Wer mordet schon zwischen Alb und Donau? - Sören Prescher - E-Book

Wer mordet schon zwischen Alb und Donau? E-Book

Sören Prescher

4,9

Beschreibung

Ruhestand … wegen einem bisschen Bandscheibe! Kommissar Jochen Schädle ist stinkwütend. Aber statt sich ins Rentnerdasein zu fügen, fährt er los. Von Rottweil über Donaueschingen bis Fridingen und dann Richtung Balingen und Hechingen. Ruhe findet er unterwegs aber nicht: egal wo er anhält, überall erinnert er sich an Mord und Totschlag. Der Leser folgt dem ungewöhnlichen Ermittler bei dessen Reise in eine kriminelle Vergangenheit und entdeckt so nebenbei die schönsten Plätze der Region.

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Silke Porath / Sören Prescher

Wer mordet schon zwischen Alb und Donau?

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Schlesier – Fotolia.com

und © Fotimmz – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4450-0

Liebe Leser!

Natürlich wissen wir, dass Balingen nicht an der Donau liegt. Schön ist es dort trotzdem – wie auch in allen anderen Orten, in denen Jochen Schädle ermittelt. Deswegen stehen sie im Buch, das dann allerdings geheißen hätte: »Wer mordet schon an der Donau, an der Eyach, auf der Baar und Richtung Schwarzwald bis hin zu den Ausläufern der schwäbischen Alb mit Blick auf den Heuberg.« Nicht nur, dass das komisch klingt – es hätte auch gar nicht auf das Cover gepasst.

Unserem Ermittler Jochen Schädle passt auch was nicht. Dass er nämlich wegen einem bisschen Bandscheibe in Rente geschickt wird. Womit wir aber kein Mitleid haben. Denn erstens ist er ja unsere Erfindung, und zweitens hat er so mehr Zeit, um sich alles Schöne in der Region anzuschauen. Vielleicht machen Sie das auch: einfach mal losfahren und schauen, was Sie so am Wegesrand finden (das mit dem schmerzenden Rücken lassen Sie aber bitte sein!). Gerne dürfen Sie uns von unterwegs eine Postkarte schicken. Oder eine E-Mail. Und wer weiß, vielleicht begegnen wir uns ja irgendwo an einem der Schauplätze?

Keine Bange, übrigens. Sie müssen nicht um Leib und Leben, Hab und Gut fürchten. Die Handlungen und Personen sind einzig und allein unserer Fantasie entsprungen. Falls Sie Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen oder lebenden Menschen finden, dann freuen wir uns natürlich, dass wir so gut gedichtet haben. Und außerdem ist da ja noch Kommissar Jochen. Der passt schon auf, dass die Gegend hier zwar einen Mordsspaß macht, aber dass alle ruhig urlauben und leben können.

Herzlich,

Silke Porath & Sören Prescher

*

»Rente! Wegen ein bisschen Bandscheibe!« Jochen Schädle versetzt dem Karton einen Fußtritt. Dann nestelt er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche. Die Jeans haben auch schon bessere Zeiten gesehen, und wie jedes Mal verfängt sich der Wohnungsschlüssel im Riss in der Tasche. Schädle zerrt daran, und es ist ihm egal, dass das Loch dadurch noch größer wird. Die Zentralverriegelung springt auf. Er schnappt sich den Karton, wirft ihn auf den Rücksitz und fährt mit unerlaubt hoher Geschwindigkeit vom Parkplatz.

»Sollen die mir doch einen Strafzettel verpassen.« Beim Einbiegen in die Rottweiler Hauptstraße kramt er seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Als er bei Hellrot über die Ampel fährt, rutscht der Karton vom Sitz. Ein Sortiment Kugelschreiber, das von der Sonne ausgebleichte Foto seiner Tochter und der verstaubte Pokal vom Kollegen-Kegeln sieht er unter dem Sitz verschwinden. Den Blumenstrauß vom Team hat er der Sekretärin geschenkt. Die Pralinen (belgische, immerhin) vorhin gleich rumgereicht. Nur den Gutschein für die Bücherei hat er mitgenommen. Vielleicht freut seine Vermieterin sich darüber.

»60, Mensch, altes Haus, genieß das Leben, kannst jetzt endlich Romane lesen.« Blöde Sprüche der Kollegen. Jochen pfeift auf Bücher. Auf die verdammte 60. Und verflucht seine Bandscheibe, die ihm den Vorruhestand eingebracht hat. Trotz Operation, trotz Reha und trotz der elend langen Stunden in der Physiotherapie.

»Heimadsogga!« Er schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Dann dreht er das Radio auf und lässt die Scheiben runter. Mick Jagger beschallt die Neckarbrücke. Saust mit ihm durch den Kreisverkehr. »You can’t always get, what you want …«

Elf Uhr. Verdammt. Was macht man um elf Uhr, wenn man nicht arbeitet? Jochen Schädle überlegt für einen Moment, nach Hause zu fahren. Im Kühlschrank liegen zwei Flaschen Hefeweizen. Er könnte sich auf den Balkon setzen, kühlen Gerstensaft trinken und dann endlich mal das Unkraut aus den Fugen zwischen den Betonplatten kratzen. Oder einen Mittagsschlaf machen. Die Glühbirne in der Abstellkammer ist seit zwei oder drei Monaten kaputt. Und der Duschvorhang bräuchte dringend eine Runde in der Waschmaschine. Schädle setzt den rechten Blinker. Die CD knackt. »It’s only Rock ’n’ Roll, but I like it.«

»Ach, scheiß drauf.« Schädle nimmt bewusst den Ärger seines Hintermanns in Kauf, als er schwungvoll wieder nach links zieht. Er gibt Gas und folgt dem blauen Schild der A81.

Als er den Flughafen und das Concorde-Hotel hinter sich lässt, ist seine Wut immer noch nicht verraucht. »Soll ich jetzt da einchecken, wenn ich schon ausgecheckt werde?«, ruft er gegen die Windschutzscheibe. Rente. Das perfekte Timing, um Golf zu spielen und sich im Hotel der Brüder Aldi massieren zu lassen, denkt er grantig. Aber dafür würde seine Pension nicht reichen. Missmutig biegt Jochen in die Dürrheimer Straße ein, das Stadtzentrum von Donaueschingen fest im Blick.

