerdings hatten der Kommissar und seine Leute da Pferde gehabt. Damit wäre er jetzt eindeutig schneller unterwegs.
Bei der Vorstellung, er könnte wie der Kommissar im Film sein, begann Gerold zu schmunzeln. So gern er Louis de Funès auch mochte, so hektisch und nervös wie der kleine Franzose wollte er lieber nicht sein. Schon allein aus Rücksicht auf sein angeschlagenes Herz.
Es raschelte erneut im Geäst, diesmal näher. Gerold wurde langsamer und lauschte. Nichts zu hören außer den Geräuschen, die Rupert und er verursachten. Trotzdem wurde er allmählich nervös. Was, wenn sich außer ihnen noch jemand im Wald aufhielt?
Wahrscheinlich bloß ein Jogger oder einer dieser Nordic Walker mit den komischen Skistöcken. Aber was, wenn nicht?
Erneut dachte er an Fantomas. In den Krimis lauerten die Bösewichte überall. Doch was sollten sie am Waldrand zu tun haben? Zu klauen gab es hier nichts außer Holz, und auch solch ein Diebstahl machte im Spätwinter keinen Sinn.
Als das Rascheln nicht nachließ, blieb Gerold stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Er versuchte, die Laute zu lokalisieren und zuzuordnen. Einige Sekunden verstrichen, dann glaubte er die Richtung der Geräusche entdeckt zu haben. Links von ihm bewegten sich einige Sträucher. Morsche Äste knackten. Zu sehen war nach wie vor niemand.
Halt, stopp!
Da hinten war was. Etwas Kleines, Braunes. Es kam näher und entblößte zwei lange, abstehende Ohren. Also doch bloß ein Hase. Und das im Februar.
Gerold atmete auf. Seine Unruhe verwandelte sich in Erleichterung. Einen Moment lang war ihm sogar, als würde er Fantomas’ spöttisches Lachen hören. Kaum zu glauben, dass er wegen eines Mümmelmanns dermaßen nervös geworden war.
Das Waldtier kam näher, und für einen Atemzug blickten sich Gerold und der Hase direkt in die Augen. Dann knackte es abermals im Unterholz – diesmal weiter vorne und sicherlich verursacht von Rupert –, und der Moment war vorüber. Meister Lampe verschwand abrupt im Unterholz, und Gerold machte mit dem weiter, was er vorher getan hatte: einen gewissen Beagle verfolgen.
Rupert schien einen ähnlichen Gedanken gehegt zu haben und bellte lautstark. Einmal. Zweimal. Nach kurzer Pause ein drittes Mal. Offenbar kam Herrchen nicht schnell genug in die Puschen.
„Bin ja schon unterwegs“, versicherte Gerold und erhöhte die Laufgeschwindigkeit. Wieder durch das Gestrüpp und zwischen den engen Bäumen hindurch, erneut mit einem Ohr auf die Geräusche achtend.
Der Hund bellte unablässig, jetzt stärker, lauter, energischer.
Das half Herrchen bei der Orientierung. Er eilte an einigen blattlosen Sträuchern vorbei und sprang beherzt über eine abgesägte Baumwurzel. Nicht nur das Bellen kam näher, auch Rupert kam auf ihn zu. Jedoch nicht, um Herrchen zu begrüßen, sondern anscheinend, um sicherzustellen, dass dieser ihm folgte. Denn kaum, dass Gerold ihn erblickt hatte, machte der Vierbeiner kehrt und verschwand aufgeregt bellend zwischen den Büschen.
Mit einem tiefen Seufzer folgte Gerold ihm dorthin und stockte dann unvermittelt. Auf dem mit braunen Nadeln bedeckten Erdboden lag jemand. Ein Mann. Er rührte sich nicht.
Die Erkenntnis traf ihn so unvermittelt, dass er rückwärts taumelte. Seine Schuhsohlen, die ohnehin kein gutes Profil besaßen, rutschten unter den feuchten Nadeln weg. Einen Moment lang verlor Gerold das Gleichgewicht und krallte sich im letzten Moment an einem der Sträucher fest.
Sein Herz raste. Sein Mund wurde trocken. Den Blick hielt er auf den Körper gerichtet.
„Hallo? Geht es Ihnen gut?“
Was für eine blöde Frage. Offensichtlich ging es dem Typen nicht gut. Ganz im Gegenteil sogar.
Gerold überlegte, auf ihn zuzugehen und nach Vitalzeichen zu suchen. Im Fernsehen taten sie das immer. Aber ebenfalls aus dem Fernsehen wusste er, dass er mit derartigen Aktionen den Tatort verunreinigen würde. In der Glotze regte ihn die Dummheit der Passanten jedes Mal auf. Deshalb blieb er, wo er war, und beugte sich lediglich nach links und rechts.
Das genügte, um Gewissheit zu erlangen. Er brauchte nicht mehr zu überprüfen, ob der Mann noch lebte. Die klaffende Wunde an seinem Hals war ein ziemlich triftiges Argument für das Gegenteil. Genauere Einzelheiten erkannte er nicht – und wollte es auch gar nicht. Zwar war es nicht der erste Tote, den er sah, dafür aber der erste Ermordete. Darauf hätte er gerne verzichtet.
Während er den toten Körper betrachtete, glaubte er von irgendwoher erneut das spöttische Lachen von Fantomas zu hören. Natürlich war das Quatsch, egal wie passend es jetzt gewesen wäre.
Gerold Trews atmete tief durch und sammelte seine Gedanken. Was war in so einem Fall zu tun? Am besten nichts anfassen und nirgends herumtrampeln, sondern dafür sorgen, dass niemand anderes vor dem Eintreffen der Polizei den Tatort betrat. Zum Glück hielt sich im Augenblick niemand in der Nähe auf.
Polizei.
Das war ein gutes Stichwort!
Er pfiff Rupert zu sich, und diesmal gehorchte der Hund aufs Wort. Gerold zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und betete, dass er hier draußen überhaupt Empfang haben würde. Er erblickte zwei Balken auf dem kleinen Bildschirm. Das war nicht viel, genügte jedoch. Mit zitternden Fingern wählte er die 110.
Kriminaloberkommissar Mark Richter schnarchte leise auf dem Sofa, als das Telefon klingelte. Mit einem Auge linste er benommen zum Beistelltisch. In seinem trüben Blick wirkten die Gegenstände auf dem Tisch wie leere Schnapsflaschen und sonstige Party-Utensilien. Entsprechend fertig fühlte er sich auch. Nach einigem Blinzeln stellte sich das Bild scharf, und er erkannte, dass es sich nicht um Alkoholika, sondern jede Menge Babyzubehör handelte. Ein Pulverportionierer, zwei Milchfläschchen, ein Spucktuch und allerlei Kleinkinderspielzeuge. Eine zwanzig Zentimeter große Gummigiraffe stand schadenfroh grinsend da. Dem blöden Tier ging es eindeutig zu gut.
Mark hingegen fühlte sich, als hätte ihn zuerst ein Lkw frontal erwischt, bevor ihn eine Planierraupe endgültig plattgemacht hat. Zu gern hätte er das Klingeln des Telefons ignoriert und wieder die Augen geschlossen. Immerhin war es Caro und ihm nach zähem Kampf vorhin endlich gelungen, Nathalie zu einem vorgezogenen Mittagschlaf zu überreden. Seine Frau hatte die Chance genutzt, sich ebenfalls im Schlafzimmer hinzulegen. Mark hatte noch kurz überlegt, die angenehme Stille für ein paar Seiten in einem Roman, einen coolen Film oder irgendeine der anderen Freizeitaktivitäten zu nutzen, die ihm früher Spaß gemacht hatten. Nach kurzem Abwägen der Möglichkeiten war er allerdings zu dem Entschluss gekommen, dass eine Mütze voll Schlaf viel besser war, und hatte es Caro gleichgetan.
