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Das Trio mit vier Pfoten ist zurück. In ihrem sechsten Band bekommen es Mark, Felix und Dominik gleich mit zwei verzwickten Fällen zu tun: Zum einen eine Reihe rätselhafter Morde scheinbar ohne Motiv, zum anderen eine tückische Erpressung. Für Letzteres sind sie eigentlich nicht zuständig, doch nachdem Geschäftsmann Holger Janssen ihnen in der Vergangenheit geholfen hat, sind sie ihm einen Gefallen schuldig, und diesen fordert er jetzt ein. Auch hier spitzen sich die Ereignisse rasch zu.
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Seitenzahl: 538
Kurzbeschreibung: Das Trio mit vier Pfoten ist zurück. In ihrem sechsten Band bekommen es Mark, Felix und Dominik gleich mit zwei verzwickten Fällen zu tun: Zum einen eine Reihe rätselhafter Morde scheinbar ohne Motiv, zum anderen eine tückische Erpressung. Für Letzteres sind sie eigentlich nicht zuständig, doch nachdem Geschäftsmann Holger Janssen ihnen in der Vergangenheit geholfen hat, sind sie ihm einen Gefallen schuldig, und diesen fordert er jetzt ein. Auch hier spitzen sich die Ereignisse rasch zu.
Sören Prescher
Mord im Hintergrund
Der sechste Fall für Mark & Felix
Edel Elements
Edel Elements
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© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2022 by Sören Prescher
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.
Lektorat: Susann Harring
Covergestaltung: Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-434-9
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Die Meldung war kurz nach der Mittagspause hereingekommen und hatte das ganze Präsidium in Aufruhr versetzt: Im Nürnberger Stadtteil Glockenhof hatte eine Frau in einem Blumenladen plötzlich über Schwindel und Übelkeit geklagt. Wenig später hatte sie das Bewusstsein verloren und war trotz sofortiger Erste-Hilfe-Maßnahmen zweier Kunden noch vor der Ankunft des Notarztes verstorben. Sämtliche Wiederbelebungsmaßnahmen blieben erfolglos. Damit waren nicht mehr die Mediziner, sondern die Kripo zuständig, die sämtliche ungewöhnlichen Todesfälle überprüfen musste.
Möglicherweise hatte die Verstorbene lediglich einen Kreislaufkollaps erlitten. Das wäre für die Angehörigen zwar ebenfalls schlimm, doch für die Ermittler wäre der Fall damit relativ schnell abgeschlossen.
Kriminaloberkommissar Mark Richter hoffte, dass es sich um eine natürliche Todesursache handeln würde. Alles andere könnte die Lage sehr, sehr kompliziert machen. Wenn er allerdings auf sein Bauchgefühl vertraute, würde sich die Hoffnung als nichtig erweisen.
Er schaltete seinen Passat vom dritten in den zweiten Gang herunter, weil der Fahrer in dem Tesla vor ihm bereits zweihundert Meter vor der Kreuzung abbremste, und schaute zu Dominik Waldmayer auf dem Beifahrersitz. Nach gut einem Jahr kannte er ihn ziemlich gut. Sein Freund und Partner war Mitte vierzig, hatte mit wild wucherndem, immer grauer werdendem Haar zu kämpfen und besaß eine bemerkenswerte Vorliebe für verlottertes Auftreten. Dreitagebart und schlecht sitzende Anzüge waren obligatorisch. Obwohl sie vom Wesen (und Kleidungsgeschmack) her unterschiedlicher nicht sein konnten und sie weiß Gott in vielerlei Hinsicht völlig unterschiedlicher Meinung waren, hatten sie in den vergangenen dreizehn Monaten genug erlebt und zusammen durchgestanden, um zu einem eingeschworenen Team zu verschmelzen. Heute genügte ein kurzer Blick in Dominiks Gesicht, und Mark erkannte darin die gleiche dunkle Befürchtung wie bei sich selbst.
Sie beide wussten, was hier in der Luft lag. Etwas, das in der Literatur ziemlich oft und im wahren Leben relativ selten vorkam.
Ein ungewöhnlicher Todesfall war ein Unglück. Zwei Opfer, auf ähnliche Weise verstorben, und das innerhalb von zwei Tagen in derselben Region, konnten ein Zufall sein. Bei dreien allerdings müsste man schon sehr blauäugig sein, um nicht einen Zusammenhang zu vermuten. Die Frau im Blumenladen könnte dieser Fall Nummer drei sein.
Mit Grausen dachte Mark an die zwei vorherigen Todesfälle zurück, die er und seine Abteilung überprüft hatten: Zuerst war eine Frau mit Namen Gizem Varol im Stadtteil St. Peter buchstäblich auf der Straße zusammengebrochen. Bedauerlicherweise mitten zur Rushhour auf der Dürrenhofstraße, einer der Hauptverkehrsstraßen des Viertels. Dadurch war die zweiundzwanzigjährige Türkin nach dem Kollaps unter die Räder eines herannahenden Daihatsu geraten, dessen Fahrer nicht mehr schnell genug hatte bremsen können. Mark und Dominik waren vor Ort gewesen. Der Anblick des entstellten Körpers hätte dem erfahrensten Kripo-Beamten das kalte Grausen beschert. Marks Eingeweide hatten sich schmerzhaft zusammengezogen, und Dominik neben ihm hatte benommen gekeucht.
Dennoch war dies der vergleichsweise harmlosere der beiden Todesfälle gewesen. Gestern war ein Mann namens Ronald Wassmann in Fürth im Beisein seiner zwei kleinen Söhne auf dem Spielplatz einfach umgefallen. Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, dass auch er sich zuvor über Bauchkrämpfe beklagt hatte, bevor er das Bewusstsein verlor. Der eilig herbeigerufene Notarzt hatte den Vater zwar noch ins nahe befindliche Fürther Westklinikum einliefern lassen. Dort allerdings hatte das Notfallteam nichts mehr für den Mann tun können. Um diesen Fall kümmerte sich der kinderlose Kollege Jan Schuster, worüber Mark alles andere als traurig war. Fälle, in die Kinder oder junge Eltern verwickelt waren, gingen ihm als Vater einer fünf Monate alten Tochter besonders nahe. Das wusste auch Abteilungsleiter Olaf Brandtrup und hatte deswegen die Bearbeitung des Falls ohne Zögern an Jan übergeben.
Hinter dem Südstadtbad bogen sie von der Allersberger Straße nach links in die Wodan-Straße ein. Mehrstöckige Altbauten mit Parkplätzen und vereinzelte Laubbäume säumten ihren Weg. Im Straßenasphalt waren die Straßenbahnschienen eingelassen, und Mark achtete darauf, nicht auf diesen Spuren zu fahren. Der Passat kam ihm dann immer so fremdgesteuert vor. Es dauerte nicht lang, bis die ersten flackernden Blaulichter zu sehen waren. Zuerst die der Krankenwagen, dahinter die der Streifenwagen, die als Nächste am Ereignisort gewesen waren. Von ihnen stammte auch die Meldung an die Kripo.
Mark fuhr am Blumenladen vorbei und parkte in einer Seitenstraße um die Ecke. Von dort wäre es nicht mehr weit zur Meistersingerhalle, in der regelmäßig Konzerte und Ausstellungen stattfanden. Gerade mal ein breiter Grünstreifen und eine vierspurige Schnellstraße trennten sie davon. Mit seiner Frau Caro war er erst vergangenen Monat auf einer Hochzeitsmesse in dem Gebäude gewesen, um sich Anregungen für ihre noch ausstehende kirchliche Heirat zu holen. Jetzt zwischen den Bäumen hindurch zu der Halle zu schauen, kam ihm surreal vor. So als hätten der Besuch dort und die jetzige Fahrt hierher in zwei völlig verschiedenen Welten stattgefunden.
„Dann wollen wir mal“, sagte Dominik und verließ mit einem schweren Seufzer den Wagen. Mark folgte ihm nach draußen und ging zum Kofferraum, um seinen Hovawart Felix aus der metallenen Hundebox zu befreien. Der dunkelbraune Vierbeiner mit den blonden Flecken an Hals, Bauch und Beinen wartete geduldig, bis Herrchen ihm die Leine angelegt hatte, und sprang dann mit einem beherzten Sprung auf den Bürgersteig. Damit war das Trio mit vier Pfoten vollständig. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihren Kollegen.
Der Blumenladen befand sich im Erdgeschoss eines vierstöckigen Wohnhauses mit renovierter Terrakottafassade. Ein besonderer Blickfang waren die grün-blau gestreifte Markise sowie die vielen bunten Blüten in der Auslage. Das Trio schlängelte sich zwischen den Passanten hindurch zum Eingang, wo zwei uniformierte Beamte sicherstellten, dass niemand Unbefugtes das Geschäft betrat. Ein dritter war dabei, die Schaulustigen zurückzudrängen und das Gebiet großräumig mit rot-weißem Plastikband abzusperren. Komplett fernhalten würde das Band sie leider nicht.
Mark, Dominik und Felix gingen auf die Beamten zu und durften kommentarlos passieren. Mittlerweile waren die drei im mittelfränkischen Polizeiapparat bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. In den letzten Monaten hatten sie sich kein einziges Mal ausweisen müssen. Links von ihnen waren die Sanitäter und der Notarzt in ein Gespräch mit weiteren Streifenpolizisten vertieft. Die Kollegen nahmen vermutlich rasch deren Aussagen auf, damit die Mediziner nicht unnötig lang von ihrer Arbeit abgehalten wurden. Sicherlich scharrte in deren Leitstelle bereits jemand ungeduldig mit den Füßen. Meistens wurde es daher so geregelt, dass die Leute zu einem späteren Zeitpunkt zum Unterschreiben der Protokolle aufs Präsidium kommen durften. Das war allemal besser, als mehrere Stunden am Tatort bleiben zu müssen und in dieser Zeit keine Notfälle behandeln zu können.
