Mörderische Sächsische Schweiz - Sören Prescher - E-Book

Mörderische Sächsische Schweiz E-Book

Sören Prescher

4,4

Beschreibung

»Endlich mal raus aus dem täglichen Trott in der Buchhandlung. Nichts als Natur und Kultur.« Meta Malewski schnürt die Wanderstiefel und macht sich mit viel Zeit und der Kamera im Gepäck auf in die sächsische Schweiz. Die Hobbyfotografin bekommt aber nicht nur grandiose Landschaften und weltbekannte Kulturdenkmäler vor die Linse, sondern auch viele Menschen aus Pirna oder Hohnstein, Stolpen oder Sebnitz. Denn wo immer Meta auftaucht, hört sie denselben Satz: »Darüber sollte mal jemand ein Buch schreiben.« Entstanden sind elf spannende Kriminalfälle, aktuelle und historische, die die Sächsische Schweiz von einer ganz anderen Seite zeigen.

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Silke Porath / Sören Prescher

Mörderische Sächsische Schweiz

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Ashera GbR, 87733 Markt Rettenbach

sowie durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © manfredxy / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5366-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Metas Aufbruch

Mit einem schwachen Pusten entfernte Meta Malewski die Staubkörnchen vom Armaturenbrett. Dann steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss, atmete einmal tief ein und startete den Wagen. Hatte sie wirklich an alles gedacht? Meta schaltete den Motor wieder ab. Es war bereits halb drei am Freitagnachmittag. Eigentlich hätte sie seit zwei Stunden unterwegs sein wollen. Ein ereignisreiches Wochenende lag vor ihr. Ohne nervende Kunden, ohne nörgelnden Chef und ohne das Gefühl, wieder einmal den halben Tag mit dem Staubwedel vergeudet zu haben.

Meta mochte ihren Job, irgendwie. Aber als Buchhändlerin verkaufte sie eben nicht nur gute Geschichten, sondern war auch dafür zuständig, dass die Krimis und Romane staubfrei blieben. Sie fixierte ein imaginäres Staubkorn auf dem Tachometer und schloss die Augen hinter der gelb umrandeten Brille. Nicht, dass sie eine Brille gebraucht hätte, aber seit vor drei Jahren neben der Buchhandlung ein Optiker eröffnet hatte, war die 46-Jährige so was wie ein Brillenjunkie. Andere Frauen shoppten Schuhe, wenn die Beziehung in die Binsen ging. Meta verlegte sich auf Brillen, von denen sie mittlerweile zwei Dutzend besaß, in allen erdenklichen Farben. Und da sowieso nur Fensterglas in den Gestellen war, auch recht günstig erstanden. Wie jenes Modell, das sie heute trug. Das Gelb biss sich zwar ein wenig mit dem Fahlbraun ihrer Haare, passte dafür aber exakt zu den Streifen auf ihrem Shirt.

Mit geschlossenen Augen ging sie die Packliste durch. Die Brillen hatte sie schon am Vorabend mit den Klamotten im Rollkoffer verstaut. Die Kamera thronte in ihrer schwarzen Polstertasche wie ein stummer Freund neben ihr auf dem Beifahrersitz. Das neue Weitwinkelobjektiv war zwar schwer, würde aber wunderbare Panoramafotos liefern. Und herrliche Panoramen, hatte sie gelesen, sollte es in der Sächsischen Schweiz jede Menge geben. Meta fotografierte noch nicht allzu lange, aber lange genug, um zu wissen, dass ihr nie ein gutes Porträt gelingen würde. Geschweige denn ein passables Foto von einem Tier, wenn das nicht tot irgendwo lag, womöglich noch als Schnitzel in der Theke beim Metzger (Food-Fotos machte sie zwar manchmal, aber daran fand sie keinen rechten Geschmack). Alles, was sich schneller als eine Schnecke bewegte, kam ihr nicht mehr vor die Linse.

Zahnbürste, Deospray und Einwegrasierer? Alles im Beautycase. Bücher? Musste und wollte sie nicht mitnehmen. Das hätte sich angefühlt, als würde ein Finanzbeamter mit einem Stapel Steuererklärungen im Gepäck in Ferien fahren. Wanderschuhe? Im Koffer. Ladekabel fürs Handy? In der Kameratasche. Ingwerbonbons?

»Mist!« Meta zerknüllte die leere Packung, die sie in der Mittelkonsole aufbewahrte. Das also hatte sie vergessen. Was kein Drama war, schließlich gab es ihre Lieblingssorte an jeder Tankstelle. Aber sie wäre gerne ohne Verzögerung losgefahren und hatte den Wagen bereits gestern Abend vollgetankt. Der schaffte die knapp 540 Kilometer von Wiesbaden bis nach Ostsachsen also locker. Aber ob sie ohne nervenberuhigende Lutschpastillen durchkäme?

»Egal, wird schon gehen«, ermunterte Meta sich selbst und startete das Auto zum zweiten Mal. Scherte aus der Parklücke aus und lenkte den Wagen Richtung Mainzer Straße und A66. Für einen Freitagnachmittag war erstaunlich wenig Verkehr und bis zur Auffahrt auf die A5 hatte sie erstens dreimal lautstark die Lieder im Radio mitgesungen und zweitens beinahe vergessen, dass sie keine Bonbons hatte. Bis ein schwarz lackierter Lkw mit polnischem Kennzeichen just in dem Moment ausscherte, als Meta auf der linken Spur mit 160 Sachen ankam. Sie trat auf die Bremse, schnappte nach Luft und starrte auf die schwarze Wand, die unaufhaltsam näher kam. Beinahe hätte sie die Augen zusammengekniffen. Sie schlug auf die Hupe und atmete erst wieder aus, als sich der Abstand zwischen ihr und dem Laster auf ein gesundes Maß verringert hatte. Hinter dem Brummi herfahrend, überholte sie einen tschechischen Lastwagen, verkniff es sich, dem Verursacher des Schneckenrennens im Vorbeifahren einen Vogel zu zeigen, und hielt Ausschau nach der nächsten Raststätte. Es war definitiv Zeit für ein Ingwerbonbon.

Eine Tasse Kaffee, ein trockenes und viel zu teures Salamibrötchen und einen Abstecher aufs Klo später saß sie wieder im Wagen. Das Navi führte sie im Feierabendverkehr an Zwickau und Chemnitz vorbei nach Dresden. Als es dämmerte, verließ sie die Autobahn und atmete auf. Nun musste sie nur noch ihre Pension in der Altstadt finden, dann hatte sie das erste Ziel ihrer Reise geschafft.

Meta reckte sich, schnappte sich die Kameratasche vom Beifahrersitz und ging über die Straße zu der kleinen Pension, die sie über das Internet gebucht hatte. In Dresden selbst war sie zwar noch nie im Leben gewesen, hatte aber schon viel Tolles über die Elbmetropole gehört. Schade eigentlich, dass ihr gar keine Zeit für das Grüne Gewölbe und den Zwinger blieb. Aber für diesen Kurzurlaub hatte sie sich die Sächsische Schweiz ausgeguckt – was ja nicht bedeutete, dass sie sich beim nächsten Mal nicht die Landeshauptstadt vornehmen würde. Genug Sehenswertes gab es hier allemal.

Als sie den breit grinsenden Glatzkopf hinter dem Empfangstresen sah, fühlte sich Meta sofort willkommen. Ihre Reservierung fand er auf Anhieb. Fünf Minuten später befand sie sich in ihrem Zimmer im zweiten Stock. Der Ausblick auf die Altstadt war traumhaft.

Lange Zeit zum Genießen blieb Meta nicht. In den ersten Monaten als Single, direkt nach der Trennung von Hajo, dem Inhaber eines Elektroladens und der Mensch, welcher ihr die Kamera und damit ein neues Hobby geschenkt hatte, war sie oft genug alleine mit der Minibar in irgendwelchen Hotelzimmern gewesen. Hatte Rotz und Wasser geheult. Und den Inhalt des winzigen Kühlschranks in sich hineingekippt, während im Fernsehen platte Reportagen liefen. Der Liebeskummer war längst verklungen, trotzdem plante Meta gerne ihre Abende. Und für heute hatte sie eine Karte im Tom-Pauls-Theater in Pirna reserviert. Blöd nur, dass das Navi eine Fahrtzeit von einer reichlichen halben Stunde veranschlagte. Und noch blöder, dass die Vorstellung bereits in einer Viertelstunde beginnen sollte. Aber vielleicht würde sie es ja noch bis zur Pause schaffen.

