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Es ist später Abend und Kriminalkommissar Mark Richter wird zu einem neuen Mordfall gerufen. Diesmal betrifft es keinen Unbekannten, sondern eine Person aus seinem Umfeld, die ihm sehr am Herzen liegt. Dieses und andere tiefschürfende Ereignisse sorgen dafür, dass Marks bisheriges Leben ins Wanken gerät. Obwohl ihn die ganze Situation emotional viel zu sehr belastet, übernimmt er zusammen mit seinem chaotischen Partner Dominik und dem cleveren Hovawart-Hund Felix die Ermittlungen. Doch je mehr sie herausfinden, desto komplizierter wird sowohl die Polizeiarbeit als auch Marks Privatleben.
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Seitenzahl: 435
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Kurzbeschreibung:
Es ist später Abend und Kriminalkommissar Mark Richter wird zu einem neuen Mordfall gerufen. Diesmal betrifft es keinen Unbekannten, sondern eine Person aus seinem Umfeld, die ihm sehr am Herzen liegt. Dieses und andere tiefschürfende Ereignisse sorgen dafür, dass Marks bisheriges Leben ins Wanken gerät. Obwohl ihn die ganze Situation emotional viel zu sehr belastet, übernimmt er zusammen mit seinem chaotischen Partner Dominik und dem cleveren Hovawart-Hund Felix die Ermittlungen. Doch je mehr sie herausfinden, desto komplizierter wird sowohl die Polizeiarbeit als auch Marks Privatleben.
Sören Prescher
Auf kurze Distanz
Der zweite Fall für Mark & Felix
Kriminalroman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2019 by Sören Prescher
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart
Lektorat: Susann Harring
Korrektorat: Vera Baschlakow
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-301-4
www.facebook.com/EdelElements/
www.edelelements.de/
Cover
Kurzbeschreibung
Titelseite
Impressum
Mittwoch
Kapitel 1
Kapitel 2
Donnerstag
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Freitag
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Samstag
Kapitel 12
Kapitel 13
Montag
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Dienstag
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Mittwoch
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Donnerstag
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Freitag
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Nachwort und Danksagung
Playlist Band 2
Es regnete in Strömen, mit Tropfen so dick, als wären es Ausrufezeichen. Du bist schuld, schienen sie ihm vorzuwerfen, mit jedem Mal, dass sie die Wagenscheibe trafen.
Etwas ist passiert. Und du bist dafür verantwortlich, weil du nicht da warst. Weil dein blöder Fall wichtiger war als Caro.
Die Gewissheit krallte sich wie eine Klauenhand um Mark Richters Herz und presste es unbarmherzig zusammen. Im Kopf hallten die letzten Unterhaltungen mit Caro wider, bei denen er mehr zugehört als dazu beigetragen hatte. Auch ihre Miene in den vergangenen Tagen hatte er vor Augen. Den verstörten Blick …
Mark hatte ganz klar gesehen, dass etwas im Argen lag, doch er hatte absichtlich nicht nachgehakt. Weil er mit den Gedanken ganz woanders gewesen war – und das schon seit Tagen.
Streng genommen war es da nur konsequent, dass sie heute nicht auf seine Nachrichten oder Anrufversuche reagiert hatte. Weiteres Wasser auf den Mühlen. Andererseits: Was, wenn sie zu dem Zeitpunkt aus irgendeinem Grund gar nicht mehr hatte reagieren können?
Vor ihm wechselte die Ampel auf Rot, und Mark trat fluchend auf die Bremse. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich wieder auf Grün umsprang und sich die Autos vor ihm in Bewegung setzten.
„Komm schon!“, fauchte er den Fahrer eines gelben Fiats an, als dieser nicht schnell genug Gas gab. „Es gibt Leute, die haben es eilig.“
Vom Beifahrersitz aus bellte Felix zustimmend. Er war ein vier Jahre alter Hovawart-Rüde mit dunkelbraunem Fell und einigen blonden Flecken an Hals, Bauch und Beinen, den Mark bei den Ermittlungen zu seinem letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Mark eigentlich alles andere als ein Hundefan war, hatte es der Vierbeiner irgendwie geschafft, sich in sein Herz zu mogeln. Dass Felix bis zum Tod seines früheren Diensthundeführers als Geldspürhund im Polizeidienst tätig gewesen war, hatte vermutlich zu der schnell wachsenden Sympathie beigetragen. Technisch gesehen war der siebzig Zentimeter große Hovawart so etwas wie ein Kollege.
Der Fahrer des Wagens vor ihnen gab zwar mittlerweile mehr Gas, hielt sich aber überkorrekt an die Geschwindigkeitsvorschriften. Und das um kurz nach halb zehn am Abend, wenn eh kaum noch Verkehr herrschte. Mark fuhr so nah auf, dass die Stoßstange seines BMW-Dienstwagens beinahe die Fiat-Heckklappe berührte. Am liebsten hätte er den Schleicher angeschoben oder abgedrängt.
Wieso zum Henker fuhr der Kerl nicht schneller? Doch selbst mit hundert Stundenkilometern wäre es Mark vermutlich nicht schnell genug gegangen. Dafür waren seine Nerven einfach zu angespannt. Sein Herz raste, und seine Hände waren eiskalt. Vor dem Losfahren hatte er es nicht mal geschafft, die Adresse ins Navi einzugeben, die ihm der befreundete Kollege von der Leitstelle gegeben hatte, der für die Koordination neuer Kriminalfälle zuständig war. Allein dessen Rat „Gerade kam eine neue Meldung rein. Es ist besser, wenn du gleich vorbeikommst“ hatte genügt, um Mark mit Felix nach draußen stürmen zu lassen. Er hatte es nicht einmal gewagt, nachzuhaken, was genau der Kollege damit meinte. Schließlich arbeitete Mark in der Mordkommission und bearbeitete in der Regel nur eine Art von Fällen.
Mark atmete tief durch. Sicherlich gab es für alles eine banale Erklärung … Aber dass er seine Freundin den ganzen Tag über nicht erreicht hatte, legte schon einige sehr eindeutige Schlüsse nahe, denn so etwas war noch nie vorgekommen. Sonst hörten sie mehrmals täglich voneinander.
„Bitte nicht Caro“, rief er wie ein Mantra und bat sogar seinen Beifahrer um Hilfe: „Bitte nicht Caro, Felix.“
Der Hund hielt sich mit Erwiderungen zurück. Sicherlich spürte er, wie angespannt sein neues Herrchen war, und wurde seiner Rolle als treuer Weggefährte und Zuhörer einmal mehr gerecht.
Mark spürte, wie ihn die Panik immer mehr übermannte. Ihm war nach Schreien, Fluchen und Heulen zumute. Tausend ungute Gründe für Caros Verschwinden schossen ihm durch den Kopf, und er zwang sich, sie alle rasch wieder abzuschütteln. Am besten war es, an gar nichts zu denken. Sich nicht selbst verrückt zu machen. Durchzuatmen. Ruhig zu bleiben.
Als ob das so einfach wäre.
Die Häuser und Straßen huschten an ihm vorbei, ohne dass er sie groß beachtete. Er wusste ungefähr, wohin er fahren musste. Den Rest würde er schon finden. Und tatsächlich: Nachdem er hinter dem Bahnhof in die Pillenreuther Straße eingebogen war, dauerte es nicht lang, bis er die ersten Blaulichter in nicht allzu weiter Ferne erblickte.
Für Mark das Signal, das Gaspedal noch einmal bis zum Anschlag durchzudrücken. Erst kurz vor der Breitscheidstraße bremste er ab und suchte sich die nächstbeste Parkmöglichkeit. Notfalls hätte er auch in zweiter Reihe gehalten, doch er fand einen freien Platz nicht weit von der Gasse entfernt, in der er die anderen Polizisten gesehen hatte.
„Bitte nicht Caro“, wiederholte er noch einmal und riss die Fahrertür auf. Ein spitzer Pfiff genügte, und Felix folgte ihm zur selben Tür hinaus. Draußen leinte er ihn wie unter Autopilot an. Als er die Straße überquerte, hielt Mark vor Anspannung den Atem an.