Beim Betreten des Ladens stieg Mark derDuft von Blumen in die Nase. Dies stellte eine angenehme Alternative zu den Tatorten dar, die er sonst besuchte. Rein optisch werteten die vielen Gestecke, Eimer mit Schnittpflanzen und sonstigen Floristikartikel das Umfeld ebenfalls gehörig auf. Neben der modernen Registrierkasse mit Touch-Display stand ein Kalender mit einem Sonnenuntergangsbild und dem Sinnspruch: Nutze jeden Tag so, als könnte er der letzte sein.
Dominik tippte ihn mit dem Ellenbogen an und wies auf die Kalenderweisheit. „Offenbar hat das jemand zu wörtlich genommen.“
Mark verzichtete auf eine Antwort und scannte kurz die anwesenden Personen. Zwei Frauen in Straßenkleidung standen in der Nische hinter den Schnittblumen und schilderten zwei uniformierten Streifenkollegen mit versteinerten Mienen offenbar gerade die Ereignisse. Die Beamten schrieben fleißig mit und nickten nebenbei, so als wäre dies ein Mathetest, für den sie sämtliche Antworten kannten. Mit dem Rücken zu ihnen stand eine sportliche Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz. Auch ohne ihren weißen Schutzanzug hätte Mark seine Kollegin Nicole Rösler von der Spurensicherung sofort erkannt. Sie stand neben einer rundlichen Frau mit grüner Kittelschürze, die immerzu verzweifelt den Kopf schüttelte. Vermutlich die Besitzerin des Ladens. Hinter den beiden wuselten zwei weitere SpuSis in hellen Raumanzügen und mit über den Kopf gezogenen Kapuzen durch den Laden. Ihr Hauptaugenmerk schien der am Boden liegenden Person zu gelten. Genaueres konnte Mark nicht erkennen, weil Nicole ihm die Sicht versperrte.
„Servus, Frau Kollegin“, sagte er mit leiser Stimme.
Nicole drehte sich um. Bei Marks Anblick erschien ein kleines Lächeln in ihrem ansonsten ernsten Gesicht. Das Lächeln wuchs, als ihr Blick von Dominik weiter zu Felix gewandert war.
„Servus, Jungs“, grüßte sie die Neuankömmlinge. Wie selbstverständlich ging der Hovawart schwanzwedelnd auf sie und streckte ihr auffordernd den dunklen Fellrücken entgegen. Nicole deutete die unmissverständliche Geste wie üblich richtig und ging entsprechend ans Werk.
„Hast du schon einen ersten Statusbericht für uns?“, fragte Mark.
„Die Tote heißt laut Personalausweis Juliette Sagnier“, sagte Nicole, ohne ihr Kraulen zu unterbrechen. „44 Jahre alt, wohnhaft in Mögeldorf.“
„Der Stadtteil liegt recht weit im Osten. Wie ist sie hergekommen?“
„Mit ihrem Peugeot 208. Der Wagen steht draußen an der Straße. In der Tasche haben wir den Schlüssel dazu gefunden. Möchtest du ihn haben?“
„Erst mal nicht. Die Spurensicherung überlasse ich ganz euch. Ich frage mich eher, was sie ausgerechnet in diesem Blumenladen wollte. In Mögeldorf gibt es mit Sicherheit auch welche.“
„Vielleicht gibt es hier die besten Begonien? Keine Ahnung. Für solche Fragen seid ihr zuständig.“
„Was sagt die Rechtsmedizin?“, fragte Dominik.
„Bislang gar nichts. Ziegler ist noch auf dem Weg hierher.“
„Anscheinend kannte unser Navi die bessere Route“, überlegte Dominik. „Oder war der gute Doc mal wieder irgendwo zum Brunchen eingeladen?“
Damit spielte er auf den Lottospieler-Fall an, den sie vor zweieinhalb Monaten aufzuklären hatten. Dort war der Rechtsmediziner zum ersten Mal seit wer weiß wie langer Zeit erst geraume Zeit nach den Kommissaren am Tatort eingetroffen. Sowohl zuvor als auch danach war dies nicht mehr vorgekommen.
Nicole war mit ihren Streicheleinheiten fertig und richtete sich auf. „Und wie aufs Stichwort kommt er schon. Das nenn ich perfektes Timing.“
Ein Mann über fünfzig mit kurzen grauen Haaren und herabhängenden Mundwinkeln wie die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel betrat das Geschäft. In der Hand hielt er einen schwarzen Koffer. Sein Blick wanderte ebenfalls flüchtig durch den Raum, während er zielgerichtet auf die Ermittler zukam. „Hallo, Leute, ihr müsst echt mit Vollgas gefahren sein. Auf dem Parkplatz war ich noch knapp hinter euch, aber dann …“
„Dabei haben wir unterwegs noch eine kurze Snackpause eingelegt“, sagte Dominik. Das stimmte zwar nicht, erzielte jedoch die gewünschte Wirkung.
Der Rechtsmediziner hob verblüfft die Brauen. „Wow, wirklich … beeindruckend.“
Mark überlegte, die Sache aufzuklären. Nach kurzem Abwägen entschied er sich dagegen. Er gönnte seinem Partner den kleinen Spaß. Eigentlich hätte Ziegler sich nach all der Zeit längst an den schrägen Waldmayer’schen Humor gewöhnt haben müssen. Wenn nicht, war das sein Pech.
„Gibt es schon erste Infos von der Spurensicherung?“, lenkte Ziegler das Gespräch wieder auf dienstliche Belange zurück.
„Wir sind noch dabei.“ Nicole nickte in Richtung der Kollegen in den weißen Schutzanzügen, die gerade Fotos vom Leichnam und dem hinteren Teil des Ladens schossen. „Auf den ersten Blick scheint es ein ganz normaler Laden zu sein. Absolut nichts Auffälliges in der Nähe, das zu ihrem Tod beigetragen haben könnte. Wir haben Proben von den Blumen genommen, die die Frau kurz vorher berührt hat. Große Hoffnungen mache ich mir diesbezüglich aber nicht. Um die Leiche herum haben wir …“ Sie schaute kurz zu ihrem Team. Der Mann links neben der Toten schüttelte den Kopf. „… bislang ebenfalls nichts gefunden.“
„Dann lassen Sie mich mal schauen, ob ich irgendwelche Fremdeinwirkungen feststellen kann.“
Mit den Worten schritt er an Nicole vorbei zu der regungslos am Boden liegenden Frau. Die Spurensicherung ging einige Schritte zurück, um ihm nicht im Weg zu stehen. Parallel dazu zog Mark die Hundeleine zu sich heran, sodass Felix nur noch ein Meter Spielraum zum Schnüffeln blieb, und folgte dem Mediziner. Er achtete darauf, dass der Hovawart neben ihm blieb und den Tatort nicht mit Hundehaaren verunreinigte. Der Vierbeiner kannte das Prozedere zur Genüge und versuchte gar nicht erst, der Leiche zu nahe zu kommen. Ganz anders Dominik. Dieser trat bis auf wenige Zentimeter an Ziegler ran und beugte sich hinab, um dem Mann über die Schulter blicken zu können. Erst als der Doc bewusst geräuschvoll einatmete, wich Dominik zurück und tat das, womit Mark bereits begonnen hatte: ihre eigene Leichenschau vor Ort, die wichtig war, um eine erste Verbindung zu Opfer und Todesumständen aufzubauen.
Die Frau am Boden hatte platinblonde Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten, blassgraue Augen und sie war von recht schlanker Figur. Die Unterseite ihres Kinns zierte ein kleines Muttermal, außerdem hatte sie eine längst verheilte, kleine Narbe über der Oberlippe, vermutlich ein Missgeschick aus ihrer Kindheit oder Jugend. In ihren Ohren trug sie silberne Ohrstecker mit Edelsteinchen darin. Weitere Auffälligkeiten stellte Mark nicht fest und nahm sich die Kleidung der Frau vor: enge Bluejeans, ein weißes Shirt mit einem Marilyn-Monroe-Pop-Art-Bild darauf und darüber eine helle Jeansjacke. An den Füßen trug sie weiße Adidas-Sneakers. Hinweise auf Gewalteinwirkung fand er auf den ersten Blick keine. Zu sagen hatte das nichts. Der Tote gestern auf dem Spielplatz hatte laut Jans Schilderungen genauso ausgesehen. In Marks Bauch rumorte es nervös. Er hatte Angst, es hier mit einem weiteren Opfer des mysteriösen Phänomens zu tun zu haben.
Dr. Ziegler war in der Zwischenzeit dazu übergegangen, die Hände der Frau anzuheben. Ein schmaler Goldring blitzte am rechten Ringfinger auf. Offenbar war sie verheiratet gewesen. Der Doktor spreizte ihre Finger leicht und suchte die Zwischenräume und Fingerkuppen nach Verletzungen und Einstichstellen ab. Anschließend überprüfte er ihre Unterarme, Armbeugen sowie den Hals. Ohne einen Ton zu sagen, leuchtete er ihr in den Rachenraum und tastete den mit Haaren bedeckten Teil ihres Kopfes ab. Die ganze Prozedur dauerte keine zwei Minuten und war für Mark genauso wenig aufschlussreich wie die ausdruckslose Miene des Rechtsmediziners. Als Letztes schob er ihr Shirt bis zum BH hinauf und tastete ihren Oberkörper vorsichtig ab. Schließlich drehte er sich wieder zu ihnen um. Nach einem skeptischen Blick in Felix’ Richtung wandte er sich dessen Herrchen zu: „Auf den ersten Blick sind keinerlei äußere Einflüsse feststellbar. Deshalb würde ich auf ein körperinneres Problem tippen. Was genau, lässt sich ohne eingehende Prüfung nicht sagen.“
„Was vermuten Sie?“
Er zuckte mit den Schultern. „Da kommt alles und nichts infrage. Das kann genauso gut ein Schlaganfall wie ein Infarkt sein. Wie hat sie sich vor dem Zusammenbruch verhalten?“
„Bei der Meldung im Präsidium hieß es, sie hat über Schwindel und Übelkeit geklagt. Mehr wissen wir noch nicht.“ Mark drehte sich zu der Frau im grünen Kittel um, die sich sofort angesprochen fühlte.