Dass sie ihn wegen eines nervigen Rückenleidens einfach in Vorruhestand schickten, war eine Sache. Aber dass sie ihn ausgerechnet durch einen Haubentaucher wie Micha ersetzten, schlug dem Fass den Boden aus. Der Ex-Kollege war zwar gut, wenn es auf Recherchen ankam, aber wenn es hart auf hart kam, zögerte er einfach zu lange. Was gefährlich sein konnte.

Jochen schüttelte den Kopf. Was regte er sich deswegen überhaupt auf? Früher hatte er sich so oft darüber beschwert, keine Freizeit zu haben. Jetzt besaß er jede Menge davon.

Trotzdem war es eine Sauerei. Er gehört noch nicht zum alten Eisen. Im Kopf fühlt sich Jochen so fit wie ein Anfänger frisch von der Akademie. Was ihn sogleich daran erinnert, wie er als junger Polizeibeamter nach Donaueschingen kam, um seine erste Ermittlung zu leiten.

Als er in die Bahnhofstraße einbiegt und parallel zu den Gleisen fährt, kommt ihm sofort alles bekannt vor. Da vorn winkt ihm der Karlsgarten zu, weiter hinten schimmert der Fürstlich Fürstenbergische Park durch, der vor dem Stadion liegt. Wann war das gleich noch mal? Es müsste im Sommer 1986 gewesen sein. Die Stones hatten gerade ihr Album Dirty Works herausgebracht, und im Kino kämpfen Der City Hai und Highlander um die Vorherrschaft.

Heimadsogga, war er damals jung gewesen und das Leben nicht so kompliziert. Nun, zumindest die berufliche Seite. Was ihm an Erfahrung fehlte, hatte er mühelos mit Tatendrang ausgeglichen.

Sein Auto hält in der Josefstraße, direkt neben dem Hermesshop. Eigentlich will er bloß einen kurzen Blick auf den Karlsgarten werfen, aber kaum steht er hier, prasseln die Erinnerungen wie Regentropfen auf ihn ein.

*

Donaueschingen, 1986

Den Stones-Song Time is on my side im Ohr verließ er den Dienstwagen. Manni direkt an seiner Seite. Sein damaliger Partner und Mentor. Ein bärbeißiger 42-Jähriger mit Schnurrbart und stahlblauen Augen, der zwar knallhart sein konnte, aber immer fair war.

Jochens Herz schlug ihm bis zum Hals. Obwohl an diesem Spätaugustvormittag ein kräftiger Wind wehte, klebte ihm die Dienstuniform am Rücken.

Wenngleich er mit Manni schon etliche Tatorte besucht hatte, schien diesmal alles anders zu sein. Ständig schielte er zu seinem Partner und spürte dessen kritischen Blick auf sich brennen. Nur keinen Mist bauen, ermahnte er sich immer wieder. Schau, wohin du trittst und was du berührst. Auf keinen Fall den Tatort verunreinigen.

Direkt neben den Sträuchern kauerte Kurt, der Mann von der Spurensicherung, und verdeckte halb den Leichnam. Der Gerichtsmediziner Hans Zierock stand neben ihm und notierte etwas auf seinem Block. Beide Männer waren um die 50.

»Servus, Männer, was haben wir hier?«

»Hallo, Jochen, gibst du heute den Ton an? Sieht ganz nach einer kleinen Messerstecherei aus«, sagte Hans.

Er sah, wie Manni einige Meter hinter ihm die Hände in den Taschen vergrub.

Nervös wie bei seinem ersten Tatort begutachtete Jochen den Toten. Ein junger Bursche, nicht viel älter als er selbst. Allerhöchstens Ende 20. Legere Kleidung, bestehend aus Bluejeans und einem ehemals hellblauen T-Shirt. Jetzt zeigte es einen unschönen runden Blutfleck auf der rechten Bauchseite. Der Schnitt des Messers trug ebenfalls nicht zur Verschönerung bei. Am Gürtel des Toten klemmte ein schwarzer Walkman. Den Kopfhörerbügel hatte er um den Hals hängen.

»Laut Papieren heißt der Tote Andre Bergmann«, sagte Kurt und reichte ihm den Personalausweis des Opfers. »Wohnhaft in der Wartenbergstraße. Ist nicht weit von hier, liegt fast direkt hinter den Gleisen.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Die Frau dort hinten. Rentnerin. Ging mit ihrem Cockerspaniel Gassi. Der Hund wollte an den Büschen sein Geschäft erledigen.«

»Bei dem Anblick dürfte ihm alles vergangen sein. Habt ihr was Auffälliges entdeckt?«

»Nur das hier.« Mit seiner grünen Latexhand reichte Hans ihm ein eingetütetes Stück Papier und bekam im Gegenzug den Ausweis zurück. »Sein Walkman enthielt keine Kassette, sondern das. Ganz merkwürdige Geschichte.«

Triff mich früh um sechs im KG. Und kein Scheiß, las Jochen vor. »KG steht sicherlich für Karlsgarten. Aber müsste es im zweiten Satz nicht keinen Scheiß heißen?«

»Mit der Grammatik hat’s nicht jeder. Ich frag mich aber eher, warum das Papier dort drin steckte. Ist das jetzt der neueste Schrei?«

Jochen schmunzelte. »Sobald ich es herausgefunden habe, lass ich es dich wissen. Vielleicht schenke ich dir ja demnächst ein Blatt zum Anhören. Ich schreib sogar Satisfaction drauf.«

Grinsend drehte er sich zu seinem Partner um. Bei dessen finsterem Blick erstarb allerdings jedes Lächeln. Hatte er irgendwas falsch gemacht oder übersehen? Oder war es wegen der Scherze in Gegenwart des Toten?

