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Ägypten im Jahr 1500 v. Chr.: Der Pharao will alle Fremden aus dem Land treiben und selbst die Götter haben Probleme – untereinander und mit den Menschen. Der Krokodilgott Suchos verliert seinen göttlichen Hausschlüssel und Osiris ist seit seiner Ermordung durch Seth ziemlich depressiv. Seshmosis, ein magerer Schreiber und Stubenhocker wird wider Willen zum Anführer seines Stammes und zum Propheten eines unbekannten Gottes. Scherms Roman ist eine spannende, temporeiche Reise durch Ägypten, durch Passagen des Alten Testaments und durch die bizarre Welt der Götter. Auf dem abenteuerlichen Weg hinters Gelobte Land begegnen wir auch dem aus Memphis verbannten Sänger El Vis und dem Seher Nostr'tut-Amus. "Ein fantasievolles Spiel mit einer anderen, vielleicht sogar besseren Variante der altbekannten Geschichte hat Gerd Scherm vorgelegt. Ihm gelang die hierzulande eher seltene Verbindung von Unterhaltung, Scherz und tieferer Bedeutung." Nürnberger Nachrichten "Der Nomadengott ist ein flott geschriebener, überaus witziger Roman, der Lesevergnügen mit erstaunlichen Einsichten verbindet." SPACE VIEW – Das Sci-Fi-Magazin "Gerd Scherms ›Nomadengott‹ ist ein köstlicher Roman, fesselnd bis zur letzten Zeile und dabei so leicht zu lesen, dass die Zeit nicht nur rascher vergeht, sondern einem sogar um die Ohren fliegt!" Woche im Blick
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Seitenzahl: 274
Gerd Scherm
DER NOMADENGOTT
Fantasy 21
Gerd Scherm
DER NOMADENGOTT
Fantasy 21
Der Nomadengott im Internet:
www.nomadengott.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: November 2015
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Gerd Scherm & Friederike Gollwitzer
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi
Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda, Xlendi
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 042 9
Gerd Scherm
DER NOMADENGOTT
Prolog:
»Wo keine Götter sind, herrschen die Gespenster.«
Novalis
Wer schon entsprechende persönliche Erfahrungen mit Göttern sammeln konnte oder gar selbst einer ist, mag die folgenden Zeilen getrost überspringen. Allen anderen jedoch lege ich nahe, sich mit einigen Grundzügen vertraut zu machen.
Denn das Wesen und Wirken der Götter ist bei genauerer Betrachtung viel komplizierter, als man gemeinhin glauben mag.
Allein schon dieses »glauben mag« ist eminent wichtig. Wenn man zum Beispiel nicht glauben mag, tun sich Götter ungeheuer schwer, große Verbreitung und Anerkennung zu finden. Andererseits macht es einem Gott nicht viel aus, wenn man nicht an ihn glaubt. Bis man dran glauben muss.
Es ist ja auch der Hochspannungsleitung völlig egal, ob man an sie glaubt oder nicht. Für die Menschen ist es dennoch ratsam, ihre Existenz nicht infrage zu stellen.
Hier nun eine kurze Einführung in das Götterwesen und seine Entwicklung.
Es ist allgemein bekannt, dass Götter einen Wohnsitz haben. Ob nun im Olymp oder in Asgard, auf oder in der Sonne oder in einem hohlen Baum, Götter wohnen.
Und als man im Zuge der Rationalisierung den Monotheismus erfand, siedelte man diesen Ein-Gott im Himmel, im All, irgendwo in einem imaginären Oben an.
Doch von Haus aus sind Götter sehr häuslich und meist an eine geografische, keineswegs imaginäre Position gebunden. Dieser Wohnort steht auch ursächlich mit ihrer Wirkung und ihrem Wirkungsgrad in Zusammenhang. Wenn mehrere Götter an einem Ort leben, erhöht dies ihre Außenwirkung erheblich.
Die ganz natürlichen Konflikte einer Wohngemeinschaft bilden ein starkes Potenzial für Göttersagen, Tragödien und Paradoxa. Weltweit gibt es wohl keinen einzigen Götterhort, an dem nicht geschummelt, betrogen, gestohlen und gemeuchelt wird.
Und weil Götter an sich sehr schwer zu meucheln sind, nimmt man dafür ersatzweise am liebsten Menschen. Das sind dann die von den Göttern Auserwählten, die nie eine Chance bekommen, ein normales Leben mit Rentenanspruch zu Ende zu bringen.