Von wegen, dass Babys mit drei Monaten nachts länger schliefen, wie es die App auf Caros Smartphone verkündet hatte. Alles Lüge! Nach Marks Empfinden war das genaue Gegenteil der Fall. Zwei Unterbrechungen pro Nacht waren aktuell Minimum. Morgens war länger Liegenbleiben ebenfalls keine Option. Früher hatten Caro und er den Sonntagmorgen für gründliches Ausschlafen und ein gemütliches Frühstück genutzt. Mittlerweile war Mark schon froh, wenn Nathalie bis um sieben ruhig blieb. Und wenn sie mal so lange aushielt, war es in der Regel der Hovawart Felix, der winselnd an der Wohnungstür scharrte, weil ihn ein dringendes Bedürfnis plagte. So oder so, am Ende verlor Mark jedes Mal.
So wie jetzt.
Das Klingeln schwoll an, und er beeilte sich, nach dem schnurlosen Apparat auf dem Tisch zu greifen. Nicht, dass drüben im Schlafzimmer die Babysirene wieder anging. Außerdem könnte der Anruf ja wichtig sein. Vielleicht von der Arbeit. Immerhin hatte er dieses Wochenende Bereitschaft.
Und wirklich: Die Nummer auf dem Display kam ihm sehr vertraut vor. Es war die Leitstelle des Präsidiums. Offenbar stand neue Arbeit an. Der Gedanke daran vertrieb die Müdigkeit nur unwesentlich.
„Hallo?“, meldete er sich mit rauer Stimme.
Mark räusperte sich leise, während ihm der KDD-Koordinator von einem neuen Fall im Erlenstegener Forst berichtete. Er hatte Mühe, sich auf die Worte zu konzentrieren.
„Ich mach mich gleich auf den Weg“, bestätigte Mark mit schwerer Zunge. Obwohl die Wanduhr an diesem Sonntagvormittag noch nicht mal elf Uhr geschlagen hatte, war das Wochenende hiermit offiziell beendet.
Nachdem im Schlafzimmer alles ruhig blieb, hatte das Telefonat seine beiden Mädels offenbar nicht geweckt. Mark verzichtete aufs Nachschauen, sondern schrieb bloß eine Nachricht, bevor er sich anzog und mit Felix auf leisen Sohlen die Wohnung verließ. Auf dem Weg zum Dienstwagen tastete er mehrmals die Hosen- und Manteltaschen ab, um sicherzugehen, dass er alle benötigten Utensilien bei sich trug. Dank der hartnäckig anhaltenden Müdigkeit ging er lieber auf Nummer sicher.
Gähnend lenkte er den dunkelgrünen Passat auf die Straße und drehte die Musik im Autoradio weit auf. Ein energiegeladener Rocksong wäre Mark äußerst willkommen gewesen. Stattdessen spielte Wild FM das von Noel Gallagher mit verschlafener Stimme gesungene Oasis-Lied Sunday Morning Call. Das war ebenfalls passend, nur anders. Mark nickte den Takt der eingängigen Melodie mit und war froh, als das Präsidium in Sicht kam. Wenn Dominik noch nicht da ist, könnte ich mir oben einen Kaffee holen, überlegte er. In neunzig von hundert Tagen traf sein Partner erst nach ihm ein.
Heute war natürlich einer von den verbleibenden zehn Tagen. Als Mark auf den Parkplatz im Hinterhof einbog, stieg der Kollege gerade aus seinem verbeulten alten BMW Z3. Es trug nicht unbedingt zur Verbesserung von Marks Laune bei. Ebenso wie das verschmitzte Lächeln, mit dem sich Dominik auf dem Beifahrersitz niederließ. Es erinnerte ein wenig an das der Gummigiraffe in der Wohnung.
„Servus, mein Alter. Du siehst ziemlich fertig aus. Und anscheinend ist dein Rasierer kaputt“, begrüßte er ihn. Ausgerechnet er.
„Es ist Wochenende“, sagte Mark kurz angebunden und strich sich über die stoppeligen Wangen. Er kam sich vor wie ein Penner, der in der Gosse aufgewacht war. Wahrscheinlich trug er irgendwo Babykotze auf der Kleidung und wusste es bloß nicht. Besonders die Schultern waren ein gern gewähltes Ziel dafür.
„Läuft es mit Nathalie immer noch nicht besser? Vielleicht solltest du ihr abends einen warmen Hopfenmalztee verabreichen. Danach schläft sie durch bis früh um neun.“
„Ganz tolle Idee. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?“
„Das frage ich mich auch.“
Mark überhörte die Bemerkung und lenkte den Wagen auf die Straße zurück. Sie fuhren am Frauentorgraben entlang in Richtung Bahnhof. Einige Sekunden herrschte Ruhe, und Mark hätte kein Problem damit gehabt, diese bis zum Zielort beizubehalten. Aber wie üblich tat ihm Dominik diesen Gefallen nicht. Da er über den aktuellen Leichenfund nicht mehr wusste, als der Koordinator auch seinem Kollegen mitgeteilt hatte, nutzte Dominik sogleich die Chance, ungefragt von seinen Wochenendaktivitäten zu berichten.
Schon bei dem Satz „Gestern bin ich endlich mit meiner Mission fertig geworden“ hielt Mark den Atem an. Der Begriff Mission war ziemlich weit gefächert und konnte bei Dominik ziemlich viel bedeuten. Von einer privaten Undercover-Mission bis zu einer lang vor sich hergeschobenen Fleißarbeit. Bei seinem Partner war praktisch alles möglich.
Dieses Alles war es auch, wovor Mark sich fürchtete. Und das nicht grundlos. Dieses Alles war es, was Dominik vor nicht ganz drei Wochen eine Festnahme unter Mordverdacht eingebrockt hatte. Die hatte Mark zwar schließlich entkräften können, doch das bedeutete längst nicht, dass die Angelegenheit damit komplett vom Tisch war. Die internen Ermittlungen wurden zwar nicht mehr mit dem gleichen Eifer wie zuvor verfolgt, komplett abgeschlossen waren sie aber keinesfalls. Noch immer durchleuchteten die Spürnasen aus München jeden Winkel von Dominiks Leben, um sicherzustellen, dass kein weiteres Fehlverhalten vorlag.
Nach der Haftentlassung hatte Dominik auch nicht sofort wieder zum Dienst antreten dürfen, sondern war erst einmal anderthalb Wochen in den Zwangsurlaub geschickt worden, damit die Wogen sich glätteten und der Fall zumindest in Sachen Mord-Ermittlungen und damit zusammenhängender lückenloser Dokumentation abgeschlossen werden konnte. Seit ein paar Tagen kam er nun wieder zur Arbeit, allerdings erst mal nur auf Probe, um zu schauen, ob es für ihn und für das Präsidium weiterhin funktionierte. Wie es danach weiterging, würde sich zeigen. Dies trug sicherlich ebenfalls nicht zur Entspannung bei, selbst bei einem rigorosen Dickschädel wie Dominik. Aber auch abgesehen von dieser zusätzlichen Belastung war es irgendwie nicht mehr so wie früher.
Mark selbst war unschlüssig, woran es lag. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Mordermittlungen gegen seinen Partner eine Art unsichtbare Mauer zwischen ihnen errichtet hatten. Gewollt hatte er das sicher nicht, war jedoch unschlüssig, wie sie diese Barriere überwinden könnten. Möglicherweise überdramatisierte er die Angelegenheit, und es handelte sich bloß um eine Mischung aus schlafmangelbedingter Nervenüberreizung und einem behutsamen Miteinanderumgehen, um keinesfalls etwas falsch zu machen. Zu Felix verhielt sich Dominik ganz normal und hatte ihm neulich sogar ein Päckchen feinsten Metzgerschinken mitgebracht, den er angeblich in seinem Kühlschrank gefunden hatte. Dem Hund hatte es geschmeckt, und die Welt war wieder in Ordnung gewesen. Mark wünschte, für ihn könnte es genauso einfach sein.