Meta hastete aus der Pension, zerkaute während der Fahrt – dank einiger besonders langsamer Zeitgenossen wurden es satte 40 Minuten – drei Ingwerbonbons und fand tatsächlich beim Stadtmuseum einen Parkplatz. Sie warf sich die Kameratasche über die Schulter und hastete die Dohnaische Straße hinunter. Irgendwo hinter ihr floss die Elbe, aber daran konnte sie nun keinen Gedanken verschwenden. Sie bog nach der Barbiergasse in die Schössergasse ein, staunte kurz über das auch im Dunkeln imposante Rathaus und fand das Baumeisterhaus auf Anhieb, in dem das kleine Theater untergebracht war. Sie stieß die Tür des liebevoll restaurierten Hauses auf. Oder wollte dies tun – denn es war abgeschlossen. Ganz leise hörte sie von drinnen einen Mann sächseln, das Publikum lachen und klatschen.

»Herrje.« Meta ließ sich auf den Stufen nieder. Zur Pause würde sicher jemand öffnen, sagte sie sich selbst und schob einen Ingwerdrops nach.

»Na, junge Frau, ist Ihnen nicht gut?« Ein baumlanger Kerl in den Fünfzigern stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr.

»Nein, alles gut.« Meta stand auf. »Ich wollte rein, aber …«

»… die Tür klemmt?« Der Mann grinste und wuchtete sich gegen die Pforte. Tatsächlich ging sie auf.

»Theater oder Ilses Kaffeestube?« Er ließ ihr den Vortritt.

»In die Vorstellung platz ich lieber nicht rein«, antwortete Meta und musterte den Mann. Sehr gepflegtes Erscheinungsbild, erstaunlich dunkles Haar, erstaunlich viele Falten. Passte nicht ganz zusammen, sah aber attraktiv aus. Wenn auch weit entfernt von ihrem Beuteschema.

»Ich geh zu Ilse«, teilte der Mann ihr mit und es klang irgendwie wie eine Einladung. Fühlte sich auch so an, als die beiden das kleine Kaffeehaus betraten und sich nebeneinander auf ein altertümliches, dunkelrot gepolstertes Sofa setzten.

»Sie sind nicht von hier«, stellte der Mann fest.

»Nein, aus Wiesbaden«, sagte Meta.

»Aber nicht vom BKA, oder?«

Sie lachte. »Nein, nur weil das so oft im Tatort gezeigt wird, gibt es bei uns trotzdem noch andere Jobs.«

»Ich war noch nie dort.« Der Mann bestellte einen Rotwein. Meta tat es ihm gleich und orderte außerdem eine Portion Würzfleisch. Die Eierschecke würde sie bis zum Dessert abwarten, falls sie vor der zweiten Spielzeit noch Zeit hätte.

»Ich war noch nie in Pirna«, gab Meta bekannt. Sie sagte nicht, dass sie sowieso erst seit knapp 15 Minuten in der Stadt war. »Ich bin übrigens Meta.«

»Kurt«, sagte er und die beiden gaben sich die Hand. Dann mussten beide lachen. Wie das manchmal so ist, wenn zwei Wildfremde sich begegnen.

»Urlaub?«, fragte Kurt.

»Sozusagen. Und Sie?«

»Rente. Ich war bei der Stadt beschäftigt. Archivar. Aber eigentlich wollte ich Polizist werden. Wie alle kleinen Jungs.«

Meta hatte zwar ein wenig Probleme, sich den hünenhaften Kurt als kleinen Jungen vorzustellen, vergaß dann aber alles um sich herum und beinahe auch das Würzfleisch, das die Kellnerin irgendwann vor ihr abstellte. Denn als Kurt von seinem Hobby zu erzählen begann, stockte ihr der Atem: Er hatte nicht nur die Stadtgeschichte archiviert, sondern sämtliche Kriminalfälle rund um Pirna und die Sächsische Schweiz. Und schon der erste Fall, den er zwischen Burgunder und Mineralwasser erzählte, ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.

Pirna, 2013

Ratlos. Damit konnte man den Gesichtsausdruck von Kommissar Hellstein am besten beschreiben, als er auf den Leichnam starrte. Der irgendwie zurückzustarren schien aus weit aufgerissenen, sehr toten Augen. August Hellstein unterdrückte ein der zu frühen Stunde geschuldetes Gähnen, reckte die Schultern und trat einen halben Schritt vor, darum bemüht, keine Spuren auf dem Bürgersteig vor dem Lokal »Weißes Roß« zu zerstören. Ein lauer Maiwind wehte ihm entgegen, war aber nicht unangenehm.

Wieder starrte er sekundenlang auf das Bild, das sich so gar nicht einordnen ließ, und trat dann zwei Schritte zurück. Nun hatte er quasi die Totale im Blick. Hellstein blendete die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls aus, die Streifenwagenbesatzung und die beiden Angestellten des Bestattungsunternehmens, die bereits mit den Füßen zu scharren schienen, um die Leiche endlich in den Zinksarg zu packen.

»Wer hat den Mann gefunden?«, fragte er automatisch und vernahm wie durch einen Nebel die Antwort des Polizeiobermeisters: »Ein Gassigänger, hat wohl einen Schock. Hund und Herrchen sitzen da hinten auf der Bank.« Hellstein scannte den Tatort und versuchte, sich so viele Details wie möglich einzuprägen. Der Tote sah auf den ersten Blick aus wie einer, der im »Weißen Roß« zu lange und zu viel gezecht hatte und dann hier hinten umgefallen war. Und auf den ersten Blick könnte man meinen, er habe sich vielleicht beim Aufprall auf einen der mit roten Geranien bepflanzten Blumenkübel, die entlang der Wirtshausfassade aufgestellt waren, das Genick gebrochen. Und zwar auf eine so saubere Art und Weise, dass sie ganz genau zum äußeren Erscheinungsbild der Leiche passte: beiger Trenchcoat, darunter ein anthrazitfarbener Anzug, der sicher einen halben Polizistenmonatslohn gekostet hatte, eine dezent grüne Krawatte und Schuhe aus weichem Leder, deren Sohlen kaum abgelaufen waren. An der linken Hand trug der Tote eine klobige Uhr. »Raubmord scheint das nicht gewesen zu sein«, mischte sich Kollege Hansen ein. Hellsteins Assistent hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten und begann nun damit, Fotos vom Tatort zu machen.

»Haben wir eine Tatwaffe?«, wandte Hellstein sich an die Kollegen der SpuSi.

»Negativ.«

»Was könnte das gewesen sein?« Der Kommissar nickte in Richtung Hals des Toten. Der war, wie der Rest des Gesichts, glatt rasiert. Einzig ein Schnitt entlang der linken Halsschlagader störte das adrette Bild. Und die Blutlache, die sich auf dem weißen Hemd ausgebreitet und auf dem Kopfsteinpflaster fortgesetzt hatte.