Mit zitternden Knien folgte er zwei Kollegen von der Spurensicherung in die Gasse. Vor den rot-weißen Absperrbändern hob ein uniformierter Streifenpolizist mahnend die Hand. Er sagte irgendwas, was Mark nicht verstand. Wie benebelt zeigte er seinen Dienstausweis vor und ging weiter, ohne auf die Reaktion des Mannes zu achten.
Regen klatschte ihm ins Gesicht, doch er bemerkte es kaum. Selbst Felix war nur ein gelegentlich an seiner Leine zerrendes, weit entferntes Etwas. Alles, was Mark unterwegs wahrnahm, waren die herumgekommenen Backsteinmauern der umliegenden Gebäude, die an den Seiten stehenden Müllcontainer sowie der achtlos weggeworfene Unrat auf dem regennassen Boden. Doch all das war bloß Beiwerk auf dem Weg voran. Sein Blick war starr nach vorn gerichtet. Auf die Stelle hinter den Containern, zwanzig Meter entfernt. Die, um die sich eine Traube von Menschen gebildet hatte.
Unter dem aufgespannten Regendach lag jemand.
Eine Frau. Sie trug einen dunklen Rock oder ein Kleid und lag mit angewinkelten Beinen da.
War es Caro?
Er suchte nach vertrauten Details. Gleichzeitig fürchtete er sich davor, diese zu finden. Viel zu sehen war momentan ohnehin nicht. Die Finsternis verschluckte ein Großteil der Einzelheiten, und das, was zu sehen war, verdeckten die Kollegen von der Spurensicherung und Rechtsmedizin, die rund um den Auffindeort herumwuselten.
Ein wenig erinnerte ihn das Bild der auf dem kalten Boden liegenden Frau an seinen letzten Fall. Vor anderthalb Wochen war die enge Freundin einer Braut während deren Hochzeitsfeier ermordet worden. Obwohl die Tat erst vergangene Woche geschehen war, erschien es ihm wie Jahre.
Sein Blick blieb stur auf die reglose Person gerichtet. Wann immer jemand beiseitetrat, reckte er den Kopf, um vielleicht doch etwas mehr zu erkennen. Vergeblich. Ständig stellte sich ihm jemand Neues in den Weg.
Als er die Menschentraube erreichte, hämmerte sein Herz so massiv, dass Mark schwindlig wurde. Verzweifelt streckte er die Hand aus, um sich an der Kante des Metallcontainers festzuhalten.
In diesem Moment trat vor ihm jemand zur Seite und verschaffte ihm damit einen ungehinderten Blick auf den Leichnam.
Es war eine Frau zwischen dreißig und vierzig Jahren.
Genau wie Caro.
Marks Innereien zogen sich zusammen.
Sie hatte brünettes Haar.
Genau wie Caro.
Schlanke Figur.
Wie Caro.
Schätzungsweise eins sechzig bis eins siebzig groß.
Wie Caro.
Selbst ihr Gesicht war ähnlich.
Aber es war nicht Caro.
Grenzenlose Erleichterung durchflutete Mark. Das Gefühl war so intensiv, dass ihm nach Lachen zumute war. Am liebsten hätte er getanzt.
„Sie ist es nicht“, flüsterte er Felix zu. Mark wollte sich gerade abwenden, als ihn etwas stutzig machte.
Im ersten Moment konnte er nicht einmal sagen, was es war.
Dann traf ihn die Erkenntnis siedend heiß. Sein Herzschlag setzte wieder aus.
„Oh Gott“, keuchte Mark.
Mit einem Mal verstand er auch, wieso der Koordinator ihm ausgerechnet diesen Fall zugewiesen hatte. Der Mann von der Leitstelle war ein langjähriger Kollege, der Mark schon ganz am Anfang seiner Polizeilaufbahn gekannt hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als er noch ein blutjunger Streifenpolizist in der Ausbildung gewesen war. Damals, als er nicht mit Caro zusammen gewesen war, sondern mit Gabi.
Die auf dem Asphalt liegende Frau war deutlich älter als der Teenager, den Mark einmal gekannt und geliebt hatte. Sie trug andere Kleidung und eine andere Frisur, und auch in Sachen Make-up hatte sich seither einiges getan. Obwohl er sie seit über zehn Jahren nicht gesehen hatte, bestand für ihn kein Zweifel: Es war eindeutig Gabi.
Seine große Liebe. Die, die ihm einmal buchstäblich alles bedeutet hatte und von der er einmal gedacht hatte, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen würde.
Ein süßer Traum, der in tausend Teile zerschellt war.
Die Einsicht glich einem Stich tief in sein Herz. Danach pochte es zwar weiter, blutete aber schmerzhaft bei jedem neuen Schlag.
Mark war völlig verwirrt. Wie konnte er innerhalb einer Minute so rasant zwischen immenser Angst, massiver Erleichterung und jetzt wieder Benommenheit und Seelenpein hin und her wechseln? Nie zuvor hatte er eine derartige Achterbahn der Gefühle erlebt. Nie zuvor hatte er sich dermaßen rat- und hilflos gefühlt. Was um alles in der Welt sollte er tun?
Deinen Job, verdammt noch mal, ermahnte ihn eine innere Stimme. Es war die Stimme der Vernunft. Die, die ihm schon oft im Leben weitergeholfen hatte.
Automatisch begann er, wieder wie ein Polizist zu denken. Das hier war ein Tatort. Und er war der ermittelnde Kommissar. Wie unzählige Male zuvor musterte er kurz das Gebiet rund um die Leiche. Am Boden befanden sich mehrere kleine Pfützen. In manchen davon schimmerte es bräunlich. Schwer zu sagen, ob es Schmutz oder Blut war. Die Backsteinwand hinter der Leiche war mit Kratzern, Graffitis und Dreck übersät. Auf den ersten Blick stellte er daran nichts Verdächtiges fest.
Dafür nahm er die vertrauten Gesichter seiner Kollegen jetzt erst richtig wahr. Fast erwartete er, seinen chaotischen Partner Dominik zu erblicken. Aber der saß vermutlich noch immer in der Eckkneipe, wo sie vorhin ein Feierabendbier getrunken hatten, oder jagte irgendwelchen obskuren Verschwörungstheorien hinterher. Links neben den Containern kniete eine sportliche Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz und runden Kulleraugen und suchte den Asphalt nach Spuren und Schuhabdrücken ab. Nicole war eine gute Freundin von ihm, die zwar drei, vier Jahre älter war als er, von vielen Kollegen aber aufs gleiche Alter oder jünger geschätzt wurde. Was ihm auch jetzt wieder bewusst wurde. Durch die Strapazen der letzten Tage fühlte sich Mark steinalt. Und hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug weiter zu altern. Just in diesem Moment bemerkte Nicole ihn.
„Hallo, Mark“, grüßte sie und stand auf. „Dich und Felix hätte ich hier nicht erwartet. Hattet ihr nicht noch mit dem Kaiser-Fall zu tun?“
„Technisch gesehen ist der ja abgeschlossen. Sind nur noch wenige Fragen offen. Die klären wir schon noch.“
Zwei uniformierte Polizisten gesellten sich zu ihnen und zückten ihre Notizblöcke. Beide waren in den Vierzigern. Der eine mit ebenso kahlem wie rundem Kopf, der andere mit mehr Haaren, aber einer sehr kantigen Nase. Mark kannte die zwei vom Sehen her. „Was haben wir hier?“
„Weibliche Tote“, las der Kahlkopf ab. „Name: Gabriele Brie… Brett…“ Er kniff die Augen zusammen, um seine eigene Schrift besser lesen zu können.
Brettschneider, vervollständigte Mark in Gedanken, hütete sich aber davor, es laut auszusprechen.
„Brettschneider“, bestätigte gleich darauf der Kahlkopf. „Alter: 37 Jahre. Wurde gegen 21:00 Uhr mit mehreren Stichwunden im Oberkörper aufgefunden. Davon abgesehen keine weiteren Gewaltspuren. Nach einer versuchten Vergewaltigung sieht es nicht aus. Sie ist unverheiratet und lebt laut Melderegister allein in einer Wohnung in der Katzwanger Straße. Die nächsten Angehörigen sind ihre Eltern und ihr Bruder.“
„Wer hat sie gefunden?“
„Eine Gruppe von Jugendlichen.“ Er wies auf eine Handvoll junger Leute, die mit den Rücken zu ihnen neben einem Rettungswagen standen und sich mit den Sanitätern und weiteren uniformierten Polizisten unterhielten. Im grellen Schein des alles verzerrenden Blaulichts waren nicht allzu viele Einzelheiten zu erkennen.