„Na ja, Mission ist wohl ein zu starkes Wort dafür“, fuhr Dominik fort. „Es war eher eine gewisse Notwendigkeit. Kommt ja schließlich nicht jeden Tag vor, dass bei einem in die Bude eingebrochen und alles verwüstet wird. Da will man schon wissen, was die Halunken alles in den Pfoten hatten. Das Aufräumen ist bei so was ja der geringste Teil.“
Mark atmete auf. Wenigstens keine heimlichen Überwachungen dieses Wochenende. Vermutlich würde das kein Dauerzustand bleiben. „Und zu welchen Erkenntnissen bist du gekommen?“
„Nur, dass es praktisch keine Wohnung im Umkreis gibt, die komplett einbruchssicher ist. Du kannst jede Menge Überwachungstechnik und Alarmanlagen installieren, vor einem Einbruch schützt dich das trotzdem nicht. Im besten Fall bist du danach klüger, worauf es die Halunken abgesehen hatten. Aber das wusste ich in dem Fall ja schon vorher. Auf jeden Fall habe ich die Chance genutzt, mal ordentlich großreinezumachen und einiges auszumisten.“
„Ich hoffe, bei der Gelegenheit hast du die Pinnwände gleich mit entsorgt. Abmontiert hatte ich sie dir ja freundlicherweise bereits.“
Sofort hatte er die drei Korktafeln vor Augen, auf denen Dominik jede Menge Fotos, Landkartenausschnitte und Zeitungsartikel über Verschwörungstheorien zusammengetragen hatte. Mark bezeichnete sie insgeheim gerne als Wand des Wahnsinns.
„Na, so weit würde ich jetzt nicht gehen. Die Sachen darauf erfüllen schon ihren Zweck. Zu deiner Beruhigung: Die Unterlagen über Juliane Gerboth habe ich ad acta gelegt. Diese heiße Spur ist leider erkaltet.“
„Diese heiße Spur hat dich fast hinter Gitter gebracht“, erinnerte Mark seinen Partner.
Dominik wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Mit der hatte ich ja nachweislich nichts am Hut. Davon abgesehen hören die Pantokratoren nicht auf zu existieren, nur weil eines ihrer Mitglieder ausgeschieden ist.“
„Die Frau ist nicht ausgeschieden, sondern wurde ermordet! Und was den Geheimbund betrifft: Wenn er so mächtig ist, wie du immer behauptest, solltest du mit deinen sogenannten Recherchen zukünftig vielleicht etwas vorsichtiger umgehen. Damit du kein weiteres Mal in die Schusslinie gerätst.“
Noch deutlicher konnte Mark nicht werden. Auf keinen Fall wollte er ihm von dem Treffen mit dem alten Pantokratoren-Mann am Abend vor seiner Haustür erzählen. Das war erstens im Zuge der Ermittlungen gewesen und hätte zweitens bloß neues Wasser auf Dominiks Mühlen gegossen. Auch aus dem Grund hatte er diesen Aspekt des Falls in seinem Bericht komplett außen vor gelassen. Es hätte die Situation in keinerlei Hinsicht besser gemacht.
Inzwischen hatten sie den Bahnhof hinter sich gebracht und steuerten weiter gen Norden. Am Rathenauplatz bogen sie nach rechts auf die Hauptstraße ab und folgten ihr hinaus zum Stadtende. Viel Verkehr herrschte an diesem Sonntag nicht, und sie kamen gut voran.
„Don’t panic, ich werd schon aufpassen. In meine Bude jedenfalls wird so schnell keiner mehr unbemerkt einsteigen. Ich habe da einiges präpariert und merke es sofort, wenn jemand ohne mein Wissen eindringt. Außerdem habe ich alle wichtigen Sachen doppelt und dreifach gesichert. Aber das hatte ich ja vorher auch schon. Meine Whisky-Vorräte habe ich gestern übrigens auch aufgefüllt.“
„Für die Einbrecher?“
„Haha. Sehr witzig. Eher für mich und etwaige Gäste. Wenn du mal wieder vorbeischauen willst. Gestern Abend lief Fantomas in der Glotze. Das hätte dir sicherlich auch gefallen.“
„Zu der Zeit hatte ich Wichtigeres zu tun. Schlafen zum Beispiel.“
„Merkt man gar nicht.“
Als sie den Stadtteil Erlenstegen erreichten, drosselte Mark die Geschwindigkeit und hielt Ausschau nach dem Abzweig zur Günthersbühler Straße. Die ungefähre Strecke kannte er, den Rest erledigte das Navi. Sie fuhren eine kleine Anhöhe hinauf und folgten dem Weg in ein gut situiertes Viertel mit jeder Menge Einfamilienhäusern vorbei, von denen der Großteil von opulenten Gärten umgeben war. Dazu, hier zu wohnen, musste vermutlich niemand gezwungen werden.
„Hübsche Hütten, sehen nicht nach Bausparkasse aus“, stellte Dominik fest, als sie rechts an einer üppigen zweistöckigen Villa vorbeirollten. „Hier wohnen bestimmt ganz arme Leute.“
„Trotzdem schützt sie das vor Mordfällen nicht, wie man sieht.“
An einer Weggabelung entschieden sie sich für den linken Abzweig und ließen wenig später die letzten Häuser hinter sich. Das Waldgebiet des Erlenstegener Forsts begann und wurde von unzähligen Bäumen links und rechts am Straßenrand begleitet. Ein Ende des Dickichts war nicht zu sehen, das grelle blaue Leuchten auf den Dächern der Streifenwagen hingegen erblickten sie schon aus großer Entfernung. Mark parkte den Passat hinter dem VW-Transporter der Kollegen direkt an der Straße.
Beim Aussteigen kroch ihm der angenehme Duft der Bäume und Sträucher in die Nase. Das vertrieb viel von seiner Müdigkeit, den Rest erledigten die niedrige Temperatur und der Dunst in der Luft.
„Ah, Natur“, bescheinigte Dominik und streckte sich. „Riecht ungewohnt. Irgendwas fehlt. Sind es die Abgase? Oder der Lärm?“
Während sich sein Partner irritiert umschaute, ließ Mark Felix aussteigen und leinte ihn an. Der Hovawart schnupperte ebenfalls skeptisch, gewöhnte sich aber deutlich schneller als manch anderer an die neue Umgebung. Zu dritt folgten sie der Straße, bis sie auf weitere Kollegen trafen. Ein uniformierter Streifenpolizist stand vor dem hellgelben Rettungswagen mit ausgeschaltetem Blaulicht und sprach in sein Funkgerät. Ein anderer hielt mit beiden Händen eine ausgebreitete Straßenkarte und suchte vermutlich nach ihrem genauen Standort. In Zeiten von Navis und GPS mutete dieser Anblick etwas altmodisch an. Schon seltsam, wie schnell man sich an die neue Technik gewöhnte, überlegte Mark und trat auf den Mann zu.
„Servus, Leute, wir haben die Meldung gekriegt, dass ihr hier ’ne neue Leiche habt?“ Da er die zwei Kollegen nicht kannte, zeigte er brav seinen Dienstausweis vor. Dominik tat es ihm gleich.
„Ja, da hinten. Circa zweihundert Meter von hier.“ Er wies auf eine Stelle links im Wald, an der außer Bäumen und Sträuchern nichts anderes zu sehen war. „Ein Rentner hat sie gefunden. Wollte mit seinem Hund Gassi gehen. Also, der Rentner, nicht die Leiche.“
„Gut, dass Sie das klargestellt haben.“ Mark betrat den schmalen Trampelpfad hinter den Streifenwagen. So ausgewalzt wie der Weg an beiden Seiten bereits war, waren sie definitiv nicht die Ersten, die ihn kürzlich genommen hatten. Und anscheinend hatten die Personen davor schweres Gepäck bei sich geführt. Vermutlich die Leute von der Spurensicherung mit ihren Utensilienkoffern und Schutzanzügen. Oder jemand, der da einen Leichnam entlanggeschleift hatte. Blutspuren entdeckte Mark auf den ersten Blick keine.
So als hätte Felix seine Gedanken gelesen, schnupperte der Vierbeiner eifrig am Waldboden. Etwas Ungewöhnliches schien es nicht zu geben. Sein Hinterbeinchen hob er trotzdem zur Reviermarkierung. Eine solche Gelegenheit konnte man sich als Hund offenbar nicht entgehen lassen. Dominik stapfte hinter ihnen her und zerstörte die Stille um sie herum, indem er äußerst geräuschvoll ein Bonbon entpackte und dann – ebenso geräuschvoll – daran zu lutschen begann.