»Hast du dir einen Überblick verschafft?«

»Jepp.«

»Was steht als Nächstes an?«

»Zeugenbefragung natürlich.«

Manni nickte und folgte ihm zur Weggabelung. Eine Handvoll Schaulustiger wurde von den uniformierten Kollegen vom Streifendienst zurückgehalten. Als wenn es nichts Besseres zu tun gäbe.

Die schätzungsweise 70-jährige Rentnerin trug eine dünne Sommerjacke und darunter eine recht abgetragen wirkende Bluse. Sie hatte ganz eindeutig nicht damit gerechnet, mehrere Stunden hier zu verbringen. Ein Wunder, dass sich ihr Hund noch immer ruhig verhielt.

Sie stellte sich ihm als Helga Grundlach vor. Er sah, wie ihre Hand zitterte. »Jeden Tag gehe ich hier um kurz nach sieben spazieren. Mein Oskar muss morgens immer ganz früh raus.«

Ich hoffe, Sie meinen den Hund, lag es ihm auf der Zunge, aber er lauschte weiter schweigend.

»Nie ist irgendwas passiert. Und dann das. Ach, der arme Junge.«

»Kannten Sie Andre Bergmann?«

»Natürlich. Schon als kleinen Buben. Er war immer so nett. Wer kann ihm nur so was angetan haben?«

»Das versuchen wir, herauszufinden. Sind hier früh um sieben schon viele Fußgänger unterwegs?«

Sie schüttelte den Kopf. »Höchstens ein paar, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Geschäfte haben ja noch keine offen.«

»Herrn Bergmann haben Sie hier aber vermutlich noch nie herumlaufen gesehen, oder?«

»Um diese Zeit? Ganz sicher nicht. Normalerweise arbeitet er um sieben schon. Er ist … also, er war Elektriker. In Villingen. Meinen Sie, das hat was damit zu tun?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Mein Partner und ich stehen gerade am Anfang unserer Ermittlungen.«

Er bedankte sich bei der Rentnerin und bat einen der Uniformierten, sie für die Aussage aufs Revier zu bringen.

»Goldige Oma«, sagte Manni leise. »Was steht als Nächstes auf der Liste?«

Jochen schaute kurz zum Tatort. Seine Kollegen waren noch immer mit der Spurensicherung beschäftigt. Es war wenig ratsam, sie jetzt mit Fragen von ihrer Arbeit abzuhalten. »Ich befürchte, jetzt folgt der Hausbesuch.«

»Meinst du, der Bursche lebte noch daheim bei Mutti?«

»Ich tippe eher auf eine Wohnung mit der Freundin.«

Womit er recht hatte. Die Adresse, die im Ausweis des Toten stand, führte sie in die Nähe der Kasernen. Manni ließ ein Regiment französischer Soldaten passieren, alle in dunkelblauen Jogginganzügen und alle bis auf den Leutnant sichtlich verschwitzt von der morgendlichen Trainingsrunde.

»Wie blaue Schafe«, murmelte Jochen und war dankbar über die kurze Verzögerung. Er mochte seinen Beruf, das meiste daran. Die Besuche bei Angehörigen gehörten definitiv nicht dazu. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und roch den schwachen Duft von Chanel Nummer 5. Was Blödsinn war, pure Einbildung, diese eine Nacht mit Sophie lag mehr als sechs Wochen zurück. Er lächelte – nicht nur das Pot au feu war an diesem Abend lecker gewesen.

»Ich würde jetzt mal weniger fröhlich schauen, denk an deine Exfrau«, brachte Manni ihn zurück in die Wirklichkeit. Die Soldaten waren um die Ecke verschwunden. Die beiden Beamten stiegen aus und gingen auf den Wohnblock zu. Feinste 1960er Jahre, allerdings nicht die feinste Gegend. Und offensichtlich nicht die feinste Nachbarschaft. Aus einem Fenster wummerte Marschmusik, vor dem Haus hockten zwei Opas auf einer morschen Bank, beide im Unterhemd und beide mit einer Flasche Fürstenberg in der Hand. Manni zögerte keinen Moment, drückte auf die Klingel mit Bergmann & Vieth und betrat durch die offene Haustür das Treppenhaus. Jochen folgte ihm wie ein Welpe.

Die Wohnung lag im zweiten Stock. Wer auch immer Vieth war, schien nicht da zu sein, jedenfalls war die Tür geschlossen, als die Polizisten ankamen. Manni wummerte mit der Faust dagegen.

»Mann, geht’s noch?« Vieth war tatsächlich eine Frau. Eine ziemlich nackte. Bis auf einen ausgeleierten BH und einen rosa Schlüpfer mit der Aufschrift Sonntag trug die Blondine nichts. Dafür standen ihre halblangen Haare in alle Richtungen ab. Jochen fragte sich, ob das vom Schlafen kam oder ob das bereits der Tageslook war. Seit Fürstin Gloria wusste man das ja nicht so genau.

Manni leierte seine Vorstellungsfloskel herunter. »Und Sie sind?«

»Moni. Hat der Andre was ausgefressen?« Sie verdrehte die Augen. Die schrillgrüne Wimperntusche bröckelte.

»Ihr Freund?«

»Naja, nicht mehr lange.«

Wie recht sie damit hat, dachte Jochen. Manni bugsierte die Frau sanft, aber bestimmt in die Wohnung. Jochen folgte ihm und schloss die Tür. Der Flur war überraschend hell, in der Luft lag der unverkennbare Geruch von Hasch. Glück für das Mädel, dachte Jochen, dass das im Moment unsere kleinste Sorge ist.

»Andre ist tot«, platzte Manni raus. Nicht grade die feine Art. Moni wurde erst blass, dann beinahe so grün wie ihre Schminke. »Er wurde erstochen«, setzte Jochen nach. Die Frau schob die Männer unsanft zur Seite, taumelte und rannte in Richtung Toilette. Sie würgte. Jochen zuckte mit den Schultern. Kotzen war besser als heulen. Er wünschte sich, seine Exfrau hätte einen so schwachen Magen gehabt, dann wäre ihm so manches Drama erspart geblieben.