„Sie ist einfach zusammengebrochen“, sagte sie mit dünner Stimme. „Als sie in den Laden reinkam, war sie recht blass. Ich hatte das Gefühl, dass sie gewankt ist, aber das kann auch Einbildung gewesen sein. Sie ist rüber zu den fertigen Sträußen gegangen, da wirkte sie noch relativ normal. Dann hat sie sich immer wieder den Bauch gehalten. Es sah so aus, als müsste sie sich übergeben. Ich habe sie gefragt, ob alles in Ordnung ist. Das hat sie, glaube ich, gar nicht richtig mitgekriegt. Sie wollte rüber zu den angekippten Fenstern, nehme ich an. Zum Luftschnappen oder so. Und dann ist sie umgefallen. Gleich da an der Stelle. Wir haben sie nicht wegbewegt.“
„Wer ist wir?“, hakte Mark nach.
„Na, die Kundinnen und ich.“ Sie blickte zu den zwei Frauen, die von den Streifenpolizisten verhört wurden und die sogleich synchron nickten.
„Könnte es eine Pflanzenvergiftung sein?“, fragte Dominik an Dr. Ziegler gerichtet. „Oder eine allergische Reaktion auf irgendwas von hier?“
„Äußerliche Anzeichen dafür habe ich keine festgestellt. Keine Hautirritationen oder Schwellungen.“
„Bei uns im Laden gibt es keine Giftpflanzen“, versicherte die Frau im grünen Kittel schnell. „Weder Herbstzeitlose noch Goldregen. Und kein Eisenhut. Darauf achte ich sehr. Es kommen ja auch Kinder zu uns.“
Mark nickte. „Trotzdem wäre es gut, wenn Sie uns zeigen könnten, an welchen Blumen die Frau vorbeigekommen ist.“ Als die Verkäuferin erschrocken die Augen aufriss, fügte er mit einfühlsamer Stimme hinzu: „Das ist für die Akten und um sicherzugehen. Wir müssen wirklich alles ausschließen.“
Die Frau nickte und demonstrierte ihnen von der Eingangstür aus, wo Juliette Sagnier überall entlanggelaufen war. Die beiden Kundinnen, die die Bitte selbstverständlich mitbekommen hatten, unterstützten sie tatkräftig mit Hinweisen auf alles, was die Frau berührt hatte, und wie sie sich wo bewegt hatte. Das Ganze erinnerte Mark ein bisschen an die Samstagsabendshows früher im Fernsehen, in denen das Publikum die Kandidaten auf solche Weise anfeuerte. Unter anderem Umständen hätte dies alles durchaus witzig sein können. Diesmal lachte niemand, und die Stimmen der Zeuginnen klangen nicht mal ansatzweise so euphorisch wie die in den Spielshows.
Die restlichen Anwesenden im Laden verfolgten jeden der Schritte. Selbst der Hovawart linste neugierig hinterher. Der Kollege mit der Kamera knipste Fotos von jeder Pflanze, an der Juliette Sagnier vorbeigekommen sein könnte. Ob eine davon giftig sein könnte, würden sie später im Präsidium klären. Mark glaubte der Beteuerung der Verkäuferin und ging nicht davon aus, dass sie etwas mit tödlicher Wirkung finden würden. Auch Dominik wirkte von dieser Möglichkeit nicht überzeugt. Nach der Demonstration kehrten alle drei Zeuginnen an ihre vorherigen Plätze zurück, tunlichst darum bemüht, keinen Blick auf die am Boden liegende Tote zu werfen. Genauso Felix, der lieber an den Blumen hinter sich schnüffelte. Wie sie hießen, wusste Mark nicht. Sie hatten längliche rote Blüten und dufteten intensiv. Für eine Hundenase sicherlich ein Fest.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, meine Damen. Das hilft uns sehr viel weiter“, sagte Mark. „Wir benötigen nur noch Ihre Angaben an unsere Kollegen von der Streife.“
Einer der besagten Kollegen warf ihm einen Wir-sind-bereits-dabei-Blick zu. Das wusste Mark natürlich und hatte die Anmerkung bloß als Überleitung zum nächsten Satz genutzt: „Wir machen uns dann mal weiter an die Arbeit.“
„Gute Idee“, fand Ziegler und wandte sich erneut der Frau am Boden zu. Neben ihm setzte der SpuSi-Kollege sein Fotoshooting fort.
Nicole verstand es als ihr Stichwort und reichte Mark eine durchsichtige Beweismitteltüte mit der Brieftasche und dem Ausweis des Opfers darin. Darauf stand, dass sie in der Kinkelstraße wohnte. Mark notierte sich das in Gedanken und wollte Dominik gerade ein Zeichen zum Gehen geben, als dieser sich Ziegler zuwandte. „Doc, hätten Sie noch mal kurz eine Minute für uns?“
Irritiert schaute der neben der Leiche knieende Rechtsmediziner auf. Nach einer Sekunde des Zögern erhob er sich und folgte ihm in den hintersten Teil des Blumenladens, wo niemand mithören konnte. Unterwegs winkte Dominik Mark und Felix zu sich.
„Mir brennen da noch zwei Fragen auf der Leber“, sagte er leise, nachdem sie unter sich waren. „Die erste ist: Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen diesem Fall und denen von gestern und vorgestern?“
„Es ist viel zu früh, um das zu sagen. Lassen Sie mich die Frau bei uns in der Rechtsmedizin genauer untersuchen. Dann sind wir klüger. Unter Umständen ist das alles bloß ein makabrer Zufall. Wie lautet die zweite Frage?“
Dafür trat Dominik noch näher an Ziegler heran. „Wenn die Pflanzen im Laden nichts damit zu tun haben und es auch kein spontaner Herzschlag war, was hat sonst den Kollaps der Frau ausgelöst? Haben wir es vielleicht mit einer Virus-Epidemie zu tun? Wie in The Stand oder Outbreak?“
Ziegler schien einen Moment über die Möglichkeit nachzudenken, ehe er den Kopf schüttelte. „Unwahrscheinlich. Die anderen Leute hier – uns eingeschlossen – zeigen keinerlei unmittelbare Symptome. Das spricht gegen eine Infizierung im Laden mit unmittelbarem Verlauf beziehungsweise eine Masseninfektion. Außerdem haben Viren in der Regel eine längere Inkubationszeit. Ich halte es eher für eine spontane Einzelreaktion oder gezielte Intoxikation.“
„Eine was?“
„Er meint eine absichtliche Vergiftung“, warf Mark ein.
„Also besteht für uns keinerlei Ansteckungsrisiko?“, fragte Dominik.
„Wie gesagt: Für den Moment halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich.“
„Ja, für den Moment …“
„Sollte die Obduktion etwas anderes ergeben, erfahren Sie’s als Erster, okay?“
Dominik nickte zögernd. „Okay.“
Für den Mediziner schien der Fall damit erledigt, und er kehrte zu seiner Arbeit zurück. Der Kommissar-Kollege hingegen wirkte nicht ganz überzeugt und blieb noch einen Moment lang unschlüssig stehen. Erst Marks beherztes Klopfen gegen den Oberarm riss ihn aus seiner Starre. Gemeinsam verließen sie das Blumengeschäft.
Auf dem Weg zu ihrem Dienstwagen hielt Mark Ausschau nach Juliette Sagniers Auto. Ein Stück die Straße hinauf parkte ein relativ neu aussehender hellgrüner Peugeot e-208 mit Nürnberger Kennzeichen. Das könnte er sein, überlegte er. Im Vorbeigehen warf er einen kurzen Blick auf Vorder- und Rücksitze. Abgesehen von einem weißen Handyladekabel und einem vollgestopften Abfallfach in der Mittelkonsole war darin nichts Bemerkenswertes zu sehen. Das Fahrzeug verfügte über ein Navi, das jedoch ausgeschaltet war. Den Weg hierher hatte Juliette entweder auswendig gekannt, oder sie war einem spontanen Impuls gefolgt. Mark notierte sich das im Hinterkopf und ging weiter zum Passat.
„Nächstes Ziel Mögeldorf?“, fragte Dominik, als sie im Wagen saßen.
„Nicht unbedingt. Wir haben es soeben halb zwei. Vermutlich ist der Ehemann um diese Zeit noch gar nicht daheim.“
„Dann lass uns doch mal beim Finanzamt nachhaken, wo er laut Einkommenssteuererklärung arbeitet.“
„Bin schon dabei.“ Mark klappte seinen Dienstlaptop auf den Oberschenkeln auf und schaltete ihn ein. Während der Computer hochfuhr, warf er einen Blick in Richtung Kofferraum. Felix saß aufrecht in der Hundebox und verfolgte mit offener Schnauze, was Herrchen gerade tat. „Wir fahren gleich los“, versicherte Mark ihm. Wenig später konnte er das Versprechen in die Tat umsetzen.