Dafür erhob sich der Rechtsmediziner, der bis eben den Leichnam untersucht hatte, und trat auf sie zu. Ziegler war ein Mann um die fünfzig mit kurzen grauen Haaren und herabhängenden Mundwinkeln, der ähnlich wie Angela Merkel selbst bei bester Laune ziemlich miesepetrig aussah. Im Moment wirkte seine ernste Miene überaus passend.
„Anhand der Körpertemperatur würde ich sagen, die Frau ist seit zwei, drei Stunden tot. Genaueres kann ich nach der Obduktion sagen. Sie starb vermutlich durch mehrere Stiche in den Abdomen. Viel Blut scheint dabei nicht ausgetreten zu sein. In ihrem Gesicht hat sie zahlreiche Abschürfungen, dazu blaue Flecke an ihrem Körper. Ihre Strickjacke ist an einigen Stellen eingerissen, darunter gibt es weitere Kratzer. Wenn Sie mich fragen, ist sie überfallen worden. Als sie sich wehrte, ging der Räuber nicht gerade zimperlich mit ihr um.“
Ein Überfall. Das klang plausibel und wäre typisch für dieses Viertel, das nicht unbedingt zu den sichersten der Stadt zählte. Dennoch weigerte sich Mark, diese Erklärung bereits jetzt als gegeben anzunehmen. Nichts war fataler als eine vorgefertigte Meinung. Wenn man sich frühzeitig auf eine Theorie festlegte, suchte man nur noch nach Beweisen, die diese These untermauerten. Deshalb überhörte er auch Nicoles Hinweis, dass sie bisher nichts gefunden hatte, was der Aussage des Gerichtsmediziners widersprach, sondern kniete sich neben dem Leichnam nieder, um sich selbst ein Bild zu machen. Felix hielt sich an seiner Seite, blieb aber auf Abstand, so als wüsste er, dass er sich hier besser fernhielt. Außerdem könnte der Anblick die längst nicht verheilten Wunden vom Tod seines Frauchens wieder aufreißen. Die Tragödie lag noch keine zwei Wochen zurück.
Gabi hatte die Augen geschlossen. Sie wirkte so friedlich. Buchstäblich, als würde sie bloß schlafen. Nur mit dem Unterschied, dass dies der große Schlaf war, aus dem sie nie wieder erwachen würde. Mark dachte daran, wie er früher gern neben ihr im Bett gelegen und sie beim Schlafen beobachtet hatte. Sofort jagte ihm eine eisige Gänsehaut die Schultern hinab, und sein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an.
Ach, Gabi. Wer hat dir das nur angetan? Was ist geschehen? Wieso du?
Tränen traten in seine Augen, und er biss sich auf die Zunge, um den Schmerz zu kanalisieren. Es funktionierte, aber elendig fühlte er sich dennoch. Um keinen weiteren Tränenrückfall zu erleiden, atmete er tief durch und versuchte, wieder alles von der dienstlichen Warte aus zu betrachten.
Es war ein Schutzmechanismus, der funktionierte. Mit Gummihandschuhen über den Fingern nahm er die üblichen Prüfungen vor. Er musterte die drei Einstichstellen, alle länglich und mit Einblutungen. Dann drehte er den Kopf der Toten vorsichtig einige Zentimeter zur Seite, um die von Ziegler erwähnten Blessuren zu begutachten. Anschließend wiederholte er das Ganze an der Strickjacke, um sich die Kratzer an den Armen anzuschauen, und suchte nach weiteren Auffälligkeiten an der Leiche und um sie herum.
Solange er sie nur als die Leiche betrachtete, war alles den Umständen entsprechend gut. Nur nicht darüber nachdenken, um wen es sich tatsächlich handelte. Zumindest nicht jetzt.
Nach der ersten Überprüfung stand er auf und ließ die Kollegen von Spurensicherung und Gerichtsmedizin ihre Arbeit fortführen. Sein nächstes Ziel waren die Jugendlichen neben dem Rettungswagen.
Fünf waren es an der Zahl, drei davon Mädchen. Alle mit Jogginghosen und dicken Jacken, als stünde in Kürze eine sibirische Kaltfront bevor. Die zwei Jungen hatten noch dazu ihre Sweatshirtkapuzen über die Baseballcaps gezogen. Vom Alter her waren sie allerhöchstens vierzehn Jahre alt, vermutlich jünger. Müssten sie um diese Zeit nicht längst zu Hause sein? Außer ihm schien das allerdings niemandem aufzufallen. Bei den Teenies standen zwei Sanitäter und zwei Streifenpolizisten. Im Näherkommen nickte er ihnen zu und zog seinen Dienstausweis, um sich offiziell vorzustellen.
„Wer von euch hat die Tote gefunden?“
Augenblicklich wichen die zwei Jungen einen Schritt zurück und zeigten stumm auf die Mädchen. Diese nickten zögernd und ließen für einen Moment sogar die Smartphones in ihren Händen sinken. Der Schreck stand allen dreien deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie musterten skeptisch den Hund an Marks Seite.
„Keine Sorge, der tut euch nichts“, versicherte er schnell.
Das zusammen mit dem Fakt, dass der Bello angeleint war, schien den Teenies zu genügen.
„Wir wollten bloß ’ne Abkürzung nehmen“, verriet das mittlere Mädchen. Es hatte schulterlange dunkle Haare und eine spitz zulaufende Nase mit leichtem Höcker. „Weil wir spät dran waren. Jetzt kann ich mir daheim wieder was anhören. Als ob wir das gewusst hätten!“
„Die Frau lag einfach so da“, sagte das Mädchen links von der anderen mit leiser Stimme. Es war einen halben Kopf kleiner und trug einen silbernen Piercingstecker mit Glitzerstein über der Oberlippe. „Erst dachte ich, die wäre zugedröhnt oder besoffen. Aber die hat sich nicht mehr bewegt.“
„Und da waren die roten Flecke auf ihrem Kleid“, ergänzte das Mädchen ganz rechts. Es war ebenfalls etwas kleiner als das mittlere, hatte rote Haare und eine pummelige Figur. „Das war Blut. Da wusste ich schon, dass der Frau nicht mehr zu helfen ist. Sieht man ja immer im Fernsehen. Da haben wir gleich die 110 angerufen. War doch richtig so, oder?“
„Unbedingt“, bestätigte Mark. „Habt ihr irgendwas angefasst?“
Angewidert verzog sie das Gesicht. „Die Tote? Im Leben nicht. Das ist voll eklig, Mann.“
„Ich meine auch nicht den Leichnam. Was ist mit der Kleidung, dem Boden oder der Mülltonne? Irgendwas?“
Alle drei schüttelten den Kopf. „Nee, dann wär’n überall unsere Fingerabdrücke!“, sagte die Mittlere. „Wegen so was gehe ich ganz sicher nicht in den Knast.“
„Habt ihr jemanden in der Nähe der Gasse gesehen, der sich irgendwie verdächtig benahm?“
Erneutes synchrones Kopfschütteln. „Da war keiner.“
„Was habt ihr gemacht, nachdem ihr die Polizei verständigt habt?“
„Na, nix. Haben gewartet und aufgepasst, dass keiner hingeht.“
„Dann sind wir vorbeigekommen“, mischte sich einer der Kapuzenjungs ein. „Wir haben auf die Mädels aufgepasst. Damit ihnen nix passiert.“ Seinem Blick nach zu urteilen schien das einer gewaltigen Heldentat gleichzukommen. Während er sprach, machte er einen heroischen Schritt nach vorne, hielt jedoch sofort inne, als der herumschwänzelnde Felix zum Schnüffeln auf ihn zuging.
