"Der Name der Jungfrau war Maria" (Lk 1,27) -  - E-Book

"Der Name der Jungfrau war Maria" (Lk 1,27) E-Book

0,0

Beschreibung

Die Beiträge dieses Bandes richten neue und ungewohnte Perspektiven auf die Mutter Jesu, ohne das Thema auf dürre historische Fragestellungen oder auf religionsgeschichtliche Ableitungen engzuführen. Statt dessen wird die Jungfrau Maria konsequent von ihren literarischen Kontexten und von deren zeitgenössischen Horizonten her erschlossen. Neu bedacht werden die biblischen Portraits dieser Frau, aber auch das sie umgebende irdische und himmlische Personal der Kindheitsgeschichten, einschließlich von Jesu heute größtenteils vergessener Familie. Hinzu kommen Studien zu Texten, die sonst eher randständig sind, die aber, wie sich zeigt, zum Thema hinzugehören. Andere Beiträge erhellen den biblischen und jüdischen Hintergrund von wichtigen neutestamentlichen Passagen und von exemplarischen Zeugnissen der marianischen Frömmigkeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 713

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STUTTGARTERBIBELSTUDIEN 238

Begründet von Herbert Haag, Norbert Lohfink und Wilhelm Pesch Fortgeführt von Rudolf Kilian, Hans-Josef Klauck, Helmut Merklein und Erich Zenger

Herausgegeben von Christoph Dohmen und Michael Theobald

Hans-Ulrich Weidemann (Hg.)

„Der Name der Jungfrau war Maria“ (Lk 1,27)

Neue exegetische Perspektiven auf die Mutter Jesu

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & BumillerSatz: SatzWeise GmbH, TrierDruck: Sowa Sp. z.o.o., WarschauPrinted in Poland

www.bibelwerk.deISBN 978-3-460-03384-9eISBN 978-3-460-51049-4

Inhalt

Mariologie von den Rändern: zur Einführung in den Band

Hans-Ulrich Weidemann

„Siehe, die Jungfrau wird empfangen“ (Jes 7,14).

Die „Geburtsankündigungen“ Mt 1,18–25 / Lk 1,26–38 im Licht ihrer schrifthermeneutischen, religionsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen

Michael Theobald

„Embedding the Virgin“.

Die Jungfrau Maria und die anderen jüdischen asketischen Erzählfiguren im lukanischen Doppelwerk

Hans-Ulrich Weidemann

Krieg und Frieden.

Maria, Elisabet und die vielgepriesenen Frauen Israels (Lk 1,39–45)

Wilfried Eisele

The Angel Gabriel in the Lukan Infancy Narrative

Aleksander R. Michalak

Maria – „Tochter Zion“?

Eine kritische Auseinandersetzung mit René Laurentins These zur lukanischen Kindheitsgeschichte

Christina Betz

„… und Maria dachte darüber nach“.

Bekannte und neue exegetische Perspektiven auf Lk 2,19

Andrea Ackermann

Mater Dolorosa

Marcel Dagenbach

Joseph, the Legal Father of Jesus the Messiah (Mt 1,18–25)

Aphrodis Nizeyimana

Die Mutter Jesu im Johannesevangelium.

Zeugin des irdischen Wirkens und Garantin der sarkischen Existenz Jesu

Philipp Kästle

„Geworden aus einer Frau“ (Gal 4,4).

Ein mariologischer Splitter bei Paulus?

Adrian Wypadlo

„Und sie gebar einen Sohn …“ (Offb 12,5).

Geburts-Christologie und Mariologie in der Johannesoffenbarung?

Christoph Schaefer

Die drei Marien und die Verwandtschaft Jesu.

Der Sippenaltar von Weil der Stadt

Michael Estler

Die Schwarze Madonna aus biblischer Sicht

Mauritius Honegger OSB

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Mariologie von den Rändern: zur Einführung in den Band

In dem nachträglich erschienenen „Prolog“ zu seinen Jesus-Büchern, der den sog. Kindheitsgeschichten der Evangelien gewidmet ist, wendet sich Joseph Ratzinger auch der Frage zu, ob es sich bei der „Jungfrauengeburt“ um „Mythos oder geschichtliche Wirklichkeit“ handelt.1Die dualistische Formulierung der Frage suggeriert einander ausschließende Alternativen und nimmt so bereits ihre Beantwortung vorweg, wie die folgenden Ausführungen zeigen: Nach einer Übersicht über religionsgeschichtliche Ableitungsversuche und einer knappen Reflexion auf mögliche Überlieferungsströme, mittels derer das Geheimnis der Jungfrauengeburt „öffentlich werden und in die gemeinsame Tradition der werdenden Christenheit eingehen konnte“ (62), bemerkt Ratzinger am Ende im Anschluss an Karl Barth, „dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in dem Jesus nicht geblieben und nicht verwest ist“ (64 f.). Die beiden genannten punktuellen Eingriffe Gottes in die Welt seien „ein Skandal für den modernen Geist“ und „Prüfsteine des Glaubens“ (65).

Hier geht es keineswegs darum, die eindrücklichen, aus intensiver Reflexion und Meditation erwachsenen Erwägungen des inzwischen emeritierten Papstes einer Prüfung zu unterziehen, oder darum, das Recht solcher Fokussierungen auf die jungfräuliche Empfängnis grundsätzlich in Frage zu stellen. Allerdings sei ein Hinweis auf die Konsequenz eines derartigen Zugangs zu den biblischen Texten erlaubt, zumal das eben skizzierte Vorgehen Joseph Ratzingers doch einigermaßen repräsentativ für eine systematisch motivierte Fragestellung innerhalb dieser umstrittenen Thematik sein dürfte. Denn hier wird die „Jungfrauengeburt“ aus ihrem literarischen, narrativen und theologischen Kontext der matthäischen und der lukanischen Kindheitsgeschichten isoliertund zugleich als „Wunder“ im neuzeitlichen Sinne, das heißt als naturwissenschaftlich unerklärliches Geschehen und (damit) als unmittelbares Eingreifen Gottes in die Welt deklariert. Gleichzeitig treten gegenüber der Jungfrauengeburt andere, ebenso „wunderhafte“ Züge der biblischen Kindheitsgeschichten stark in den Hintergrund, man denke an die diversen Engelerscheinungen, das Strafwunder an Zacharias, die wunderbare Empfängnis der unfruchtbaren und – wie auch der Vater – hochbetagten Mutter Johannes’ des Täufers usw. All dies wird in systematischen Debatten um die Jungfrauengeburt meistens nicht als unmittelbares Eingreifen Gottes in die Welt qualifiziert. Die Fokussierung auf die Jungfrau Maria führt außerdem dazu, die anderen Erzählfiguren aus dem Blick zu verlieren, die zeitweise oder vollständig sexuell abstinent leben. Damit wird Maria aus dem narrativen Geflecht derjenigen Figuren herausgelöst, in das hinein sie insbesondere im lukanischen Doppelwerk verwoben ist.

Hier setzen die Beiträge dieses Bandes an, indem sie die Figur der Mutter Jesu konsequent in die verschiedenen Kontexte, in denen sie im Neuen Testament erscheint, zurückbinden. Immerhin ist es eine wichtige Aufgabe der biblischen Exegese, die immer wieder unternommenen Entkontextualisierungen durch Rekontextualisierungen auszubalancieren. Schließlich setzen die Aussagen des Glaubensbekenntnisses um das „ex Maria virgine“ die vielen, fast durchgehend narrativ strukturierten Texte des Neuen Testaments voraus,2wollen diese Erzählungen aber keineswegs für die Erhebung punktueller Lehraussagen verzwecken, um sie damit obsolet zu machen. Alsregula fideiwollen sie vielmehr die Schriftlektüre anregen, orientieren und vertiefen, indem sie eine Art Grammatik für sie formulieren.

Dabei steht die Rekonstruktion einer „historischen Maria“ nicht im Fokus des vorliegenden Bandes. Für ein solches Unternehmen gelten dieselben hermeneutischen und methodologischen Prämissen wie für die historische Jesusforschung. Damit ist in erster Linie die konsequente Rekontextualisierung der Mutter Jesu innerhalb des pluralen Judentums vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. gemeint, insbesondere innerhalb des Judentums Galiläas. Dies würde außerdem implizieren, dass Maria (wieder) als Teil der galiläischen Jesusfamilie verstanden wird, die in der Evangelienüberlieferung als „Brüder (und Schwestern) Jesu“ (Mk 3,31–35; 6,3; Mt 12,46–50; 13,55 f.; Lk 8,19–21; Joh 2,12; 7,1–7) firmiert. Diese Jesusfamilie ist „nach Ostern“ Teil der sog. Jerusalemer Urgemeinde, die die neuere Forschung konsequent als Cluster innerjüdischer Gruppierungen zu beschreiben versucht, die durch Formen von „Jesus-Devotion“ (Larry W. Hurtado) vernetzt sind.3Weithin unbestritten war offensichtlich der Anspruch des Jakobus, des ältesten „Bruders des Herrn“ (Gal 1,19; vgl. Mk 6,3; Mt 13,55), eine Erscheinung des auferstandenen Jesus erhalten zu haben, weswegen er zu den Aposteln gezählt wurde (1 Kor 15,7). Vermutlich siedelte er deswegen von Galiläa nach Jerusalem über (Gal 1,19) und wurde im Laufe der Zeit zur dominierenden Gestalt der dortigen christusglaubenden Juden (Gal 2,9), was er bis zu seinem Tod Anfang der 60er Jahre blieb. Gemeinsam mit ihm fand die Mutter Jesu offenbar Anschluss an die „Urgemeinde“, genauer an jenen Teil der christusglaubenden „Hebräer“ (Apg 6,1), der sich um die galiläische Jesusfamilie versammelte (vgl. Apg 1,14 mit 12,17). Innerhalb dieser Parameter wäre die historische Rückfrage nach der Mutter Jesu zu verorten, für die aber dieselben methodischen und theologischen Anfragen gelten wie für die „Rückfrage nach dem historischen Jesus“ auch.4

Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen demgegenüber beim neutestamentlichen Zeugnis selbst an. Dabei geht es uns weniger darum, ein Kaleidoskop der neutestamentlichen Portraits der Mutter Jesu darzubieten. Stattdessen nähern wir uns ihr sozusagen „von den Rändern“ her an: Ausgangspunkte sind Details, Formulierungen, Erzählfiguren, die sonst eher am Rand stehen und die bei der systematischen Fokussierung auf „wesentliche Kernaussagen“ gerne in Vergessenheit geraten. Dies sind beispielsweise die zeitweise oder dauerhaft enthaltsam lebenden Erzählfiguren des Lukasevangeliums sowie die im lukanischen Portrait Mariens assoziierten kämpferischen Frauengestalten Israels; dies sind aber auch einzelne Wendungen und Motive, die ungewohnte Aspekte an der Mutter Jesu sichtbar machen. Hinzu kommen der in der frühen Kirche ungeheuer einflussreiche Kreis der „Herrenverwandten“ sowie Marias Ehemann Joseph, nicht zuletzt aber auch die in den Kindheitsgeschichten äußerst prominent auftretenden Engel. Im Galaterbrief erscheint die Mutter des Gottessohnes als Frau des Bundesvolkes Israel, deren Sohn unter die Tora gestellt ist. Ausgehend vom rätselhaften, für die Entwicklung der Mariologie aber äußerst folgenreichen Himmelszeichen in Offb 12 stellt sich hingegen die Frage, worauf das Motiv von der „Geburt“ des Sohnes der Himmelsfrau zu beziehen ist. Aber auch die aus der Vergangenheit auf uns gekommenen künstlerischen und poetischen „Exegesen“ bilden solche Ausgangspunkte.

Den Anfang machtMichael Theobaldmit einer großangelegten Studie über die beiden neutestamentlichen „Geburtsankündigungen“, in denen Engel die Geburt Jesu aus der Jungfrau verkündigen. Theobald geht in drei Anläufen vor. Zunächst wendet er sich den synoptischen Geburtsankündigungen in Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 selbst zu. Nach einer präzisen Beschreibung ihrer (auch alttestamentlich mehrfach belegten) Gattung erfolgt der Nachweis, dass sich beide Geburtsankündigungen auf die Septuagintafassung von Jes 7,13 f. im Kontext von Jes 7,10–17 beziehen und also aus judenchristlicher Schriftauslegung erwachsen sind. Die genauere Analyse zeigt zudem, dass wesentliche Züge der beiden Geburtsankündigungen – die Geburt aus einer Jungfrau, die davidisch-messianischen Obertöne sowie die Sündlosigkeit des angekündigten Sohnes – an Jes 7 LXX anknüpfen konnten. In einem zweiten Schritt verortet Theobald die Vorstellung jungfräulicher Geburt im hellenistischen Judentum. Hier wird Gen 21,1 f. LXX als Zeugnis der göttlich gewirkten Empfängnis Isaaks aus Sara ohne Beteiligung Abrahams verstanden. Diese Exegese lässt sich nicht nur bei Paulus nachweisen (Gal 4,21– 31; Röm 4,18–21; 9,6–9), sondern findet sich vor allem bei Philo von Alexandrien, der inDe Cherubim40–52 dieses Modell auf die anderen Patriarchen sowie auf Mose überträgt. Eine wichtige Passage bei Plutarch verstärkt die Vermutung, dass die religionsgeschichtliche Matrix dieser Vorstellung in Ägypten liegt. In einem dritten Schritt fragt Theobald nach den anthropologischen Implikationen dieses Motivkomplexes, konkret geht es um die antiken Vorstellungen von Zeugung im Ausgang von Aristoteles’ Zeugungstheorie. Abschließend flankiert Theobald diese Darlegungen mit hermeneutischen Überlegungen: Eine „naive“ Rezeption der Geburtsankündigungen erscheint angesichts unseres Abstands zur Welt der Antike unmöglich. Außerdem deuten alle Indizien darauf hin, dass die im NT nur schmal bezeugte Vorstellung einer Jungfrauengeburt Jesu nicht aus palästinensischer Familientradition, sondern aus schriftgelehrter Tätigkeit hellenistischer christusgläubiger Juden stammen dürfte. Im Sinne einer „zweiten Naivität“ geht es Theobald darum, den kerygmatischen Gehalt der Texte zu bestimmen, die eine Veranschaulichung des christologischen Bekenntnisses zur Gottessohnschaft Jesu bieten wollen.

Es folgt eine Reihe von Studien zu den Evangelien, wobei es nicht überrascht, dass die Beiträge zum Lukasevangelium die große Mehrheit bilden.

Hans-Ulrich Weidemannarbeitet anhand der Jungfrau Maria den Zusammenhang von sexueller Enthaltsamkeit und Geistempfang heraus, der gerade für den Evangelisten Lukas von grundlegender Bedeutung ist. Dies zeigt sich auch daran, dass die Jungfrau Maria zwar die markanteste, keineswegs aber die einzige im lukanischen Doppelwerk auftretende Erzählfigur ist, die zeitweise oder dauerhaft asketisch lebt. Im Gegenteil:Durch ein ganzes Bündel erzählerischer Strategien und literarischer Charakterisierungen erweckt Lukas den Eindruck, dass fast alle seiner maßgeblichen Protagonistinnen und Protagonisten die Nachfolge Jesu jenseits von Ehe oder Familiengründung (oder von beidem) realisieren. Dieses Panoptikum der asketischen Erzählfiguren wird flankiert durch eine Analyse der lukanischen Logienüberlieferung, die der dritte Evangelist mit markanten asketischen Akzenten versehen hat. Auffällig sind zudem die vielfachen Parallelen mit den literarischen Portraits jüdischer Gruppen wie den Essenern und den Therapeuten oder auch markanter Einzelgestalten der jüdischen Geschichte aus den Federn von Flavius Josephus und Philo von Alexandria. Denn diese beiden jüdischen Autoren arbeiten pointiert heraus, dass die genannten Gruppen nicht nur in Gütergemeinschaft, sondern ganz oder teilweise sexuell enthaltsam leben. Mit dem lukanischen Portrait der christusglaubenden Juden der ersten Generation, den Essenerpassagen bei Philo und Josephus sowie der Schilderung der Therapeuten durch Philo haben wir also drei jüdische Gruppen aus dem ersten Jahrhundert vor uns, die in literarischen Texten dezidiert asketisch inszeniert werden.

Wilfried Eiseleanalysiert die „Heimsuchung“, die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth mit dem „Magnificat“ (Lk 1,39–56) und geht den hier mitschwingenden Erinnerungen an die großen Frauengestalten der Bibel Israels nach. Denn die Eulogie Mariens durch Elisabeth: „Gesegnet bis du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,42), erinnert sprachlich an die Eulogien Judits (Jdt 13,18) und Jaëls (Ri 5,24). Durch diese Anklänge ruft Lukas alttestamentliche Befreiungsgeschichten Gottes mit Israel auf, in denen durch die Hände von Frauen Befehlshaber der Feinde Israels besiegt werden. Der Gott, der einst durch Judith und durch Jaël zur Rettung Israels gewirkt hat, wirkt jetzt durch Maria. Eisele arbeitet den herrschaftskritischen Zug der Heimsuchungsszene mit dem Magnificat, aber auch den zugunsten der Opfer parteiischen Zug des hier manifesten Gottesbildes heraus. Anschließend vergleicht er die von Lukas verarbeitete Judith-Jaël-Tradition und die etwas später von Justin entwickelte Maria-Eva-Typologie. Insgesamt betont er den Frieden als Leitkategorie, nicht nur der lukanischen Kindheitserzählung, sondern auch der christlichen Mission nach Lukas.

Es folgen drei Studien zu einzelnen Aspekten des lukanischen Marienbildes.Christina Betzstellt insbesondere anhand der Anrede des Engels Gabriel an die Jungfrau Maria: „Sei gegrüßt du Begnadete, der Herr ist mit dir“ (Lk 1,35), die einflussreiche Auslegung René Laurentins dar. Laurentin wertet die lukanische Kindheitsgeschichte als haggadischen Midrasch und postuliert, der Evangelist setze Ereignisse der Jesusvita zu alttestamentlichen Texten in wechselseitige Beziehung. Ziel sei es, Maria indirekt und sozusagen verborgen als „Tochter Zion“ zu portraitieren. Ausführlich dokumentiert sie Laurentins Begründungsfiguren und stellt sie auf den Prüfstand, letzteres anhand von Lk 1,28–33 und Zef 3,14–17. Dabei zeigt sie den Zirkel zwischen den methodischen Prämissen Laurentins (Stichwort Midrasch-Exegese) und seinen Ergebnissen. Abschließend skizziert sie die offenere Auslegung G. Lohfinks, die wesentliche Anliegen Laurentins integriert, ohne seinen methodischen Engführungen zu erliegen. Denn Lohfink zeigt, dass Maria im Magnificat das, was Gott an ihr getan hat (1,46–49), in den Lobpreis der ganzen Geschichte Israels (1,50–55) integriert. Indem sich Gott in ihr Israels angenommen hat, ist Maria Repräsentantin bzw. Figuration Israels – und so ist sie „Tochter Zion“.

Andrea Ackermannbefasst sich mit Lk 2,19: „Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen“ (so in der revidierten Einheitsübersetzung von 2016). Dabei stellt sie die präsentische Partizipialformsymballousains Zentrum ihrer Erwägungen und bezieht vergleichbare Aussagen sowie die anderen lukanischen Belege dieses Verbs mit ein (Lk 1,29; 1,66; 2,19; 2,51, außerdem Apg 4,15 f. und 17,18). So rekonstruiert sie einen oft übersehenen Zug im Marienbild des Lukas: Maria geht mit sich zu Rate, sie reflektiert und deutet Geschehnisse theologisch, das heißt, sie erkennt in ihnen Gottes Wirken. Vielleicht verleiht Lukas seiner Maria sogar einen „philosophischen“ Zug (vgl. Lk 2,19 mit Apg 17,18). Instruktiv ist insbesondere der erzählerische Kontrast mit Zacharias, der im Unterschied zur Jungfrau aus Nazareth auf die Engelserscheinung gerade nicht nachdenklich und verständig fragend reagiert, sondern der zweifelt und ein Zeichen fordert.