„Ich muss mich übrigens korrigieren“, sagte Mark, nachdem er sich in den Verkehr eingeordnet hatte. „Wir fahren doch nach Mögeldorf.“
„Ist der Göttergatte arbeitslos?“
„Laut seinen Steuerunterlagen nicht. Da wird er als selbstständig mit recht gutem Einkommen geführt. Lohnsteuerklasse drei, während die Frau die fünf hat.“
„Arbeitet er irgendwas, das seine Frau in Gefahr gebracht haben könnte?“
„Er betreibt ein Übersetzungsbüro. Außer Verbrechen gegen die deutsche oder irgendeine andere Sprache fällt mir da spontan nichts ein. Aber dafür bringt man in der Regel weder den Übersetzer noch dessen Ehefrau um.“
„Kommt auf die Übersetzung an …“
Mark setzte den Blinker und wechselte auf die rechte Spur. Er vermutete, dass gleich ein paar Gags in diese Richtung oder irgendeine von seinen typischen verrückten Theorien folgen würde. Nicht selten nutzte Dominik ihre Autofahrten für ellenlange Monologe, die eigentlich nur unter massivem Alkoholkonsum zu ertragen wären. Manchmal nicht mal dann. Diesmal reagierte sein Partner jedoch anders. Er rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und sprach in deutlich gemäßigterem Tonfall weiter: „Was machen wir eigentlich, wenn Ziegler sich irrt und die Toten doch was Ansteckendes hatten?“
„Erstens gibt es dafür bisher keinerlei Anzeichen, und zweitens: Wie oft hat Ziegler sich bisher getäuscht? Der Mann versteht sein Handwerk.“
„Das tun wir auch. Trotzdem waren wir schon auf der einen oder anderen falschen Fährte. Ich erinnere da nur an den unglücklichen Glückspilz vor Kurzem. Oder der Fall mit dem Loch in der Zimmerwand. Das war echt auf Messers Schneide.“
„Das ist was anderes. Hier geht es um grundsätzliche Fragen. Wenn Ziegler die typischen Anzeichen einer Viruserkrankung bemerkt hätte, hätte er uns das gesagt. Es geht ja schließlich ebenso um seine Gesundheit.“
„Ja, genau, die typischen Anzeichen. Exakt da liegt der Hund begraben. Was, wenn es sich um eine völlig neue Virusvariante handelt, bei der die Leute einfach so umfallen? Irgendwas Superfieses, das in einem geheimen Labor als chemischer Kampfstoff entwickelt wurde. Erst neulich habe ich ’ne gruselige Doku darüber gesehen.“
Unfreiwillig begann Mark zu schmunzeln. Da waren sie wieder, die verrückten Ideen seines Kollegen, wegen denen ihn manche seltsam anschauten und die ihn schon in manche haarsträubende Situation gebracht hatten. „In dem Fall sind wir wahrscheinlich längst alle verseucht und haben keine Chance mehr. Außer wir besitzen eine natürliche Immunität. Auch so was gibt’s immer wieder mal. Nichtsdestotrotz haben wir bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass deine oft zitierten Pantokratoren, die CIA oder irgendein anderer Verein mit drei Buchstaben so was auf die Menschheit losgelassen haben könnte. Wir reden hier von Nürnberg und nicht einer Metropole wie New York oder Tokio.“
„Trotzdem: Drei Tote an drei Tagen, die mir nichts, dir nichts umkippen. Wie oft gibt es so was?“
„Genau das ist die Frage. Und an uns liegt es, die Antwort darauf zu finden.“
Dominik seufzte tief. „Ich kann es kaum erwarten.“
Das Übersetzungsbüro Martin Pobot befand sich im ersten Stock eines Eckhauses nur zwei Querstraßen von der Kinkelstraße entfernt. Es war ein unscheinbares Gebäude mit wenigen Fenstern und noch weniger Klingelschildern. Lediglich sechs Namen las Mark darauf. Das Übersetzungsbüro war das einzige Gewerbe hier – zumindest das einzige, das offiziell angemeldet war.
Auf ihr Klingeln hin erschien ein Mann in der zweiten Hälfte der Vierzig, mit normaler Statur, graublondem Haar und Dreitagebart. Er trug Jeans und ein langärmliges Hemd mit offenem Kragen. Sein Blick war irritiert bis fragend. „Offensichtlich sind Sie nicht der Postbote“, begrüßte er sie.
„Offensichtlich“, bestätigte Dominik und zeigte genau wie Mark seinen Dienstausweis vor.
Pobots Miene veränderte sich von überrascht zu erschrocken. Als er Felix entdeckte, wirkte er noch beunruhigter. „Wird das eine Razzia?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Na ja, der Hund und Ihre Dienstausweise von der Kripo … ich habe nichts zu verbergen. Sie können sich gerne überall umsehen.“
Sie traten ein und befanden sich direkt in einem rechteckigen Aufenthaltsraum, der eine Mischung aus Küche und Besprechungszimmer darstellte. Eine offen stehende Tür auf der rechten Seite entblößte ein kleines Büro mit länglichem Schreibtisch mit stapelweise Büchern und Manuskripten. In der Mitte stand ein aufgeklappter Laptop, dessen Lüfter leise surrte. Felix wurde davon angezogen, und Mark überlegte kurz, den Hund ein wenig herumschnüffeln zu lassen. Er entschied sich dagegen und bedachte den Übersetzer mit ernstem Blick.
„Herr Pobot, wir sind nicht wegen einer Razzia hier. Wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen. Ihre Frau, Juliette Sagnier, ist tot.“
„Wie bitte?“, fragte er entgeistert. Sämtliche Kraft schien aus einmal aus seinem Körper gewichen zu sein, und er musste sich an der Lehne eines Stuhls abstützen, um nicht umzufallen. „Wie kann das sein? Ich habe sie heute Morgen noch gesehen.“
„Die genauen Umstände untersuchen wir gerade. Sie ist am Vormittag in einem Geschäft in Glockenhof zusammengebrochen. Die Rettungskräfte haben ihr Möglichstes getan. Leider vergebens. Sie ist noch vor Ort gestorben. Es tut mir leid.“
Geistesabwesend drehte Pobot den Stuhl, an dem er sich abgestützt hatte, herum und sank darauf nieder. Den Blick hielt er starr auf einen Punkt auf dem Parkettboden gerichtet.
„Was heißt, sie ist zusammengebrochen?“, fragte er mit verzweifelter Stimme. „Juliette ist kerngesund! Sie geht regelmäßig joggen und achtet auf ihre Ernährung. Das muss ein Irrtum sein.“
Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche, entsperrte das Gerät über den Fingerabdruckscanner und drehte das Display dann in Richtung der Kommissare. Es zeigte ein farbenfrohes Bild von Juliette Sagnier, die auf einer satten grünen Wiese lag und freudig lächelte.
„Es ist leider kein Irrtum“, bestätigte Dominik. „Wie hat sich Ihre Frau heute Morgen verhalten?“
Einige Sekunden verstrichen, bevor er antwortete. „Ganz normal. Sie war wie immer.“
„Hat sie irgendwas gesagt?“
„Nein. Wir haben zusammen gefrühstückt. Dann hat sie sich für ihre Arbeit bereitgemacht und ich bin zu meinem Büro, also hierher, gegangen.“
„Was genau arbeitete Ihre Frau? Das ging aus den Belegen des Finanzamtes nicht genau hervor.“
„Ernährungsberaterin und Fitness-Guru. Sie gibt dazu Kurse im Internet und macht auch Hausbesuche, um die Kunden vor Ort zu beraten.“ Er stützte den Kopf mit einer Hand ab und schüttelte ihn mehrmals leicht. „Heute hatte sie, soweit ich weiß, keine Termine.“
„Haben Sie eine Ahnung, weshalb sie zu dem Blumenladen in Glockenhof gefahren ist?“
„Ein Blumenladen war es?“ Er hielt kurz inne. „War es der in der Nähe der Meistersingerhalle?“
Mark nickte, und der Mann fuhr fort: „Den hat sie geliebt. Wann immer wir in der Nähe waren, mussten wir dort anhalten und schauen, was es gibt. Wahrscheinlich ist sie deswegen dorthin gefahren. Tut sie öfters. Also: Hat sie getan. Gott, ich kann noch immer nicht fassen, dass sie tot sein soll. Wo ist sie im Moment? Kann ich sie sehen?“
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das leider nicht möglich. Die Untersuchung ihrer Todesumstände ist gerade erst angelaufen. Die Kollegen von der Rechtsmedizin werden noch einige Zeit brauchen, um ganz genau herauszufinden, woran Ihre Frau gestorben ist.“
„Und dann?“
„Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, geben wir Ihnen Bescheid.“ Ganz bewusst vermied Mark den Begriff Obduktion. Kein Angehöriger wollte unmittelbar nach der Todesnachricht hören, dass die Behörden den Körper des oder der geliebten Angehörigen aufschnitten und Gewebeproben entnahmen.
„Gibt es in der Nähe vom Glockenhof noch andere Orte“, übernahm Dominik die Befragung, „die Ihre Frau davor aufgesucht haben könnte oder wohin sie danach noch hätte fahren wollen?“
Erneut brauchte Pobot einen Moment, bevor er die Frage beantworten konnte. Jede Antwort schien ihn ein Übermaß an Kraft zu kosten. Gleichzeitig sprach er rational und wohlüberlegt, was offenbar generell seine Art zu sein schien. „Sie hat nichts erwähnt. Ich bin kurz vor neun rüber zum Büro gelaufen. Keine Ahnung, was sie danach gemacht hat.“
„Könnte es in Ihrer gemeinsamen Wohnung in der Kinkelstraße Hinweise darauf geben?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
Der Witwer zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Schon möglich.“
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns dort einmal umsehen?“
„Nein. Natürlich nicht. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“ Als er aufstand, wirkte Martin Pobot wie ein alter Mann von mindestens achtzig Jahren. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern folgte er ihnen aus dem Schreibbüro hinaus. Das gedämpfte Surren seines Arbeitslaptops klang auf einmal viel zu laut.