»Spitzer Gegenstand.«

Hellstein seufzte. Und dachte dran, dass er jetzt eigentlich gar nicht hier sein müsste, wenn Kommissar Hans Jürgen Rabenschmidt und seine Partnerin Heike Gerlach nicht gleichzeitig Urlaub machen würden. Er beim Wandern auf der Schwäbischen Alb, sie bei der Hochzeit einer Cousine in Nürnberg. »Geht mich eigentlich nichts an«, murrte er innerlich und nahm sich vor, die Zuständigkeiten innerhalb der Pirnaer Polizei bei der nächsten Betriebsversammlung anzusprechen. Dann stülpte er sich die Plastikhandschuhe über, die der wortkarge SpuSi-Kollege ihm reichte, ging in die Knie und betastete das Jackett des Toten. In der Innentasche wurde er fündig. »Brieftasche, na bitte.« Das lederne Etui enthielt neben knapp 300 Euro Bargeld zahlreiche Kredit-, Vielflieger- und sonstige mehr oder weniger sinnvolle Plastikkarten. Und den Ausweis des Mannes. »Gerd Ziegler, 17. August 1974 in Stuttgart geboren, wohnhaft in Pirna, Lautenbachstraße 3.«

»Das ist ja gleich um die Ecke«, bemerkte Hansen und knipste den Ausweis in der Hand seines Vorgesetzten. Hellstein zog die Hand zurück und ließ die Papiere allesamt in einen wiederverschließbaren Plastikbeutel gleiten. Kurz dachte er daran, wie viel lieber er jetzt an der Elbe sitzen würde, aufs gemächlich fließende Wasser starren, in der einen Hand einen Becher Milchkaffee, in der anderen eine selbstgedrehte Zigarette. Aber erstens hatte er vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört und zweitens machte sein Lieblingscafé gerade Betriebsferien wegen Umbaus. Da konnte er genauso gut mit Hansen durch das morgendlich stille Pirna zur Adresse des Toten stapfen. Das Gasthaus würden sie sich später vornehmen, denn zu so früher Stunde waren hier noch alle Schotten dicht und niemand hatte auf Klopfen und Klingeln reagiert. Verständlich, wer hatte schon Lust, im Morgengrauen zu arbeiten? Und der unglückliche Dackelbesitzer könnte seine Aussage im Lauf des Tages auf dem Revier machen. Hellstein gab den Kollegen noch ein paar dienstliche Anweisungen, dann nickte er seinem Assistenten zu. Hansen ließ den Deckel aufs Objektiv der Kamera klacken, verstaute den Apparat in der Schutztasche und reichte ihn den SpuSi-Kollegen. Die würden schon dafür sorgen, dass die Bilder in Kürze im Intranet verfügbar waren. Dann drückte er den Knopf der Fußgängerampel, an deren Pfahl die Absperrbänder leicht flatterten, wartete automatisch auf Grün, obwohl kein einziger Wagen die Königsteiner Straße befuhr, und ging los, einen halben Schritt gefolgt von Hansen.

Die Polizisten folgten der Breiten Straße bis zum Dohnaschen Platz, dann bogen sie links in die Grohmann­straße ein. Wann war er zuletzt zu Fuß da gewesen? Es musste Lichtjahre her sein. Wahrscheinlich, als er im Kino in der benachbarten Gartenstraße war. Aber mit wem? Welcher Film? Er erinnerte sich nicht, kam aber auch nicht zum Nachdenken, denn Hansen rief mit der Begeisterung eines Kindes in der Stimme: »Da sind wir schon!«

Innerlich rollte Hellstein die Augen. Entlang der Straße waren so viele Parkplätze, da hätte der Dienstwagen bestens Platz gehabt. Andererseits – so ein kleiner Spaziergang hatte noch niemandem geschadet, sagte er zu sich selbst und betrachtete das Haus mit der Nummer 3. Ein Wohnblock wie viele, entstanden in der Zeit des Sozialismus, in den 1990ern aufgehübscht und mittlerweile wieder in die Jahre gekommen. Immerhin war es zur Elbe quasi nur ein Steinwurf, es galt lediglich, die Bahnschienen zu überqueren.

»Da!« Hansen zeigte auf den Klingelknopf, neben dem ein mit Tesa fixierter Papierstreifen pappte. »Ziegler!«

»Scheint noch nicht lange hier zu wohnen«, stellte Hellstein beim Blick auf die anderen Namensschilder fest, die allesamt akkurat ausgedruckt und unter die Plastikscheibe der Klingeln gestopft waren.

»Soll ich?« Hansens Zeigefinger schwebte über dem Knopf. Die Entscheidung wurde den Beamten abgenommen, denn just in diesem Moment wurde die Haustür von innen geöffnet.

»Tach«, schnodderte ein Mann in blauer, ungewaschener Trainingshose und mit Müllbeutel in der Hand. Sein ehemals wohl weißes Unterhemd spannte sich über dem fassartigen Bauch. Der Mann brachte ein Aroma von schalem Bier, frittierten Zwiebeln und Schweiß mit sich. Hellstein rümpfte die Nase, ließ den Mann passieren und trat dann in den Hausflur. Hier legte sich über das schmalzige Düftchen des Trinkers etwas Zitroniges, das vermutlich vom Putzmittel kam. Die Tür links stand einen Spalt breit offen, vermutlich hauste hier der Herr von eben. Hellstein und Hansen erklommen die Stufen und betrachteten jedes Namensschild an den drei Türen pro Stockwerk. Im zweiten Stock wurden sie fündig. »Ziegler«, stand auf einer gelben Haftnotiz, die unter dem Türspion klebte. Vor der Tür lag eine graue Matte im Design einer PC-Tastatur. Das Preisschild lugte unter der Gummiumrandung vor. 19,99 €. Gekauft im Pirnaer Baumarkt. Als vom Erdgeschoss her das Schließen einer Wohnungstür zu hören war, klopfte Hansen an die Ziegler’sche Tür.

Der ist nicht da, dachte Hellstein. Laut sagte er: »Der ist hier allein gemeldet.« Hansen fuhr herum und starrte seinen Chef an. Dieser wedelte mit dem Smartphone vor dessen Gesicht: Die Kollegen hatten bereits mit den Hausaufgaben begonnen und ihm weitere Infos zum Toten geschickt. Er war vor anderthalb Wochen von der Rudolf-Renner-Straße hierhergezogen. Polizeilich nicht erfasst, allein gemeldet, Besitzer eines aus zweiter Hand gekauften BMW X5.

»Hausfrauenjeep«, knurrte Hellstein.

»Was?« Hansen sah wieder aus wie ein Kind.

»Nüscht. Lass mich mal.« Er drängte den Kollegen zur Seite und machte sich mittels Plastik-Rabattkarte vom Supermarkt am Schloss zu schaffen. Innerhalb weniger Sekunden war die Tür offen.

»Durchsuchungsbeschluss?«, flüsterte Hansen und sah aus wie …, ja wie ein Kind eben, das man beim Kekse­klauen erwischt hatte.

»Später. Dauert zu lange jetzt und den kriegen wir nachher doch sowieso.« Hellstein rief ein halbherziges »Hallo?« ins Appartement, dann trat er ein. Hier roch es eindeutig besser als im Flur, nach neuem Holz und leicht nach Kaffee. Was in dem Kommissar wieder den Gedanken an die Elbe aufflackern ließ. Ein Blick ins Wohnzimmer bestätigte den Holzgeruch. Neben großen Stapeln von Umzugskartons warteten zwei halb fertige Kommoden aus einem schwedischen Möbelhaus darauf, fertig zusammengeschraubt zu werden. Die piktogrammartige Anleitung lag leicht zerknüllt auf dem Parkett.

»So was kenn ich«, grinste Hansen. »Passt nie.«

»Ist aber kein Grund für Mord. Es sei denn, man will Billys Erfinder mit dem Schraubenzieher ins Reich der ewigen Elche befördern«, scherzte Hellstein zurück. Wurde dann aber wieder ernst und machte sich gemeinsam mit Hansen daran, die Wohnung genauer zu inspizieren. Was nicht allzu viel Grips und Zeit in Anspruch nahm, denn der Tote war vor seinem Ableben offenbar noch nicht dazu gekommen, seine Habseligkeiten zu verstauen. Schweigend kramten die Polizisten in den Umzugskartons, förderten Hosen und Socken, Besteck, Badezimmerartikel und sonstigen Kram hervor.

»Hier wird’s interessant!«, rief Hansen nach einer guten Viertelstunde. Hellstein musterte das Hinterteil des Kollegen, der sich über einen geöffneten Karton beugte und bekannt gab: »Ordner und Akten!«

Das machte ihn neugierig genug, den Stapel mit persönlichen Fotos des Toten zurück in die dazugehörige Papp-Box sinken zu lassen. Ein Großteil der Aufnahmen schien bei verschiedenen Feierlichkeiten aufgenommen worden sein. Dazu Fotos von ein paar Frauen, aber keine davon war auf mehr als drei Bildern verewigt. Mit längerfristigen Bindungen hatte es der Tote offenbar nicht so gehabt. Oder er hatte, wann immer Schluss war, die Erinnerungen so konsequent wie möglich gelöscht. Trotzdem machte sich Hellstein den Gedächtnisvermerk, Zieglers privates Umfeld später noch mal genauer zu beleuchten. Nicht selten stammten die Täter bei Gewaltverbrechen schließlich aus dem Familien- oder Freundeskreis. Der erst vor Kurzem erfolgte Umzug ließ hier zwar was anderes vermuten, aber der Schein trog ja bekanntlich gern mal.