Marcel Dagenbachgeht von der Ankündigung des greisen Simeon aus, Maria werde „ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2,35). Diese Aussage mit immenser Wirkungsgeschichte gibt der historisch-kritischen Exegese mit ihren methodischen Prämissen bis heute Rätsel auf, da sich im lukanischen Text kein direkter Anhaltspunkt dafür findet, wie der Evangelist diese Ankündigung verstanden haben wollte. Dagenbach stellt die in der Auslegungsgeschichte vertretenen Deutungen vor, die von Zweifel (aber woran?) und Schmerz (aber worüber?) bis hin zu repräsentativ-kollektiven Modellen reichen und dokumentiert so die Offenheit des Bildes. Abschließend schlägt er eine sich aus dem engeren Kontext des Wortes ergebende Deutung vor: Maria wird demnach in ihrem Personzentrum selbst von der immer weiter zunehmenden Ablehnung ihres Sohnes in Israel schmerzlich tangiert. Auf diese Weise ist sie in sein sukzessive auf das Kreuz zulaufendes Schicksal involviert. Mit dieser neuralgischen Stelle zu Beginn des Evangeliums werden die Leser zugleich aufgefordert, bei der Lektüre des Weges Jesu, vor allem bei den sich zuspitzenden Kontroversen und der durch Jesu Auftreten vollzogenen Scheidung in Israel, die mit-leidende Maria sozusagen permanent „mitzulesen“, auch wenn sie nach Lk 8,19–21 bis zum Beginn der Urgemeinde (Apg 1,14) nicht mehr direkt erwähnt wird.

Aphrodis Nizeyimanabefasst sich mit der Gestalt des Joseph im Matthäusevangelium. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei zunächst die matthäische Genealogie (Mt 1,2–16), die von Abraham ausgehend auf Joseph zuläuft, in der aber vier Frauen und ihre jeweils „irreguläre“ Beziehung (Tamar, Rahab, Rut und die Frau des Uria) eine signifikante Rolle spielen. Bei der Exegese von Mt 1,18–25 im Kontext der matthäischen Kindheitsgeschichte liegt der Schwerpunkt auf den Aussagen über Empfängnis und Geburt Jesu „aus“ Maria. Dabei wird das matthäische Portrait Josephs als „Gerechter“ in seinen biblisch-jüdischen Kontext eingebunden: Joseph erweist sich als Gerechter, indem er durchgehend den Willen Gottes zum alleinigen Maßstab seines Handelns macht, aber zugleich Barmherzigkeit übt. Da die von ihm festgestellte Schwangerschaft Marias anscheinend nicht dem in der Tora formulierten Willen Gottes entspricht, muss er sich von ihr trennen. Da aber Gott Barmherzigkeit will (Hos 6,6; Mt 9,13), soll dies diskret erfolgen, um sie nicht bloßzustellen. Infolge der Engelsbotschaft erkennt er dann, dass hier auf ungewöhnliche Weise Gott selbst am Werk ist und sich darin das „erfüllt“, was in Jes 7,14 verheißen wurde. Matthäus stellt Joseph in die Linie der „Gerechten“ Israels, die dem Willen Gottes auch gegen das nach menschlichem Ermessen Naheliegende folgen.

Philipp Kästleentfaltet das Bild der Mutter Jesu im Johannesevangelium konsequent in diachroner Perspektive, d. h. entlang der Wachstumsgeschichte des Evangeliums. Dadurch rekonstruiert er das bleibende, aber sich im Fokus verschiebende Interesse, das sich im johanneischen Kreis zu unterschiedlichen Zeiten auf Jesu Mutter gerichtet hat. Der vierte Evangelist widmet ihr zwei Szenen: die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) und die Szene unter dem Kreuz (19,25). Beide Szenen gehen auf ältere Vorstufen zurück, werden vom Evangelisten aber stark transformiert. Arbeitet der Evangelist im Falle der Hochzeit zu Kana die Distanznahme Jesu gegenüber seiner Mutter im Dienst seiner christologischen Konzentration heraus, so gestaltet er im Kontext der Passion die ihm überlieferte Frauenliste massiv um, fügt die Mutter Jesu und ihre Schwester hinzu, zieht sie vor Jesu letztes Wort nach vorne und platziert so die Mutter Jesu mit den drei anderen Frauen direkt unter dem Kreuz. Die Mutter ist damit am „Anfang der Zeichen“ (2,11) und bei der Vollendung des Werkes am Kreuz (19,30) präsent und also Zeugin des irdischen Wirkens Jesu. Als Erwählte stehen die Frauen zugleich stellvertretend für die „Seinen“ unter dem Kreuz. Die Szene unter dem Kreuz wurde dann von der sekundären Redaktion um die Gestalt des geliebten Jüngers und um die Worte erweitert, die Jesus an die Mutter und den Jünger richtet (Joh 19,26–27). Durch die Übergabe der Mutter an den Jünger und dessen Einrücken an die Sohnesstelle Jesu wird der Lieblingsjünger zur Legitimations- und Identifikationsfigur des johanneischen Kreises. Zugleich wird die Mutter zur Garantin der sarkischen Existenz Jesu. Hinzu kommt, dass Kästle auch das johanneische Zeugnis von den „Brüdern“ Jesu (2,12; 7,3–9) konstitutiv in seine Darstellung einbezieht. Gehören diese anfangs noch zum Umfeld Jesu (2,12), so scheiden sie in Joh 7,1–7 aus diesem Kreis aus, schließlich „glaubten sie nicht an ihn“ und gehören damit zur „Welt“. Nirgendwo im NT wird ein solch vernichtendes Urteil über die Blutsverwandten Jesu gesprochen, im Johannesevangelium gehören sie nicht einmal zu der auch schon zwielichtigen Gruppe der „glaubenden Juden“. Erkennbar ist eine massive Frontstellung gegen Verwandte Jesu, die ausweislich altkirchlicher Zeugnisse bis ins 2. Jh. hinein eine wichtige Rolle im Judenchristentum gespielt haben. Die Mutter Jesu wird mittels der hochpolemischen Szenen 7,1–7 und 19,26–27 (und gegen Apg 1,14) aus dem Kreis der Jesusfamilie herausgelöst, dem Lieblingsjünger anvertraut und damit für den johanneischen Kreis reklamiert.

Es folgen zwei Studien, die jenseits der Evangelien angesiedelt sind.Adrian Wypadlobefasst sich mit der paulinischen Sendungsaussage in Gal 4,4, wonach der von Gott gesandte Sohn „geboren aus einer Frau“ und „gestellt unter das Gesetz“ ist. Durch eine detaillierte Analyse von Struktur und Gedankengang erhebt er die Funktion dieses „mariologischen Splitters“ für die Argumentation des Galaterbriefes. Paulus charakterisiert den präexistenten Gottessohn mittels der genannten Sendungsaussage als sterblichen Menschen, der zugleich der Sinaitora unterstellt, also Jude ist. Die Mutter Jesu ist für Paulus also explizit eine Frau des Bundesvolkes Israel, im Sinne von Gal 4,24 f. gehört sie zum Sinaibund, der unter das Gesetz gebiert. Diese beiden jeweils unlösbar mit Maria verbundenen Aussagen sind für die soteriologische Argumentation des Galaterbriefes schlechthin entscheidend, insofern bildet Gal 4,4 f. die Voraussetzung für die zentrale Aussage in Gal 3,13, wonach der Gekreuzigte „für uns zum Fluch geworden“ ist und somit den Fluch der Tora von denen weggenommen hat, die unter dem Gesetz standen. Dieser Loskauf derer, die unter dem Gesetz sind (4,5), ist wiederum die Voraussetzung der Adoption der an Christus glaubenden Nichtjuden zu „Söhnen“ und Erben, da Christus der dem Abraham verheißene „Same“ ist (3,16). Wypadlo zeigt damit, dass die mariologische Aussage ein grundlegendes Element der rechtfertigungstheologischen Argumentation des Apostels ist.

Christoph Schaeferanalysiert das im 12. Kapitel der Johannesoffenbarung beschriebene „Zeichen am Himmel“, die hochschwangere Frau, geschmückt mit himmlischen Gestirnen (12,1 f.). Ihr tritt ein weiteres Zeichen an die Seite, der rote Drache. Im Zentrum seines Aufsatzes steht die detaillierte Analyse von Offb 12,5: „Und sie gebar ein Kind, ein Männliches, der alle Völker mit eisernem Zepter weiden wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt“. Schaefer weist durch Parallelen zu den Geburtserzählungen und das dreimalige Zitat von Ps 2,9 (2,26 f.; 12,5; 19,15) nach, dass in 12,5 tatsächlich von Jesus die Rede ist, und zwar insbesondere von Gottes österlichem Heilshandeln an ihm – und also nicht etwa von „Weihnachten“ –, wobei „Geburt“, „Weiden“ und „Entrückung“ jeweils Aspekte desselben Geschehens symbolisieren. So bezeichnen die Wehen der Frau (12,2) die schmerzhafte messianische Endzeit, die im Tod und in der Auferstehung Jesu angebrochen ist. Die in 12,5 genannte „Geburt“ ist damit als ungewöhnliches Sprachspiel für das Osterereignis anzusehen, worauf bereits die in der Eingangsvision formulierte Prädizierung Jesu als „Erstgeborener aus den Toten“ (1,5; vgl. Röm 8,29; Kol 1,18) hinweist. Die folgende, zunächst überflüssig scheinende Formulierung, dass ein „Männliches“ (ebenfalls 12,5) geboren wird, womit auf das Paschalamm angespielt sein dürfte (vgl. Ex 12,5), bestätigt diese Deutung. Auf der Ebene des Literalsinnes ist mit der „Frau“ von Offb 12 also nicht die Mutter Jesu gemeint; die eindrückliche Gestalt der schwangeren Sternenfrau und ihres Neugeborenen ist vielmehr als Beispiel für die Bild-Christologie des Sehers Johannes zu verstehen.