Auf den ersten Metern schwiegen sie. Mark nutzte den kurzen Weg, um dem Hovawart etwas mehr Leine zu lassen, damit er all die Dinge beschnüffeln konnte, die Hunde gerne beschnüffelten. Mark lief bewusst hinter Dominik und Pobot, um die beiden nicht unnötig auszubremsen.
„Hat man in einem Übersetzungsbüro eigentlich viel zu tun?“, startete sein Partner derweil einen Versuch, den Witwer auf andere Gedanken zu bringen.
„Ich kann mich nicht beklagen.“
„Das wundert mich etwas. Heutzutage gibt es im Internet und fürs Handy recht fähige Translation-Tools. Die kriegen sogar kompliziertere Sätze meistens fehlerfrei hin.“
„Ja, die meisten schon. Aber wenn es um Wortspiele und doppelte Bedeutungen geht, sieht es schlecht aus. Irgendwann wird sich das bestimmt ändern. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.“
„Und wer braucht Wortspiele und doppelte Bedeutungen bei Übersetzungen?“
„Jeder Belletristrikverlag, der ausländische Bücher einkauft, zum Beispiel. Autoren verstecken gerne Sachen zwischen den Zeilen. In manchem Geschäftsvertrag sieht es nicht anders aus. Würden Sie solche Dokumente einem Online-Übersetzungsprogramm überlassen, wenn es um viel Geld geht?“
Sie bogen um die Hausecke und mussten einer vorbeigehenden Rentnerin ausweichen.
„Vermutlich nicht“, sagte Dominik. „Welche Sprachen übersetzen Sie?“
„Französisch, Englisch, Italienisch.“
„Übersetzen Sie nur ins Deutsche oder auch umgekehrt?“
„Beides.“
„Coole Sache. Woran arbeiten Sie gerade? Oder ist das streng vertraulich?“
„Aktuell übersetze ich den neuen Robert-Krauss-Roman ins Englische. Das ist zwar kein Geheimnis, aber an die große Glocke wird es trotzdem nicht gehängt.“
Dominik hob den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum Schwur. „I will keep the secret for me, wie es so schön heißt.”
Pobot betrachtete ihn schief von der Seite. Erneut wirkte er gleichzeitig sehr mitgenommen und irgendwie abgeklärt, so als hätte ein Teil seiner selbst die schreckliche Nachricht bereits begriffen, während die andere sie auszublenden versuchte. „Streng genommen müsste es I will keep the secret to myself heißen. Doch das sagt im Englischen keiner. Da heißt es eher: My lips are sealed.“
Hinter ihnen konnte sich Mark ein Grinsen nicht verkneifen. Mit seinen gern verwendeten Denglisch-Begriffen war er bei diesem Mann wohl an seinen Meister geraten. Trotzdem glaubte Mark nicht, dass dies seinen Partner kurieren würde. Dafür kannte er ihn viel zu gut. Nicht nur in der Hinsicht zeigte sich Dominik ziemlich beratungsresistent.
Die Wohnung des Ehepaars befand sich schräg gegenüber einem Geschäft zur Wasseraufbereitung. Am Klingelschild standen die Namen Sagnier und Pobot durch einen Schrägstrich getrennt. Mark überlegte, den Ehemann zu fragen, weshalb seine Frau und er sich für unterschiedliche Nachnamen entschieden hatten, verwarf den Gedanken einen Atemzug später aber wieder. Er hätte keinen der zwei Namen haben wollen und konnte es gut verstehen, dass die Ehepartner davon ebenfalls keinen annehmen wollten. Eine Doppelnamen-Konstruktion der beiden Namen als Alternative fand er mindestens ebenso gruselig. Manchmal war es doch am besten, einfach weiterhin den Geburtsnamen beizubehalten.
In der zweiten Etage zückte der Ehemann den Türschlüssel und sperrte damit die Wohnung auf, die er von nun an allein bewohnen würde. Ihm selbst schien das im selben Moment bewusst zu werden. Beim Eintreten hielt er die Luft an und schloss für eine Sekunde die Augen. Die Kommissare gaben ihm etwas Zeit zum Verarbeiten. Als sie ihm folgten, taten sie es mit Abstand und blickten sich routinemäßig überall um. Dominik wirkte besonders skeptisch und schnupperte, als könnte ein geruchsintensives Gift oder Virus in der Luft liegen. Felix tat es ihnen gleich und reckte genauso prüfend die Nase. Seine erste Duftfährte führte ihn in Richtung Küche, und Mark ließ ihn bereitwillig von der Leine. Am Boden lag nichts, was dem Vierbeiner gefährlich werden könnte. Von riechbaren Giften und Viren war ebenfalls nichts festzustellen.
Im Wohnzimmer standen zwei benutzte Gläser auf dem Beistelltisch, eines davon noch halb voll mit Wasser. Daneben lag eine zusammengefaltete Illustrierte mit einer sportlich gekleideten Rothaarigen auf dem Titelbild. Nichts davon gab Hinweise auf Juliettes Ausflugspläne oder Todesumstände. Die Befürchtung, dass sich der Weg hierher als Sackgasse erweisen würde, lag nahe. Ganz aufgeben wollte Mark jedoch noch nicht und schaute sich als Nächstes im Schlafzimmer und anschließend im Gästeraum respektive Arbeitszimmer um. Auf einem spartanischen Holztisch mit Metallbeinen an der vorderen Wand stand ein weißes Notebook. Neben einem flachen Ausklappsofa standen zwei aufgerollte Isomatten, die die Frau vermutlich während ihrer Online-Sportstunden verwendet hatte.
„Sieht alles ziemlich harmlos aus“, sagte Dominik hinter ihm. „Ein Satz mit X fällt mir da ein.“
„Scheint fast so.“
Felix trottete zu ihnen, zu dritt kehrten sie ins Wohnzimmer zurück, wo sie Martin Pobot mit apathischem Blick auf dem Sofa vorfanden. Erst als sie direkt vor ihm standen, schaute er mühsam auf. „Hier ist nichts. Man spürt so deutlich, dass sie nicht mehr da ist. Obwohl all ihre Sachen hier sind, hat sich die Wohnung noch nie so leer angefühlt. Was soll ich denn jetzt ohne sie tun?“
„Das werden Sie wissen, wenn etwas Zeit vergangen ist. Jetzt trauern Sie erst einmal. Nehmen Sie sich Zeit für sich. Schreien Sie, seien Sie wütend oder traurig. Das ist alles okay. Und wenn Sie Hilfe benötigen, können wir Ihnen gerne einen Trauerberater vorbeischicken. Wir haben auch einige Telefonnummern von Seelsorgehotlines. Die Leute dort kennen sich mit so etwas aus. Die wissen, wie es Ihnen geht und was zu tun ist.“
Mark reichte ihm die entsprechenden Visitenkarten.
„Wir schicken Ihnen auch gerne jemanden vorbei“, beteuerte Dominik noch einmal.
Der Witwer schien kurz darüber nachzudenken, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein. Danke. Ich schaffe das schon. Irgendwie. Ich muss es bloß erst mal richtig auf die Reihe kriegen. Es wirkt so unreal. Wie aus einem Buch.“
Mark nickte mitfühlend. „Wie war Juliette vom Wesen her?“
„Ein Energiebündel vor dem Herrn. Sie ist morgens förmlich aus dem Bett gesprungen. Ohne Sport lief bei ihr gar nichts. Sie hat das sogar studiert. Juli war mit ganzem Herzen dabei. Voller Lebenslust und immer 110 Prozent. Vorgestern erst war sie noch beim Friseur. Sie liebte es, sich herauszuputzen. Selbst bei ihren Fitnessstunden war sie immer top gestylt.“
Das mit der Sportleidenschaft konnte Mark gut verstehen. Auch er freute sich immer auf derlei Betätigungen (allerdings eher off- als online). Es war gut, sich so manchmal an seine eigenen körperlichen Grenzen zu bringen. „Gab es jemanden, der sauer auf sie war? Ein neidischer Konkurrent? Jemand aus einer früheren Beziehung? Oder jemand, mit dem sie sich verkracht hatte?“
„Nein. Juli kam mit allen klar. Konkurrenz gab es sicherlich. Mit der Fitnessbranche geht es stetig aufwärts. Aber Trainer und Berater gibt es in dem Bereich unzählige. Da sticht keiner dem anderen ein Auge aus.“
„Ihre Frau besaß doch sicherlich eine Liste ihrer Kunden, oder?“, überlegte Dominik.
„Bestimmt. Die dürfte auf ihrem Laptop sein.“
„Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns den ausleihen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie ruhig. Aber bitte löschen Sie nichts. Da sind bestimmt noch etliche Bilder von ihr drauf.“
„Seien Sie unbesorgt“, sagte Dominik auf dem Weg ins Nebenzimmer. „Bei uns kommt nichts weg. Wie lautet das Passwort des Computers?“
„1802. Unser …“ Er stockte kurz und holte tief Luft. „… Hochzeitstag. Das ist auch der PIN-Code, falls Sie ihr Smartphone überprüfen wollen.“
Inzwischen war Dominik mit dem zugeklappten Laptop in der Hand zurück im Wohnzimmer. „Vielen Dank dafür. Sie haben uns sehr geholfen. Können wir noch etwas für Sie tun?“
Erneutes Kopfschütteln. Sein Blick sank wieder traurig zum Boden.
„Falls Ihnen noch etwas Fallrelevantes einfällt, geben Sie uns bitte Bescheid“, sagte Mark und legte seine Visitenkarte auf den Beistelltisch. Pobot schien es nicht einmal wahrzunehmen.
„Wir brechen dann mal wieder auf“, sagte Dominik. „Machen Sie es gut und keep the ears stiff, wie der Engländer sagen würde.“
Es war ein schwacher Abschiedsscherz, der den mitgenommenen Mann nicht aufzumuntern vermochte. Leise zogen sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.