Mit einem Kopfnicken bedeutete Manni, ihm zu folgen. Die erste Tür links führte ins Schlafzimmer. Die Rollläden waren halb geschlossen, das Bett zerwühlt. Snoopy-Bettwäsche. Beinahe dieselbe, die seine Tochter auch hatte, stellte Jochen fest. Überall lagen Klamotten verstreut, auf dem Fensterbrett türmten sich weiße und schwarze Schulterpolster. Wer auch immer sich die aktuelle Mode ausgedacht hatte, hier schien er ein williges Opfer gefunden zu haben.

Im Klo rauschte die Spülung. Jochen riss die Augen auf. Über dem Bett hing zwischen zwei Postern von Level 42 und Madonna ein Ölschinken im goldenen Rahmen. Weder Musik noch Bild waren Schädles Geschmack.

»Das ist doch … ist das nicht …?«, stammelte er.

»Könnte sein.« Manni umrundete das Bett. »Wenn es nicht das Original ist, ist es eine sehr gute Fälschung.«

»Das ist echt, hat Andre mir geschenkt!« Moni war unbemerkt aufgetaucht.

»Lesen Sie Zeitung?«, wollte Jochen wissen. Der hohle Blick verriet ihm die Antwort. »Das Bild könnte aus dem Einbruch in die Gemäldesammlung stammen.«

»Der olle Hirsch?« Fasziniert starrte die junge Frau auf die Jagdszene an der Wand. »Cool.« Dann sackten ihr die Beine weg, und sie glitt wie ein Stück Papier am Türrahmen herunter.

»Scheiße!« Mit wenigen Schritten waren sie bei ihr und hievten sie zusammen auf das Bett. Manni tätschelte ihr die Wangen. »Frau Vieth? Hallo? Komm schon, Mädel.«

Ein langes Seufzen entfuhr ihrer Kehle, dann blinzelte sie zögernd. »Ich glaube, das ist alles ein bisschen viel für mich. Erst das mit meinem Freund und dann das mit dem ollen Hirsch. Glaubense echt, dass der alte Schinken geklaut ist? Andre machte zwar ein paar Andeutungen, aber ich dachte, der will sich nur wichtigtun.«

»Was für Andeutungen?«

»Na dasser einen beobachtet hat, wie der Bilder austauschen wollte und deshalb jetzt ’ne gute Geldquelle hat. Klang richtig kompliziert.«

»Das wird gleich noch viel komplizierter. Ziehen Sie sich bitte was an. Sie begleiten uns aufs Revier. Und der Hirsch kommt ebenfalls mit.«

Der klobige Betonbau der Polizeidirektion Rottweil hatte Jochen nie gefallen, aber heute war er froh, ihn wiederzusehen. Dies hier war vertrautes Terrain.

Sie brachten Moni Vieth ins Verhörzimmer, zogen sich danach aber zu ihrem Doppelschreibtisch im Großraumbüro zurück. Zwei seiner Kollegen brüllten in ihre Telefonhörer, sodass normale Gespräche kaum möglich waren.

Ein Notizzettel mit der Nachricht Bitte Rückruf Brisgau, Kripo Essen steckte zwischen seinen Kugelschreibern. Jochen winkte ab. Er wusste, weshalb Kollege Mick ihn sprechen wollte. Aber das war ein anderer Fall und momentan irrelevant.

Wo sollte er hier anfangen? Am besten mit dem Einbruch auf Schloss Fürstenberg. Zielstrebig schritt er auf seinen Kollegen Krömers zu und stellte ihm das Hirschgemälde direkt auf den Schreibtisch.

»Ich habe doch erst im November Geburtstag.« Der Mittvierziger grinste kurz, wurde beim Betrachten des Bildes aber schnell wieder ernst. »Das … ist … doch …« Er keuchte vor Aufregung. »Ist es das, was ich denke?«

Jochen versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken. »Keine Ahnung, sag du es mir.«

Hektisch durchwühlte Krömers die Unterlagen auf seinem Tisch und zog ein Blatt mit Miniaturbildern hervor. »Meine Güte! Das ist Jagdausflug am Abend von Johann Baptist Seele. Eines der Gemälde, die neulich gestohlen wurden. Woher hast du das?«

»Ob du es glaubst oder nicht, es hing einfach an einer Schlafzimmerwand.« Er fasste die Ereignisse der letzten Stunden zusammen und brachte Krömers mehrmals zum Kopfschütteln. »Echt unglaublich. Ich suche den ganzen Landkreis danach ab, und dann hängt der Schinken in einer Wohnung, nur wenige Kilometer vom Schloss entfernt. Hast du was dagegen, wenn ich bei der Befragung deiner Zeugin dabei bin?«

»Nicht das Geringste. Aber bring mich bitte vorher auf den neusten Ermittlungstand, was den Einbruch betrifft.«

Krömers seufzte. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Zwei oder mehr Unbekannte haben am Donnerstag vor zwei Wochen ein Seitenfenster des Schlosses aufgehebelt und sich großzügig in der Gemäldegalerie bedient. Für Profis hinterließen sie zu viele Spuren am Fenster, aber blutige Anfänger waren das auch nicht. Da bis jetzt keines der Bilder aufgetaucht war, tappe ich noch ziemlich im Dunkeln.«

»Dann sehen wir mal zu, dass wir das ändern.«

Gemeinsam gingen sie zu Jochens Schreibtisch. Manni hatte es sich auf der anderen Tischseite bequem gemacht und schien nicht im Traum daran zu denken, ihn ins Verhörzimmer zu begleiten. »Ihr kriegt das schon gebacken. Ich mach jetzt erst mal Brotzeit.«

Jochen spürte, wie sich sein Magen verknotete. Er sollte die Befragung tatsächlich allein mit Krömers durchziehen? Eine Sekunde lang erschreckte ihn die Vorstellung, dann akzeptierte er sie. Er war bei genug Verhören dabei gewesen. Das hier stellte keinen Unterschied dar.