»Alle Achtung, hier will es aber einer genau wissen«, murmelte Hansen, während er einen Packen Computerausdrucke herauszog. »Das sind jede Menge Infos über die Stadt Pirna. Wie sich die Bevölkerung zusammensetzt, was für Industrie und Freizeitattraktionen es gibt.«

»Vielleicht will Ziegler fürs Bürgermeisteramt kandidieren«, überlegte Hellstein.

»Schon möglich. Wobei, warte mal, hier gibt es auch etliche Seiten, in denen es ums ›Weiße Roß‹ geht. Und das sind nicht bloß Speisekarten oder Infos über die Kegelbahn. Wusstest du, dass der Gasthof schon im Jahr 1550 erwähnt wurde?«

»Natürlich. Im Dreißigjährigen Krieg ist er allerdings komplett niedergebrannt und wurde irgendwann Ende des 17. Jahrhunderts wieder aufgebaut. So was hatten wir früher in Heimatkunde dran.«

Der Kollege reichte ihm die Unterlagen, die Hellstein dankend annahm. Ein kurzer Blick auf die Blätter genügte, und er fühlte sich tatsächlich in seine Schulzeit versetzt. Vor allem nachdem er las, dass in dem Lokal schon Leute wie Kaiser Alexander von Russland, Johann Wolfgang von Goethe und der sächsische König Friedrich August der I. zu Gast waren. Weniger rühmlich waren die 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Gasthof als Volkshaus für politische Zwecke herhalten und sogar eine Stürmung der SA erdulden musste. Das »Weiße Roß« blickte in der Tat auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Kurz überlegte Hellstein, wann er die Gaststube das letzte Mal aufgesucht hatte. Kollege Rabenschmidt hatte ihn mal zu irgendeinem Vereinstreffen hinschleppen wollen, aber dann war doch irgendein Fall dazwischengekommen. Wie so oft, wenn man als Polizist private Termine hatte.

»Vielleicht war der Ziegler gestern Abend gar nicht zum Vergnügen im Lokal«, sagte Hansen.

Hellstein nickte zustimmend. »Das sollten wir später, wenn der Laden offen hat, unbedingt genauer anschauen.«

»Was machen wir bis dahin?«

»Wir überprüfen seinen Background. Gib mal den Kollegen Bescheid, dass sie sich als Erstes Zieglers Finanzen vornehmen sollen. Wer in seiner Brieftasche 300 Euro spazieren trägt, nagt nicht unbedingt am Hungertuch. Auch unter dem Krimskrams in den Umzugskartons befindet sich jede Menge Designerzeug. Außerdem sollen sie mal für alle Fälle das ›Weiße Roß‹ genauer durchleuchten.«

Während sein Partner das Telefonat führte, streifte Hellstein nochmals durch die Wohnung. Vor der Anrichte im Flur blieb er stehen. Ein Autoschlüssel mit BMW-Emblem lag neben einem Zettelblock und einem nicht angeschlossenen Festnetztelefon. Sofort kam ihm Hansens Bemerkung über den Hausfrauenjeep in den Sinn und er nahm den Schlüssel an sich. Weitere verdächtige Gegenstände fand er nicht.

Nach Hansens Telefonat stand Klinkenputzen auf dem Plan. Stockwerk für Stockwerk klopften sie an den Wohnungstüren. Nicht überall wurde ihnen geöffnet, aber bei jedem Treffer folgte die Ernüchterung nur wenige Sekunden darauf. Da Ziegler erst vor wenigen Tagen eingezogen war, hatte ihn ein Großteil der Leute noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Und selbst wenn, war es nicht über ein flüchtiges Hallo hinausgegangen. Auch Hellsteins letzte Hoffnung, der Mann in der blauen Trainingshose, konnte ihnen nicht weiterhelfen.

Mürrisch verließ der Kommissar das Wohnhaus und suchte die Straße nach Zieglers Wagen ab. Er entdeckte ihn eingepfercht zwischen einem Skoda und einem Laubbaum, mit jeder Menge weißer Vogeldreckflecken auf der schwarzen Motorhaube. Ein kurzer Blick ins Handschuhfach förderte weitere Computerausdrucke über Pirna zutage. Etwas wirklich Neues verrieten ihm die Seiten aber trotzdem nicht. Auf der Rückbank sah er halb unter der Rückenlehne ein Stück Papier klemmen. Sofort war sein Interesse geweckt und er beugte sich vom Beifahrersitz aus nach hinten. War es ein Indiz, das ihn weiterbringen würde? Nein, es war doch bloß ein Maniküre-Gutschein eines Pirnaer Nagelstudios. Da war die auf der Fußmatte liegende Packung teuer aussehender belgischer Pralinen schon deutlich interessanter. Mit Mandeln und Nougat. Mhhhm … Aber auch das half ihm nicht weiter.

Frustriert verließ er den Wagen. Hansen, der den Kofferraum unter die Lupe genommen hatte, schüttelte ebenfalls den Kopf.

Doch nichts anderes hatte Hellstein erwartet. Dieser Fall schien eine wirklich harte Nuss zu werden. »Lass uns mal in seine alte Wohngegend fahren. Vielleicht haben wir dort ja mehr Glück.«

Die ellenlange Rudolf-Renner-Straße befand sich im oberhalb der Elbe gelegenen Teil der Stadt und führte einmal quer durch die gesamte Nordhälfte Pirnas. Hellstein kannte diesen parallel zur Hauptstraße verlaufenden Weg recht gut, war ihn früher ziemlich häufig gefahren, wenn er seine Schwiegermutter oben im Ortsteil Hinterjessen besucht hatte. Das lag Jahre zurück und inzwischen ruhte die Frau deutlich zentraler.

Trotz seiner guten Ortskenntnisse dauerte es allerdings einige Zeit, bis sie ein Stück oberhalb der Schillerstraße endlich die richtige Hausnummer ausgemacht hatten. Der immer weiter zunehmende Berufsverkehr erschwerte die Suche zusätzlich.

Entsprechend genervt verließ Hellstein den Wagen und scannte auf dem Weg zu dem Mietshaus das Gebäude von oben bis unten ab. Von einer leer stehenden Wohnung war da weit und breit nichts zu sehen. Überall hingen Gardinen oder Jalousien an den Fenstern, meist gepaart mit einigen Topfpflanzen. »In welchem Stock hat er gewohnt?«

Hansen zückte seinen Notizblock. »Im zweiten.«

Dort wohnten jetzt laut Klingelschild auf der linken Seite die Radkes und rechts die Liehrs. Hellstein schellte bei Letzteren und bekam gleich darauf ein verrauschtes »Ja?« durch die Gegensprechanlage zu hören.

»Kripo Pirna. Wir hätten da ein, zwei Fragen an Sie.«

Kurzes Zögern. Dann Türsummen.

Oben erwartete sie ein jugendlich anmutender Endvierziger mit langem Pferdeschwanz. Lediglich vereinzelte Grausträhnen durchzogen das ansonsten tiefschwarze Haar.

»Ich hab nüscht gemacht«, beteuerte der Mann im schönsten Pirnaer Dialekt.