Im Präsidium am Jakobsplatz führte ihr erster Weg zur IT-Abteilung, um Juliette Sagniers Laptop in die fähigen Hände von Computerspezialist Zeljko Abramovicz zu übergeben. Der Kollege war nicht gerade froh über die zusätzliche Arbeit, versprach aber, sich das Gerät bei nächstbester Gelegenheit anzuschauen.
Der PC-Fachmann war einige Jahre jünger als Mark und teilte seine Leidenschaft für Sport. Ganz im Gegenteil zum gängigen Computer-Nerd-Klischee war Zeljko kein schmächtiger Typ mit Hornbrille und Vorliebe für Star Trek, sondern ein durchtrainierter und durchaus attraktiver Bursche mit kantigem Gesicht und pechschwarzer Kurzhaarfrisur. Zusammen hatten sie bereits an Stadtmarathons teilgenommen und etliche Konzerte in Nürnbergs berühmtem Musikklub Hirsch besucht. Er war einer jener Kollegen, denen Mark bedenkenlos vertraute. Als Mark ihn daher bat, auf dem Gerät nach Querverweisen zu den anderen beiden Toten der vergangenen Tage zu suchen und die Ergebnisse erst mal nur ihnen mitzuteilen, wusste er, dass Zeljko genau das tun würde.
Weiter ging es zum Großraumbüro im zweiten Stock, das sich Mark und Dominik (und Felix) mit mehreren anderen Kripo-Kollegen teilten. Ihr Doppelschreibtisch lag im hinteren Teil des Raums und führte direkt an dem von Jan Schuster vorbei. Leider war dessen Platz nicht nur verwaist, der dunkle Bildschirm im Ruhemodus ließ zudem vermuten, dass Jan schon etliche Stunden nicht mehr hier gewesen war. Mark war unschlüssig, ob das gut oder schlecht für ihren Fall war. So oder so würden sie sich später mit Jan zusammensetzen und nach Gemeinsamkeiten zwischen den Todesfällen suchen müssen. Die Zeit bis zu seiner Rückkehr konnten sie schon einmal für Juliette Sagniers Lebenslauf verwenden. Die Überprüfung des persönlichen Hintergrunds der Toten zählte ohnehin zu den üblichen ersten Schritten der Leichensachbearbeitung.
Geboren und aufgewachsen war sie im südwestlich von Paris gelegenen Boulogne-Billancourt, bis sie kurz vor ihrem elften Lebensjahr mit ihren Eltern nach Deutschland umgezogen war. Zunächst nach Düsseldorf, wo ihr Vater dem Job bei einem großen Unternehmen für Wasch- und Reinigungsmittel gefolgt war. Sieben Jahre später zog die Familie weiter nach Belgien, wo die Firma ebenfalls Niederlassungen besaß. Juliette hatte die Zeit in Deutschland offenbar nachhaltig genug beeindruckt, dass sie zum Studium der Sportwissenschaften nach Allemagne zurückgekehrt war. Vier Jahre lebte sie in Leipzig, bevor es sie nach Bochum, München und schließlich Nürnberg verschlug. Ihren Mann Martin Pobot hatte sie vor fünf Jahren in Nürnberg geheiratet. Vermutlich war er auch der Grund für ihren Umzug nach Mittelfranken gewesen. Zumindest hatte sie bis anderthalb Jahre vor der Hochzeit mit ihm in München gelebt. Gemäß ihrer Lohnsteuererklärungen hatte sie über die Jahre in verschiedenen Sportbereichen gearbeitet, inklusive Sportgeschäften und Fitnessstudios. Vor zwei Jahren hatte sie dann das Angestelltenverhältnis gegen die Selbstständigkeit eingetauscht.
Ein leises Schnaufen hinter Mark ließ ihn sich umdrehen. Wie üblich hatte Felix es sich auf seiner Decke hinter Marks Schreibtisch bequem gemacht. Die Schnauze lag auf den Vorderpfoten, während der Hund erschöpft seinen Hundeträumen nachging. Dennoch dürfte vermutlich ein Wort von Herrchen genügen, damit der Hovawart sofort wieder auf den Beinen und einsatzbereit wäre. Mark gönnte ihm die Verschnaufpause und wandte sich Dominik zu. „Hast du schon was gefunden?“
Dieser scrollte noch kurz über den Bildschirm, bevor sein Blick träge über den Schreibtisch schwenkte. „Die Bankdaten der beiden sind unauffällig. Die Schufa-Auskunft habe ich angefordert. Polizeilich ist Juliette kein einziges Mal auffällig geworden. Es gibt ein paar Tickets wegen Geschwindigkeitsübertretungen. Geschenkt. Ansonsten ist ihr Leben so interessant wie das eines Schneckensammlers im Ruhestand. Bei ihrem Herzblatt sieht es nicht viel anders aus. Er war mal an einem Pkw-Unfall mit Fahrerflucht beteiligt – allerdings auf der Opferseite. Das ist vier Jahre her, und es ging relativ glimpflich aus. Hauptsächlich Sachschaden.“
„Das klingt so, als würde sich das Spannendste in seinem Leben zwischen zwei Buchdeckeln abspielen. Wogegen ja prinzipiell nichts einzuwenden ist.“
„Nur bringen uns die Daten bei den Ermittlungen nicht wirklich weiter.“
„Noch wissen wir nicht mal, ob es überhaupt einen Fall gibt. Wenn Ziegler eine natürliche Todesursache angibt, war es das.“
Dominik hob tadelnd die Brauen. „‚Natürlich‘ ist relativ. Ich möchte an der Stelle noch mal auf die zwei anderen Toten hinweisen, bei denen es auch nach einer natürlichen Todesursache aussieht. Nur weil bei der üblichen Obduktion nichts gefunden wurde, heißt das nicht, dass es nichts gibt. Schaust du nie Agentenfilme? Dort werden ständig irgendwelche nicht nachweisbaren Mittelchen benutzt, um jemanden über den Jordan gehen zu lassen.“
„Du schaust offenbar zu viele davon. Wir sind hier nicht bei James Bond oder Mission Impossible. Lass uns doch erst mal abwarten, was der gute Dottore sagt. Du weißt ja: Nichts ist fataler als eine vorgefertigte Theorie.“
Sein Partner verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte er den Spruch schon zu oft gehört. Dennoch wurde Mark nicht müde, ihn zu wiederholen. Er zählte zu seiner Ermittler-Maxime. Außerdem war es nur fair, wenn er ein paar solcher Routinen in petto hatte. Dominik fing schließlich auch immer wieder mit denselben abstrusen Ideen an.
„Wir können ja mal eine generelle Funkzellenortung für die Tatzeit rund um den Tatort starten“, schlug Dominik vor, „und die Daten mit denen der zwei anderen Opfer abgleichen. Vielleicht gibt es ja Übereinstimmungen.“
Daran hatte Mark ebenfalls schon gedacht. „Dürfte nicht schaden. Auch wenn das bei einem Ladengeschäft direkt an der Hauptverkehrsstraße wahrscheinlich ein Fass ohne Boden sein wird.“
„Wenn es Mord war und der Täter sein Werk beobachtet hat, ist er vermutlich länger stehen geblieben. Eventuell liefert uns auch die Funkzellenortung von Juliettes Handy ein paar Hinweise. Oder ihre Einzelverbindungsnachweise. Bis wir Zeljkos Auswertung des Laptops und des Smartphones kriegen, dauert es sicherlich ’ne Weile. Wer weiß, ob ihm die Spurensicherung überhaupt schon was geliefert hat. Apropos: Hast du schon was von Nicole gehört?“
Mark schüttelte den Kopf. „Dafür ist es noch zu früh. Die ist mit ihrem Team sicherlich noch am Tatort.“ Nebenbei griff er nach seinem Telefonhörer und tippte die Kurzwahltaste, unter der er den Betreiber von Juliettes Mobilfunknetz gespeichert hatte. Die Mitarbeiter des Providers kannten das Prozedere und wussten genau, was die Kriminalpolizei von ihnen haben wollte. Während er mit einer netten Frau mit osteuropäischem Akzent sprach, beobachtete er, wie Dominik das windschiefe Flipchart hinter seinem Schreibtisch näher heranzog und das aufgehängte weiße Papierblatt mittels Strichen in vier gleichgroße Abstände unterteilte. Die Spalte links außen ließ er frei, in die daneben notierte er oben die Namen der drei bisherigen Opfer. Er führte sie in der chronologischen Reihenfolge ihres Todeszeitpunkts auf. Zuerst kam Gizem Varol, daneben Ronald Wassmann und ganz rechts außen Juliette Sagnier. Anschließend trug er in der Zeile darunter ihre Geburts- und Sterbedaten, ihre Haarfarbe, Größe, den Familienstand, den Schulabschluss und andere wichtige Daten der Lebensläufe ein. Während des Telefongesprächs beobachtete Mark ihn schweigend. Sowie er damit fertig war, öffnete er die entsprechenden Dateien auf seinem Computer und las Dominik die gewünschten Daten vor.
Sie schafften es, in weniger als zwanzig Minuten eine erste grobe Gegenüberstellung aller drei Todesfälle zusammenzutragen. Das Ergebnis fiel ziemlich ernüchternd aus: In nahezu keinem Bereich stimmten alle drei Personen überein. Zwei der Toten (Wassmann und Sagnier) waren verheiratet gewesen. Nur einer (Wassmann) hatte Kinder. Zwei (Varol und Sagnier) waren in Nürnberg und einer (Wassmann) in Fürth gestorben. Zwei hatten dunkle Haare (Varol und Wassmann) und eine blonde (Sagnier). Mit zwei Frauen und einem Mann stimmte selbst das Geschlecht nicht überein. In Sachen Beruf und Bildungsabschluss sowie beim Alter kamen sie auf keinen einzigen Nenner. Bei den Gegenden, in denen sie gelebt hatten, sah es nicht anders aus. Gemeinsam war ihnen lediglich, dass alle drei in derselben Stadt gestorben waren, in der sie auch gewohnt hatten. Das allerdings betrachtete Mark als keinen wirklichen Anhaltspunkt.