Er behielt recht, war aber enttäuscht, was die Ausbeute betraf. Moni hatte sich erschreckend wenig für das interessiert, was ihr Freund außerhalb der gemeinsamen Wohnung trieb. Immerhin wusste sie, dass er in der Woche des Einbruchs im Schloss die Elektrik überprüft hatte. Aber weder kannte sie genaue Zeiten noch wusste sie, ob er am fraglichen Donnerstag länger dort gewesen war.

Auch wenn ihm klar war, dass ein Besuch bei der Villinger Elektrikerfirma nicht viel bringen würde, war die Befragung des Chefs trotzdem unabdingbar. Während Manni, direkt neben ihm stehend, mit der Sekretärin flirtete, lauschte Jochen aufmerksam dem grauhaarigen Firmeninhaber.

Wie erwartet, hielten sich die relevanten Infos in Grenzen. Der Chef bestätigte, dass Andre Bergmann in den Tagen vor dem Einbruch auf Schloss Fürstenberg gearbeitet hatte, aber nachdem der Verstorbene auch am Tag nach dem Diebstahl wie gewohnt zur Arbeit erschien, hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. »Andre wirkte auch überhaupt nicht anders als sonst. Wenn Sie mich fragen, hat er mit dem Einbruch nichts am Hut. Das ist überhaupt nicht seine Baustelle.«

Das sagen sie alle, überlegte Jochen und verabschiedete sich. Während der Rückfahrt nach Donaueschingen schwiegen beide. Die Stones sangen den Harlem Shuffle, vermochten ihn aber nicht aufzubauen. Bisher hatten Manni und er nicht viel erreicht. Vielleicht war es an der Zeit, die ehemalige Fürstenresidenz genauer unter die Lupe zu nehmen.

Sie hielten außerhalb der Parkanlage und legten die letzten Meter durch den Landschaftsgarten zu Fuß zurück.

»Ganz schön beeindruckende Hütte«, bescheinigte Manni, als sie auf direktem Wege auf das Schloss zusteuerten. Jochen widersprach nicht. Der gewaltige Barockbau mit der Kuppel und dem steinernen Springbrunnen im Schlosshof war wirklich beeindruckend. Um hier zu wohnen, könnte er sich durchaus überreden lassen. Dann aber am besten, ohne die Strom- und Heizkosten begleichen zu müssen.

»Mehr Schein als Sein«, murmelte Jochen. Was so aussah, als sei schon Ludwig XIV. hier zu Besuch gewesen, war in Wirklichkeit ein ziemlich moderner Nachbau. Knappe 100 Jahre alt. Naja, irgendwo musste die Fürstenfamilie ja hin mit dem Geld aus Brauerei und Wäldern, brummte er in sich hinein. Seine Eltern hatten nicht mal einen Schrebergarten besessen. Bier zwar schon, aber nur flaschenweise im Kühlschrank. Aber andererseits, auch bei der im Ort so hoch geschätzten Fürstenfamilie war sicher nicht immer alles Zucker. Jochen grinste, als sie an der Donauquelle vorbeikamen. Seit etwas mehr als 100 Jahren bewachten steinerne Quellnymphen den Quelltopf – und es war den Damen offensichtlich völlig egal, dass sich die Gelehrten bis heute stritten, ob die Donau tatsächlich hier entsprang oder doch ein bisschen weiter weg. Schön sah jedenfalls beides aus, Schloss und Quelle. Am liebsten hätte Jochen es den japanischen Touristen gleich getan, die sich auf den Stufen ein Päuschen gönnten und die Sandalen von sich streckten.

»Und morgen sind die in Paris und nachher haben sie keine Ahnung mehr, wo sie waren«, knurrte Manni. Ein Fotoapparat klickte. Spitze – jetzt war den beiden ein Platz in einem asiatischen Familienalbum sicher. Sie ließen den Haupteingang links liegen und machten sich auf die Suche nach den Büros der Schlossverwaltung.

»Ah!« Die Frau im dunkelblauen Kostüm warf ihre Kippe in den Kies und trat sie mit den glänzenden Pumps aus. »Sind Sie die Polizei?«

Die Kommissare stellten sich vor. Ihr Gegenüber war Elvira Groß, ihres Zeichens Chefsekretärin. Und sichtlich genervt. »Dieser Diebstahl bringt uns alles durcheinander«, lamentierte sie und raufte sich theatralisch die braunen Locken. Für einen kurzen Moment lagen ihre Ohren frei, und die Ohrringe blitzten in der Sonne auf. Der Duft von Chanel Nr. 5 wehte in Jochens Nase. Vielleicht kaufte die Frau auch bei den Franzosen ein, wie Sophie? Zu Hause war noch ein Rest des sonst nicht erschwinglichen Cognac XO, den sie ihm in jenen besseren Tagen besorgt hatte. Mit französischem Armeerabatt. Jochen spürte ein leises Ziehen in einer Körpergegend, die so gar nichts mit seinem Beruf zu tun hatte. Er schluckte trocken, während Frau Groß sie bat, ihr zu folgen.

»Wir müssen die Musiktage planen, seine Durchlaucht wird langsam ungeduldig.« Jochen zuckte mit den Schultern. Genau wie Manni kannte er die Adligen nur aus dem Südkurier. Eigentlich waren sie ihm sogar sympathisch, schließlich taten sie eine ganze Menge für das Städtchen.

»Zum Glück ist den Fossilien nichts passiert«, dachte Elvira laut.

»Naja, so ein ausgestopfter Bär lässt sich auch schwer klauen«, rutschte es Manni raus. Jochen schüttelte den Kopf, musste aber grinsen. Die beiden nahmen in einem Büro Platz, das mit plüschigen Sesseln, einem wuchtigen Schreibtisch und Kronleuchtern ausgestattet war. Elvira setzte sich ihnen gegenüber auf ein verschnörkeltes Sofa.

»Es ist ein Bild aufgetaucht, das vermutlich aus dem Einbruch stammt«, nahm Jochen den Faden auf. Die Sekretärin notierte eifrig in ein ledernes Notizbuch, während er ihr die Eckdaten nannte. Dass der Mann, der die Jagdszene so großzügig verschenkt hatte, tot war, verschwieg er. Bauchgefühl.