Den Abschluss bilden zwei Beiträge, die von Kunstwerken – zwei skulpturalen und einem poetischen – ausgehen und diese als eine eigene Art von Exegese ernst nehmen.Michael Estlerwidmet sich einem Thema, das in mariologischen Zusammenhängen oft vollständig ausgeblendet oder nur apologetisch behandelt wird: die Verwandtschaft Jesu. Während die sog. „Heilige Sippe“ heute aus der Volksfrömmigkeit fast vollständig verschwunden ist, zeigt der spätgotische Sippenaltar der Spitalkapelle in Weil der Stadt, dass dies in früheren Zeiten anders war. Die im Altar figürlich dargestellte Trinubiumslegende, wonach Anna, die Mutter Mariens, dreimal verheiratet war, setzt eine ganz bestimmte Deutung des neutestamentlichen Textbefundes voraus. Estler zeigt den (verschlungenen) Weg vom disparaten neutestamentlichen Zeugnis zu den späteren Legenden auf, die als Erklärungshilfen des Textes dienen sollen, zugleich aber dessen rechtgläubige Lesart, in diesem Fall die des lateinischen Westens, sichern sollen. Eben dies zeigt die spätere Einfügung von Thomas von Aquin und Hieronymus in den Sippenaltar, schließlich hatte insbesondere Hieronymus mit seinen exegetischen Entscheidungen der Trinubiumslegende den Weg bereitet. Man kann sagen, dass im Falle des Sippenaltars die Kunst die Funktion der Exegese übernimmt.

AuchP. Mauritius Honegger OSBgeht in seinem Beitrag von einem Kunstwerk aus, dem Gnadenbild des Klosters Einsiedeln, das eine sog. Schwarze Madonna darstellt. Im Einsiedler Festoffizium lehnt sich die Antiphon an das Hohelied an, wobei die Passage Hld 1,3–5 neu kombiniert und kreativ verarbeitet wird. Früher gehörte die Antiphon zum Commune-Formular für Marienfeste, leider wurden im Zuge der Liturgiereform diese und andere alttestamentliche Typologien durch die explizit marianischen Textstellen des NT ersetzt. Honegger untersucht nun anhand von mittelalterlichen Codices die ursprüngliche liturgische Verortung der Antiphon im römischen und im monastischen Ritus. Dabei ergibt sich, dass das Fest der Assumptio ihr ursprünglicher Ort war. Die Exegese von Hld 1,2–6 wiederum ergibt, dass der Text ursprünglich eine durchaus anstößige Geschichte vorehelichen Verkehrs thematisiert. Neben dem moralischen wird aber dann der sozialgeschichtliche Aspekt relevant: Wenn das Mädchen des Hohelieds ein armes Beduinenmädchen ist, das gegenüber den blassen vornehmen Frauen der Hauptstadt auf seine sonnenverbrannte Haut stolz ist, dann beleuchtet die Anwendung des Textes auf Maria den Aspekt ihrer Erwählung durch Gott, die im Kontrast zu ihrer niedrigen sozialen Stellung steht.

Alle Aufsätze dieses Bandes entstammen der gemeinsamen Arbeit des Tübinger Oberseminars von Michael Theobald, sie sind in den letzten beiden Jahren vor seiner Emeritierung im Jahre 2016 entstanden. Die Beiträge wurden im Oberseminar vorgestellt und diskutiert, sie sind damit auch eine Frucht der langjährigen gemeinsamen Arbeit an und mit den biblischen Texten. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle für ihre Mitarbeit und Hilfe herzlich gedankt. Der Band dokumentiert das von Michael Theobald immer wieder selbst exerzierte, dann auch von seinen Schülerinnen und Schülern behutsam und beharrlich eingeforderte Vorgehen, ein Gesamtbild erst aus der minutiösen Befassung mit den Details, nicht zuletzt den vermeintlich nebensächlichen Details zu erstellen. Und umgekehrt immer offen dafür zu bleiben, dass von den an den Rändern liegenden Details neues Licht auf vermeintlich feststehende Rekonstruktionen und exegetische Thesen fällt.

Für die Mitarbeit an der Druckvorlage gebührt meinen Siegener Studentischen Hilfskräften Johanna Knuppertz und Malte Brügge-Feldhake großer Dank. Dass Dr. Michael Hartmann, ebenfalls ehemaliges Mitglied des Tübinger Oberseminars von Michael Theobald, von Seiten des Katholischen Bibelwerks das Lektorat übernommen hat, freut mich besonders. Schließlich danke ich Herrn Dr. Jean Urban Andres und dem Team von SatzWeise GmbH für die hervorragende Zusammenarbeit bei der Erstellung der Druckvorlage.

Siegen, am Ende des Frauendreißigers 2017    Hans-Ulrich Weidemann

Notas al pie

1J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Prolog – Die Kindheitsgeschichten, Freiburg etc. 2012, 60–65.

2Diese narrative Strukturierung mariologischer Aussagen gilt nicht nur für die Evangelien, sondern auch für Paulus (Gal 4,4–5). Auch Offb 12,1–5 ist narrativ strukturiert, wenngleich es sich hier ursprünglich nicht um eine mariologische Aussage handelt. Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Schaefer in diesem Band.

3Dazu H.-U. Weidemann, Jesus ist der Herr. Vorbemerkungen zur Christologie der „Urgemeinde“, in: G. Augustin u. a. (Hg.), Mein Herr und mein Gott. Christus bekennen und verkünden (FS Walter Kardinal Kasper), Freiburg etc. 2013, 43–69.

4Mit Recht hat W. Stegemann, Jesus und seine Zeit (BE 10), Stuttgart 2010, 103, herausgestellt: „Der historische Jesus ist nicht der wirkliche Jesus, der historische Jesus ist auch nicht ein noch so fragmentarisches Abbild einer bestimmten historischen Persönlichkeit, eines historischen Referenten,der historische Jesus ist vielmehr ein Konstrukt der Geschichtswissenschaft(auf der Basis einer Reihe von antiken Texten)“. Dies führt aber gerade nicht zwangsläufig zur Einstellung historischer Forschung. Deren Ziel bleibt es, eine den Quellen möglichst adäquate Interpretation zu liefern, vgl. G. Häfner, Konstruktion und Referenz. Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion, in: K. Backhaus / G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese (BThSt 86), Neukirchen-Vluyn 2007, 67–96, 93.Ein klares Plädoyer für die Rückfrage nach dem historischen Jesus geradewegender sich damit ergebenden Mehrdeutigkeit, Verwechselbarkeit und Missverständlichkeit Jesu legte Michael Theobald in seiner Tübinger Abschiedsvorlesung am 19. Januar 2016 ab: M. Theobald, Weder Magd noch Hofnarr. Vom unverzichtbaren Dienst katholischer Exegese des Neuen Testaments, in: ThQ 196 (2016) 107–126.

„Siehe, die Jungfrau wird empfangen“ (Jes 7,14LXX).

Die „Geburtsankündigungen“ Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 im Licht ihrer schrifthermeneutischen, religionsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen

Michael Theobald

Frühjüdische „Schriftauslegung“ kennt viele Formen: Textparaphrasierungen (wie in den Targumim), Kommentare zu zitierten Schriftversen (die sog. Peshermethode in Qumrantexten), Diskussionen von Rechtsfragen, die die Tora aufgibt (Halacha), aber auch erzählerische Entfaltungen von Bibeltexten (Haggada).1Zu letzteren gehören die beiden „Geburtsanzeigen“ Mt 1,18–25 par. Lk 1,26–38, bei denen es sich – so die hier vertretene These – um eine besondere Art von „Schriftauslegung“ handelt, um Erfüllungsgeschichten, die die jesajanische „Geburtsanzeige“ Jes 7,13LXXaufgreifen und im Blick auf die messianische Bedeutung der Person Jesu narrativ in Szene setzen.

Wenn frühe „judenchristliche“ Schriftgelehrsamkeit sich derart kreativ äußert, ist das kein Einzelfall, sondern lässt sich auch sonst an der frühen Jesusüberlieferung aufzeigen. Zu nennen sind nicht nur weitere Beispiele aus dem Pool der sog. „Kindheitserzählungen“ des Matthäus und Lukas wie der Erzählzyklus von der Flucht nach Ägypten, Mt 2,13– 23,2sondern auch so elementare Geschichten wie die von der „Stillung“ des Sturms auf dem Meer (Mk 4,35–41)3oder der „Verklärung“ Jesu auf dem Berg,4die jeweils theologisch besetzte Orte der Geschichte Israels aufrufen. Auch die Erzählung von der Taufe Jesu gehört hierhin, die – ausgehend von Jes 42,1 und Ps 2,7 – die Erinnerung an seine Taufe zu einer mythischen Geschichte seiner Berufung ausgestaltet hat.5Bei all diesen Erzählungen ist ihre Zuordnung zu „judenchristlicher“ Schriftgelehrsamkeit mit Händen zu greifen. Sie rufen nach vertiefter systematischer Erkundung, die sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Schriftverwendung miteinander vergleichen und nach dem Boden fragen müsste, auf dem derart wunderbare Texte wachsen konnten.6Offenkundig waren hier Menschen tätig, die in einem frühlingshaften Aufbruch ihres messianischen Glaubens eine Gestalt vitaler Memoria Jesu schufen, die in einer eigenen biblisch gesättigten Erzählwelt besteht.7

Diese Einsichten kommen bei den hier zur Debatte stehenden Texten nur zögerlich zum Zug bzw. stoßen kirchlicherseits auf deutlichen Widerstand.8Die Gründe hierfür hängen mit dem hohen frömmigkeits-und dogmengeschichtlichen Stellenwert der Vorstellung von der jungfräulichen Geburt Jesu aus Maria zusammen, wie sie der christologische Artikel des kirchlichen Glaubensbekenntnisses seit alters in ökumenischer Weite mit normativer Kraft festhält. Nun geht es im Folgenden nicht um einen „Abbau“ altehrwürdiger religiöser Vorstellungen durch historische Kritik, sondern um den Versuch, im Wissen um die völlig veränderten Verstehensvoraussetzungen, die einenaiveRezeption der Erzählungen wie des genannten Artikels des Glaubensbekenntnisses vereiteln, nach ihrem kerygmatischen Gehalt zu fragen. Die Zusammenschau von literarischen und religionsgeschichtlichen Aspekten einschließlich der bislang kaum bedachten anthropologischen Implikationen unserer Texte erlaubt es, die hermeneutische Frage nach ihrer theologischen Bedeutung präziser zu stellen. Wer sich vom vermeintlichen dogmatischen Zwang befreit hat, die jungfräuliche Geburt Jesu aus Maria als zu glaubendesbiologischesFaktum auffassen zu müssen, wird sich auf den Weg machen können, die Erzählungen auf der Ebene einerzweiten Naivitätneu zu entdecken und wertzuschätzen.9Er wird sich von ihrer Anmut verzaubern und von ihrer Botschaft einnehmen lassen. Die Welt, die sich ihm hier auftut, auf die Frage ihrer Faktizität zu reduzieren, wird ihm nicht in den Sinn kommen.