Enttäuscht sanken sie nach getaner Arbeit auf ihre Bürostühle zurück.
„Übersehen wir was, oder sieht es echt so übel aus?“, fragte Dominik.
„Nun, zumindest sind es nicht die offensichtlichen Sachen, bei denen sie übereinstimmen. Kann natürlich sein, dass der Teufel mal wieder im Detail steckt.“
„Ja, bloß in welchem? Der Fall – ja, ich weiß, wenn es überhaupt einer ist – lockt uns echt aus der Reserve. Er ist völlig anders als unsere bisherigen. Und das in jeder Hinsicht.“
„Inwiefern?“
„Na ja, normalerweise reden wir nach den Angehörigen immer mit den Kollegen und den Arbeitgebern, aber bei einer selbstständigen Ernährungs- und Fitnessberaterin wird das eher nix. Da bleiben nur Kunden oder Freunde. Bevor wir die Liste von ihrem Laptop nicht haben, sind wir da allerdings aufgeschmissen. Zumindest, was die Kunden betrifft. Über die Freunde dürfte der Ehemann Bescheid wissen. Der nächste Punkt zum Ansetzen sind die Zeugen und Anwohner, die sich zur Tatzeit in der Nähe aufgehalten haben. Nicht mal das funktioniert hier. Die Streifenkollegen werden zwar standardmäßig überprüfen, ob vor dem Blumenladen jemandem was Ungewöhnliches aufgefallen ist, aber mal ehrlich: Wer achtet schon auf Leute, die sich vor einem Geschäft aufhalten? Geschweige denn, was drinnen los ist. Würde mich wundern, wenn einem da was aufgefallen wäre. Wenn wir was rauskriegen, dann höchstens über die Funkzellenortung. Aber auch dabei müssen wir abwarten, bis wir Feedback haben. So wie an allen anderen Ecken auch. Das ist ziemlich bescheiden. Im Moment können wir echt nix tun.“
„Du kannst gerne mal bei Ziegler oder Nicole durchklingeln. Aber ich wüsste keinen Fall, in dem das die Arbeit beschleunigt hat. In der Regel behindert und verlangsamt das den Prozess nur unnötig, weil die Kollegen dadurch aus ihrer Arbeit gerissen werden.“
„Genau das ist es! Normalerweise sind die ersten Stunden in einer Todesfallermittlung am entscheidendsten. Diesmal hingegen haben wir keinerlei Ansätze und können nur die Hände in den Schoß legen!“
„Und das um kurz nach fünf am Freitagnachmittag. Ja, wirklich schlimm ist das.“
Dominik schüttelte den Kopf und gab tadelnde Geräusche von sich. „Das aus deinem Mund. Normalerweise bist du von uns beiden immer der Arbeitswütige, der alles doppelt und dreifach überprüfen will, um ja nichts vergessen zu haben.“
„Das bin ich weiterhin. Ich bin auch dafür, dass wir uns die bisherigen Daten noch einmal vornehmen. Aber wenn wir für den Moment nichts finden, finden wir für den Moment eben nichts. Das kannst weder du noch ich ändern.“
Eine Stunde lang durchleuchteten sie noch einmal Juliette Sagniers komplettes Privatleben. Als sie auch den allerletzten Fakt mehrmals gegengecheckt hatten und auch Kollege Jan nach wie vor mit Abwesenheit glänzte, gaben sie auf und machten Feierabend. Ohne neue Informationen würden sie an dieser Stelle nicht weiterkommen.
Caro und Nathalie waren alles andere als traurig, Mark und Felix an diesem Abend trotz neuer Ermittlung relativ früh wiederzusehen. Als sie daheim ankamen, lagen Mutter und Tochter gerade ausgestreckt auf dem Wohnzimmerboden: die fünf Monate alte Nathalie auf dem Rücken auf ihrer Spieldecke, damit beschäftigt, die Füße bis hinauf in den Mund zu stecken und sich giggelnd über diese motorische Meisterleistung zu freuen. Und ihre Mutter neben ihr, lobend und immer wieder ermunternd.
Bei Marks und Felix’ Anblick hielten beide einen Moment lang inne. Nathalie verlor augenblicklich das Interesse an ihren Füßen und wedelte freudig mit allen Gliedmaßen umher. Sowie ihr Papa sie auf den Arm nahm, quietschte sie vor Freude. Und als der Hovawart anfing, ihr die nackten Zehen abzuschlecken, kicherte und lachte sie.
„Ihr seid heute aber früh dran“, sagte Caro nach dem Begrüßungskuss. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mark, hatte braune, schulterlange Haare, haselnussbraune Augen und Rundungen an genau den richtigen Stellen. Dass sie vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt gebracht hatte, sah man ihr Marks Einschätzungen nach nicht mehr an. Dennoch beharrte Caro darauf, dass vor der kirchlichen Trauung noch ‚ein paar Pfunde runterkamen‘. Jedwede seiner diesbezüglichen Beschwichtigungsversuche liefen ins Leere. „Hattest du mir nicht vorhin aufs Handy geschrieben, dass ihr wahrscheinlich einen neuen Fall habt?“, fragte sie irritiert.
„Das Wahrscheinlich gilt immer noch. Wir müssen abwarten, ob es überhaupt was zu ermitteln gibt. Wenn sich rausstellt, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist, kann die Akte schnell wieder geschlossen werden.“ Er erzählte ihr von den Geschehnissen im Blumenladen, gab ihr aber wie üblich bloß eine grobe Zusammenfassung. Namen und sonstige persönliche Daten ließ er genauso außen vor, wie er Caro auch die manchmal ziemlich blutigen Details vorenthielt. Zum einen waren das vertrauliche Dienstinformationen, zum anderen wollte seine Frau derartige Einzelheiten gar nicht wissen. Es genügte, wenn er wegen solchen Dingen in manchen Nächten wach lag.
„Klingt so, als könnte es entweder ziemlich leicht oder ziemlich knifflig werden“, resümierte sie trocken.
„Entweder ganz oder gar nicht. Wie immer. Ich kann mit beiden Varianten leben. Aussuchen kann ich es mir sowieso nicht. Das Wochenende dürfte leider futsch sein.“
„Dachte ich mir schon. Zum Glück hattest du das vorherige frei. Hoffen wir mal, dass es ein leichter Fall wird. Nicht, dass du vor lauter Arbeit am Montag nicht zu unserem Termin kommen kannst.“
„Welcher Termin?“, fragte er.
Caro riss die Augen auf. „Na, das Probeessen mit Menübesprechung für die kirchliche Hochzeit, das wir um fünf haben.“
Mit einem frechen Grinsen strich er ihr über die Unterarme. „Das weiß ich doch. Keine Sorge, das kriege ich schon hin.“
„Hoffentlich. Ich habe nämlich keine Lust, dort auf unsere Tochter aufzupassen, während ich gleichzeitig allein mit dem Küchenchef verhandeln muss.“
„Eine Verhandlung wird das sowieso nicht. Wenn es uns nicht schmeckt, gehen wir woanders hin.“
„Klar, weil das zwei knapp Monate vor der Hochzeit auch so simpel ist. Die meisten Lokale sind ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht, falls du das vergessen haben solltest.“
„Habe ich selbstverständlich nicht. Wir kriegen das schon hin. Es ist nur eine Essensbesprechung.“
Nathalie brabbelte fröhlich vor sich hin, was durchaus als Zustimmung zu verstehen war. Wenigstens deutete Mark es so. Die Kleine streckte die Arme aus und versuchte offenbar, über das Gesicht ihres Vaters zu streicheln. Das Ziel traf sie durchaus, bloß an der Feinabstimmung haperte es noch, sodass aus dem Streicheln eher sanfte Ohrfeigen wurden. Trotzdem genoss Mark jede Sekunde davon.
„Heute habe ich ihr eine Rassel hingehalten, und sie hat sie mir sofort abgenommen“, berichtete Caro. „Um nicht zu sagen: aus der Hand gerissen.“
„Sie weiß eben, was sie will. Oder du warst ihr nicht schnell genug. Es ist erstaunlich, was für Fortschritte sie macht. Noch vor fünf Monaten war sie ein sabberndes Menschlein, das außer nuckeln, kacken und schreien nicht viel tun konnte. Und jetzt dreht sie sich von alleine vom Bauch auf den Rücken, freut sich, wenn wir den Raum betreten, und jammert, wenn wir ihn verlassen. Wenn sie jetzt noch nachts durchschläft, wäre ich im siebten Himmel.“
„Tut sie doch. Na ja, so gut wie. Sie wird höchstens einmal wach. Manchmal hält sie sogar schon bis zum Morgen durch.“
„Im Vergleich zu früher ist das natürlich ein Riesenschritt. Trotzdem schlaucht auch eine Unterbrechung pro Nacht auf Dauer ziemlich. Vor allem, wenn dann um halb sechs schon die Nacht vorüber ist.“
„Man kann eben nicht alles haben. Ausschlafen und Baby passt einfach nicht zusammen.“
„Stimmt wohl.“ Er ging mit Nathalie auf dem Arm zum Sofa. Kaum hatte er sich hingesetzt, folgte Felix und ließ sich neben ihm nieder.
„Hauptsache, sie ist gesund“, sagte Caro, bevor sie aus ihrem Glas auf dem Beistelltisch trank.