„Aber wir haben nichts angefasst“, fügte sein Kumpel hinzu, den Blick auf den Hovawart gerichtet. „Wisst ihr schon, wie sie gestorben ist?“
Kapuze Eins stöhnte auf. „Junge, die ist abgestochen worden. Hast du nicht zugehört?“
„Ach, stimmt ja“, sagte Kapuze Zwei, noch immer auf den Hund schauend.
„Du bist so ein Lappen“, sagte das linke Mädchen kopfschüttelnd.
Da konnte sich selbst Mark ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ist euch sonst noch was aufgefallen, was irgendwie komisch war?“
„Nur, dass sie einen recht teuren Fummel trägt“, sagte das mittlere Mädchen. „Das ist nix von KiK oder NKD.“
Mark überlegte, ob ihm dieser Punkt bisher ebenfalls aufgefallen war. Unbewusst vielleicht. In Sachen Mode war er nicht unbedingt ein Fachmann. „Habt ihr die Frau schon mal gesehen?“
Das linke Mädchen schüttelte den Kopf. „Nee, aber die könnte trotzdem aus der Gegend stammen. Haben Sie ihre Gelnägel gesehen? Das ist ganz klar die Arbeit von Monique. Sieht man sofort.“
Noch so ein Beauty-Detail, auf das er bisher eher weniger geachtet hatte. „Dem werden wir nachgehen. Wo finden wir diese Monique?“
Das Mädchen rollte mit den Augen, als wäre das eine Frage, auf die eigentlich jeder die Antwort wissen müsste. „Na, in ihrem Salon. Nicht weit von hier. In der Wölckernstraße, da beim Aydin-Bäcker in der Nähe.“
Er dankte den Jugendlichen für ihre Hilfe und überließ sie wieder der Obhut der Streifenpolizisten. Nachdenklich kehrte er noch einmal zur Leiche zurück. Um Nicole und ihre Leute nicht zu behindern, blieb er auf Abstand.
Das half ihm, auch weiterhin die emotionale Distanz zu wahren. Es handelt sich um ein normales Mordopfer, ermahnte er sich vorsichtshalber selbst noch einmal.
Dann begutachtete Mark das eng anliegende schwarze Abendkleid. Er musste zugeben, dass es in der Tat recht hochpreisig aussah und Gabi sehr gut gestanden hatte. Am oberen Rand, um das Dekolleté herum, erkannte er schwarze Pailletten. Sie waren kreisrund angebracht und schimmerten leicht. Weiter unten am Kleid war der Rocksaum einige Zentimeter hinaufgerutscht und entblößte Teile der Oberschenkel. Ansonsten keine weiteren Auffälligkeiten.
Nicht viel anders sah es bei den manikürten Fingernägeln aus. Von dem Mädchen wusste er, dass es sich um Gelnägel handelte, was genau dies allerdings bedeutete, musste er erst einmal googeln. Caro lackierte sich zwar ebenfalls gelegentlich die Nägel, allerdings nur ihre eigenen, die natürlich gewachsen waren. Die Gel-Variante war offenbar das mittlerweile gängige Verfahren, um seine Nägel künstlich zu verlängern, wie ihm Google prompt verriet. Dafür brauchte man neben speziellen Chemikalien auch eine UV-Lampe. Also nichts, was jeder automatisch daheim im Regal stehen hatte. Zumindest besaß Caro so etwas nicht.
Die Nägel der Toten waren weinrot und mit goldenem Glitzer versehen. Zu Marks Bedauern waren alle zehn Nägel vollzählig. Aber vermutlich war es bei der aufwendigen Prozedur auch gar nicht mehr so leicht möglich, einen davon zu verlieren. Das hieß, sofern man keinen größeren Kraftaufwand betrieb, der vermutlich dazu geführt hätte, dass sich das komplette Nagelbett mit ablöste. Verlorene falsche Fingernägel schieden als Indiz auf den eigentlichen Tatort oder Täter demnach aus. Blieb die Hoffnung, dass sich unter den Nägeln vielleicht die DNS-Spuren des Mörders finden ließen. Doch in der Hinsicht wollte er Nicoles Untersuchung nicht vorgreifen.
Mark fragte sich, aus welchem Grund sich das Mordopfer in einem teuren Kleid in eine solche Gegend gewagt hatte. Logisch war das nicht. Und weshalb trug sie über dem Kleid lediglich eine dünne schwarze Strickjacke? Für einen verregneten Abend Anfang April war es sicherlich nicht die klügste Wahl. Seiner Meinung nach trug man so was in der Regel bloß, wenn man nicht allzu viel Zeit unter freiem Himmel verbringen wollte. Sofern überhaupt.
„Wie steht es um Geldbörse, Smartphone und Handtasche?“, fragte er daher an Nicole gewandt.
Diese drehte sich mit einer Zeitlupenbewegung zu ihm um und ließ sich auch danach Zeit mit dem Antworten. „Handy und Geld fehlen, aber Portemonnaie und Handtasche sind da.“
Okay, das war ungewöhnlich.
„Welcher Räuber macht sich denn die Mühe, seinem Opfer die Kohle und das Telefon abzunehmen, aber den Rest dazulassen?“
„Vielleicht hatte sie versucht, ihm das Geld freiwillig zu geben. Oder sie hatte gar keins. Hast du schon mal daran gedacht? Abgesehen vom Kleid wirkt der Rest von ihr ziemlich billig.“
Das war ein gutes Argument. Dennoch missfiel ihm, wie Nicole von der Toten sprach. Hier ging es nicht um irgendwen, sondern ... nein, das war nicht der richtige Augenblick, um diese Wunde erneut aufzureißen. Er verzichtete auf einen Einwand und nickte der Kollegin bloß zu, um sich zu verabschieden.
Mehr gab es hier im Moment ohnehin nicht zu tun. Nach kurzer Absprache mit den Streifenpolizisten kehrte Mark mit Felix zum Wagen zurück. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es mittlerweile kurz vor halb zwölf war. Konnte er um diese Zeit noch bei Gabis Eltern vorbeifahren? Normalerweise war die Polizei bestrebt, die Angehörigen möglichst zeitnah zu informieren – auch nachts.
Dennoch konnte man das nicht ganz so pauschal betrachten. Wenn er Mutter und Vater Brettschneider und deren dünnes Nervenkostüm noch richtig in Erinnerung hatte, war es vermutlich besser, die Nachricht über den Tod ihrer einzigen Tochter auf morgen früh zu verschieben. Die beiden müssten um die siebzig sein und hatten eine letzte ruhige Nacht durchaus verdient, bevor sich ihr Leben in einen Albtraum verwandeln würde.
„Oh Mann, was für eine Scheiße“, sagte er zu Felix, als sie von der Pillenreuther Straße zurück in Richtung Bahnhof fuhren. „Gabi! Meine Güte, kannst du dir das vorstellen? Jahrelang höre ich nichts von ihr und dann das. Unfassbar!“
Der Hund brummte etwas, was ebenso Zustimmung wie Widerspruch sein konnte. Mark achtete nicht darauf. In Gedanken ging er noch einmal die in den vergangenen anderthalb Stunden gesammelten Fakten durch. Der Auffindeort der Leiche. Die Einstiche. Das Fehlen von Geld und Smartphone. Alles deutete auf einen aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall hin, wie sie in Nürnberg zwar nicht an der Tagesordnung waren, aber trotzdem gelegentlich geschahen. Insbesondere in diesem Teil der Stadt. Dennoch widerstrebte es ihm, es bloß als normalen sinnlosen Raubmord zu betrachten. Worauf sich das stützte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht war es nur ein Bauchgefühl.
Eine ganz andere Frage war, ob er überhaupt der Richtige war, um diesen Fall zu untersuchen. Nicht grundlos wurden Ermittlern in der Regel keine Fälle zugewiesen, in die sie auch nur ansatzweise persönlich involviert waren. Aber war er das tatsächlich: persönlich involviert? Nach ihrer Trennung vor rund fünfzehn Jahren hatten sich Gabi und er anfangs noch sporadisch gesehen, aber seit bestimmt zehn Jahren hatte es überhaupt keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben. Mark hatte keine Ahnung, wie es ihr in den letzten Monaten und Jahren ergangen war. Was sie beschäftigt und angetrieben hatte. Ob sie glücklich oder vom Leben gebeutelt gewesen war. Ob sie einen Lebensgefährten oder gar Kinder hatte. Bei ihrem letzten zufälligen Aufeinandertreffen hatte er sie sturzbetrunken auf einer Party gesehen. Damals war sie solo gewesen. Aber was hatte das schon zu sagen?