1.Jesu „Geburtsankündigung“ – in zweifacher Ausfertigung

Die sog. „Kindheitserzählungen“ des Matthäus und Lukas (oder besser: ihre „Evangelienprologe“10) als „Legenden“11oder „Midrasch“12zu bezeichnen, befriedigt in gattungskritischer Hinsicht nicht.13Über solche nur bedingt tauglichen Etikettierungen hinaus hat vor Jahren D. Zeller14in Aufnahme und Weiterführung älterer Beiträge15einen präzisen Vorschlag zu den Erzählungen Mt 1,18–25; Lk 1,5–25 und 1,26–38 ausgearbeitet, der auf der Identifizierung stabiler Formelemente beruht. Ihm zufolge handelt es sich um „Geburtsankündigungen“, die sich vornehmlich aus alttestamentlicher Tradition speisen. Dieser Vorschlag sei im Folgenden aufgegriffen und zur Grundlage einer erneuten genetischen Analyse der beiden Erzählungen Mt 1,18–25 und Lk 1,5–25 gemacht.

1.1Zur Gattung der „Geburtsankündigung“

Zeller zufolge beziehen sich die Autoren dieser beiden Erzählungen auf einzelne biblische Texte „offensichtlich im Wissen um die Gattung“, die in ihren Tagen „noch lebendig“ war.16Über die bisherige Forschung hinaus, die „durch punktuellen Rückgriff auf das AT und jüdische Haggada die Gattung schon genügend“ beschrieben hatte, ging es Zeller um ihre „Entstehung und Abwandlungen […] in den verschiedenen sozialen und literarischen Zusammenhängen“17. Der Vergleich von altorientalischen, ägyptischen und alttestamentlichen Texten führte ihn zurAnnahme, dass die „Befragung des Orakels bei Kinderlosigkeit oder auf Vorahnungen der Mutter hin“ der ursprüngliche „Sitz im Leben“ der „Geburtsankündigungen“ gewesen sei, von dem sie sich aber weithin gelöst hätten. „Für volksnahe, aber auch für literarisch versierte Erzähler“ sei die Gattung zu einem „beliebten Mittel“ geworden, „um auszudrücken, dass Gestalten des Mythos, aber auch geschichtliche Persönlichkeiten schon vor der Geburt von Gott zu Großem bestimmt waren“18. Dievon ihm beigebrachten Texte aus der griechisch-römischen Antike – von Homer und Herodot bis zu Vergil und Sueton19– fördern ein „mythische (s) Modell“ zu Tage, das bei göttlichen Vorhersagen unmittelbar nach der Zeugung von Heroen und großen Männern, in Prophezeiungen und Orakeln über das noch Ungeborene und in Träumen „die zeugenden Götter selbst das Wort ergreifen lässt“. Letzteres kam für die neutestamentlichen Autoren nicht in Frage. „Sie hielten sich an biblische Vorstellungen, nach denen ein Engel den Willen Gottes mitteilt“20. Die eruierte Gattung „Geburtsankündigung“ enthält folgende Elemente:

Ihr Kern ist die Ankündigung, bestehend aus drei stereotypen Bestandteilen: [1] der Ansage oder Feststellung derSchwangerschaft– meist mit „siehe“ als Aufmerksamkeit weckendem Signal verknüpft –, [2] der Ankündigung derGeburtdes Sohnes und [3] einem Auftrag zurNamensgebung, zuweilen mit Begründung versehen. Eine solche Ankündigung begegnet in der Bibel zum ersten Mal in Gen 16,11, der Rede des Engels Jhwhs an Hagar in der Wüste:

[1]Siehe, du bist schwanger (ἰδοὺ σὺ ἐν γαστρὶ ἔχεις),

[2]du wirst einen Sohn gebären (ϰαὶ τέξῃ υἱόν),

[3]dessen Namen sollst du Ismael nennen (ϰαὶ ϰαλέσεις τὸ ὄνομα αὺτοῦ Ισμαηλ); denn der Herr hat dein Elend erhört.

„Geburtsankündigungen“ dieser Art begegnen im Alten Testament21, inder frühjüdischen Literatur22und im jüdischen Midrasch23mit mancherlei Variationen24, die die Grundform immer noch durchscheinen lassen.25Oft gipfeln sie in Zukunftsaussagen zur Bedeutung des angekündigten Sohnes [= 4], sei es als des Repräsentanten des sich auf ihn zurückführenden Stammes oder Volkes, sei es als dessen zukünftigen Erretters26. Die erste Variante findet sich in den Patriarchenerzählungen, etwa in Ergänzung der „Geburtsankündigung“ an Hagar in Gen 16,1227oder in der an Abraham in Gen 17,19:

Da sprach Gott:

[2]Nein, Sara, deine Frau, wird dir einen Sohn gebären,

[3]den sollst du Isaak nennen,

[4]und ich will meinen Bund mit ihm aufrichten als einen ewigen Bund für seine Nachkommen.28

Ri 13,5 ist ein Beispiel für die zweite Variante:

[1]Siehe, du wirst schwanger werden29

[2]und einen Sohn gebären.

Es darf kein Schermesser an seinen Kopf kommen;

[3]denn der Knabe wird vom Mutterleib an ein Gott geweihter Nasiräer sein.30

[4]Er wird damit beginnen, Israel aus der Hand der Philister zu retten.

„Geburtsankündigungen“ begegnen nie isoliert, sondern stets in narrativer Einkleidung. So unterschiedlich diese sein können, sie lassen ein Schema31erkennen, das von den Einzeltexten jeweils konkret gefüllt wird:Werkündigt die Geburt an,wanntut er das (vorder eintretenden Schwangerschaft oderdanachetc.),in welcher Situationgeschieht es,wemgegenüber undmit welcher Absicht?

DieSituation, in der eine „Geburtsankündigung“ ergeht, ist zumeist die der Aussichtslosigkeit der Eltern, auf normalem Weg ein Kind zu bekommen (Unfruchtbarkeit oder Alter).32Weil nurGotteine derartige Notsituation zu überwinden fähig ist, sind es auchseineRepräsentanten (Engel, Prophet oder Priester), die in einer Erscheinung zumeist derFrauSchwangerschaft und Geburt ankündigen.33Wenn sie (oder der Mann34) darauf mit einem zweifelnden Einwand reagiert, gibt das Gelegenheit zur bekräftigenden Wiederholung der Ankündigung35oder auch zur Ansage eines bestätigenden Zeichens36und unterstreicht die göttliche Herkunftder Initiative. Die „Pointe“ einer solchen Erzählung bildet „zweifellos der futurische Satz über die Bedeutung des Kindes. Daran lässt sich ihreFunktionablesen. Es geht nicht nur um Gottes wunderbare Hilfe für unfruchtbare Eltern, sondern auch um die dem Kind von jeher zugedachte Rolle in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die er erst als Erwachsener spielen wird“37.

Wer in diesen formgeschichtlichen Rahmen die beiden „Geburtsankündigungen“ Mt 1,18–25 und Lk 1,26–38 einzeichnen möchte, hat auf die in ihnen enthaltenen stereotypen Elemente, aber auch auf Abweichungen vom Schema zu achten. Entsprechend der kanonischen Abfolge der Bücher beginnen wir mit Mt 1,18–25. Das ist nicht selbstverständlich. Denn die beiden Erzählungen ließen sich ja auch nach ihrer Geschehensabfolge anordnen:38In Lk 1,26–38kündigtder Engel Maria die Schwangerschaftan, nach Mt 1,18istsie bereits schwanger.39Joseph wird dessen gewahr und will seine Frau heimlich „entlassen“ (Mt 1,19).

Doch erlauben die beiden Erzählungen eine derartige „historisierende“ Sicht, die sie alszweiEpisodeneinerGeschichte lesen möchte? Tatsächlich verstand man sie lange Zeit so und erklärte: Joseph habe schonvorseinem Traum um die Schwangerschaft Mariens aus dem Geist gewusst und seine „Braut“ aus religiöser Scheu nicht antasten und „entlassen“ wollen. Deshalb fordere der Engel Josef jetzt auf, Maria zu sich zu nehmen.40

Ein solcher Deutungsansatz scheitert aus mehreren Gründen. Wenn Joseph seine Frau nicht „bloßstellen“ (δειγματίζειν) will, liegt die Annahme nahe, dass es um Ehre und Schande geht. Das heißt: Als er ihre Schwangerschaft bemerkt, verdächtigt er sie des Ehebruchs, will sie „entlassen“, aber weil er „gerecht“ ist (d. h. seine Frau nicht durch einen Ehebruchprozess der Schande preisgeben, sondern ihr Freundlichkeit und Milde zeigen will) „heimlich“ und ohne Aufhebens. Nur bei diesem Verständnis des Textes sagt ihm der Engel im Traum auch nicht, was er ohnehin schon durch Maria wissen müsste,41sondern deutet ihm die Schwangerschaft und erklärt, was für ein Mensch das ist, den Maria gebären soll. Es liegt also eine echte „Geburtsankündigung“ vor.

Hinzu kommt, dass beide Erzählungen sich in einem wichtigen Punkt widersprechen: Sieht der Engel bei Lukas Maria als Namensgeberin vor, so überträgt er diese Aufgabe bei Matthäus Josef. Eine „historisierende“ Lektüre der beiden Erzählungen hintereinander42ist deshalb obsolet. Beide Erzählungen sind eigenständig, keine von ihnen setzt die jeweils andere voraus.