Herrlich.
Zum Glück mussten sie sich nicht nach Kollegen umschauen. In den weißen Anzügen und den Blitzlichtern ihrer Spiegelreflexkameras fiel das Team der Spurensicherung schon von Weitem auf. Da zwei Streifenpolizisten noch mit dem Absperren des Fundorts beschäftigt waren, waren die Arbeiten hier anscheinend noch nicht allzu lang im Gange. Vermutlich aus demselben Grund verkniff sich Nicole Rösler auch die frechen Bemerkungen, die sie gerne vom Stapel ließ, wenn das Auftauchen der Herren Kommissare mal wieder auf sich warten lassen hatte. „Hallo, Jungs, schön, dass ihr es einrichten konntet“, sagte sie stattdessen. Das war ebenfalls schnippisch, gehörte aber einfach dazu. Irgendwie.
„Du weißt doch, wir lassen uns extra immer etwas Zeit, damit wir nicht deine wertvollen Spuren zerstören“, erwiderte Mark.
Die attraktive Enddreißigerin mit dem brünetten Pferdeschwanz klopfte sich die Erde von den Knien ihres Schutzanzugs und kam auf sie zu. Nicole trug ihren Kopfschutz nicht und hatte von der Kälte bereits rosige Wangen. „Das ist zu nett. Aber ich weiß ja, dass ihr euch vorseht. Da kenne ich ganz andere Leute. Selbst mit einer Augenbinde würde sich Felix wahrscheinlich umsichtiger bewegen.“
Sie ging neben dem Hovawart in die Hocke, um dem Hund seine übliche Dosis Rückenkraulen zu verpassen.
„Hast du gehört, das war ein Lob“, sagte Mark an den Vierbeiner gewandt. „Für uns alle.“
Der Vierbeiner hob nicht mal den Kopf.
„Gibt es denn überhaupt was niederzutrampeln?“, fragte Dominik. „Ihr habt hier ein ziemlich großes Feld abgesteckt, aber Markierungen sehe ich keine.“
„Bisher haben wir nicht viel. Keine Schuhabdrücke, und Reifenspuren halte ich so weit im Wald für unwahrscheinlich. Weiter hinten gibt es ein paar Schleifspuren oder das, was wir dafür halten. Mal schauen, was wir dazu rauskriegen.“
„Wer ist überhaupt gestorben? Und auf welche Weise?“
Nicole stand wieder auf. „Das wissen wir ebenfalls noch nicht. Der Tote trug keine Ausweispapiere bei sich. Wie er gestorben ist, kann euch Ziegler besser erklären.“
Mark riskierte einen unauffälligen Blick an seiner Kollegin vorbei. Er erspähte ein halbes Dutzend Leute von der Spurensicherung, den Gerichtsmediziner jedoch nicht. „Wo steckt denn der Doc?“
„Der ist noch nicht da.“
„Wie, der ist noch nicht da?“, fragte Dominik. „Das ist ja ’ne Premiere. Sonst ist er immer als Erster am Tatort. Gefühlt sogar noch vor der Leiche.“
Auch Mark fiel so spontan kein einziges Beispiel ein, bei dem der Rechtsmediziner bei ihrer Ankunft nicht schon vor Ort gewesen war.
„Ziegler hat gesagt, er kommt später. Er meinte, er müsste nach dem Anruf noch kurz nach Hause, um sich umzuziehen. Weil er vorher bei einem Brunch war. Er dürfte gleich da sein.“
Dominik runzelte die Stirn. „Seit wann muss man sich denn nach einem Brunch umziehen?“
„Das kannst du ihn gleich selbst fragen. Dort hinten kommt er.“
Nicole wies mit dem Kinn nach vorne. Zeitgleich drehten sich die beiden Kommissare um und erblickten einen Mann in den Fünfzigern mit kurzen grauen Haaren und herabhängenden Mundwinkeln, der in hastigen Schritten auf sie zukam. In der rechten Hand trug er einen schwer aussehenden schwarzen Lederkoffer.
„Hallo, Leute“, keuchte er. „Sorry für die Verspätung. Was haben wir hier?“
„Einen Toten“, sprach Dominik das Offensichtliche aus. „Wie war der Brunch?“
Ziegler überhörte die Frage und ging an ihnen vorbei auf die etwa zehn Meter entfernt liegende Leiche zu. Die anderen folgten ihm. Der Mann am Boden hatte kurze schwarze Haare mit grauen Schläfen und einen fein ausrasierten und bemerkenswert dichten Vollbart. Mark schätzte das Alter auf Anfang bis Mitte vierzig, also nur wenige Jahre älter als er selbst. Der Blick der toten braunen Augen war matt und starr auf einen unbestimmbaren Punkt in der Ferne gerichtet. Zusammen mit dem offen stehenden Mund sah es aus, als wäre der Tote bei etwas überrascht worden. Dabei hatte Letzteres üblicherweise eher mit dem Erschlaffen der Kiefermuskeln zu tun. Der Tote trug eine blaue Jeanshose, einen purpurnen Pullover und darüber eine offene schwarze Winterjacke.
„Ohne mich zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen“, sagte Nicole. „Ich schätze, der Mann ist an einer Halsverletzung gestorben.“
„Sieht ganz danach aus.“ Der Rechtsmediziner stellte den Koffer einen Meter von dem Toten entfernt auf den Boden und zog sich Einmalhandschuhe über. Anschließend ging er in die Hocke und hob vorsichtig den Arm des Toten an. „Leichenstarre hat bereits eingesetzt, der genaue Grad ist noch unklar. Körpertemperatur ist gesunken. In Anbetracht der lauschigen Temperaturen würde ich sagen, der Mann liegt hier seit etlichen Stunden.“
Er legte den Arm behutsam auf den Boden zurück und betastete die klaffende Wunde am blutbefleckten Hals. „Stichverletzung mit einem spitzen Gegenstand. Vielleicht ein Messer oder Vergleichbares. Das dürfte ordentlich geblutet haben. Davon sehe ich am Erdboden nichts. Habt ihr in der Nähe was bemerkt?“
„Bis jetzt nicht“, antwortete Nicole.
„Dann dürfte es sich beim Fundort mit ziemlicher Sicherheit nicht um den Tatort handeln.“ Er suchte die Umgebung um den Leichnam herum mit Blicken ab und zeigte auf eine nicht weit entfernte Stelle, die bereits markiert war. „Das da könnten Schleifspuren sein.“
„Sehen wir auch so.“
Mit einem kurzen Nicken öffnete Ziegler seinen Koffer und kramte einige Gegenstände hervor. Unter anderem ein Thermometer zum Bestimmen der Körpertemperatur. In der Regel wurde das rektal vorgenommen, weil an dieser Stelle die geringsten Temperaturabweichungen auftraten. Sogleich machte sich der Arzt daran, die Hose des Toten herunterzuziehen.