»Wo?«, hakte die Groß nach und sah auf ihre Armbanduhr. Goldenes Armband. Datumsanzeige. Selbst eine Sekretärin schien mehr zu verdienen als er, dachte Jochen. Er selbst trug seit Jahren dasselbe Aufziehmodell. Eine Zeit lang hatte er es mit einer metallenen Quarzuhr versucht, aber als die Batterie leer war, hatte er nie Zeit gefunden, sie zu wechseln.

»Gar nicht weit von hier«, antwortete Manni. »Aus ermittlungstaktischen Gründen kann ich Ihnen leider nicht mehr sagen.« Elvira sah nicht sehr zufrieden aus, als sie sich weitere Notizen machte.

»Was kritzeln Sie da eigentlich?«, rutschte es Jochen raus.

»Ich muss seiner Durchlaucht berichten und natürlich der Versicherung. Wir sprechen hier schließlich über Kunst von Weltrang.« Die Sekretärin klang schnippisch.

»Apropos Versicherung …«

»Da müssten Sie sich an meinen Chef wenden. Dr. George ist aber diese Woche nicht im Haus.«

»Na, so ungefähr werden Sie aber den Wert wissen?« Jochen kannte die Zahlen zwar aus dem Bericht der Kollegen, wollte sie aber trotzdem nochmal hören. Und etwas trieb ihn dazu, das Gespräch noch nicht zu beenden.

»4,8. Millionen.«

»Hui.« Manni pfiff leise. Elvira bedachte ihn mit einem Seitenblick.

»Mal angenommen, ich hätte so ein Bild geklaut. Dann würde mich doch das Geld interessieren«, sinnierte Jochen.

»Oder der ideelle Wert. Sammler sind merkwürdige Menschen. Mein Opa ist mal für eine winzige Briefmarke 300 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren. Vor dem Krieg«, fiel Manni in seine lauten Überlegungen ein. Elvira sah erneut auf die Uhr.

»Na, also entweder häng ich mir den Schinken in den Keller. Oder ich mach ihn zu Geld.«

»Das habe ich doch den Kollegen …«, sagte Elvira genervt.

»Aber uns nicht«, unterbrach Jochen sie. »Also noch mal. Was macht ein Kunstdieb?«

»Die Bilder zu Geld?« Die Sekretärin verdrehte die Augen.

»Und wie? Wo?«

»Wenn ich das wüsste, hätten wir doch das ganze Trara hier nicht. Auf den Flohmarkt werden die ja kaum gehen.«

»Die? Sie meinen also, es handelt sich um mehrere Täter?« Jochen spürte dieses Kribbeln, dieses ganz gewisse. Und das kam dieses Mal nicht aus der Region unterhalb des Bauchnabels.

»Was weiß ich. Ja, nein.« Die Groß fummelte an einer Locke. »Was ist denn nun mit dem Bild, das aufgetaucht ist? Ist das bereits relevant für die Versicherung?« Die Sekretärin straffte die Schultern.

»Was weiß ich. Ja, nein.« Was die konnte, konnte Jochen auch.

»Ich will jetzt mal ganz offen sein.« Manni schickte ihm einen gespielten genervten Blick zu und wandte sich direkt an die Sekretärin. Mit einem verständnisvollen breiten Lächeln. Aha. Das Spiel guter Bulle – böser Bulle. Jochen zuckte mit den Schultern. Okay, heute war er der böse. »Wir haben, das sage ich Ihnen im Vertrauen, eine Spur.«

Schädle fixierte die Groß, die bei dieser Mitteilung kaum sichtbar zusammenzuckte.

»Geht die Frau nix an«, knurrte Jochen. Innerlich aber grinste er.

»Jochen, doch. Frau Groß, also, es ist so, wir bringen da einige Handwerkerarbeiten mit dem Diebstahl in Verbindung.«

Elvira vergaß, sich Notizen zu machen. Dafür fingerte Jochen jetzt seinen abgegriffenen Taschenkalender der Sparkasse Rottweil aus der Hosentasche. Dank der schwarzen Plastikhülle sah das Teil einigermaßen schick aus. Während er rasch die Seiten umblätterte (und dabei feststellte, dass er erstens einen Zahnarzttermin vorgestern und zweitens den Geburtstag seiner Exfrau vergessen hatte, was beides gleichsam unangenehm war), schielte er zu Groß. Die schluckte trocken, bewahrte aber sonst Haltung.

»Es gibt einen Zeugen«, sagte Jochen in den Raum hinein.

»Ach«, kam es nun doch von der Groß. Gedehnt. Langsam.

»Waren Handwerker in der Sammlung, liebe Frau Groß?« Manni war gut in seiner Rolle als der Nette.

»Das … ja, nein. Damit bin ich nicht direkt betraut.« Die Frau war clever, dachte Jochen.

»Erkundigen Sie sich bitte?« Jochen wollte aus dem Sessel hochschnellen, aber die weichen Polster gaben zu sehr nach. Sein Ischias ächzte. »Und geben Sie uns bis«, wieder blätterte er im Taschenkalender, »morgen früh Bescheid.« Er wandte sich zum Gehen und überließ es Manni, sich anständig von der Frau zu verabschieden.