Weil ungewiss ist, welche der beiden Erzählungen im Rahmen des jeweiligen Evangeliums zuerst literarisiert wurde, ist die Reihenfolge ihrer Analyse gleichgültig. Wenn wir mit Mt 1,18–25 beginnen, dann wegen der kanonischen Abfolge der beiden Evangelien. Leitend soll die Frage sein, ob beide Erzählungen über ihre gemeinsame gattungsmäßige Prägung als „Geburtsankündigungen“ hinaus sich als Rezeptionen insbesondere von Jes 7,14LXXbegreifen lassen. Die These lautet: Von ihrerGenese her sind sie als voneinander unabhängige narrative Extrapolationen aus Jes 7,14LXXzu erklären. Es handelt sich bei beiden um eine Art haggadischer Schriftauslegung.

1.2Mt 1,18–25 – „Geburtsankündigung“ an Joseph

Die „Überschrift“ unserer Erzählung, V. 18a (vgl. V. 1,1), hatScharnierfunktion:Sie benennt das Thema der folgenden Geschichte – „der Ursprung (ἡ γένεσις43) Jesu Christi“ –, womit sie die Erwartung des Lesers nach vorne richtet. Zugleich knüpft sie an die voranstehende Genealogie Jesu an, die das Buch eröffnet, genauer an deren Klimax V. 16, die in Durchbrechung des bis dahin durchgängigen genealogischen Schemas (ein Mann x zeugte seinen Sohn y) eine Spannung aufbaut, die nun der Lösung harrt: Jesu Abstammung von David verläuft zwar über Josef, aber V. 16 führt ihn nicht als seinen leiblichen Vater ein, sondern als „den Mann Marias, aus derJesus,derChristusgenannt wird, gezeugt wurde (ἐγεννήϑη)“44. Die Frage, wie beides zusammengeht – die über Josefvermittelte Davidsohnschaft Jesuundder Ausfall derleiblichenVaterschaft Josefs –, beantwortet unsere Erzählung:

18

a

Mit Jesu Christi Ursprung (ἡ γένεσις) verhielt es sich aber so:

 

b

Als seine Mutter Maria mit Josef verlobt war,

 

c

fand es sich, bevor sie zusammenkamen, dass sie schwanger war aus heiligem Geist

 

 

(ἐν γαστρὶ ἔχουσα ἐϰ πνεύματος).

19

a

Josef, ihr Mann, aber,

 

b

1

der gerecht war

 

b

2

und sie nicht öffentlich bloßstellen wollte

45

,

 

a

gedachte, sie in aller Stille zu entlassen.

20

a

Während er dies aber überlegte,

 

b

siehe,

 

c

da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum

46

 

d

und sprach:

 

e

Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht,

 

f

Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen!

 

g

Denn [1] das in ihr Gezeugte (τὸ … ἐν αὐτῇ γεννηϑέν) ist aus heiligem Geist.

21

a

[2] Und sie wird einen Sohn gebären (τέξεται … υἱόν),

 

b

[3]und du wirst seinen Namen Jesus nennen;

 

c

[4] denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten47.

22

a

Dies alles aber (τοῦτο δὲ ὅλον) geschah,

 

b

damit erfüllt würde,

 

c

was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, der spricht:

23

a

[1]Siehe,

 

 

dieJungfrau wird im Schoß haben (ἐν γαστρὶ ἕξει)

 

b

[2] und einen Sohn gebären (τέξεται υἱόν),

 

c

[3] und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen (Jes 7,14),

 

d

[4] was übersetzt ist: Gott mit uns48.

24

a

Josef aber, erwacht vom Schlaf (ἀπὸ τοῦ ὕπνου),

 

b

tat (ἐποίησεν),

 

 

wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte (προσέταξεν),

 

c

und nahm seine Frau zu sich (παρέλαβεν)

49

;

25

a

und er erkannte sie nicht,

 

b

bis sie einen Sohn geboren hatte;

 

c

und er nannte seinen Namen Jesus.

Die Erzählung mitExposition(V. 18b–19),Hauptteil(V. 20 f.) undSchluss(V. 24 f.) ist in sich gerundet. Der Konflikt, den die Exposition darstellt, wird im Hauptteil (V. 20 f.) einer Lösung zugeführt und diese im Schlussteil (V. 24 f.) umgesetzt: Josef handelt, wie ihm der Engel auftrug. Er entlässt seine schwangere Frau nicht, sondern nimmt sie zu sich und gibt dem Neugeborenen den ihm zugedachten Namen, womit die „davidische Abkunft des Sohnes vor dem Gesetz“50gesichert ist. Dass er seine Frau „nicht erkannte, bis sie einen Sohn geboren hatte“ (V. 25a.b)51,stellt dessen Geburt „aus heiligem Geist“ (V. 18d.20g) sicher. Der Schluss V. 24 f. hält beides fest: Jesu Davidsohnschaft (damit auch seine Abrahamsohnschaft)undseinen „Ursprung“ „aus dem Geist“, also Gott.

Der Kommentar des Erzählers in V. 22 f. zwischen Hauptteil und Schluss tritt gleichsam zurück vom Erzählten, nimmt Distanz und bewegt sich auf eigener Ebene: Er erklärt, dass mit„dem allen“, was der Engel Josef im Traum ankündigte (einschließlich des Auftretens des erwachsenen Jesus als Retter seines Volkes), das Prophetenwort Jes 7,14 in Erfüllung gehen sollte.52„dieses alles“schließt ein, was nach unserer Szene erst noch kommen wird, die Geburt des angekündigten Sohnes, mit dem Maria bereits schwanger ist, und dass„sie seinen Namen Emmanuel nennen werden, das heißt übersetzt:Gott mit uns“. Wie die LXX-Vorlage den Teilvers Jes 7,14e las, ist umstritten.53Matthäus bietet jedenfalls den Plural der 3. Pers. („sie“) und fügt die Jes 8,8.10LXXentnommene Übersetzung des Namens„Gott mit uns“an. So öffnet er den Horizont der „Geburtsankündigung“ auf das ganze Buch hin, das ja davon erzählen wird, wie Gott sich durch Jesu heilvolles Auftreten in seinem Mit-Sein zu erfahren gibt, und in dessen Schluss der Auferweckte den Seinen zusagen wird, „alle Tage bis zum Ende der Weltmit ihnenzu sein“ (Mt 28,20). Die Frage, wer die von Matthäus redaktionell in das Jes-Zitat eingebrachten„sie“sind, die Jesus den Emmanuel nennen werden, findet so auch eine plausible Antwort: Es sind die Jünger, die sich zu ihm als dem Emmanuel bekennen werden, bzw. die nachösterliche Ekklesia.54Matthäus weist damit schon zu Beginn seines Buchs der Leserschaft programmatisch ihren Ort im Text an. In diesem ϰαλέσουσιν τὸ ὄνομα αὐτοῦ dürfen sie sich wiedererkennen und aufgehoben wissen.55

Die Mitte der Erzählung bildet die „Geburtsankündigung“ V. 20g– 21c mit ihren klassischen Gattungselementen [1] – [4]. Dass die Ankündigung der Schwangerschaft [1] entfällt bzw. umgestaltet ist, liegt an derAdressierung der „Geburtsankündigung“ an den Mann wie der Situation, in der er sich befindet: Der Engel wiederholt Joseph nicht, was er ohnehin schon weiß, dass nämlich seine Frau schwanger ist, sondern erklärt ihm den Befund: „das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist“. Die übrigen Bestandteile der „Geburtsankündigung“ [2] – [4] sind regelkonform gebildet.

Die Geschichte, in die die „Geburtsankündigung“ eingekleidet ist, könnte – abgesehen von wenigen Details56– gar nicht anders erzählt sein. Wer alternative Geschehensabfolgen durchspielt, wird das ohne weiteres erkennen. So wäre eine „Geburtsankündigung“ an Josefvorseiner eherechtlich verbindlich eingegangenen „Verlobung“ mit Maria sinnlos, denn sie könnte ja nicht seinen Entschluss zur Ehe mit Maria motivieren; dieser wird selbstverständlich vorausgesetzt. Genauso undenkbar wäre es, dass die „Geburtsankündigung“ an Joseph in einer futurischen Form erginge (entsprechend Jes 7,14LXX: „siewirdschwanger sein“), denn dann könnte seine Reaktion nur ungläubiges Staunen sein, nicht aber sein gehorsames Sich-Fügen in die himmlisch schon in Gang gesetzten Geschehnisse. Dieser Gehorsam zeichnet Josef aus. So blieb nur die Möglichkeit – sollte die Erzählung mit Spannung ausgestattet sein –, sie mit dem Konflikt aufgrund bereits eingetretener Schwangerschaft, die Josef in größte Verlegenheit stürzte, zu eröffnen und dem entsprechend auch die Rede des Engels zu formulieren:Maria ist schon schwanger, Geburt und Namengebung stehen noch aus. Nur so erbringt die Geschichte die Leistung, die von ihr erwartet wird, nämlich zu erzählen, wie beides zusammengeht: Jesu genealogisch begründete Davidsohnschaft einerseitsundseine Zeugung aus heiligem Geist ohne Mitwirkung eines leiblichen Vaters andererseits. Der Engel fügt beides zusammen, wenn er seine Aufforderung: „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht,Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen(παραλαβεῖν Μαρίαν τὴν γυναῖϰά σου)“, mit der „Geburtsankündigung“ V. 20g–21c begründet (V. 20g: γάρ): Josef soll seine Frau heimführen, dem Kind den vom Engel vorgesehenen bedeutungsträchtigen und in die Zukunft weisenden Namen geben57und es aufdiese Weise gesetzlich zum eigenen Kind erklären,weiles von Gott ist und dieser es so vorgesehen hat. Wenn Joseph, „aus dem Schlaf erwacht, tut, wie ihm der Engel befohlen hat“, geschieht das der Erzähllogik entsprechend unmittelbar im Anschluss an seinen Traum, so dassniemand– dass darf der Leser hinzudenken – von der besonderen Schwangerschaft Mariens erfährt. Nur der „allwissende Erzähler“ weiß um sie wie auch darum, dass Joseph, nachdem er seine Frau zu sich nahm, mit ihr nicht verkehrt, bis der Sohn geboren ist, damit tatsächlich gilt: Dieser Sohn ist nach dem Gesetz aus dem Stamm Davids –under kommt von Gott her.