„Wo wir gerade bei genauen Messungen sind“, fragte Dominik an Nicole gewandt, „habt ihr an der Kleidung des Toten irgendwelche Rückstände gefunden?“
Bereitwillig wandten sie sich ab. So schön war der Anblick von Zieglers Arbeit nicht. „So schnell schießen die Preußen nicht. Erst mal haben wir uns um eine Identifizierung und das Absichern des Fundorts gekümmert. Der Doc mag es nicht, wenn man ohne sein Einverständnis an seiner Leiche arbeitet.“
„Man könnte auch sagen, das geht mir zutiefst gegen den Strich“, rief der Rechtsmediziner hinter ihnen. Nebenbei streifte er eine kondomartige Schutzhülle vom Thermometer ab. „Doch das wisst ihr ja längst. Anhand der Temperatur würde ich übrigens sagen, der Mann ist vor etwa zwölf bis vierzehn Stunden gestorben. Dafür spricht der Grad der Totenstarre, die noch nicht vollständig ausgeprägt ist. Bei der recht frischen Außentemperatur ist das aber auch kein Wunder. An einem lauen Sommertag wäre sie sicher längst komplett eingetreten.“
„Zwölf bis vierzehn Stunden“, wiederholte Mark und hielt Felix’ Hundeleine ein wenig fester, damit der Vierbeiner nicht auf Schnüffeltour ging. „Das heißt, nicht allzu spät am Samstagabend.“
„Vielleicht ist sein Date schiefgelaufen“, überlegte Dominik. „Wobei: Besonders chic angezogen ist er ja nicht.“
Es war schwer, auf diese Vorlage nichts zu erwidern. Vor allem bei jemandem wie seinem Partner, der so oft in zerknitterten oder überhaupt nicht zusammenpassenden Klamotten zur Arbeit erschien. Mark hustete in die hohle Hand. „Habt ihr ein Handy oder dergleichen sichergestellt?“
Nicole schüttelte den Kopf. „Der Mann trug nichts bei sich, was ihn identifizieren könnte. Nicht mal Hausschlüssel oder Telefon.“
„Oder er besaß nicht mal ein Handy“, sagte Dominik. „Ob ihr es glaubt oder nicht, es gibt tatsächlich einen kleinen Personenkreis, der komplett auf so etwas verzichtet. Ich selbst kenne ein, zwei solcher Zeitgenossen.“
„Das glaube ich aufs Wort“, platzte es aus Nicole heraus.
Mark verkniff sich eine Antwort, hatte jedoch sofort das Gesicht eines total paranoiden Bloggers aus Fürth vor Augen, den er während seiner vorherigen Ermittlung kennengelernt hatte. Mit Sicherheit war dies einer von Dominiks besagten Zeitgenossen. Das zu erwähnen würde jedoch weitere Fragen nach sich ziehen, auf die Mark wenig Lust verspürte. Außerdem zog Felix ungeduldig an seiner Leine. Der Hovawart wollte sich bewegen – und sein Herrchen konnte es ihm nicht verübeln. „Hoffen wir mal, dass die Kollegen vom KDD mit dem mobilen Fingerabdruckscanner einen Treffer landen.“
Diesmal nickte Nicole. „Unsere Leute machen sich sofort daran, sobald Dr. Ziegler grünes Licht gegeben hat.“
„Ich beeil mich ja schon“, ertönte es hinter ihnen etwas angesäuert. „Ein bisschen Zeit brauche ich für die erste Überprüfung aber noch!“
Unfreiwillig begann Mark zu schmunzeln. „Wer hat den Mann gefunden?“
„Ein Rentner, der mit seinem Hund Gassi gehen wollte. Er heißt irgendwas mit Trews.“
„Jürgen“, schlug Dominik vor. „Würde bei einem Rentner ja passen.“
„Nein, irgendwas mit G am Anfang. Gideon? Gernot? Ach, das findet ihr schon raus. Er steht da hinten, bei den Kollegen von der Streife.“ Sie zeigte auf eine Stelle zwischen den Bäumen, an der mehrere Personen standen. Ein vierbeiniger Gefährte war aus der Entfernung nicht zu sehen.
„Kennt er den Toten?“
„Das bezweifle ich. Am besten fragt ihr ihn das selbst. Aber Vorsicht: Der Mann scheint Krimi-Fan zu sein und hält mit seinem Wissen nicht hinterm Berg.“ Lächelnd drehte Nicole sich um und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Na dann, Cheers Mealtime.“ Mit einem Seufzer folgte Dominik Mark und Felix zu den Streifenpolizisten. Diese wirkten für die Umgebung vergleichsweise unbekümmert. Zwei von ihnen nippten an den dampfenden Bechern ihrer Thermoskannen. Mark schnüffelte in ihre Richtung und glaubte, eine leichte Pfefferminznote wahrzunehmen. Über ein Schlückchen Tee zum Aufwärmen wäre er jetzt ebenfalls nicht traurig gewesen. Sein Blick schlängelte sich zwischen den Uniformierten hindurch zu einem kahlköpfigen Mann in den Sechzigern mit faltigem Gesicht, Dreitagebart und schwarzer Brille. Er stand etwas abseits der Ordnungshüter und war hauptsächlich mit dem braun-weißen Beagle an seiner Seite beschäftigt.
Wie aufs Stichwort veränderte sich auch Felix’ Verhalten. Seine Muskeln versteiften sich, er begann zu knurren und zu bellen, um sich so von seinem Artgenossen abzugrenzen.
„Bleib ruhig, wir wollen nur reden“, ermahnte Mark seinen Vierbeiner.
Je lauter es wurde, desto mehr Augenpaare drehten sich in ihre Richtung. Die meisten Streifenpolizisten traten beiseite, weil sie die Kripo-Leute kannten und genau wussten, wohin diese unterwegs waren. Der andere Hundebesitzer zog fest an der Leine, damit der Beagle gar keine Chance hatte, sich dem Hovawart zu nähern.
„Sind Sie derjenige, der die Leiche gefunden hat?“, fragte Mark, während er seinen Hund auf Abstand hielt. Die Tiere knurrten sich grimmig an. Anscheinend erhoben sie beide Anspruch auf das Waldgebiet um sie herum.
„Ja, Gerold Trews ist mein Name“, bestätigte der Rentner. „Ich habe nix angefasst. Weiß man ja. Ich hab gleich auf den ersten Blick gesehen, dass der Knabe so tot war, wie ein toter Knabe nur tot sein kann.“
Eine schöne Aussage.
„Kannten Sie den Toten?“, fragte Dominik.
„Nein, müsste ich denn?“
„Nun, Sie halten sich beide hier im Wald auf. Hätte ja sein können, dass Sie sich schon mal über den Weg gelaufen sind. Früher, meine ich, als der Tote noch nicht tot war.“
Trews schüttelte den Kopf. „Durch diesen Wald laufen bestimmt Hunderte Leute. Ich weiß nicht, was Sie von meiner Wenigkeit in der Angelegenheit erwarten, aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Die meisten Jogger und Spaziergänger kenne ich nur vom Sehen her.“
„Wir müssen Ihnen trotzdem einige Fragen stellen, das ist unsere Pflicht.“
„Na, dann walten Sie pflichtgemäß Ihres Amtes, und legen Sie los.“
Die Kommissare tauschten Blicke aus. Während Mark etwas irritiert war, schien das Auftreten des Mannes ganz nach Dominiks Geschmack zu sein. Amüsiert zückte er sein Notizbuch.
„Wann sind Sie heute in den Wald gegangen?“, fragte Mark, noch immer damit beschäftigt, Felix m Zaum zu halten. Allmählich begriffen die Tiere offenbar, wie nutzlos ihr Gekläffe an dieser Stelle war, und wurden leiser.
„Daheim losgegangen sind wir nach dem Frühstück. Das muss so gegen zehn, halb elf gewesen sein.“
„So lange hat der Hund ausgehalten?“
„Ich war vorher schon mal kurz draußen mit ihm. Beagle brauchen ja viel Bewegung. Vor dem ersten Morgenkaffee bin ich dazu aber noch nicht imstande.“
„Verstehe. Wann sind Sie am Wald angekommen?“
„Etwa zehn Minuten später. Ich wohne nicht so weit von hier weg.“
„Ist Ihnen bei Ihrer Ankunft oder im Wald jemand aufgefallen?“
„Vorne an der Straße war ein joggendes Pärchen. Er in neongrünem Dress, sie in Schweinchenrosa. War das ein Anblick! Die sahen aber nicht wie Mörder aus. Hatten eh nix am Leib außer den hautengen Sachen.“
„Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?“
Trews schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich wäre mir die Leiche gar nicht aufgefallen. Es war mein Rupert, der mich zu der Stelle geführt hat.“ Er klopfte stolz auf den Rücken des Beagles. Dieser reckte noch stolzer den Kopf.