»Das ist schon mal gut zu wissen. Kennen Sie einen Gerd Ziegler, der bis vor Kurzem hier gewohnt hat?«

»Ist das mein Vormieter? Meine Frau und ich sin’ hier erscht letzte Woche eingezog’n. Eigentlich hätt’mer erst in zwee Woch’n reingedurft, aber der Vermieter hat vom Ziegler grünes Lischt bekomm’n. Wir selbst ham ihn aber bloß eenmal geseh’n. Wenn’s hochkommt, hammer da vier Sätze mit’nander gewechselt.«

»Wie wirkte er da auf Sie?«

Liehr zuckte mit den Schultern. »Ganz normal. Isser’n Schwierigkeiten?«

Hellstein ignorierte die Frage absichtlich. »Standen, als Sie einzogen, noch irgendwelche Sachen von Ziegler in der Wohnung?«

»Ne alte Stehlampe, die er nimmer gebraucht hat. Wir ham se gern genomm’n. Ist globisch sogar’n Designer-Stück.« Das letzte Wort sprach er aus wie »Däseinorr-Schtügg«.

»Haben Sie mitbekommen, dass Herr Ziegler mit jemand anderem aus dem Haus im Kontakt stand?«

»Isch glob, mit den Radkes von nebenan. Zumindest ham se sich bei der Verabschiedung umarmt und gägenseitisch all’s Gute gewünscht. Und dass’se im Kontakt bleiben woll’n. Was man da eben so sagt.«

Hellstein bedankte sich für die Info und ließ den Mann in seine Wohnung zurückkehren. Seine Nachbarn schienen eindeutig die besseren Ansprechpartner zu sein. Und waren idealerweise ebenfalls daheim. Gleich nach dem ersten Läuten öffnete ihnen ein gemütlich aussehender Endfünfziger mit grauem Haar und silberner Brille. »Ja, bitte?«

Sie zeigten ihre Ausweise vor und Hellstein wiederholte seine Anfangsfrage von gerade eben. Diesmal mit mehr Erfolg.

»Klar kenn ich Gerd. Über zwei Jahre haben wir Tür an Tür mit ihm gewohnt. Ist ein sehr netter Zeitgenosse. Warum wollen Sie das wissen?«

»Wir überprüfen gerade sein altes Umfeld. Hat Herr Ziegler hier allein gelebt?«

»Ja, es gab zwar ein paar Frauenbekanntschaften, aber offenbar nichts, was über ein paar Monate hinausging.«

»Wie lang das mit seiner letzten Beziehung zurücklag, wissen Sie nicht zufällig, oder?«

Er zuckte mit den Schultern. »Er traf sich da gelegentlich mit einer schlanken, recht großen Blondine. Er hatte sie mir sogar mal vorgestellt. Wie hieß die noch gleich? Es war irgendein merkwürdiger Name, den ich vorher noch nie gehört hatte.«

»Der Vorname?«

»Ja. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört und er meinte Marion oder von mir aus Margot. So wie Honeckers Frau. Aber nein, es war was ganz anderes.« Er grübelte einen Moment lang und schnippte mit den Fingern. »Sie hieß Manon. Jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Manon?«, wiederholte Hellstein. Diesen Namen hatte auch er noch nie gehört. Aber das traf auf viele andere Sachen ebenfalls zu. »Gab es Probleme zwischen den beiden?«

»Ach, iwo. Alles bestens. Soweit ich das beurteilen kann.«

»Hat Herr Ziegler irgendwelche anderen Schwierigkeiten oder Komplikationen erwähnt?«

»So nahe standen wir uns dann auch wieder nicht. Allerdings …« Er stockte, und instinktiv drehte Hansen sein Ohr weiter in seine Richtung.

»Allerdings?«

»Na ja, wahrscheinlich ist es unwichtig.« Radke zögerte kurz, sprach aber weiter, als er die erwartungsvollen Blicke der Polizisten sah. »Zwei Tage nach seinem Auszug sind hier drei dubios aussehende Kerle aufgetaucht und haben nach ihm gefragt.«

»Was meinen Sie mit ›dubios‹?«

»Na ja, sie waren schick angezogen. In teuer aussehenden Anzügen und so. Aber sie schauten irgendwie finster drein. Ich glaube, mit denen war nicht gut Kirschen essen. Ist natürlich bloß mein ganz persönlicher Eindruck.«

»Könnten Sie sie näher beschreiben?«, fragte Hellstein.

»Sie waren um die 30, würde ich sagen. Dunkle Haare. Ich glaube, sie hatten einen osteuropäischen Akzent. Könnte Russisch oder Polnisch gewesen sein. Auf jeden Fall hielt ich es für besser, denen Zieglers neue Adresse nicht zu geben. Das war doch kein Fehler, oder?«

»Nein, Sie haben alles richtig gemacht.«

Die Befragung der anderen Hausbewohner brachte keine neuen Erkenntnisse. Jeder im Haus hatte Ziegler als freundlichen Nachbarn kennengelernt, mit dem es nie Probleme wegen zu lauter Musik oder dergleichen gegeben hätte. Seine blonde Freundin hatten zwei andere Nachbarn ebenfalls gesehen, an die dubios aussehenden Osteuropäer konnte sich jedoch niemand erinnern.

Das Polizeirevier in der Oberen Burgstraße war ein kastenförmiger Bau mit weißem Anstrich. Beim Eintreten grüßte Hellstein alle ihm entgegenkommenden Kollegen, hielt aber nicht an, um einen Plausch mit einem von ihnen zu halten. An seinem Schreibtisch entledigte er sich seines Jacketts. Während der Computer hochfuhr, überprüfte er, was die Kaffeemaschine anzubieten hatte. Er hatte Glück: Die Kanne war noch halb voll. Und heiß war der teerfarbige Muntermacher ebenfalls.

Hansens PC war als Erstes einsatzbereit. Während Hellstein noch an seiner Tasse schlürfte, tippte sein Partner bereits munter auf seiner Tastatur herum. Allerdings nur wenige Sekunden. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Also, der Name Manon kommt aus dem Ägyptischen oder Aramäischen. Ist eine Ableitung von Maria oder Miriam und steht entweder für Verbitterung oder dafür, von Gott geliebt zu werden.«

»Manche würden fragen, ob das nicht das Gleiche ist. Ich frage mich eher, inwiefern das für unseren Fall relevant sein soll.«

»Wahrscheinlich gar nicht. Ich wollte dich bloß nicht dumm sterben lassen.«

»Vielen Dank.«

»Übrigens gibt es nur eine einzige Frau dieses Namens in ganz Pirna und Umgebung. Heißt Dittmann mit Nachnamen und betreibt einen Maniküre-Laden in der Innenstadt. Adresse habe ich notiert.«

»Dann werden wir der guten Frau nachher mal einen Besuch abstatten.« Bingo, dachte der Kommissar. Passt zur Quittung aus dem Wagen. »Haben die Kollegen schon was über Zieglers Finanzen zugeschickt?«

»Ja, allerdings wird uns das auch nicht weiterhelfen. Auf seinem Girokonto sind 2.817 Euro, ungewöhnliche Abbuchungen gab es im letzten halben Jahr keine. Die SCHUFA-Abfrage hat ebenfalls nichts gebracht.«

»Was ist mit dem ›Weißen Roß‹?«

»Dazu habe ich noch nichts. Aber …« Er schaute auf die Uhr. »Inzwischen ist es kurz vor halb elf. Da hält sich dort bestimmt schon jemand auf und wärmt die Herdplatten fürs Mittagessen an.«

»Appetit auf eine kleine Soljanka?«

Hansen leckte sich über die Lippen. »So was geht immer.«

Das Lokal zu erreichen, erwies sich schwieriger als gedacht. Mittlerweile schien die Nachricht über den Toten vor dem »Weißen Roß« in Pirna die Runde gemacht zu haben. Zumindest hatte sich um die rot-weißen Absperrbänder der Polizei eine größere Menschentraube angesammelt. Selbst ein Kamerateam des lokalen Fernsehsenders PTV berichtete live vom Tatort.

Hellstein war gezwungen, seinen Wagen eine Querstraße weiter vor einem Bistro-Imbiss zu parken und das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen. »Und das auf nüchternen Magen«, maulte sein Partner und schlängelte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. Ein uniformierter Polizist ließ sie die Absperrung passieren und das »Weiße Roß« betreten.