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr bahnte sich die Flut der Erinnerungen ihren Weg. Und sie nahm mit jeder Minute an Intensität zu, bis sie unaufhaltsam war. Sämtliche Dämme brachen und rissen Mark haltlos mit sich.
Auf den Verkehr achtete er nur noch sekundär. Wie unter Autopilot lenkte er den BMW durch die spärlich befahrenen Straßen. Er hielt an roten Ampeln und beachtete die Vorfahrt, bekam jedoch kaum etwas davon mit.
Vor seinem geistigen Auge sah er unzählige Momente mit Gabi. Die guten wie die schlechten. Die vielen Auf und Abs. Und schließlich der Auslöser ihrer endgültigen Trennung. Er wusste noch genau, wie lange er darunter gelitten hatte, obwohl die Trennung seine Entscheidung gewesen war.
Mit Gänsehaut am ganzen Körper seufzte und schluchzte er, wischte sich mehrfach die Tränen weg, die gleich darauf durch neue ersetzt wurden. Das Leben war nicht fair. War es nie gewesen.
Erst als er die Parkstraße erreichte, kam ihm wieder in den Sinn, dass ihn auf dem Weg in die Südstadt eine völlig andere, nicht weniger substanzielle Frage geplagt hatte. Sorgenvoll schaute er hinauf zu seiner Wohnung, die auch jetzt komplett im Dunkeln lag.
War Caro inzwischen heimgekommen? Falls nicht, wo steckte sie? Ging es ihr gut?
Die Sorge um sie verscheuchte die alten Erinnerungen. Mit hastigen Schritten eilte er durchs Treppenhaus hinauf in den dritten Stock. Felix überholte ihn dabei mühelos und wartete brav vor der verschlossenen Wohnungstür.
Aufgeregt schloss Mark auf und trat ein. Im Glanz der Flurlampe sah er vor dem Schuhregal ein Paar schwarzer Halbschuhe stehen, die Caro gern trug. Waren die vor seinem Aufbruch schon da gewesen? Er war sich nicht sicher und hatte auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Im Vorbeilaufen schaute er in die Küche und ins Wohnzimmer. Gelbes Laternenlicht schien von der Straße hinauf und tauchte die Räume in ein trügerisches Halbdunkel. Trotzdem war klar erkennbar, dass beide Zimmer verwaist waren. Auf den ersten Blick gab es darin nichts, was vorhin nicht ebenfalls dagestanden hatte. Verdammt.
Mark schnupperte, um vielleicht Caros Parfüm wahrzunehmen. Vergebens. Auf dem Weg zum Schlafzimmer lauschte er nach Geräuschen. Außer dem leisen Kratzen von Felix’ Pfoten auf dem Laminat war nichts zu hören.
Sie ist nicht da, flüsterte seine innere Stimme. Er ignorierte sie und öffnete behutsam die Tür. Drinnen erwartete ihn fast grenzenlose Finsternis. Was nicht überraschend war. Selbst bei offener Jalousie fiel durch dieses Fenster nicht viel Helligkeit herein. Das einfallende Mondlicht beleuchtete nur einen kleinen Teil um das Fenster herum. Das Bett hingegen lag im Dunkeln.
Seine Hand wanderte zum Lichtschalter. Noch bevor er ihn ertastete, hörte er sie: Caros regelmäßige Atemzüge. Sie klangen so herrlich vertraut.
Sofort hielt er inne und lauschte einen Moment lang. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Er konnte nicht anders, als die Tür weiter zu öffnen, bis so viel Flurlicht auf das Doppelbett fiel, dass er mit Gewissheit wusste, dass ihm seine Ohren keinen Streich gespielt hatten.
Es stimmte tatsächlich. Sie war wieder da. Als wäre sie niemals weg gewesen.
Abermals blieb er regungslos stehen und beobachtete sie. Es tat so gut, Caro zu sehen. Stundenlang hätte er dastehen können, doch um sie nicht aufzuwecken, schloss er die Tür wieder. Aber nicht für lang. Er versorgte Felix schnell mit Futter und lag keine fünf Minuten später auf seiner Seite des Bettes.
Mark nahm an, dass er einschlafen würde, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte. Rein vom Gefühl her hatte er wochenlang nicht richtig geschlafen. Er fühlte sich so müde und ausgelaugt wie lange nicht mehr. Seine Augen brannten, und selbst das Heben der Arme schien einen enormen Kraftaufwand zu bedeuten. Dazu noch Caros leise Atemgeräusche nur wenige Zentimeter neben ihm. Eigentlich die ideale Konstellation, um die notwendige Ruhe zu finden.
Eigentlich.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, drehte sich das Gedankenkarussell wieder. Er spürte Caro neben sich liegen. Und er sah Gabi in der Gasse. Die eine hatte er zurückbekommen, die andere endgültig verloren. Als hätte ihn jemand vor eine perverse Wahl gestellt.
Mark spürte, wie sich der Seelenschmerz ein weiteres Mal seinen Weg bahnte. Um ihn aufzuhalten, versuchte er schnell, an etwas anderes zu denken, machte es damit aber nur noch schlimmer. Seine Erinnerungen katapultierten ihn zurück in die Zeit der Jahrtausendwende. Er war gerademal achtzehn Jahre alt gewesen und an einem Samstagabend mit seinen Freunden im Nürnberger Nachtleben unterwegs. Irgendwer hatte vorgeschlagen, ins Planet zu gehen, in einen der damals angesagtesten Clubs der Stadt. Dort hatte er Gabi das erste Mal gesehen.
Sie hatte eine blaue Lederjacke und einen schwarzen Minirock getragen – was auch zu der damaligen Zeit eine recht eigenwillige Kreation gewesen war. Auch deshalb war sie ihm sofort aufgefallen. Sie hatte schulterlange brünette Haare gehabt, eine kleine Stupsnase und ein verschmitztes Lächeln, das ihn von der ersten Sekunde an faszinierte. Auf der Tanzfläche um sie herum hatten sich unzählige Menschen bewegt, doch Gabi schien keinen einzigen davon wahrzunehmen. Sie hatte getanzt, als befände sie sich in ihrer ganz eigenen Welt, lediglich durch die Techno-Musik aus den Lautsprechern mit der realen Welt verbunden. Mark hatte sie vom Rand der Tanzfläche aus beobachtet, es jedoch nichts übers Herz gebracht, sie anzusprechen. Er war ohnehin nicht davon ausgegangen, dass eine Königin wie sie noch solo sein könnte.
Später daheim hatten ihn dann Zweifel geplagt. In der Disco hatte er lediglich andere Mädchen an ihrer Seite gesehen. Es bestand also durchaus der Hauch einer Chance, dass sie tatsächlich solo war. Umso mehr hatte es ihn gewurmt, nichts unternommen zu haben.
Die ganze Woche über hatte er all seinen Mut zusammengekratzt und an einer Anmache getüftelt, die sie nicht schon unzählige Male zuvor gehört hatte. In Gedanken hatte er sich ausgemalt, wie er sie auf der Tanzfläche zufällig anrempeln und dann als Entschuldigung auf einen Cocktail einladen würde.
Der nächste Samstag war gekommen, und wieder waren sie ins Planet gegangen. Schon beim Eintreten war sein Blick zur Tanzfläche gewandert, die auch diesmal proppenvoll gewesen war. Jede Menge andere Teenies, manche ziemlich aufgebrezelt. Doch keine hatte eine blaue Lederjacke getragen oder dem Mädchen von vergangener Woche auch nur im Ansatz ähnlich gesehen.
Vielleicht würde sie später kommen, hatte er sich Mut einzureden versucht. Stunde und Stunde war verstrichen, aber das Mädchen war einfach nicht aufgetaucht. Als der Morgen graute, hatten seine Freunde ihn förmlich aus dem Club prügeln müssen. Mark wäre geblieben, bis auch der letzte Gast gegangen war.