Mark schaute zu ihr. Meinte seine Frau das ganz allgemein, oder spielte sie auf etwas Bestimmtes an? Vor rund zwei Monaten hatten sie Nathalie impfen lassen, und die Kleine hatte ziemlich heftig darauf reagiert. Sogar der Notarzt war gekommen, und sie hatte eine Nacht wegen der hypotonen hyporesponsiven Episode, wie es der Doktor genannt hatte, im Krankenhaus verbringen müssen. Gott sei Dank war alles glimpflich verlaufen. Dennoch schwang seither stets etwas Sorge mit, wann immer das Mädchen kränkelte. Selbst bei harmlosen Anrufen seiner Frau befürchtete Mark in der ersten Sekunde immer, es könnte etwas mit Nathalie sein. Auch nach zwei Monaten ohne irgendeinen Zwischenfall war diese Nervosität nicht vollständig verschwunden. Und würde es eventuell auch nie.
„Das mit dem Durchschlafen kommt irgendwann von ganz alleine“, fuhr Caro fort. „Bei einer Freundin von mir hat der Junge nach sechs Wochen durchgepennt. Bei einer anderen ist das Baby schon zwölf Monate alt und will trotzdem jede Nacht sein Fläschchen.“
„O Gott, alles, nur das nicht.“ Er schüttelte den Kopf und wollte sich nicht mal ausmalen, wie das für die Eltern sein musste. Ein Jahr ohne auch nur einmal durchzuschlafen, war mehr als Folter. Schon jetzt gab es genug Momente, in denen Mark das Gefühl hatte, auf dem Zahnfleisch zu laufen. Ihn schien eine generelle Grundmüdigkeit zu plagen, die einfach nicht verschwinden wollte. Das weitere sieben Monate (oder länger) durchzuhalten, war eine sehr grausige Vorstellung.
So als wüsste Nathalie genau, was ihm durch den Kopf ging, grinste seine Tochter ihn schelmisch an, bevor sie sich zu Felix hinüberbeugte und neugierig die Hundeschnauze betastete. Der Hovawart ließ es bereitwillig über sich ergehen und ging irgendwann dazu über, ihr die Finger abzuschlecken. Beide schienen ihren Spaß dabei zu haben.
Als die Kleine später selig in ihrem Bettchen im Schlafzimmer schlummerte und sich auch der Hund auf seine Decke im Nebenzimmer zurückgezogen hatte, streckten sich die beiden Erwachsenen auf dem Sofa aus. Caro schmiegte sich an Mark, und wie selbstverständlich verschwand ihre Hand unter seinem Shirt. Einige Sekunden lang tat Mark so, als würde er es nicht bemerken, also wurde Caro deutlicher, und nicht lang darauf wurde die Netflix-Serie um einen französischen Meisterdieb in Paris zur Nebensache. Mark drehte sich zu seiner Frau herum, begann, sie zu küssen und seine Hände genauso unter ihrem Oberteil verschwinden zu lassen. Ihre Haut fühlte sich samtweich an, und er liebte es, jeden einzelnen Millimeter davon zu berühren und zu küssen. Die Kleidungsstücke fielen eines nach dem anderen zu Boden und waren im selben Atemzug vergessen, wie sie losgelassen wurden. Ihre ganze Aufmerksam galt nur ihnen beiden, und für die nächste Zeit gab es nur sie beide. Sie waren nicht mehr Mama und Papa, und auch nicht Frauchen und Herrchen. Sie waren ein Liebespaar, das jeden einzelnen Atemzug miteinander genoss.
Nathalies übliche Zeit lag zwischen zwei und drei Uhr, so auch in dieser Nacht. Es begann mit einem leisen Schmatzen, und wenn es nicht sogleich ein Milchfläschchen gab, wurde das Mädchen unruhig. Sie wälzte sich umher, und gleich darauf forderte sie auf ihre ureigene charmante Art, dass die Eltern bitte mal endlich in die Gänge kamen. Mark hörte es zwar, befand sich jedoch mitten in einer Tiefschlafphase, die er erst abschütteln konnte, als Caro längst am Bettchen ihrer Tochter stand. Danach dauerte es nur wenige Sekunden, bis er wieder tief und fest schlief. Er bemerkte nicht einmal, wie Caro später auf ihre Seite des Ehebetts zurückkehrte.
Das nächste Mal erwachte er, als der Wecker um halb sieben gnadenlos piepste. Widerwillig stand er auf und schlüpfte in seine Joggingklamotten. Den Hovawart musste er dafür nicht rufen. Im selben Augenblick wie Mark den Flur betrat, war der Hund auf den Beinen und freute sich auf ihr tägliches Morgenritual, bestehend aus einer gemeinsamen Laufrunde durch den unweit der Wohnung befindlichen Stadtpark. Dem Hund half es, sein Geschäft zu erledigen, und Herrchen brauchte es, um die letzten hartnäckigen Fänge des Schlafs abzuschütteln.
Eine Dusche und einen Kaffee später fuhr Mark mit Felix zum Präsidium, wo am Wochenende eh nur anwesend war, wen der Dienstplan dafür unbedingt vorsah oder wer dringende Sachen zu bearbeiten hatte. Es überraschte Mark wenig, dass Dominik es noch nicht ins Büro geschafft hatte. Selbst von Montag bis Freitag kam er eher später als früher. Von den anderen Kollegen war ebenfalls keiner da. Nicht mal Jan Schuster, auf dessen Anwesenheit er gehofft hatte, damit sie sich über den Todesfall des Familienvaters unterhalten konnten.
Dennoch blieb Mark nicht lange allein. Er schaffte es gerade so, den Computer zu starten und seine Jacke aufzuhängen, ehe er Schritte hinter sich vernahm. Nachdem Felix sofort von seiner Decke aufsprang und schwanzwedelnd losstürmte, ahnte Mark bereits vor dem Umdrehen, wer sie mit einem Besuch beehrte. Und wirklich: Nicole Rösler von der Spurensicherung kam mit einigen Ausdrucken in der Hand auf ihn zu. Das hieß: Sie versuchte es zumindest, aber nachdem sich ein gewisser Hovawart auf die Hinterbeine stellte und aufgeregt um sie herumtänzelte, blieb ihr kaum eine Chance. Die Kollegin blieb davon völlig unbeeindruckt und hob mahnend den Zeigefinger. „Unten freut sich der Hund“, ermahnte sie ihn und zeigte auf den Boden. Felix verstand den Befehl und kehrte widerwillig in den Vierfüßlerstand zurück. „So ist’s brav. Ja, ich freu mich auch, dich zu sehen.“
Gemeinsam gingen die beiden zu Marks Schreibtisch, wo der Hovawart endlich die eingeforderten Streicheleinheiten bekam.
„So früh am Samstagmorgen – was verschafft mir denn die Ehre?“, begrüßte er sie, obwohl er ganz genau wusste, dass seine Kollegin die Gelegenheit gerne mal für einen kleinen Plausch mit ihm nutzte. Die zwei verstanden sich privat ebenfalls blendend, auch Nicole und Caro. Das ging so weit, dass Nicole stellenweise besser als Mark darüber Bescheid wusste, was es Neues im Hause Richter gab.
„Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, ich bringe dir das da vorbei.“ Sie fuchtelte mit den Ausdrucken kurz durch die Luft. Sehr zu Felix’ Freude gab sie die Papiere rasch an Mark weiter und hatte damit beide Hände zum Hunderückenkraulen frei. „Eine elektronische Kopie habe ich dir wie gewöhnlich per Mail geschickt.“
„Super. Vielen Dank. Habt ihr was Auffälliges gefunden?“
„Nichts, was der Rede wert wäre. Weder im Blumenladen noch an der Kleidung der Toten gab es einen Hinweis auf eine Straftat. Für alle Fälle haben wir auch sämtliche Pflanzen aus dem Geschäft überprüft. Die Inhaberin hatte recht: keinerlei Giftgewächse in Tatortnähe. Nichts, was einen Kollaps oder eine heftige allergische Reaktion verursacht haben könnte. Ich habe Ziegler schon ’ne Nachricht deswegen geschickt, mit Kopie an Dominik und dich.“
„So schnell ist mein Computer nicht. Er fährt noch hoch.“
„Meiner braucht auch immer ’ne halbe Ewigkeit. Dann erzähl mir doch in der Zwischenzeit, wie es mit den Vorbereitungen für die Hochzeit Schrägstrich Taufe vorangeht.“
„Wir liegen ganz gut im Zeitplan. Die allgemeine Planung ist fertig, die Einladungen sind verschickt. Caro hat ein neues Brautkleid gefunden. Das von der standesamtlichen Hochzeit will sie ja, wie du weißt, nicht nehmen, weil sie darin hochschwanger war. Ich habe es da einfacher. Mein feiner Anzug vom letzten Mal passt mir noch wie angegossen. Hab ich neulich erst ausprobiert.“
„Ja, von dem neuen Brautkleid weiß ich. Ich war zwar nicht persönlich dabei, aber Caro hat mir zig Fotos von der Anprobe geschickt und nach meiner Meinung gefragt.“
Dieser Punkt war Mark neu. „Und wie hat sie darin ausgesehen?“
„Es war der Hammer. Du wirst Augen machen, wenn du sie im Juni darin siehst.“
„Ich kann es kaum erwarten.“
„Habt ihr schon mit dem Pfarrer gesprochen?“
Er nickte. „Letzte Woche. Erst hat er uns gemeinsam und dann beide einzeln verhört.“ Beim letzten Wort malte Mark Gänsefüßchen in die Luft. „Scheint so, als hätten wir seinen Test bestanden.“
„Ich glaube nicht, dass man da durchfallen kann. Falls doch: Was wäre in solch einem Fall?“
„Das möchte ich lieber nicht herausfinden.“
„Was für Punkte auf der Liste habt ihr noch offen?“
„Vorwiegend Kleinigkeiten. Menü, Sitzplan, Liederwünsche … Also hauptsächlich Organisatorisches.“