„Eine klitzekleine Frage sitzt mir noch im Gehege“, sagte Dominik hinter seinem Notizbuch. „Ist Ihnen an oder um die Leiche herum etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Sie meinen so was wie ’nen verlorenen Schlüsselanhänger oder eine geheime Markierung an einem der Bäume?“
„So in etwa …“
„Da gab es nichts dergleichen. Ich bin Krimi-Fan, müssen Sie wissen. Da achte ich von Haus aus auf solche Details. Mir sind auch unterwegs keine Spuren aufgefallen. Wenn Sie mich fragen, war hier ein Profi am Werk.“
Mark wandte sich ab und verdrehte die Augen.
„Haben Sie jemanden im Verdacht?“, hakte Dominik derweil nach.
„Leider nicht mal den Hauch eines blassen Verdachts. Vielleicht war es der Förster, weil der Mann illegal wildern wollte. Oder der Bursche wollte sich im Wald verstecken, und jemand hat ihm aufgelauert. Wer weiß, wer alles im Unterholz lauert …“
„Vielen Dank. Wir werden das entsprechend prüfen“, sagte Mark und zog Felix mit sich. Je weiter sie sich entfernten, desto entspannter wirkte der Hund. Eine kleine Reviermarkierung an einem der Bäume konnte sich der Hovawart trotzdem nicht verkneifen. Was sein musste, musste eben sein.
„Das war ja mal nix“, sagte Mark zu Dominik, nachdem sie außer Hörweite waren.
„Och, ich fand den Knaben recht sympathisch und originell. Ich glaube, ein Abend mit dem könnte spaßig sein.“
„Du kannst ihn ja fragen, ob er heute Abend Lust auf ein Bier hat. Oder noch besser: Ob er was von deinem irischen Whisky will.“
„Schottisch, nicht irisch. Das ist ein Riesenunterschied.“
„Wie auch immer.“ Mark kehrte zum Fundort zurück. Viel schien sich seither nicht getan zu haben. Die SpuSis suchten noch immer mit Argusaugen das gesamte umliegende Gebiet ab. Eine von ihnen war sicherlich Nicole, die dank des weißen Schutzanzuges und der Stoffmaske kaum von den anderen zu unterscheiden war. Dr. Ziegler schien seine Überprüfung fürs Erste abgeschlossen zu haben. Er hatte Platz gemacht, damit einer der Spurensicherungsleute die Fingerabdrücke des Toten mit dem mobilen Lesegerät nehmen konnte. Einige Sekunden lang beobachtete Mark ihn dabei schweigend. Dominik trat neben ihn und stemmte die Arme in die Hüften. „Hoffentlich gibt es einen Treffer. Das dauert immer ewig, bis wir die Zahnarztunterlagen, Tätowierungen, Operationsnarben und alles überprüft haben.“
„Wenn alle Stricke reißen, müssen wir einen Aufruf über die Medien starten.“
„Das zieht sich. Außerdem könnte es den Mörder nervös machen. Wenn der daraufhin abtaucht, ist keinem geholfen.“
„Wir könnten eine generelle Funkzellenüberprüfung im betreffenden Gebiet starten. Aber das ist genauso ein Fischen im Trüben.“
Inzwischen hatte der Mann im Schutzanzug seine Überprüfung beendet und ging mit dem Lesegerät auf einen seiner Kollegen zu. Oder vielmehr eine Kollegin, wie sich gleich darauf herausstellte. Nicole schob ihren Kopf- und Mundschutz hinab und schaute zuerst auf den Bildschirm des Apparats und anschließend auf die Leiche am Waldboden. Gleich darauf wanderte ein dritter Blick zu den Kommissaren. War das die Aufforderung, zu ihr zu kommen? Bevor Mark oder Dominik sich in Bewegung setzen konnten, kamen Nicole und ihr Kollege auf sie zu. Bei jedem ihrer Schritte raschelte der Stoff der Schutzanzüge leise.
„Leute, ihr könnt aufatmen: Wir haben einen Treffer“, verkündete Nicole mit einem Lächeln.
Sie taten genau das: aufatmen. Zumindest für Mark war es bloß eine kurze Entspannungsphase. Vor ihm zog sich Nicoles Begleiter den Kopfschutz und die Stoffmaske herunter und entblößte so eine spitze Nase, eng liegende Augen und ein breites Kinn. Mark erkannte das runde Gesicht sofort. Es gehörte René Birkner. Jenem überkorrekten Schwachstrahlpinkler, der vor ein paar Wochen Dominiks Fingerabdrücke am Tatort eines Mordes entdeckt und nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als gleich daraufhin im Präsidium Bescheid zu geben. Ausgerechnet er war auch bei ihrem neusten Fall für die Überprüfung der Fingerabdrücke zuständig. Ausgerechnet er.
Zumindest erklärte es, weshalb Birkner ihren Blicken auswich und das mobile Lesegerät nur sehr zögernd zu ihnen umdrehte. Einen Herzschlag lang befürchtete Mark, gleich wieder eine Horrormeldung auf dem Bildschirm zu finden. Irgendein Name, der ihnen bekannt vorkommen müsste und sie wieder in irgendeine Bredouille brächte.
Nichts dergleichen war der Fall. Jedenfalls soweit Mark das abschätzen konnte.
Der kleine Monitor zeigte das Foto des fünfundvierzigjährigen Christoph Schwarz. Der Name sagte Mark rein gar nichts.
Dominik reagierte ebenfalls relativ unbeteiligt. Auch hinsichtlich Birkner. Offenbar hatte er nicht die geringste Ahnung, wer da vor ihm stand. Eventuell wusste Dominik nicht einmal, dass Birkner es gewesen war, der ihn an die Zentrale verpfiffen hatte. Ihn darauf hinweisen würde Mark auf keinen Fall.
„Christoph Schwarz“, las Dominik vom Bildschirm ab und scrollte die Anzeige hinab. „Wohnhaft in der Muggenhofstraße. Na, dann weiß ich schon, wohin wir als Nächstes fahren werden. Ist auf jeden Fall schön, dass wir keine Flugblätter drucken lassen müssen. Danke, Mann.“
Die Lobesworte waren an Birkner gerichtet. Dieser wusste gar nicht, wie ihm geschah.
„Ja, äh … klar. Keine Ursache … Mann.“ Von irgendwoher kramte er noch ein scheues Lächeln hervor, in das Dominik gerne mit einstimmte. Mark hielt sich auch hier zurück.
„Dann machen wir uns mal so langsam auf den Weg. Oder habt ihr noch irgendwelche weltbewegenden neuen Erkenntnisse, von denen wir wissen sollten?“
„Fürs Erste nicht. Bericht folgt wie üblich, sobald wir mit den Überprüfungen fertig sind.“
„Super. Dann weiterhin frohes Schaffen.“
Dominik tippte sich mit zwei Fingern an die nicht vorhandene Hutkrempe: „In dem Sinne: Au repertoire! Das ist Spanisch und heißt Auf Wiedersehen.“
Er zwinkerte den beiden kurz zu und folgte dann Mark und Felix in Richtung Auto.
Je näher sie dem Dienstwagen am Straßenrand kamen, desto besser wurde der Handyempfang. Mark nutzte die Gelegenheit, um daheim anzurufen. Das traf sich gut, weil es Felix sowieso noch mal in die Büsche verschlug. Anscheinend ging der Hund von einer längeren Autofahrt aus.