Daheim hatte er sich Vorwürfe gemacht, in der Woche davor so feige gewesen zu sein. Einige Sekunden hatte er sogar ernsthaft überlegt, über das Radio einen Suchaufruf zu starten. Aber wie peinlich wäre das denn gewesen?
Sieh es ein, das hast du verbockt, hatte er sich gesagt. Dennoch war zumindest ein kleiner Funken Hoffnung in ihm zurückgeblieben. Und als am Samstag darauf die Frage aufgekommen war, wohin sie am Abend gehen wollten, war für ihn nur ein Ort infrage gekommen.
Seine Beharrlichkeit hatte sich ausgezahlt. Das hübsche Mädchen war wieder da gewesen und hatte auch diesmal getanzt, als würde der DJ die Musik nur für sie allein auflegen. Ihre blaue Lederjacke hatte sie diesmal daheim gelassen und stattdessen ein eng anliegendes Top im Military Look getragen, das ihre markanten Rundungen betonte. Entsprechend hatten die Blicke der anderen Typen an ihr geklebt. Irgendwer hatte sogar versucht, sie zufällig anzurempeln, damit jedoch bloß erreicht, dass sie ihn anschnauzte und ihm danach demonstrativ die kalte Schulter zeigte.
Auf diesem Wege war Mark nicht weitergekommen. Also hatte er sich geduldet, bis sie eine Tanzpause einlegte, und versucht, sie auf dem Weg zu ihren Freundinnen abzufangen. Das hatte geklappt, aber nicht so, wie erhofft: Plötzlich hatte Gabi einem korpulenten Discobesucher ausweichen müssen und war dabei buchstäblich in seine Arme gestolpert. Statt sich wie ursprünglich geplant bei ihr zu entschuldigen, hatte sie es bei ihm getan und ihn danach auf eine Jackie-Cola eingeladen. Mark hatte nicht mehr alle Einzelheiten im Kopf, konnte sich aber noch gut entsinnen, dass es ein sehr feuchtfröhlicher Abend gewesen war und sie beide unglaublich viel miteinander gelacht hatten.
Als er jetzt daran dachte, legten sich Bleigewichte auf sein Herz und pressten es zusammen, bis er es im Bett nicht mehr aushielt. Niedergeschlagen schleppte er sich zum Fenster, doch auch hier gab es kein Entrinnen. Er dachte an Gabi und die gemeinsame Zeit. Er vermisste sie plötzlich und wünschte, sie wäre noch am Leben, sodass er sie in die Arme schließen und fragen konnte, was aus ihr geworden war.
In diesem Moment spürte er, wie sich jemand von hinten an ihn schmiegte und ihm sanft durch die Haare strich.
„Hey, Schatz, alles okay mit dir?“
Caro hatte sich unbemerkt an ihn herangeschlichen. Und genau ihre Worte und ihre Anwesenheit waren es, die ihm wieder die Augen feucht werden ließen. Er konnte gar nicht anders, als sich umzudrehen und seine Liebste fest in die Arme zu schließen. Ihre Nähe und ihre Wärme taten so gut, waren heilsam und tröstend zugleich.
„Ich weiß nicht“, gestand er. „Du warst weg. Der Anruf. Der Fall. Die Gasse. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Wo warst du denn?“
Fahles Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Es war ernst, jedoch nicht sorgenvoll. „Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich. Das ist jetzt nicht wichtig. Was für ein Anruf? Und was für eine Gasse? Ich dachte, dein aktueller Fall wäre erledigt.“
„Ist er auch. Vorhin bin ich zu einem neuen Tatort gerufen worden.“ Er hielt kurz inne, um durchzuatmen. Dann erzählte er ihr alles, beginnend bei seiner Ankunft in der verwaisten Wohnung und wie seine Freude über den abgeschlossenen Fall schnell einer wachsenden Unruhe gewichen war, verstärkt vom Anruf von der Leitstelle, über seine Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, und dem Schock, am Tatort den Leichnam einer anderen vertrauten Person zu sehen. Auch das Gefühlswirrwarr aus Erleichterung und Trauer ließ er nicht aus. Es tat so gut, sich ihr anzuvertrauen, ihr regelrecht das Herz auszuschütten. Dass er dabei die eine oder andere Polizeiinterna ausplauderte, war ihm in diesem Moment völlig egal. Dies alles waren Sachen, die einfach aus ihm rausmussten. Und er war froh, dass Caro da war und ihm zuhörte.
Bei jeder anderen Person hätte er sich nicht halb so sehr öffnen können. Caro war sein Ruhepol, das Yin zu seinem Yang, diejenige auf der Welt, der er am meisten vertraute. Deshalb dachte er auch nicht eine Sekunde daran, dass sie seine Sorge und Trauer missdeuten und fälschlicherweise annehmen könnte, er würde noch etwas für seine Ex empfinden oder der alten Beziehung nachtrauern. Mit so etwas hatte das Gefühlschaos absolut nichts zu tun.
„Wow, da ist aber eine Menge passiert“, sagte sie, nachdem sein Bericht beendet war. „Eine Achterbahn ist ein Witz dagegen. Da will ich mir nicht mal ausmalen, wie du dich im Augenblick fühlst.“
„Als wäre mein ganzes Leben komplett durchgeschüttelt worden, sodass kein Stein mehr auf dem anderen ist.“
„Was willst du wegen Gabi unternehmen?“
„Na, ermitteln natürlich. Das bin ich ihr schuldig.“
Sie nickte verständnisvoll. „Bist du dir sicher, dass du der Richtige dafür bist? Auch wenn die Beziehung lang zurückliegt und du etliche Jahre nicht viel an sie gedacht hast.“
„Dadurch bin ich wahrscheinlich sogar am besten dafür geeignet. Ich kenne ihre Vergangenheit und weiß, wie sie getickt hat.“
„Hast du keine Angst, dass dir die Sache zu sehr an die Nieren geht? Du siehst doch, wie fertig du im Moment deswegen bist.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich brauche nur etwas Schlaf. Davon hatte ich in den letzten Tagen entschieden zu wenig. Ich glaube, es war nur der erste Schock, der mir zugesetzt hat.“
Caro hob skeptisch die linke Augenbraue. Ein Anblick, der ihn jedes Mal verzückte. Auch jetzt hätte er sie deswegen am liebsten geküsst. Doch er beschränkte sich darauf, ihr liebevoll über die Wange zu streichen. Da war noch eine andere Sache, die ihm keine Ruhe ließ: „Ich schaffe das schon, keine Sorge. So, und nun verrat mir, was dich heute so beschäftigt hat.“
Ihre Miene versteinerte. Selbst im Halbdunkel wirkte ihr Gesicht mit einem Mal deutlich blasser. „Ich …“ Sie stockte. Ihre Augen wurden feucht, und sie schüttelte zögernd den Kopf. „Lass uns das besser verschieben. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Nicht nach allem, was du heute erlebt hast.“
„Unsinn. Für dich ist immer der richtige Zeitpunkt. Ich hab dir mein Herz ausgeschüttet, und jetzt bist du dran. Ich möchte wissen, was dich belastet.“
Unschlüssig blickte sie ihn an. „Ich …“
Er strich ihr mitfühlend und auffordernd über den Handrücken. „Du kannst mir alles sagen. Das weißt du doch.“
„Ich …“ Abermals setzte sie an und zögerte nach dem ersten Wort. Mehrere Sekunden verstrichen, bevor sie den Satz vollendete. Dann allerdings mit einem Paukenschlag: „… bin schwanger.“
Entgeistert riss er die Augen auf. Mit einer solchen Neuigkeit hatte er gleich dreimal nicht gerechnet. Nicht nachdem sie schon seit mehr als einem Jahr versuchten, ein Kind zu zeugen. Ohne Erfolg. Bis jetzt. Unweigerlich wanderte sein Blick zu Caros Bauch. Der aussah wie immer.
„Aber … wie ist das möglich?“ Schon beim Aussprechen merkte er, wie dämlich die Frage war. „Ich meinte, wie kann es sein, dass jetzt …“ Auch das war nicht viel besser. „Und warum siehst du dann aus wie drei Tage Regenwetter? Das sind doch tolle Neuigkeiten!“, startete er einen dritten Versuch.