Drinnen kam ihnen ein Mann mittleren Alters im an­thrazitfarbenen Anzug entgegen. »Was für eine Katastrophe!«

Wie ein Kellner sieht der nicht aus, fand Hellstein und behielt Recht. Der Mann stellte sich als Geschäftsführer heraus und wirkte gleich etwas erleichterter, als ihm dämmerte, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der bei dieser Ermittlung etwas zu sagen hatte. »Wie lang müssen die Absperrbänder draußen hängenbleiben? So was ist tödlich fürs Geschäft!«

»Bis die Kollegen mit ihrer Arbeit fertig sind«, sagte Hellstein und zog ein Foto mit Zieglers Konterfei aus der Jackettinnentasche. »Wir versuchen gerade zu klären, ob der Verstorbene Kunde in Ihrem Lokal war. Möglicherweise kam er ja öfters vorbei.«

Beim Studieren des Bildes schien der Mann immer bleicher zu werden. »Ehrlich gesagt war er in den vergangenen Wochen wirklich einige Male hier. Er kam allerdings nicht zum Essen. Also nicht nur. Meist hat er mir einige Fragen über das ›Weiße Roß‹ gestellt. Ein bisschen komisch kam mir das schon vor. Zuerst dachte ich ja, er wollte mir ein Angebot für das Lokal machen, aber über Verkaufsabsichten hat er kein Sterbenswort verloren. Vielleicht war er ja von der Konkurrenz oder wollte in der Nähe ebenfalls eine Gaststätte eröffnen. Deshalb habe ich mich mit Auskünften auch sehr zurückgehalten.«

»Ist er allein oder in Begleitung hierhergekommen?«

Der Blick des Geschäftsführers wanderte in die Ferne. »Zweimal war er alleine da, einmal mit drei Osteuropäern und einmal mit einer hübschen Blondine. Aber da schien es ihm tatsächlich hauptsächlich ums Essen und seine Begleitung zu gehen. Sie hatte einen Dresdner Sauerbraten in Rosinensoße, er Schwarzbiergulasch.«

»Lassen Sie uns noch mal zu den Osteuropäern zurückkommen. Was für Leute waren das denn genau? Wie kommen Sie darauf, dass sie aus Osteuropa stammen?«

»Weil sie so gesprochen haben. Als Ziegler kurz auf dem Klo und sie unter sich waren. Worum es ging, hab ich leider nicht verstanden. In der Schule hatte ich zwar etliche Jahre Russischunterricht, aber das liegt zu lange zurück. Ich weiß nur noch Kleinigkeiten wie Swinje Sobaka‹, ›Moloko‹oder das ewig lange ›Dostoprimechatelnosti‹. Aber danach klang die Sprache irgendwie nicht.«

Ein dünnes Lächeln schlich sich in Hellsteins Gesicht. An diese Worte erinnerte er sich aus seiner Schulzeit ebenfalls noch zurück. »Schweinehund«, »Milch«, »Sehenswürdigkeiten«. »Haben Sie mitbekommen, in welchem Verhältnis diese Männer mit Herrn Ziegler standen?«

»Sie waren nicht unbedingt Freunde. Eher so wie bei Geschäftskollegen. Man kennt sich schon eine Weile, aber richtig ungezwungen ist es trotzdem nicht. Verstehen Sie, was ich meine?«

Der Kommissar verstand. Und verstand auch das ungeduldige Räuspern seines Kollegen. Das hieß übersetzt: »Hunger!«, weswegen er sich fürs Erste beim Geschäftsführer bedankte, sich gegenüber Hansen an einen mit Blumen und Kerzen hübsch dekorierten Tisch setzte und wenig später den Löffel in eine heiße, würzige Suppe tunkte.

Mit vollem Magen konnte Hellstein noch nie gut denken. Wieder schweiften seine Gedanken zum Elbufer und der verlockenden Aussicht, dort zu sitzen, aufs Wasser zu starren und ganz nebenbei zu verdauen. Aber mit Hansen an der Seite und dem Ermittlungsdruck im Nacken war daran nicht zu denken. Nachdem die Ermittler die Soljanka verputzt hatten, füllte sich das Lokal. Der Geschäftsführer hatte sich wohl geirrt: Auch Schaulustige bekamen Hunger und strömten kurz nach 12 Uhr zu Dutzenden ins »Weiße Roß«, um sich zu stärken. Und vielleicht, um sich ein bisschen zu gruseln, was allerdings in der gemütlichen Atmosphäre des Traditionslokals kaum vorstellbar war. Die Kommissare beglichen die Rechnung und schlängelten sich an den Journalisten vorbei unter den Absperrbändern durch.

Hellstein sah fast schuldbewusst auf seine Hände. Die Fingernägel waren kantig geschnitten, die Nagelhaut eingerissen. Und unter dem rechten Daumennagel war noch immer das Hämatom zu sehen, das er sich selbst beim Aufhängen der neuen Küchenuhr eingehämmert hatte. Dann fiel sein Blick auf die perfekt manikürten Männerhände, die als Plakat im Schaufenster von »Manon’s Nagelbüdchen« prangten. Direkt neben dem Pendant für perfekte Frauenhände.

»Deppenapostroph«, knurrte Hansen. Hellstein grinste. Ihm war es so breit wie lang, ob jemand orthografisch korrekt unterwegs war. Schließlich stand er selbst mit einigen Dingen der neuen Rechtschreibung auf Kriegsfuß und war der Meinung, dass Grammatik sowieso völlig überbewertet wurde. Er schielte zwischen den beiden Werbeplakaten hindurch in den Salon. Darin standen zwei identische weiße Tische. Einer war unbesetzt, am anderen saß eine schlanke Blondine mit dem Rücken zum Fenster und ihr gegenüber eine Kundin. Eine Hand hatte die Frau in eine Art Minibackofen geschoben, aus dem blaues Licht flammte. Die andere hielt sie prüfend gegen das Licht, kniff die Augen zusammen und nickte dann. An ihren Lippen las Hellstein das Wort »Geil!« ab. Diese Meinung mochte er angesichts der nachtschwarzen überlangen Krallen mit den Glitzersteinen nicht teilen.

»Warten wir noch einen Moment«, sagte er zu Hansen. Aus dem Moment wurden fast zehn Minuten, in denen Hansen ein paar Sprüche brachte, dass man unter »Nagelbüdchen« ja auch ein Etablissement mit roter Lampe verstehen könnte, die Nagelmodellage vollendet wurde und die Kundin zahlte. Was die beiden Kommissare breit grinsend durchs Schaufenster beobachteten, denn mit den waffenähnlichen Kunstnägeln schien es gar nicht so einfach zu sein, das Münzgeld aus dem Portemonnaie zu fischen.

»Haben Sie einen Termin? Wir arbeiten nur nach Terminvergabe. Also haben Sie einen?« Die Blondine sah die beiden Männer verwundert an, die das »Nagelbüdchen« betraten, als die Kundin eben den Salon verlassen hatte. Sie klappte das Terminbuch zu und legte den Kopf schief.

»Nicht direkt.« Hellstein war versucht, seine Hände mit den angeknabberten Nägeln in den Hosentaschen zu vergraben. Ließ es aber bleiben und zückte in bester Fernsehkommissarmanier seinen Dienstausweis. Die Kollegen erlaubten sich regelmäßig den Scherz, sich wie ›Tatort‹-Ermittler zu benehmen – und auch er konnte dann und wann nicht widerstehen. Bei der Blondine wirkte es, sie kam umgehend hinter dem Kassentresen hervor.

»Sind Sie Manon Dittmann?«

»Ja. Und wenn Sie wegen Marisa kommen, die hab ich entlassen. Schon letzte Woche. Ich habe wirklich nicht gewusst, dass sie illegal in Deutschland ist.« Bei den letzten Worten ließ Manon Dittmann die Wimpern klimpern. Hellstein hätte wetten können, dass die genauso unecht waren wie die in Vitrinen, die ihn an Setzkästen für Modellautos erinnerten, ausgestellten Kunstnägel. Schon erstaunlich, dachte der Kommissar, was man auf so kleiner Fläche unterbringen kann. Ihm leuchteten ganze Urwälder mit Paradiesvögeln, grafische Muster und viel, viel Glitzer in Knallfarben entgegen.

»Wir sind nicht vom Wirtschaftsdezernat«, klärte Hansen auf.

»Ah.« Das klang gleichermaßen erleichtert wie verwundert.