Wer nach derGenesedieser gekonnt erzählten Geschichte fragt, erhält von der Forschung zwei Auskünfte, die sich zu Recht eines breiten Konsenses erfreuen: (a) Der Kommentar V. 22 f. mit dem sog. „Reflexionszitat“ (eine matthäische Besonderheit) geht auf den ersten Evangelisten zurück. (b) Das sprachliche Gewand der Erzählung weist insgesamt matthäischen Stil auf, woraus zu schließen ist: Der Evangelist hat die mündlich umlaufende Geschichte versprachlicht. Βei dieser zweifachen Auskunft lässt man es in der Regel bewenden.58Doch erlaubt die Erzählungnoch einen weiteren Schritt. Sie gibt zwei Grundbausteine zu erkennen, aus deren Kombination sie generiert wurde.

Derersteund entscheidende Baustein ist die „Geburtsankündigung“, die nach einer narrativen Einkleidung verlangte. Nachdem feststand, dass es eine „Geburtsankündigung“ an die Adresse des Mannes sein sollte, also Joseph, den Sohn Davids,59erhielt die „Geburtsankündigung“ eine der zu erwartenden Geschehenslogik entsprechende narrative Einkleidung (siehe oben).

DerzweiteBaustein, der nicht aus der „Geburtsankündigung“ generiert sein kann und deshalb gleichfalls vorgegeben sein muss, hängt mit der Entscheidung zusammen, dass Joseph ihr Adressat sein sollte. Konkret geht um das Wissen der Erzählung um die genealogische HerkunftJosephs und damit Jesu aus dem Stamm Davids, ein Wissen, das – von ihr unabhängig – auch durch andere Quellen wie die voranstehende Genealogie Mt 1,1–16 und die alte Glaubensformel Röm 1,3 f.60bezeugt wird. Das ZusammentreffenbeiderElemente – eine aus den Vorgaben der Schrift gestaltete himmlische „Ankündigung“ der Geburt des Messias Jesusunddas Wissen um die genealogische Herkunft Josephs – ist der Boden, auf dem die Erzählung entstand.

Als prägende Vorbilder der „Geburtsankündigung“ nennt die Forschung in der Regel Gen 16,11; 17,19 und Ri 13,3–5, kaum Jes 7,14.61Gegen eine besondere Rolle des Prophetenworts für die matthäische Erzählung scheint in der Tat das Fehlen spezifischer Merkmale des Spruchs zu sprechen, allerdings nur, wenn Jes 7,14 isoliert und nicht der ganze Spruch zum Vergleich mit Mt 1,18–25 in Betracht gezogen wird:

Zl.

Mt 1,20b–21

Jes 7,13 f.

LXX

1

[vgl. Zl. 5]

(13) Hört doch, (ihr vom)

Haus

Davids!

[…]

 

 

 

2

(20b)

Siehe

62

,

 

3

ein Engel

des Herrn

erschien ihm im

Traum und sprach:

(14) Deshalb wird

der Herr selbst

euch ein Zeichen geben:

5

Joseph,

Sohn Davids

,

[vgl. Zl. 1]

6

fürchte dich nicht,

 

7

Maria, deine Frau zu dir zu nehmen;

 

8

[vgl. Zl. 2]

Siehe

,

9

denn

das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist (τὸ γὰρ ἐν αὐτῇ γεννηϑὲν ἐϰ πνεύματός ἐστιν ἁγίου).

die Jungfrau

wird im Schoß haben

(ἡ παρϑένος ἐν γαστρὶ ἕξει)

10

(21)

Und sie wird einen Sohn gebären

(

τέξεται δὲ υἱόν

),

und sie wird einen Sohn gebären

(

τέξεται δὲ υἱόν

),

11

und du wirst seinen Namen

Jesus

nennen

(

ϰαὶ ϰαλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ …

),

und

ihr werdet

(du wirst)

63

seinen

Namen

Emmanuel

nennen

(

ϰαὶ ϰαλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ …

).

12

denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten.

 

Der Prophetenspruch geht an das „Haus Davids“, denn das angesagte Kind wird Nachfolger auf dem Thron Davids. Dem entspricht, dass der Engel Joseph als „Sohn Davids“ anspricht und ihn auffordert, das angekündigte Kind mit seiner Mutter anzunehmen und zu seinem eigenen zu machen. Kündigt der Prophet an, „der Herrselbst“ (ϰύριος αὐτός) werde ein Zeichen gewähren, so tritt hierfür bei Matthäus der „Engel desHerrn“ (ἄγγελος ϰυρίου) ein, der Joseph im Traum erscheint. Spricht Jes 7,14 in der ersten Zeile der „Geburtsankündigung“ von der „Jungfrau“ (ἡ παρϑένος), so greift das die matthäische Erzählung auf und interpretiert die Wendung „Im-Schoß-Haben“ als ein „Gezeugt-Sein“ des Kindes „aus dem Geist“, ohne Mitwirkung des Mannes. Die Gleichwertigkeit der beiden verbalen Wendungen bezeugt V. 18d im Eingang der Erzählung: „[…] sie wurdeals im Schoß habendgefunden (ἐν γαστρὶ ἔχουσα) aus heiligem Geist“. Beachtlich ist die Übereinstimmung in der Anrede Zl. 11: Der Übersetzer der Septuaginta versteht das ambivalenteקראתdes masoretischen Textes64als 2. Pers. Plur. oder Sing. in Ewigkeit herrschen und dessen Herrschaft kein Ende haben wird“ Mask., „bezogen auf Achaz oder, kollektiv, auf das Haus Davids“65; die matthäische Erzählung schließt sich der Sing.-Lesart an (bzw. ändert die Plur.-Lesart in den Sing.) und bezieht sie auf Josef als Sohn Davids.

Angesichts dieser in Summe überraschenden Übereinstimmungen zwischen dem Prophetenspruch Jes 7,13 f.LXXund der vormatthäischen Geschichte kann festgehalten werden, dass sie aus dem Spruch generiert wurde. In Kenntnis der Gattung „Geburtsankündigung“ setzt die Geschichte den messianisch verstandenen Spruch szenisch um. Da ihr Autor ὁ παρϑένος als Hinweis auf die jungfräuliche Geburt des Messiaskindes verstand, war ihm die Aufgabe gestellt zu erzählen, wie beides zusammengeht: die göttliche Herkunft des Messiaskindesundseine davidische Herkunft. Mehr über das Milieu solcher schriftgelehrten Auseinandersetzung mit dem Prophetentext erfahren wir, wenn wir nach der Herkunft des Motivs jungfräulicher Geburt fragen.

1.3Lk 1,26–38 – „Geburtsankündigung“ an Maria

Lk 1,30b–33 ist die zweite „Geburtsankündigung“ im Eingang des Evangeliums. Die erste erging unmittelbar zuvor an Zacharias im Tempel (1,13–17) und wird jetzt durch die an Mariaüberboten:War Elisabeth „unfruchtbar“ und wie Zacharias „in vorgerücktem Alter“ (1,7.18), so soll Maria den ihr angekündigten Sohn gebären, ohne „einen Mann zu erkennen“ (1,34b.c). Die Steigerung des Wunders verweist auf die größere Rolle des Mariensohns im Heilsplan Gottes: Schildert „der Engel des Herrn“ (1,11) Zacharias die Bedeutung des angekündigten Kindes in den biblischen Farben des für die Endzeit erwarteten Elija, so kündigt er Maria die Geburt des davidischen Messias an, der „über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und dessen Herrschaft kein Ende haben wird“(V. 32 f.).66

Das Zueinander der beiden Szenen wird indes nicht nur vom Gesetz derÜberbietung, sondern auch von dem derParallelitätbestimmt:67Zacharias wie Maria werden bei namentlicher Nennung vom Engel mit einem „Fürchte dich nicht!“ angesprochen; beide bringen auf die ihnen zuteilwerdende „Geburtsankündigung“ einen Einwand vor, den der Engel jeweils ausräumt; beide erhalten ein Zeichen von ihm – Zacharias wird stumm, Maria wird auf das Wunder der Schwangerschaft der Elisabeth verwiesen.68Damit zeichnen sich Baugesetze ab, die helfen, die zweite Szene synchron und diachron zu erklären. Der Text lautet:

26

 

Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt Galiläas mit Namen Nazareth gesandt

27

a

zu einer Jungfrau, die mit einem Mann namens Josef aus dem Haus Davids verlobt war,

 

b

und der Name der Jungfrau war Maria.

28

a

Und er trat bei ihr ein (εἰσελϑὼν πρὸς αὐτήν)

 

b

und sprach:

 

c

Sei gegrüßt,Begnadete(ϰεχαριτωμένη)!

 

d

Der Herr ist mit dir.

29

a

Sie aber erschrak (διεταράχϑη) über das Wort

 

b

und überlegte (διελογίζετο),

 

c

was dieser Gruß bedeute.

30

a

Und der Engel sprach zu ihr:

 

b

Fürchte dich nicht, Maria!

 

c

Denn du hastGnade(χάριν) bei Gott gefunden.69

31

a

[1]Und siehe,

 

b

du wirst im Schoß empfangen (συλλήμψῃ ἐν γαστρί)

 

c

[2] und einen Sohn gebären (τέξῃ υἱόν),

 

d

[3] und du wirst seinen NamenJesusnennen (ϰαλέσεις).

32

a

[4] Dieser wird groß sein

 

b

undSohn des Höchsten(υἱὸς ὑψίστου) genannt werden (ϰληϑήσεται),

 

c

und Gott der Herr (ϰύριος ὁ ϑεός) wird ihm den Thron seines Vaters David geben,

33

a

und er wird herrschen über das Haus Jakob in Ewigkeit,

 

b

und sein Königtum (βασιλεία) wird kein Ende haben.

34

a

Maria aber sprach zu dem Engel:

 

b

Wie soll das geschehen,70

 

c

da ich keinen Mann erkenne?