Sie entblößte ein dünnes Lächeln voller Unsicherheit. „Du sagst es ja selbst: Wie kann es ausgerechnet jetzt sein? Der Zeitpunkt ist alles andere als passend.“
„Unsinn. Was soll daran unpassend sein? Außerdem gibt es so was wie den idealen Moment eh nicht.“
„Das mag stimmen, aber irgendwie hatte ich mir alles ein bisschen anders vorgestellt. Letzten Freitag dachte ich mir schon, dass ich schwanger sein könnte, aber ich war mir unsicher und hab deshalb noch nichts gesagt. Seit Montag habe ich Gewissheit. Eigentlich wollte ich es dir ja gleich sagen, doch du warst dermaßen mit deinem Fall beschäftigt, dass ich es lieber für mich behalten habe. Du hättest eh keine Nerven für so eine Nachricht gehabt.“
„Das ist doch Quatsch“, behauptete er prompt, obwohl er wusste, wie lahm diese Ausrede klang. In den vergangenen Tagen hatte er sich dermaßen in seinen Fall hineingesteigert, dass in seinem Denken für nichts anderes mehr Platz gewesen war.
Caro lachte traurig auf. „Wie lange haben wir es versucht und hatten keinen Erfolg? Dann endlich klappt es, und du warst nicht da, damit ich es dir sagen konnte. Kannst du dir vorstellen, wie froh und einsam ich mich gleichzeitig gefühlt habe? Am liebsten hätte ich die ganze Zeit geheult! Die letzten Tage bist du bloß noch zum Essen und Schlafen nach Hause gekommen. So sollte das eigentlich nicht laufen.“
„Wird es auch nicht mehr.“
„Das behauptest du jetzt. Aber wie es in Zukunft laufen wird, kannst du gar nicht wissen. Vor allem nicht bei einem Fall wie dem, den du jetzt hast. Ich weiß, wie sehr du dich in deine Arbeit reinkniest. Das bewundere ich auch an dir. Dennoch kann das nicht für immer so weitergehen. Wenn wir eine Familie sein wollen, müssen wir uns entsprechend verhalten. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich will auf keinen Fall, dass du deinen Job aufgibst. Ich weiß, wie gut du darin bist und was dir die Arbeit bedeutet. Allerdings möchte ich nicht, dass das Kind und ich dich bloß zu Gesicht kriegen, wenn es dir gerade mal in den Terminplaner passt. Mit einem Kind gelten andere Regeln. Es bedeutet Veränderungen. Für uns alle. Nicht umsonst heißt es, dass nach der Geburt nichts mehr so ist wie zuvor. Die Dinge ändern sich, und wir müssen uns anpassen. Ansonsten haben wir als Familie keine Chance.“
Nach der Ansprache sah sie ihn mit großen Augen an. Mark war beeindruckt. Über diesen Appell hatte sie sicher lange gedacht. Was auch erklärte, wofür sie heute die Auszeit gebraucht hatte. Er verstand es und stimmte ihr zu. So wie bisher konnte es nicht weitergehen. Und würde es auch nicht.
Seine Hände umschlossen ihre Wangen. Er hob sanft ihren Kopf und schaute ihr tief in die Augen. „Ich liebe dich. Und wir kriegen das hin. Versprochen.“
Als eine Träne ihr Gesicht hinablief, küsste er sie weg. Anschließend wanderten seine Lippen zu ihren weichen Lippen. Beide schlossen sie die Augen und fühlten sich einander näher als je zuvor.
Mark erwachte hundemüde. Wieder hat er bloß wenige Stunden geschlafen. Diesmal jedoch absichtlich, weil er mit Caro noch lange Zeit über das Baby gesprochen und sie beide sich ausgemalt hatten, wie es bald zu dritt (beziehungsweise zu viert, wenn man Felix mitzählte) werden würde. Vermutlich war dies in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft etwas vorschnell – immerhin befand sich Caro gerade mal in der siebenten Woche –, dennoch zauberte ihm allein der Gedanke, dass demnächst buchstäblich ein Produkt ihrer Liebe zur Welt kommen würde, ständig ein neues Lächeln ins Gesicht.
Wenn Mark sich nicht verrechnet hatte, konnte es schon Ende November so weit sein. Was für eine Vorstellung!
Auf das morgendliche Joggen mit Felix im Stadtpark verzichtete er heute lieber. Mark war schon froh, dass er im Badezimmer die Augen genug offen halten konnte, um sich beim Rasieren nicht das ganze Gesicht zu zerschneiden. Mit einem innigen Kuss und einem liebevollen Streicheln über ihren Bauch verabschiedete er sich von Caro.
Sogar während der morgendlichen Rushhour hielt sich die Freude erstaunlich lang. Am liebsten hätte er in die Welt hinausgebrüllt, dass er noch in diesem Jahr Vater werden würde, doch Caro und er hatten darin übereingestimmt, mit dem Verkünden dieser Neuigkeit die üblichen ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft abzuwarten. Bis dahin würde noch gut ein Monat vergehen. Eine verdammt lange Zeit für eine derartige bahnbrechende Nachricht.
Das Präsidium am Nürnberger Jakobsplatz wurde da zur ersten Feuerprobe. Auf dem Weg zum Großraumbüro in der zweiten Etage, das er sich mit seinem Partner und weiteren Kriminalkommissaren teilte, traf er etliche Kollegen. Nicht alle gaben sich mit einem kurzen Nicken zum Gruß oder einem „Servus“ zufrieden. Einige fragten auch, wie es ihm ging und was es Neues gab.
„Nichts“, log Mark und war froh, dass Felix an seiner Leine zerrte, weil der Hund es offenbar kaum erwarten konnte, es sich auf seiner Decke neben dem Schreibtisch bequem zu machen. Offenbar war die Nacht auch für den Hovawart ein bisschen zu kurz gewesen.
Bei der Ankunft am Doppelschreibtisch musterte ihn sein Partner Dominik prüfend von oben bis unten. „Na, du musst ja gestern Nacht noch ordentlich gefeiert haben. Du siehst aus, als hättest du den Rest der Nacht unterm Couchtisch verbracht. Mit dem Gesicht nach unten. Junge, Junge. Da geht mir ja der Hut schief. Wenn ich einen hätte.“
Sein zehn Jahre älterer Kollege trug wie üblich einen mehr schlecht als recht sitzenden Anzug (diesmal kariert und in Mausgrau) und lümmelte hinter seinem Schreibtisch, als würde er auf seinem Monitor ein Fußballspiel verfolgen. Wobei Mark bei näherer Betrachtung bezweifelte, dass Dominik sich mit so was Profanem wie Fußball überhaupt abgab. Seine Kragenweite waren eher Verschwörungstheorien über Geheimgesellschaften und deren angestrebte Weltherrschaft. Sicher hätte er auch sofort etliche Theorien über das Bankenwesen oder den elften September zum Besten geben können.
Mit Genugtuung stellte Mark allerdings fest, dass sein Partner momentan mit dem Tippen des Berichts über ihren gestrigen Fallabschluss beschäftigt war. Seine Finger hämmerten auf die Tastatur ein, als wäre es eine fünfzig Jahre alte Mechanik-Schreibmaschine mit klemmenden Tasten.
„Leider keine Feier, sondern ein neuer Fall“, korrigierte Mark. „Während du dir in der Eckkneipe wahrscheinlich ein Bier nach dem anderen hinter die Binde gekippt hast, bin ich zu einem Tatort gerufen worden.“
„Echt?“ Dominik setzte sich aufrecht hin. „Warum hast du mich nicht angerufen?“
Das war eine berechtigte Frage. Mit einer wahrheitsgemäßen Antwort liefe er allerdings Gefahr, den neuen Fall schneller wieder los zu sein, als Dominik einen seiner vermeintlich witzigen Denglisch-Sprüche vom Stapel lassen konnte. Daher versuche Mark es mit einer Ausrede: „Ich war eh gerade in der Nähe. Da hätte es wenig Sinn gemacht, dir noch Bescheid zu geben. Außerdem wusste ich ja nicht, ob du nach der Kneipe nicht wieder mit einer deiner … äh … Observationen beschäftigt warst.“
„Unsinn, wenn es wichtig ist, kannst du mich zu jeder Tages- und Nachtzeit verständigen. Auch wenn es mal nicht um was Dienstliches geht. Du bist mein Partner. Da gehört so was mit zum Rundum-Paket. Worum geht es denn in dem neuen Fall?“
Erleichtert darüber, dieses Riff so leicht umschifft zu haben, fasste Mark die nüchternen Fakten der vergangenen Nacht zusammen. Dass die Tote und er eine gemeinsame Vergangenheit hatten, ließ er aus.