»Ich hoffe, der Auftritt hat was mit dem berüchtigten Jochen-Schädle-Bauchgefühl zu tun«, blaffte sein Partner ihn an, als sie wieder im Wagen saßen. »Ansonsten war das eben nur peinlich.«

»Abwarten.« Jochen schaute auf die Uhr. Wenn seine Theorie stimmte, würde sie was tun. Aber wann genau wäre das? In zehn Minuten oder erst zwei Stunden? Er bereute es, keinen aufmerksameren Blick in das Notizbuch der Groß geworfen zu haben. »Das könnte jetzt ein Weilchen dauern. Wenn du magst, schau doch mal auf ein Fläschchen Fürstenberg in deinem liebsten Bahnhofslokal vorbei. Vielleicht schnappst du dort ja was auf.«

»Jetzt?« Manni langte sich an den Kopf. »In die Pinte? Im Dienst?«

»Die Alternative heißt im Auto sitzen und abwarten, bis die Trulla Hummeln im Hintern bekommt. Das kann dauern. Und ich weiß, wie sehr du das Warten liebst.«

»Vielen Dank für dein Mitgefühl. Aber ein Bier brauche ich gerade so dringend wie eine weitere Kinovorstellung von Müllers Büro. Da mach ich lieber im Auto ein Nickerchen.«

»Ich dachte, du magst den Film.«

»Die ersten drei Male war er lustig, aber langsam lässt die Begeisterung nach.«

In ihrem Wagen machten sie es sich bequem, behielten aber die Zufahrt zum Park im Auge. Lang brauchten sie nicht zu warten. Nach nicht mal zehn Minuten dröhnte ein gelbes BMW Cabriolet die Parkstraße hinab. Jochen wusste schon, wer am Steuer besaß, bevor er den brünetten Lockenkopf auf dem Fahrersitz erkannte.

Jochen ließ den Motor an.

Die Fahrt dauerte nicht lang und führte sie über die Dürrheimer Straße in den Norden der Stadt. Vom zuvor bewunderten Adelsprunk war hier nichts mehr zu spüren. Stattdessen wurde es mit jedem Meter moderner und bürgerlicher, stellenweise auch unschöner. Sie erreichten einen Reihenhausblock mit jeder Menge bröckelndem Putz. Der Straßenbelag davor wirkte, als würden regelmäßig Lastwagen vorbeirattern.

Die Groß war hier in etwa so passend wie ein Fliegenfenster im U-Boot. Das schien sie ebenfalls einzusehen und beschleunigte ihren BMW plötzlich wieder. Jedoch nicht für lang. Bereits zwei Querstraßen später parkte sie ihr grellgelbes Ungetüm in einem Hinterhof.

»Man muss eben auf seinen guten Ruf achten«, sagte Jochen, während er ihren Wagen in eine freie Parkbucht manövrierte.

»Ich glaube, hier gibt es noch ganz andere Sachen, auf die man achten sollte.« Skeptisch blickte Manni sich um und rümpfte die Nase.

»Ach komm, ist doch lauschig hier.«

Sie warteten ab, bis die Groß im Stechschritt hinter der Straßenecke verschwunden war, und folgten dann. Jochen spürte, wie sein Magen aufgeregt grummelte. Sie befanden sich hier bestimmt auf der richtigen Spur.

Entsprechend vorsichtig bewegte sie sich auch. Jeder Passant und jeder Hauseingang wurden als Sichtschutz genutzt. Gleichzeitig war Jochen ständig darauf gefasst, im Notfall hinter einem der geparkten Autos in Deckung zu gehen. Doch Elvira Groß schien dermaßen mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass ihr nicht mal Zeit für flüchtige Blicke über die Schulter blieb.

Als sie den vorhin bereits bewunderten Häuserblock erreichten, gab Jochen Manni ein Zeichen, langsamer zu werden. Wen immer die Sekretärin hier aufsuchte, derjenige schien hinter einem der Eingänge zu wohnen.

Vorsichtshalber versteckten sie sich hinter einem Kastenwagen am Straßenrand. Sie trennten keine 30 Meter von dem Gebäude, dennoch hatte Jochen das Gefühl, nicht nah genug zu sein. Verdammt, warum hatte er keine Kamera mitgenommen? Mit einem Weitwinkelobjektiv hätte er alles aus nächster Nähe beobachten können. Kurz überlegte er, sich gebückt im Sichtschatten der anderen geparkten Autos vorzutasten, wollte aber kein Risiko eingehen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.

Nachdem die Groß an einer braun lackierten Holztür geklopft hatte, schaffte sie es endlich, sich umzuschauen. Ihr Blick zeigte Besorgnis.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und für Jochen setzten sich sämtliche Puzzleteile zusammen. Der Mann im speckigen Unterhemd und den ausgewaschenen Jeans war Hannes Brendle. Vorbestraft wegen zig Diebstahldelikten. Wenn sich Jochen richtig erinnerte, hatte der Mann vor ein paar Jahren sogar eine Gefängnisstrafe dafür abgesessen. Dass die Groß sich hier bloß nach dem Weg erkundigte, war so wahrscheinlich wie die Chance, dass Erich Honecker und Ronald Reagan zusammen ein Bier trinken gingen.

Manni keuchte vor Verblüffung und gestikulierte wild in der Luft herum. Kaum war die Tür hinter der Groß ins Schloss gefallen, rüttelte er seinen Partner aufgeregt an der Schulter. »Hast du ihn erkannt? Weißt du, wer das ist?«

»Ruhig, Brauner. Selbstverständlich habe ich das. Und auf einmal ist unser verzwickter Fall gar nicht mehr so verzwickt.«

»Ich wüsste gern, was die da drinnen bequatschen.«

»Die reden über unseren Besuch und meine Andeutung über die Handwerkerfirma. Ganz eindeutig. Sie wird ihn warnen, und er wird die restlichen Bilder noch tiefer in der Versenkung verschwinden lassen.«

»Dann sollten wir die Chose auffliegen lassen. Vielleicht haben sie die Gemälde bei sich!«

»Wären die tatsächlich so blöd, wären sie schon viel früher aufgeflogen.«

Manni ballte die Hände zu Fäusten. »Aber irgendwas müssen wir tun.«

»Das werden wir auch.« Jochen begann zu lächeln. »Am besten drehen wir den Spieß um. Ich habe schon eine Idee.«

Das geheime Treffen dauerte nicht mal 20 Minuten. Als die Groß zum BMW zurückkehrte, drückte Jochen Manni die Autoschlüssel in die Hand und bat ihn, ihr zu folgen. »Ich behalte derweil unseren anderen Verdächtigen im Auge. Wenn die Trulla bloß zu ihrer Arbeit zurückkehrt, kannst du mich auch gern abholen kommen. Oder du fährst zum Revier und studierst Brendles Akte.«

»Das passt mir recht gut, ich hab nachher eh noch ’nen anderen Außentermin. Aber tu nix Dummes.«

Kennst mich doch, lag es Jochen auf der Zunge. Schweigend sah er hinterher, wie die Sekretärin und sein Partner in der Seitengasse verschwanden.