Während im Altertum die Götter ihre Konflikte noch weitestgehend unter sich austrugen – man denke nur an Isis, Osiris und Seth – gingen die Götter der Antike mehr und mehr dazu über, menschliche Figuren in die göttliche Komödie einzubeziehen. Wobei die Lacher fast ausschließlich auf der Götterseite saßen. Die anderen empfanden das Spiel wohl mehr als Tragödie und fingen an, das Ganze in einem Akt kreativer Notwehr aufzuschreiben.
Sehr früh erkannten kluge Geister, dass beim ständigen Streit der Götter untereinander immer nur die Menschen den Kürzeren zogen und sie erfanden den Monotheismus.
Dabei unterlagen sie einem gewaltigen Trugschluss, weil sie dachten, dass damit das Problem aus der Welt sei. Zugegeben, der Ansatz war nicht ungeschickt, der Sache den Boden zu entziehen, indem man sagte: Es gibt nur einen von der Sorte, auf den wollen wir uns konzentrieren. Aber es funktionierte nicht!
Der Eine konnte doch nicht für alles verantwortlich sein, für Gut und Böse, Glück und Unglück, Aktienhoch und Börsencrash, Gehaltserhöhung und Mahnbescheid, Impotenz und Viagra, die Liebe und die Lottozahlen.
Auch wenn mancher göttliche Monolith schizophrene bis multiphrene Züge zeigt, einerseits befiehlt, »Du sollst nicht töten«, und andererseits den Totschlag aller Andersgläubigen fordert, oder An-Ihn-Gläubige einem haarsträubenden Testprogramm à la Hiob unterwirft, führt dieses Konzept zu erheblichem Erklärungsnotstand. Es musste ein Gegenspieler gefunden werden. Zwar kein anderer Gott, weil das ja nicht ins Konzept passt, aber doch kein Mensch, weil so ein Würmlein ja keine Chance hätte. Also erfand man den Teufel und der sorgte dafür, dass Gott bei der breiten Masse das Image des Guten bekam.
Dazu wurden verschiedene Spezialaufgaben an diverse Engel und Heilige delegiert, sodass man, ohne es zu merken, eine größere himmlische Wohngemeinschaft denn je aufbaute. Ebenso stattete man den Widerpart mit einer umfangreichen Gefolgschaft aus und das Feld für weitere Tragödien war bereitet. Eine neue Inszenierung mit den gleichen Verlierern.
Wo begegnet ein Mensch einem Gott?
Beim Gottesdienst oder beim Beischlaf.
Letzterer ist ein sehr heikles Kapitel in der Geschichte der Gott-Mensch-Beziehungen. Götter an und für sich sind Entitäten, sprich Daseinsformen, von unbestimmter Gestalt. Manchmal jedoch, um die Menschen zu erschrecken oder um ihren Spaß zu haben, materialisieren sie sich; in einem brennenden Dornbusch zum Beispiel oder in einem Schwan.
Während ein brennender Dornbusch sehr wenig beischlaftauglich ist, haben sich Tierformen in der Antike überaus bewährt. In manchen Fällen sollen Götter sogar menschliche Gestalt angenommen haben, um diese Spielart der Sexualität zu genießen. Egal ob Schwan, Stier oder Mensch, das Ergebnis war immer ein Halbgott. Wobei auffällt, dass es in der Überlieferung erstaunlich wenige Halbgöttinnen gibt.
Beim Monotheismus jedoch entspringt dieser Gott-Mensch-Beziehung kein Halbgott, sondern ein neuer Gott, der jedoch der alte ist. Auf die moraltheologischen Widersprüchlichkeiten einer solchen göttlichen Selbstreproduktion mittels externer Befruchtung möchte ich hier nicht eingehen.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass vor allem der monotheistische Widersacher sich in vielerlei Gestalt und häufig den Beischlaf erschleicht und so die teuflischen Heerscharen permanent durch Inkuben vermehrt. Diese sind dann verantwortlich für kopernikanische Weltbilder, Autobahnbaustellen während der Ferienzeit, den Erlass von Steuergesetzen, die Erfindung des Buchdrucks und die Entwicklung von Betriebssystemen wie Windows.
Können Götter träumen? Selbstverständlich, sie haben das Träumen sogar erfunden.
Weil sie alles erfunden haben. Auch den Kühlschrank und das Bungeeseil. Allerdings ist es die Aufgabe der Menschen, die Erfindungen für sich zu entdecken.
Ein wichtiges göttliches Instrument neuerer Zeit ist das Handy.