Caro war nach dem zweiten Klingeln am Apparat und verriet ihm, dass Nathalie fast drei Stunden durchgeschlafen hat. Automatisch kochte einen Atemzug lang dumpfe Eifersucht in ihm hoch. Er hätte auch gern drei Stunden Ruhe für sich gehabt. Selbst wenn er einen Großteil davon vermutlich ebenfalls bloß schlafend verbracht hätte. Dann fiel ihm ein nicht ganz so euphorischer Unterton in der Stimme seiner Frau auf. „Irgendwie fühlt sich Nathalie warm an. Hoffentlich brütet sie nichts aus.“
Das war in der Tat kein Grund für Jubelrufe. Mark überlegte, ob ihm die erhöhte Temperatur heute Morgen schon aufgefallen war. Eher nicht. „Vielleicht war sie bloß beim Schlafen zu dick eingepackt.“ Er wollte weiterreden, hörte in dem Moment jedoch seine kleine Tochter ins Telefon brabbeln. Es waren keine richtigen Worte, klangen manchmal aber wie welche. Und sie genügten, um ihm ein verzücktes Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
„Hoffen wir es mal. Wenn nicht, muss ich morgen früh zum Kinderarzt.“
„Haben wir am Mittwoch nicht sowieso einen Termin? Wegen dieser Impfung.“
„Wenn sie Fieber hat, warte ich nicht bis dahin. Grassiert nicht gerade wieder so eine Grippe?“
Es war eine rhetorische Frage, und Mark fühlte sich nicht zu einer Antwort veranlasst. Sie hatten Anfang Februar und damit die beste Jahreszeit für einen Infekt oder dergleichen. Caro stimmte zu, die Temperatur im Auge zu behalten und später gegebenenfalls Fieber zu messen. Bei der Verabschiedung erkundigte sie sich, ob er schon absehen könnte, wie lange er heute arbeiten müsste. Leider lautete die Antwort darauf eindeutig Nein. Zu Beginn eines neuen Mordfalls hatten sie stets tausend Sachen auf einmal zu tun. Tage wie diese konnten ziemlich lang werden. Selbst wenn es Sonntage waren.
Nach dem Telefonat brachen sie auf zum Stadtteil Muggenhof in der Weststadt von Nürnberg. Es war eines der letzten Viertel, bevor die nicht überall gleichermaßen beliebte Nachbarstadt Fürth begann. Aus gegebenem Anlass bezeichneten viele Nürnberger deren Bewohner auch gerne als die hinter dem Klärwerk. Gelogen war diese Beschreibung nicht. In Muggenhof betrieb die Nürnberger Stadtentwässerung ein ebensolches Werk. Weil es deswegen dort nicht unbedingt immer nach Veilchen duftete, waren die Mieten der Wohnhäuser rund um das Klärwerk Gerüchten zufolge ein bisschen niedriger als in anderen Gebieten.
Einen olfaktorischen Beweis für diese Theorie erhielten sie bei ihrer Ankunft. Die Muggenhofstraße befand sich direkt gegenüber dem Klärwerk, die klobigen Industriegebäude lediglich abgegrenzt durch einen luftigen Metallgitterzaun, und es roch alles andere als rosig. „Das müffelt schlimmer als in deiner Sockenschublade“, bescheinigte Mark beim Aussteigen.
„Sagt der mit der Windelpuperin daheim. Manche der Gerüche bei euch verstoßen gegen die Genfer Konvention. An manchen Tagen ist bei euch bestimmt nicht mal offenes Feuer erlaubt.“
Da wollte und konnte Mark nicht widersprechen. „Das würde ich hier auch nicht riskieren wollen. Die Anwohner verdienen meinen aufrichtigen Respekt.“
Auch der Hovawart rümpfte die sensible Hundenase. Wenn ihnen der Geruch dermaßen auffiel, wie musste es dann erst ihm ergehen? Mark wollte nicht einmal mutmaßen.
Mit dem Vierbeiner zwischen ihnen gingen sie auf den fünfstöckigen Altbau mit blauer Fassade und weiß gerahmten Fenstern zu. Laut dem Schild an der Eingangstür wohnte die Familie Schwarz im ersten Stock. Auf ihr erstes Klingeln reagierte niemand, und nach dem zweiten dauerte es ebenfalls einige Sekunden, bis jemand den Summer zum Treppenhaus betätigte. An der Wohnungstür erwartete sie ein vielleicht siebzehnjähriges Teenagermädchen mit langen braunen Haaren und Silber im Blick. Als sie die zwei Polizeiausweise sah, wich sie erschrocken rückwärts in die Wohnung zurück. Die Kommissare folgten ihr mit vorsichtigem Abstand durch ein kurzes Korridorstück. Ein leicht chemischer Geruch lag in der Luft.
„Wer war da an der Tür?“, krähte eine kräftige Frauenstimme.
„Da … da ist … die Polizei“, brachte das Mädchen mühsam hervor, ohne sich von ihnen abzuwenden. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Eine Frau in den Vierzigern mit schulterlangen Haaren stand vom Sofa auf. Sie trug eine große Jogginghose und ein weites Oberteil. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war unverkennbar. Dasselbe runde Gesicht mit spitz zulaufender Nase, dünnen Lippen und hohen Wangen. Lediglich das Haar der Frau war nicht mehr ganz so kraftvoll wie das des Mädchens und zeigte erste graue Strähnen.
„Wer sind Sie? Was …“ Sie stockte und starrte die zwei Männer mit dem Hund ausdruckslos an.
„Wir kommen von der Kripo Nürnberg“, stellte Mark sie vor. „Ich bin Kriminaloberkommissar Mark Richter, das ist mein Partner Dominik Waldmayer.“ Nebenbei schaute er sich routinemäßig im Raum um. Mittelklasse-Einrichtung mit Schrankwand, Fernseher, Musikanlage und allerlei Nippes. An den Wänden hingen gerahmte Bilder aus Franken und einem Südseeort mit Strand und Palmen. Der Fußboden bestand aus birkenfarbenem Laminat, auf dem ein Sofa sowie zwei Stoffsessel in demselben farbenfrohen Dunkelgrau standen. Nicht zu vergessen, der hölzerne Beistelltisch mit abgetragenen Ecken. So weit, so bürgerlich.
„Und der Hund?“
„Das ist unser Diensthund Felix. Wir bilden zusammen ein Team.“ Fast hätte er noch ein Trio mit vier Pfoten hinzugefügt, besann sich jedoch rechtzeitig auf den Grund ihres Besuches. „Sie sind …?“
„Ich bin Ramona Schwarz.“ Ihr Blick wanderte von den Polizisten zu der Jugendlichen. „Das ist meine Tochter Sina. Worum geht es?“
Das Mädchen stellte sich neben seine Mutter. Beide schauten sie die Ermittler fragend an.
„Kennen Sie Christoph Schwarz?“
„Das ist mein Ehemann“, bestätigte die Frau. „Wieso?“
„Leider kommen wir mit schlechten Nachrichten zu Ihnen. Ihr Mann ist tot. Offenbar wurde er Opfer eines Angriffs.“
„O nein!“ Ramona Schwarz hielt sich an der Lehne des Sofas fest, von dem sie gerade aufgestanden war. „Was ist passiert?“
Neben ihr verbarg Sina Schwarz das Gesicht hinter den Händen und begann zu schluchzen.
„Das versuchen wir herauszufinden“, sagte Dominik und zog behutsam sein Notizbuch hervor. „Wir haben ihn in einem Waldstück in Erlenstegen gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wie er dorthin gelangt sein könnte?“
Die Mutter sank kraftlos auf die Sofakante zurück.
„Nein … wie … ich meine, was …“ Fassungslos starrte sie zu den Polizisten. „Ich habe keine Ahnung, was er dort gemacht hat.“
Darauf ging Mark nicht ein. „Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“
„Gestern. Am frühen Abend. Das muss so gegen sieben, halb acht gewesen sein. Er meinte, er muss noch mal weg. Dann ist er gegangen. Wohin, weiß ich nicht.“
Das irritierte Mark. Wenn Caro abends wegging, nannte sie ihm in der Regel den Ort und mit wem sie dahin wollte. Beziehungsweise hatte sie das früher getan. Seit Nathalies Geburt war keiner von ihnen beiden abends privat weg gewesen. Wenn in ferner Zukunft irgendwann wieder ein Ausgehen anstehen würde, würden sie ohne jeden Zweifel dem jeweils anderen Bescheid geben. Das gehörte zum Ehe-Gesamtpaket dazu. Insbesondere wenn gemeinsame Kinder mit im Spiel waren. „Und Sie haben deswegen nicht nachgehakt?“
„Nein.“
Okay. Mark warf einen Blick zu Dominik, um zu sehen, ob nur ihm das merkwürdig vorkam. Auch sein Partner wirkte irritiert. „Hat er so was öfter gemacht?“
„Gelegentlich. Ich hatte angenommen, dass er noch mal zum Laden wollte. Christoph hat so ein schrulliges Plattengeschäft, nicht weit vom Bahnhof entfernt.“
„Einen Plattenladen?“, fragte Dominik hörbar interessiert.