Jochen schaute auf die Uhr. Kurz vor vier. Er bezweifelte, dass Brendle jetzt schon was unternehmen würde. Außer, er setzte ihn unter Zugzwang.

Lächelnd zückte er Kugelschreiber und Notizblock und begann zu schreiben: Das heute früh traf den Falschen. Neues Treffen. Selbe Stelle, heute 17 Uhr. Bring den restlichen Kram mit. Sonst geh ich zu den Bullen.

Er überlegte, mutwillig einige Rechtschreibfehler einzubauen, ließ es aber bleiben. Manchmal war weniger eindeutig mehr.

Jochen faltete den Zettel und schob ihn unter der braun lackierten Wohnungstür hindurch. Nach einem ebenso kurzen wie energischen Anklopfen eilte er hinter den Kastenwagen zurück und war gespannt, was passieren würde.

Nur Sekunden darauf erschien Brendle an der Tür und schaute sich verwirrt um. Das Blatt bemerkte er erst, als er sie wieder schließen wollte. Er überflog die Zeilen, verzog aber nicht mal die Miene. Mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie vorhin verschloss er die Tür wieder.

Jochen musste nur einmal Dirty Walk und die Hälfte vom Harlem Shuffle aus dem neuen Stones-Album vor sich hin summen, bis die Tür wieder aufging. Dieses Mal zeigte sich ein Hannes Brendle in Jeans und Holzfällerhemd. Sein Schnurrbart setzte sich eine Spur zu braun vom bleichen Gesicht ab, und das Rot seiner knubbeligen Nase biss sich mit dem des Hemdes. Der Kommissar lugte um die Ecke des Wagens. Brendle steckte sich eine Kippe an, zog die Tür hinter sich zu und ruckte an den Riemen des prallen und übergroßen Wanderrucksacks. Mit so einem Oschi könnte der Mann gut und gerne eine vierwöchige Donauwanderung antreten. Platz für den halben Hausrat wäre darin. Mit der Zigarette im Mundwinkel machte er sich auf den Weg, den Kommissar wie einen Schatten hinter sich. Jochen war froh, dass er noch einige Details zu Brendle im Kopf hatte. So zum Beispiel die Tatsache, dass dieser nie einen Führerschein (wohl aber mehrere Wagen) besessen hatte. Der Verdächtige legte ein für seinen Bierbauch, im Donaueschinger Volksmund auch liebevoll Fürstenberg-Spoiler genannt, erstaunliches Tempo vor. Die Wanderung führte Hannes und seinen Verfolger über die Lehenstraße in die Karlstraße und von dort weiter Richtung Brigach. Immer wieder schlüpfte Jochen in Hauseingänge, blieb hinter Ecken stehen, um nicht entdeckt zu werden. In der Luft lag der malzige Geruch aus der Fürstenberg-Brauerei. Schädle verfluchte die Groß, die ihn um ein kühles Bier gebracht hatte. Er hatte Durst. Mächtigen Durst. Und das machte aus ihm ungefähr das, was Wasser aus kuscheligen Gremlins im Kino macht. Seine Laune wurde langsam aber sicher monströs.

Ihm fiel die Eselsbrücke aus der Grundschule ein, als Brendle am Flüsschen entlang Richtung Park lief. Brigach und Breg bringen die Donau zu Weg, sinnierte er. Oder die fürstliche Quelle, ihm war das egal. In allen dreien war Wasser, und er hatte Durst. Als sein Verdächtiger abrupt stehen blieb, machte Jochen einen Sprung hinter einen Busch. Hier roch es faul. Ein Blick zum Boden bestätigte ihm, dass er mitten in einem offensichtlich beliebten Hundeklo stand – zum Glück nur neben einer riesigen Tretmine. Brendle ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich auf eine Bank. Schaute sich nervös um. Kramte die Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche und steckte sich eine neue Fluppe an.

Jochen im Hundeklo schluckte trocken. Langsam stank ihm die Sache, vor seinem geistigen Auge erschien ein übergroßes Pilsglas. Er hatte Lust auf Feierabend. Jochen trat auf den Weg und schlenderte wie ein Spaziergänger den Weg entlang. Bei der Bank angekommen, nickte er Brendle zu.

»Ist da noch frei?«, fragte er betont harmlos. Hannes zuckte zusammen. Jochen nahm an, dass es sich hier um den Treffpunkt handelte, und konnte Brendle ansehen, dass dieser a) den Platz für Mister X freihalten und b) nicht auffallen wollte. Jochen nahm dem Mann die Entscheidung ab und ließ sich neben ihn plumpsen.

»Urlaub?«, fragte er mit einem Kopfnicken Richtung Rucksack.

»Nee.«

»Ach so.« Jochens Kehle war so trocken wie die Donau an manchen Stellen im Hochsommer. Er beschloss, sämtliche Taktik über Bord zu werfen und sah Brendle direkt an. »Post bekommen?«

»Hä?« Erst jetzt schien der Angesprochene ihn wirklich wahrzunehmen. Hannes musterte seinen Banknachbarn mit zusammengekniffenen Augen. »Sind Sie einer von denen?«

»Wer sonst«, gab Jochen zur Antwort. Wer auch immer die waren.

»Wie soll ich das glauben?«

»Weil ich weiß, was Sie im Rucksack haben.« Jochen setzte seinen eisigsten Blick auf. Den, den er im letzten Jahr nach Im Angesicht des Todes nochmal vor dem Spiegel verfeinert hatte. Okay, der Blick gehörte Grace Jones, aber die galt in seinen Augen nicht wirklich als Frau. Er schien gut zu sein, denn jetzt nickte Brendle und sah sich nervös um. Keine Spaziergänger in Sicht.

»Haben Sie meine … mein also Dings dabei?« Brendle leckte sich über die Lippen.