35

a

Und der Engel antwortete

 

b

und sprach zu ihr:

 

c

Heiliger Geist(πνεῦμα ἅγιον) wird über dich kommen (ἐπ-ελεύσεται),

 

d

und Kraft des Höchsten (δύναμις ὑψίστου) wird dich überschatten (ἐπι-σϰιάσει);

 

e

deshalb wird auch das Geborene (τὸ γεννώμενον)71heiliggenannt werden,Sohn Gottes.

36

a

Und siehe,

 

b

Elisabeth, deine Verwandte,

 

c

auch sie hat in ihrem Alter einen Sohn empfangen,

 

d

und dies ist der sechste Monat für sie,

 

e

die unfruchtbar genannt wird.

37

a

Dennkein Wort (, das) von Gott her (kommt,) wird unwirksam sein (οὐϰ ἀδυνατήσει παρὰ τοῦ ϑεοῦ πᾶν ῥῆμα)72.

38

a

Da sprach Maria:

 

b

Siehe,

 

 

(ich bin) die Magd73des Herrn;

 

c

mir geschehe nach deinem Wort (γένοιτό μοι ϰατὰ τὸ ῥῆμά σου)!

 

d

Und der Engel schied von ihr.

Die szenischeEröffnungdes Dialogs in V. 26 f. nennt Zeit und Ort des Geschehens und setzt es zur vorangehenden Erzählung in Bezug: „Der sechste Monat“ (V. 26), in welchem der Engel bei Maria „eintritt“, ist der sechste der Schwangerschaft der Elisabeth (vgl. 1,24), worauf der Engel am Ende der Szene auch ausdrücklich hinweist (V. 36d). Die Begegnung des Zacharias mit dem Engel trug sich im Jerusalemer Tempel bzw. nach seiner Heimkehr in einer Stadt des judäischen Berglands zu, wo er mit Elisabeth zu Hause ist (vgl. 1,39). Die Szene mit Maria trägt sich in einer „Stadt Galiläas mit Namen Nazareth“ (V. 26) zu, in einem nicht näher beschriebenen Haus (V. 28a).

Die erste der beiden Erzählfiguren – der himmlische Bote mit Namen Gabriel – ist den Lesern schon aus der vorangehenden Szene bekannt.74Die zweite Person – ihr gilt die Sendung des Boten – wird stilgemäß eingeführt: mit Angabe ihres Familienstands – „eine junge Frau, die mit einem Mann namens Josef aus dem Haus Davids verlobt war“ – und ihrem Namen Maria75. Die Rede von der „jungen Frau(παρϑένος)“ und der Herkunft Josefs„aus dem Haus Davids“scheint beiläufig zu sein, ist für den Fortgang aber bedeutsam.

DerHauptteilder Szene besteht aus einem Dialog, der mit seinen fünf Redeteilen samt Einführungsformeln („er/sie sprach“) den mit Zacharias, der nur drei aufweist, deutlich überbietet. Der Erzähler meldet sich lediglich einmal zu Wort, und zwar in V. 29 mit einer Notiz zur Reaktion Mariens auf den Eingangsgruß des Engels. Diese Einschaltung hat die Funktion, den Gruß, der schon von sich aus „erwählungstheologisch aufgeladen ist“, von der nachfolgenden Rede des Engels abzuheben und so seine Bedeutung für die ganze Rede zu unterstreichen.76Anschließend kündigt der Engel der Verlobten Schwangerschaft und Geburt des Messias an, was diese zu einer erstaunten Rückfrage veranlasst. Der Engel erklärt sich und die Frau willigt ein: „Mir geschehe nach deinem Wort“ (V. 38c). In Entsprechung zu V. 26schließtV. 38d die Szeneab:„Und der Engel schied von ihr“77.

Zentrum des Dialogs ist die „Geburtsankündigung“ durch den Engel (V. 31–33), die dieser auf Rückfrage Mariens in V. 35c–e kommentiert, mit Verweis auf die Schwangerschaft ihrer „Verwandten Elisabeth“ stützt (V. 36) und mit einer explizit theo-logischen Sentenz begründet (V. 37). Der Engelsgruß V. 28c.d mit seiner Zusage der Erwählung Mariens („Sei gegrüßt,Begnadete[ϰεχαριτωμένη]! …“) und deren Bekräftigung nach der Kunstpause V. 29 in V. 30b.c („Fürchte dich nicht Maria! Denn du hastGnade[χάριν] bei Gott gefunden“) stehen wie eine Überschrift voran. Die „Geburtsankündigung“ selbst enthält die bekannten Formelemente: eine mit ϰαὶ ἰδού eingeführte mehrgliedrige Ansage (1) der Schwangerschaft, (2) der Geburt des Kindes, (3) seiner Namensgebung und (4) seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung. Dieses vierte Element – die Klimax der „Geburtsankündigung“ – ist zweigeteilt (2 + 3 Glieder): Der Engel erklärt, dass der Geborene „groß“ sein, d. h. „Sohn des Höchsten“ heißen wird (V. 32a.b),und, dass Gott ihm den Thron seines Vaters David geben und Jesus auf ewig „über das Haus Jakob“ herrschen wird (V. 32c–33b). In beiden Teilen schöpft die Verheißung des Engels aus der biblischen Erwartung eines davidischen Messias, der – weil göttlichen Schutz genießend – auch „sein Sohn“ genannt werden kann (vgl. Ps 2,7;Ps 89,27 f.; 2 Sam 7,14)78.Wannundauf welchem Wegsich die zweifache Verheißung realisieren wird, sagt der Engel nicht, erteilt aber auf die Frage Mariens nach demWie(„wie [πῶς] soll dieses geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“79) in V. 35c–e eine Antwort. Diese nachgeschobene Erklärung ist so etwas wie einerster Kommentarzu der in die Zukunft weisenden „Geburtsankündigung“80, die freilich erst vom lukanischen Doppelwerk als Ganzem erschöpfend kommentiert wird81.

Das gilt vor allem für V. 32c–33b, die Ansage der Inthronisation Jesu und seiner ewigen Herrschaft. Beides verbindet Lukas mit der Auferstehung Jesu und seiner österlichen Erhöhung, die er als Inbesitznahme des Davidthrons durch den Erhöhten interpretiert,82als Beginn von dessen ewiger βασιλεία.83Anders verhält es sich beim ersten Teil der Verheißung: „er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden“.Schon vor Ostern wird Jesus als „Sohn Gottes“ bzw. des „Höchsten“ angesprochen – allerdings nicht von den Jüngern, sondern von einer Himmelsstimme (3,22; 9,35), dem Teufel (4,3.9) und den Dämonen (4,41; vgl. auch 8,28).84Petrus als Sprecher der Jünger bekennt Jesus als „Messias Gottes“, womit die davidische Messiasverheißung von 1,32 f. als in ihm erfüllt angesehen wird. Dass die Sohn-Gottes-Prädikation eine tiefere Wahrheit besitzt, lässt der allwissende Erzähler von Anfang an durchblicken, wenn er sie den Engel aus der „Geburtsanzeige“ im Kommentar V. 35c-e nochmals aufgreifen und die Frage Mariens nach dem „Wie“ ihrer angekündigten Schwangerschaftin neuer Weisebeantworten lässt:85

Geburtsankündigung (V. 32a.b)

Kommentar (V. 35c–e)

Heiliger

Geist wird über dich kommen,

und Kraft des Höchsten

wird dich überschatten;

er wird groß sein

deshalb (διό) wird auch das Geborene

heilig

genannt werden (ϰληϑήσεται),

und

Sohn

des

Höchsten

heißen

(ϰληϑήσεται).

86

Sohn Gottes

.

V. 35c–e besteht aus dem synonymen Parallelismus V. 35c und d sowie der Schlussfolgerung V. 35e (διό). Diese ist eine „nahezu wortgleiche Wiederaufnahme“87der Ansage V. 32a.b, die jetzt ihre Erklärung findet.

Der synonyme Parallelismus V. 35c.d nennt den Grund, warum Jesus „heilig“ und „Sohn Gottes“ heißt,88und zwar von Zeugung und Geburtan („das Geborene“89): Πνεῦμα und δύναμις sind Attribute Gottes („heiligerGeist“/„Kraftdes Höchsten“) und bezeichnen seine schöpferische Macht.90Die beiden Verben umschreiben sein Wirken an Maria, durch welches das Leben des Kindes aus ihr hervorgebracht wird: das erste ist neutral (ἐπ-έρχομαι),91das zweite aktualisiert biblisch gesättigte Heiligtums-Metaphorik (ἐπι-σϰιάζω).92Deren Sinn könnte es sein, sexuelle Konnotationen im Zeugungsvorgang durch das Bild der „Überschattung“ gezielt auszuschließen.

Jesu Herkunft aus „heiligem Geist“, die ihn aus dem gewöhnlichen Lebenszusammenhang aussondert, begründet sein „Heilig“-Sein und sein „Sohn“-Sein in seinerursprungshaften Nähe zu Gott. Damit reicht die Sohn-Gottes-Prädikation von V. 35e über die von V. 32a.b hinaus und fügt dieser eine neue Sinndimension hinzu: „Sohn des Höchsten“ wird Jesus nicht nur deswegen heißen, weil seine Herrschaft auf Davids Thron unter dem Schutz Gottes stehen wird, sondern vor allem, weil seine Existenz ursprungshaft aus dem Geist Gottes ist.93Woraus speist sich dieserSinnzuwachs im υἱὸς ϑεοῦ – Titel? Antwort verspricht die Einsicht in die biblische Matrix der übergeordneten „Geburtsankündigung“ V. 30–33.

Wie zu Mt 1,20 f. ziehen viele aufgrund der übereinstimmenden Formelemente auch zu Lk 1,30–33 die „Geburtsankündigungen“ Gen 16,11; Ri 13,3.5 und Jes 7,14 als Hintergrund in Erwägung, bezweifeln aber „eine gezielte Anspielung auf einen einzelnen dieser Texte“ mit dem Argument, dass die terminologischen Entsprechungen nicht eng genug seien.94Das gelte auch für Jes 7,14,95wobei gerne darauf hingewiesen wird, dass die Leser in Mt 1,23 „ausdrücklich auf die Querverbindung hingewiesen werden“ müssten, „damit sie sie wahrnehmen können“96