Sie nickte. „Manchmal hat er dort am Abend noch Sachen sortiert. Oder hat sich mit irgendwelchen Leuten getroffen, die ihm ihren alten Krempel andrehen wollten.“
„Was haben Sie am Abend gemacht?“
„Ferngesehen. Da kam dieser alte Fantomas-Film mit Louis de Funès. Ich bin dann irgendwann eingepennt.“
„Und heute Morgen haben Sie sich nicht darüber gewundert, dass er nicht da war?“ Mark überließ Felix ein bisschen mehr Leine, damit der Hund herumstromern konnte. Sogleich begann der Hovawart damit, das Laminat und den Tisch vor dem Sofa zu beschnüffeln. Auf Letzterem waren es zwei verschlossene und ein offenes Fläschchen mit grünem Nagellack sowie eine Flasche mit Nagellackentferner, die seine Aufmerksamkeit erregten. Daneben lagen einige Lack beschmierte Küchentücher. Wahrscheinlich ging der leicht chemische Geruch von ihnen aus. Die Fläschchen schienen der Tochter zu gehören. Zweieinhalb Nägel ihrer linken Hand waren bereits grün lackiert.
„Es kommt – also vielmehr: Es kam – immer mal wieder vor, dass er morgens schon weg war. Wieder in den Laden. Chris war eher so der Frühaufsteher, ich hingegen schlafe gern aus. Bin heute erst um kurz nach neun aufgewacht.“
„Wann hast du deinen Vater das letzte Mal gesehen?“, fragte Dominik mit Blick zu Sina.
Das Mädchen brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass er mit ihm sprach. Sie murmelte etwas, was hinter ihren Händen nur schwer zu verstehen war. Wie ihr gleich darauf selbst bewusst zu werden schien. Sie ließ die Arme sinken und entblößte eine Rotzglocke an einem linken Nasenloch. „Gestern früh. Ich war letzte Nacht nicht zu Hause. Ich habe bei einer Freundin übernachtet.“ Sie schniefte geräuschvoll, und die Blase verschwand halb in ihrer Nase.
„Wie ist der Name der Freundin?“
„Doro. Dorothea Friedrich. Sie wohnt zwei U-Bahnstationen von hier in Fürth. In der Karolinenstraße.“
Dominik notierte das. „Wann bist du heute nach Hause gekommen?“
„Vorhin erst. Doro musste mit zu ihrer Oma nach Hersbruck.“
„Und bei deiner Ankunft hast du dich nicht gewundert, wo dein Vater steckt?“
„Doch, schon. Ich dachte, er kommt bald.“ Das Mädchen schaffte es, gleichzeitig knallrot und kreidebleich zu werden, was eine höchst bizarre Mischung war. Vor allem mit ihren halb lackierten Fingernägeln. Derweil schnüffelte Felix vom Nagellack weiter zu den Sesseln. Auf dem linken fielen Mark einige kreisrunde Flecken auf der Oberseite auf. Von der Größe her könnte es sich um schlecht entfernte, schon ältere Cola- oder Bierflecken handeln. So was war kein Beinbruch. Allerdings hätte Mark eine Decke oder etwas anderes darübergelegt, um den Makel zu kaschieren.
„Hast du deinen Vater ...“ Dominiks Kopf drehte sich zur Mutter um. „… respektive haben Sie nicht versucht, Ihren Mann auf seinem Handy anzurufen?“
Die Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte keinen Sinn gehabt. Das Ding hat er in der Küche liegen lassen.“
„Wenn das so ist, hätten wir es gerne für unsere Ermittlungen.“
Einen Moment lang wirkte sie irritiert, dann stand sie auf und verließ den Raum. Felix dackelte ihr hinterher, und Mark nahm es zum Anlass, ihnen zu folgen, um so einen Blick in die anderen Räume werfen zu können. Rechts befand sich die nur angelehnte Tür zum Schlafzimmer. Während die Mutter weiter zur Küche lief, drückte Mark die Schlafzimmertür auf und linste hinein. Drinnen war es bemerkenswert ordentlich: Das Ehebett gemacht, keine Sachen auf dem Boden. Ein klobiger schwarzer Kleiderschrank mit Spiegel an der hinteren Wand. Felix schnüffelte kurz in den Raum, verließ ihn aber sofort, als Herrchen zur Küche ging. In dem anderen Zimmer konnte man genauso gut schnuppern und sich umsehen.
Ramona stand vor einer in die Jahre gekommenen, L-förmigen Einbauküche, an deren hinterem Ende ein weißer Kühlschrank eingebaut war. An dessen Wänden hingen einige mit Magneten befestigte Fotos und Schreiben, das Kühlschrankdach in Marks Augenhöhe hingegen fungierte als Ablagefläche für alles Mögliche. Kugelschreiber und Ohrringe hatten dort ihren Platz gefunden, genauso wie eine kleine Schale mit verschrumpelten Äpfeln. Außerdem hatte dort offenbar das schwarze Smartphone gelegen, das die Witwe nun in den Händen hielt. Sie betrachtete das Telefon einen Moment lang wehmütig, ehe sie es Mark reichte.
„Wie lautet der PIN-Code?“
„1709. Sein Geburtstag.“
Mark probierte die Zahlenkombination aus und gelangte ins Hauptmenü. Ein Schwarz-Weiß-Foto der Rolling Stones zierte den Hintergrund.
„Lassen Sie uns über den Laden sprechen. Wo genau befindet der sich?“
„In der Bogenstraße. Das ist in Steinbühl.“
„Hat Ihr Mann etwas von Sorgen oder Problemen im Geschäft erzählt?“, fragte er sie auf dem Weg ins Wohnzimmer.
Ramona schüttelte im Laufen den Kopf. „Der Laden lief nicht gut. Die meisten Kunden waren irgendwelche Freaks und Spinner. Aber ich wüsste nicht, dass er sich mit einem von ihnen in den Haaren gehabt hätte. Erwähnt hat er nichts.“
„Wie kam er mit seinen Kollegen klar?“
„Er hat nur zwei Angestellte. Beides Halbtagskräfte und genauso Musikfreaks wie er. Die konnten stundenlang darüber diskutieren, wie man eine Plattensammlung richtig sortiert oder welche fünf Lieder am besten zu einem bestimmten Anlass passen. Das ist echt unglaublich.“
Fehlt nur noch, dass sie sich nachts im Traum mit Musikern unterhalten, überlegte Mark, ohne es auszusprechen. Ramona Schwarz hätte die Anspielung vermutlich ohnehin nicht verstanden. „Von den beiden brauchen wir Namen, Telefonnummer und Anschrift.“
Sie nickte und schrieb die Daten auf ein kariertes Blatt.
„Mit wem hat sich Ihr Mann privat so getroffen?“
„Sie meinen Freunde und Bekannte?“
Lag das nicht auf der Hand? „Ja.“
„Chris kannte zwar zig Leute, aber wirklich befreundet war er mit kaum jemandem. Die meisten Kumpels hat er ziemlich unregelmäßig gesehen. So eng kann die Bindung da also nicht gewesen sein. Am häufigsten war er mit seinen zwei Leuten aus dem Laden weg. Auf Konzerten, Musikmessen und so was. Manchmal sind sie quer durch die Republik gefahren, für ein paar staubige Schallplatten oder vergriffene CDs.“
„Wie verstand er sich mit den Nachbarn?“
„Eigentlich gut. Chris war eher der ruhige Typ. Er hatte keinen Stress mit jemandem.“
„Mein Vater konnte keiner Fliege was zuleide tun“, fügte Sina mit zuckender Unterlippe hinzu.
„Hat er sich in den vergangenen Tagen oder Wochen auffällig oder ungewöhnlich verhalten?“
Mutter und Tochter schauten einander fragend an, bevor sie vollkommen synchron die Köpfe schüttelten.