»Mordkommission«, platzte Hellstein raus und stellte sich vor, tatsächlich in einem ›Tatort‹ mitzuspielen. Das war so blöd, dass es schon fast wieder gut war.

»Kennen Sie einen Herrn Ziegler?«, fragte Hellstein und ließ den Gesichtsausdruck von Manon Dittmann auf sich wirken. Erst zog sie die Augenbrauen hoch, dann kniff sie die Augen zusammen. Schürzte die Lippen. Zuckte kaum merklich mit den Achseln. Das alles im Bruchteil von Sekunden.

»Ja«, antwortete sie schließlich. »Warum?«

»Herr Ziegler wurde heute Nacht ermordet.« Hellstein fand, ein Fernsehermittler hätte das auch nicht besser sagen können.

Die Wirkung auf Manon Dittmann jedenfalls war filmreif: Sie riss die blauen Augen auf, dann den Mund, seufzte, hustete, rollte mit den Augen, schließlich verbarg sie das Gesicht in den Händen. Die, wie der Kommissar erstaunt feststellte, mit ultrakurzen, pastellrosa lackierten Nägeln versehen waren. Er hätte zwei andere Dinge bei Manon Dittmann erwartet. Erstens einen Zusammenbruch, zweitens lange Krallen. Aber vielleicht war das wie beim Friseur, der ja auch immer die zauseligsten Haare hatte?

»Gerd ermordet.«

Vielleicht hätte es eine Frage sein sollen, klang aber mehr wie eine Feststellung. Hellstein verzichtete darauf, die Nageldesignerin mit den blutigen Details zu konfrontieren. Stattdessen tat er es Manon Dittmann gleich und ließ sich in einen der erstaunlich bequem gepolsterten schwarzen Sessel fallen. Nun saß er ihr genau gegenüber an einem der Tische, auf exakt jenem Platz, an dem bis eben die Kundin ihre schwarz gegelten Nägel bekommen hatte. Hansen grinste und lehnte sich an den Kassentresen. Hellstein ließ den Blick über die Tiegelchen, Fläschchen und Töpfchen gleiten, entdeckte Feilen, eine winzige Fräse und allerlei spitze Gerätschaften, die genauso gut in einen OP gepasst hätten.

»Gerd ermordet?« Das war nun eindeutig eine Frage, die der Kommissar mit einem Kopfnicken beantwortete.

»Warum?«

Hellstein war froh, dass sie nicht »Wie?« gefragt hatte.

»Gute Frage«, sagte er und schob eine Palette mit Lackfarben zur Seite. »Vielleicht können Sie uns weiterhelfen? Immerhin waren Sie und Herr Ziegler sehr eng bekannt.«

Manon Dittmann seufzte wieder. »Waren wir, wenn Sie das so ausdrücken möchten. Wobei das sehr, sehr platt klingt. Gerd und ich waren seit vier Jahren zusammen. Wir haben uns bei einem Empfang im Rathaus kennengelernt, für Neubürger, ich bin auch erst nach Pirna gezogen, habe zuvor in Kamenz gewohnt. Also waren wir in der Tat mehr als gut bekannt.« Da schwang nun ein kleiner Vorwurf mit. Ganz so, als habe der Polizist keine Ahnung von Zwischenmenschlichem. »Wir wollten heiraten. Irgendwann. Sobald eben alles geregelt ist. Wäre. Gewesen wäre.« Manon Dittmann brach ab. In ihren Augen schimmerten Tränen, und Hellstein hatte den Eindruck, als käme erst in diesem Moment die Tragweite seines Besuchs bei der jungen Frau an.

»Was hätte denn geregelt sein werden wollen müssen?« Mist. Nun brachte er auch noch die Grammatik durcheinander. Aus dem Augenwinkel sah er den grinsenden Hansen, der tonlos das Wort »Deppenapostroph« mit den Lippen formte.

»Gerd hatte Pläne.« Manon Dittmann schob eine Feile hin und her.

»Welcher Art?«

»Na ja, geschäftlich. Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«

»Für uns schon. Alles kann wichtig sein«, verfiel Hellstein wieder in die Rolle eines Vorabendermittlers. »Hatte Herr Ziegler Feinde? Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas aufgefallen? Jedes Detail kann wichtig sein.« Diesen Satz, dachte er, hatten Drehbuchautoren sicher als Baustein im Repertoire und fügten ihn in jeder zweiten Folge ein. Vermutlich zu Recht, denn Manon Dittmann reagierte wie gewünscht: zunächst nachdenklich, dann redselig.

»Wie das eben so ist in der Politik«, begann sie. Hansen zückte sein Handy. Und tat etwas, was eigentlich nicht erlaubt war – er schnitt das Gespräch mit. Hellstein und er hatten schon Dutzende Male diskutiert, aber Hansen wiegelte stets ab, er sei zu faul und zu langsam zum Mitschreiben und ein offizielles Verhör würde ja auch aufgezeichnet.

»Das heißt, Gerd wollte in die Politik. Er kam ja aus dem Westen, aber der war keiner von denen mit der Mauer im Kopf, der war ziemlich engagiert, und na ja, der hatte Ideen. Nicht nur für Pirna, auch das Umland.« Manon Dittmanns Aussage klang wie ein politischer Nachruf. »Als Unternehmensberater wollte er sich hier einen Namen machen, eigentlich kam er ja aus der Verwaltung, und sein absolutes Spezialgebiet waren Immobilien, also deren Umnutzung. Wir wollten gemeinsam investieren, wir und einige andere. Mit kleinem Geld quasi, aber zu großem Wohnraum. So ganz genau habe ich das auch nicht verstanden, aber ich bin sicher, Gerd hätte Erfolg gehabt.«

»Macht man sich in solch einer Branche nicht automatisch Feinde?«, hakte Hellstein ein.

»Wieso das denn?« Manon Dittmann klang erstaunt.

»Nun ja, wir haben gehört, dass Herr Ziegler auch, sagen wir mal … Kontakte in den Ostblock hatte.«

»Ja und?« Die Geschäftsfrau sah ihn an, als hinge ihm ein Goldfisch aus dem Ohr. In dem Moment, als er das Wort »Mafia« nennen wollte, wurde die Tür zum »Nagelbüdchen« aufgestoßen und drei schwarz gekleidete, sehr breitschultrige, sehr stämmige und sehr gebräunte Männer platzten herein. Hellstein sah, wie Hansen auffällig unauffällig nach der Dienstwaffe im Holster griff.

»Manon, Süße, wollen wir nicht stören dich!« Die Grammatik des Wortführers, um dessen Stiernacken eine schwere goldene Kette baumelte, war zum Davonlaufen. Einerseits. Für einen Mann aus Rumänien, wie Hellstein der starke Akzent verriet, aber respektabel.

»Ihr doch nicht.« Manon Dittmann stand schwerfällig auf, als sei sie in den vergangenen zehn Minuten um 20 Jahre gealtert.

»Hast du Kundschaft, komm ich später«, winkte der Koloss ab.

»Keine Kunden.« Die Dittmann trat einen Schritt auf den Fleischberg zu und nahm ihn in den Arm. Dann schluchzte sie hemmungslos in dessen schwarzes Hemd. Die beiden anderen sahen betreten und ein wenig dümmlich drein.

»Gerd ist tot«, schniefte Manon gegen den teuer aussehenden Stoff.

»Was?«

»Umgebracht.«

Der Rumäne wurde blass und drückte Manon fester gegen seine Brust. »Aber wer machen so was? Wer hat getan? Du da?« Er zeigte mit dem Finger auf Hansen.

»Ich bin Polizist!«, rief der wenig professionell, aber sehr nervös. Bei solchen Gesellen konnte man ja nie wissen …

Der Rumäne ließ Manon los. Blickte von Hansen zu Hellstein. Und wischte sich über die Augen, in denen tatsächlich Tränen schimmerten.