Dominiks Reaktion fiel aus wie erwartet: „Klingt nach einem stinknormalen Raubüberfall. Der wird doch eh auf kurz oder lang zu den Akten gelegt.“
„Nun mal nicht so vorschnell. Da gibt’s ’ne Menge, was näher untersucht werden muss.“
„Du kannst ja schon mal loslegen. Ich hab hier noch ein bisschen was bei einem richtigen Fall zu tun.“
Einem richtigen Fall? Marks erster Impuls war es zu widersprechen. Wie konnte Dominik auch nur annehmen, Gabis Ermordung könnte nicht so relevant sein? Im letzten Moment besann sich Mark eines Besseren. Dass sich Dominik fürs Erste lieber um ihren anderen Fall kümmerte, war mehr als nur ein Glücksfall. Mark war ohnehin kein großer Freund vom Berichteschreiben. Wenn sich sein Kollege darum kümmern wollte, warum nicht? Außerdem hätte er Dominik vor dem Besuch bei Gabis Angehörigen einiges zu erklären gehabt. Es war nämlich mehr als wahrscheinlich, dass ihre Eltern Mark auf Anhieb erkennen würden.
„Ganz wie du meinst. Wie weit bist du mit dem Einsatzbericht?“
„In groben Zügen steht er. Nun geht es ans Eingemachte. Nachher haben wir – beziehungsweise ich – allerdings einen Termin mit einem Kunstsachverständigen. Du weißt ja: einfach mal jemanden fragen, der sich damit auskennt. Ich hoffe, dass wir mit seiner Hilfe auflisten können, was alles gefälscht wurde. Der gute Herr Berger schweigt ja leider noch immer.“
„Sag bloß, er kann deiner bekannten charmanten Art widerstehen. Wo gibt’s denn so was?“
„Das frage ich mich auch. Vielleicht habe ich einfach noch nicht den richtigen Hebel gefunden, den ich bei ihm ansetzen muss.“
„Probiere es doch mal mit einem Zitat aus einem 2Pac-Song. Den Rapper scheint er zu mögen.“
Oder war 2Pac bloß eine weitere falsche Maske? Aber das war nicht der Moment, um sich näher mit dieser Frage zu beschäftigen. Mark fuhr den Computer hoch in der Hoffnung, dass ihm die Kollegen bereits erste Berichte über den gestrigen Abend geschickt hatten.
Von der Rechtsmedizin und den Spusis lagen noch keine Rückmeldungen vor – was Mark wenig verwunderte. Sowohl Ziegler als auch Nicole und ihre Leute hatten nach seinem Aufbruch gestern Abend zweifellos noch etliche Stunden am Tatort zu tun gehabt. Deshalb verschwendete er auch keinen einzigen Gedanken daran, ob er jetzt deswegen kurz in den jeweiligen Abteilungen durchklingeln sollte. In der Regel führte ein solches Drängeln eher zu Verzögerungen als zur Beschleunigung. Davon abgesehen dauerte es für gewöhnlich bis zu zwei Tagen, bevor auch nur der vorläufige Report vorlag, für den abschließenden Begutachtungsbericht meist mehrere Wochen, abhängig davon, wie viele Zusatzuntersuchungen notwendig waren.
Aber zumindest die Meldungen der Streifenpolizisten, die gestern Abend die Aussagen der jugendlichen Zeugen aufgenommen hatten, waren eingetroffen. Mark überflog die Zeilen, fand jedoch keine für ihn neuen Details. Er hoffte, dass die Suche nach etwaigen weiteren Zeugen und/oder Anwohnern, denen zur Tatzeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen war, aufschlussreicher sein würde.
Nachdem er die restlichen E-Mails in seinem Postfach überprüft hatte, gab er Felix das Zeichen für den Aufbruch. Widerwillig erhob sich der Hovawart und folgte ihm leise maulend zum Ausgang.
Laut den Angaben des Einwohneramts lebten Gabis Eltern noch immer dort, wo sie schon vor achtzehn Jahren gewohnt hatten: in einem Wohnbaukomplex in der Grünewaldstraße, nicht weit vom Nordring entfernt.
Bereits auf der Fahrt dorthin rutschte Mark unruhig auf dem Sitz hin und her. Seine Hände waren klitschnass, während er sich fragte, wie Herbert und Ingrid Brettschneider wohl auf ihn reagieren würden. Dass sie früher einmal vertraut miteinander gewesen waren, machte es jetzt komplizierter. Und wie würde er reagieren, wenn sie ihn nicht erkannten und ihnen auch der Name auf dem Dienstausweis nichts mehr sagte – die beiden siezen, als wären sie Fremde? Oder sie mit dem vor nicht ganz zwanzig Jahren erhaltenen Du begrüßen und sie somit vielleicht noch mehr verwirren?
Ratlos schaute er zu Felix, der im Kofferraum völlig tiefenentspannt aus dem Seitenfenster starrte. An der Sitzlehne davor hingen – genau wie auf dem Beifahrersitz – zahlreiche dunkle Hundehaare. Der Anblick erinnerte Mark an das Sofa daheim. Überall hinterließ der Vierbeiner seine Spuren. Vermutlich gehörte das für ihn als frischgebackenen Haustierbesitzer schlichtweg dazu.
Mark beneidete den Hovawart um seine Gelassenheit und atmete tief durch.
„Vielleicht hast du recht“, sagte er dann. „Einfach ruhig bleiben und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.“
Was natürlich leichter gesagt als getan war. Als er die Stufen zum dritten Stock des Altbauhauses hinaufstapfte, wummerte sein Herz wie nach einem Marathonlauf. Felix hingegen trabte locker neben ihm her, als erwartete er oben eine Wellnessoase für Hunde.
Vor der Wohnung blieb Mark stehen, um sich zu sammeln. Die Tür und das Klingelschild waren zwischenzeitlich modernisiert worden, aber die eingravierte Schrift auf dem blassgelben Emailleschild war die Gleiche wie früher: Familie Brettschneider. Zögernd bewegte er den Finger zur Klingel und verharrte davor in der letzten Sekunde. War er wirklich bereit für das Folgende? Nein, war er nicht.
Mit Hitzewallungen wie in den Wechseljahren klingelte er. Mit der anderen Hand krallte er sich an der Hundeleine fest.
Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, und Mark hielt vor Anspannung die Luft an. Sekunden darauf öffnete ein untersetzter Mann um die siebzig im aufgeknöpften karierten Hemd, unter dem ein weißes Unterhemd hervorblitzte. Er musterte ihn kurz, bevor sein Blick weiter zum Hovawart wanderte.
„Ja, bitte?“
Scheiße, er erkennt mich nicht, schoss es Mark durch den Kopf.
Aus dem Raum links vom Flur streckte eine etwa gleichaltrige Frau den Kopf hervor. Sie war einige Zentimeter größer als ihr Gatte, ebenfalls etwas stämmig und trug dieselbe rotbraune Dauerwelle wie zur Jahrtausendwende. Sie runzelte die Stirn und trat hinter ihren Mann.
„Mark, bist du das?“
Ihr Gesichtsausdruck signalisierte Erkennen und entspannte sich mit jeder Sekunde mehr. Sogar ein kleines Lächeln blitzte auf. Auch die Miene ihres Gatten wechselte von fragend zu Stimmt-den-kennste.
Einzig Mark fühlte sich noch genauso unwohl wie zuvor. Er beantwortete die Frage mit einem Kopfnicken und zeigte seinen Polizeiausweis vor. „Ich bin heute dienstlich hier. Darf ich bitte reinkommen?“
„Ja, klar, was ist denn?“, fragte Ingrid Brettschneider. „Du machst mir richtig Angst.“