»War so guter Mann, Zieglergerd, sehr gutes Mann.«

»Das mag sein, aber wer sind Sie?« Hellstein erhob sich und fragte die Personalien der drei Herren ab. In seinen Ohren klangen die Namen wie Lolek, Bolek und Drollek, und selbst Hansen, der im Erkennen fremder Namen und Orte besser war, hatte Mühe. Schließlich schrieben die drei ihre Namen nebst Adressen (alle drei wohnten in Pirna) auf. Und leider auch das Alibi: Sie waren Mitglieder einer Laientheatergruppe und hatten gestern vor knapp 80 jugendlichen Zuschauern auf der Bühne gestanden. Und waren danach mit deren Lehrern bis früh um fünf diskutierend in der Garderobe der Turnhalle versumpft. Zeugen waren zwei Studienräte, ein Direktor und zwei leere Kisten Radeberger.

Nichts mit Mafia also, sondern schlicht und einfach Freunde. Als die drei gegangen waren, setzte Hellstein sich wieder. Auch Manon nahm Platz.

»Wo waren Sie eigentlich in der Nacht von gestern auf heute zwischen 19 und 6 Uhr?« Manchmal war der direkte Weg der beste. Manon Dittmann jedenfalls sah nicht sehr amüsiert aus.

»Sie fragen mich?« Die Empörung war so schlecht gespielt, dass es nicht mal für eine der Nachmittagssendungen bei RTL2 gereicht hätte.

Hellstein lächelte unschuldig. »Sie wissen ja, Routine, wir müssen das fragen.« Und wieder punktete er mit der ›Tatort‹-Masche.

»Ich war bis acht im Laden. Kann auch halb neun gewesen sein«, sagte die Dittmann. »Ich hab viel zu tun, muss ja die Kunden von Marisa auch noch übernehmen.«

»So viel kann das nicht sein.« Hansen hielt das schwarze Terminbuch hoch, in das er von der Besitzerin unbemerkt einen Blick geworfen hatte. Die schwarzhaarige Kundin war heute die einzige, die eingetragen war, für den Folgetag standen zwei Namen im Buch, danach herrschte Leere.

»Na ja, also … die stehen da ja nicht alle drin. Und manche kommen einfach so.«

»Ich dachte, Sie arbeiten nur nach Terminvergabe?« Hellstein setzte ein möglichst unschuldiges Gesicht auf. Mit dem gewünschten Effekt: Die Dittmann geriet aus dem Konzept.

»Ja, schon, nein. Ach, wissen Sie, das ist ziemlich schwierig zurzeit, da macht ein Studio nach dem anderen auf, die meisten bieten billige Schundnägel mit Gel und Lack aus China an. Da kann ich preislich nicht mithalten. Aber Qualität setzt sich durch, ich habe eben gerade eine Durststrecke, die Kundinnen kommen schon wieder.« Letzteres klang nicht sehr überzeugt.

»Zurück zu gestern Abend«, unterbrach der Kommissar die unternehmerischen Ausführungen. »Und danach?«

»Bin ich nach Hause gegangen. Kisten packen. Schließlich ziehen Gerd und ich ja zusammen. Wollten wir. Also … hatten wir vor.«

»Und dafür gibt es Zeugen?«

»Natürlich nicht. Ich war den ganzen Abend allein zu Hause. Ist das ein Problem?«

»Das nicht, Frau Dittmann. Aber vielleicht die Tatsache, dass in Herrn Zieglers neuer Wohnung alles auf eine einzelne Person ausgelegt war. Das sah, mit Verlaub, nicht nach einem Heim für ein Pärchen aus.«

Die Dittmann wurde blass. Dann knallrot. Dann wieder blass. Ein faszinierendes Farbspiel, wie der Kommissar fand. Hellstein schaltete in eine andere Rolle, etwas zwischen väterlichem Freund und verständnisvollem Mann und legte Frau Dittmann die Hand auf den Arm. Mit enormer Wirkung: Sie brach in Tränen aus.

»Ich muss aus meiner Wohnung raus, ich hab doch gekündigt, weil Gerd sagte, er und ich … wir beide … ein Penthouse … ich hab ihm doch mein Geld …« Das genügte, um nach ein paar gezielten Fragen eine ganz andere Geschichte als die des erfolgreichen und verliebten Investmentpaares zu zeichnen. Ziegler war nämlich pleite. Die Beziehung zu Manon totgelaufen. Und die Investition in ein Mehrfamilienhaus eine einzige Katastrophe mit Wasser im Keller und Schimmel unterm Dach. Manon Dittmann berichtete von immer wieder verschobenen Hochzeitsterminen, nie gemachten Reisen, ins Unendliche verschobene Kinderpläne. Der Frust vieler Monate brach wie Wasser aus einem geborstenen Staudamm aus ihr heraus. »Aber umgebracht hab ich ihn deswegen nicht!«, schloss sie nach einer Viertelstunde ihre Erzählung.

Wumms. Hellstein und Dittmann zuckten erschrocken zusammen, als Hansen das schwarze Terminbuch aus der Hand fiel und mit einem lauten Klatschen auf dem Boden landete.

»’Tschuldigung«, murmelte Hansen wie ein beim Kekseklau ertapptes Kind und bückte sich unter dem Tresen nach dem Buch. Kam aber erst nach einigen Sekunden wieder in die Senkrechte und hielt einen sehr langen, sehr roten Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Was ist das denn?«

Die Dittmann wurde wieder blass – und blieb es dieses Mal.

»Lag im Papierkorb. Da liegt eine ganze Menge davon.«

»Zehn Stück, Sie müssen nicht zählen«, flüsterte Manon Dittmann und sackte in sich zusammen. Hellstein stand auf, umrundete den Tresen und starrte in den mit einer Plastiktüte ausgelegten Eimer, der offensichtlich als Abfallbehälter diente. Darin lagen einige benutzte Papiertaschentücher – und neun weitere pfeilspitze, künstliche Nägel. Er fischte einen heraus. Das Teil war gute sieben Zentimeter lang, an der Unterseite abgeknipst und hart wie Stahl. Damit könnte man ganz sicher keine Münze aus dem Portemonnaie klauben. Er starrte das Monstrum an – und entdeckte an der plastikweißen Unterseite ein paar braunrote Schlieren.

»Lassen Sie mich raten – das ist Blut?« Er hob den Kunstnagel in die Höhe.

Manon Dittmann nickte.

»Zieglers Blut?«

Wieder nickte Frau Dittmann. »Das hab ich nicht gewollt«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ich wollte ihn doch nur ein bisschen kratzen. Weil er … mit dieser Schlampe … und ich … mich hat er abserviert … einfach so … und fährt mit meinem Geld weg … mit der Tussi …«

»Da haben Sie aber feste gekratzt«, sagte Hellstein trocken und gab Hansen mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass dieser einen Streifenwagen rufen sollte.

»Ich weiß. Aber ich dachte, wenn ich die Nägel abmache … und ich wollte den Mülleimer ja leeren, aber dann kam Frau Schädlich eine halbe Stunde zu früh.«

»Die Termine für morgen sollten Sie absagen.« Hellstein legte den blutigen Nagel zurück zu den anderen. Darum würden sich nachher die Kollegen der SpuSi kümmern.

»Wie gut, dass ich meine Wohnung schon gekündigt habe«, schnaubte Manon Dittmann und stand auf. Streckte sich in die ganze Länge ihrer 180 Zentimeter und atmete tief durch. »Aber schade, dass ich die Premiere von Loleks neuem Stücks verpasse.«

Sie klang so fatalistisch, dass Hellstein einen Moment lang befürchtete, sie könne sich mit der Nagelfeile selbst richten. Tat sie aber nicht, sondern griff zu einem Fläschchen mit grauem Lack. »Der passt bestimmt gut zur Knastkleidung«, sagte sie und ließ den Flakon in ihre Hosentasche gleiten.

Reisetipps Pirna

Die gut 780 Jahre alte Stadt war und ist buchstäblich steinreich. Denn der gelbe Sandstein der Gegend ist seit jeher Exportschlager Nummer eins. Kein Wunder also, dass die Elbstadt sich selbst den Slogan gibt: »Pirna – Sandstein voller Leben«. Meta jedenfalls hat die Stadt sehr gefallen. Und sie hat diese zehn Reisetipps für Sie (natürlich gibt es, wie überall in der Sächsischen Schweiz, noch viel mehr zu sehen und zu erleben … entdecken Sie es gerne auf eigene Faust!):