Es macht seinem Besitzer klar, dass er, wo immer er auch sein mag, von einer höheren Macht erfasst und angesprochen werden kann – beim Mittagessen, im Konzert oder beim Beischlaf (außer er führt ihn mit einem Gott aus, s. o.). Dabei sprechen auch hier die Götter nie selbst, sondern lassen sprechen. Das führt in der Praxis dazu, dass weder der Anrufer, noch der Angerufene weiß, warum das Telefonat stattfindet und welchen Zweck es hat, aber beide wissen, dass es ungeheuer wichtig ist.
Einzelne Götter verwenden neuerdings vermehrt die Handymethode, um ihre Schäflein direkt zu sich zu rufen, zum Beispiel durch einen Anruf bei zweihundert Stundenkilometer auf der Autobahn.
Der im Zusammenhang mit den Göttern wichtigste Begriff für die Menschen ist »Erlösung«. Wobei damit der Zustand gemeint ist, in dem man vor den Göttern endlich seine Ruhe hat. Wie diese erlöste Form des Daseins letztendlich aussieht, hängt von der Vorstellungskraft und den verwendeten Drogen des jeweiligen Propheten ab. Das Spektrum der Visionen reicht von der völligen Auflösung des Probanden in einem namenlosen Nichts bis zur Quartiernahme in einem paradiesischen Luxushotel, in dem leicht bis unbekleidete Damen Milch und Honig reichen. Augenfällig bei all diesen Erlösungen ist die Tatsache, dass sie häufig den Fantasien von Männermagazinen entsprechen. Es fällt auf, dass Frauen in den meisten Weltreligionen erlösungsmäßig kaum Berücksichtigung finden und entweder als himmlisches Servicepersonal gelten oder als Inventar der höllischen Regionen.
Wir befinden uns im Jahr 1500 vor unserer Zeitrechnung im ägyptischen Theben im dritten Jahr der Regentschaft des Pharao Ahmose, der allenfalls davon träumt, Begründer des Neuen Reiches und der 18. Dynastie zu werden.
Zum Leidwesen aller an dieser Geschichte Beteiligten ist Theben an diesem Tag noch nicht das große Theben, das es schon bald sein wird. Fast alle prachtvollen Tempel und Paläste existieren noch nicht einmal in der Fantasie noch nicht geborener Pharaonen. Schade, aber die Geschichte beginnt trotzdem jetzt im Zentrum des südlichen Oberägyptens, wo in erster Linie der Gott Amun das Sagen hat, gefolgt von weiteren Göttern und dem Pharao Ahmose. Wobei der Letztere sagt, was die zu tun haben, die keine Götter sind.
Eine dunkle, untersetzte Gestalt huschte durch die engen Gassen der Altstadt.
Trotz der schwülen, drückenden Augustnacht war die Gestalt von den Haarspitzen bis zu den Sandalen in Decken gehüllt. Der keuchende Schemen erreichte eine Tür und klopfte in einem komplizierten Rhythmus. Kurze Zeit darauf wurde von innen im gleichen Rhythmus mit Klopfzeichen geantwortet und danach erschien eine lange Nase im sich öffnenden Türspalt: »Parole?«
»Der Kopf trennt Himmel und Erde«, zischelte der Deckenberg.
»Wie viele Finger hat der Horusfalke?«, fragte die Nase.
»Keine, du Trottel, weil ein Falke keine Hände hat!«, entgegnete schon etwas lauter die dickleibige Mumie.
»Ich meine, wie viele Flügel hat der Horusfalke?«, entschuldigte sich die Nase.
»Einen im Westen und einen im Osten«, antwortete leicht ungeduldig der Ankömmling.
»Zu welcher Stunde setzt sich der Falke nieder?«, fragte die Nase ungerührt weiter.
»Zur achten? Zur neunten?«, kam zögernd die fragende Antwort.
»Falsch! Ich lass dich nicht rein«, tönte es triumphierend aus dem Türspalt.
»Zur zehnten? Zur elften? Zur zwölften? Verdammt, ich habe es vergessen! Lass mich jetzt endlich rein, Almak, du weißt genau, dass ich es bin, Raffim«, bettelte der Deckenberg.
»Ich wurde zum obersten Hüter des nilwärtigen Tores ernannt und mir wurde geheißen, nur denen Einlass zu gewähren, die sich den vorgeschriebenen Prüfungen erfolgreich unterzogen haben. Basta, du bleibst draußen, Raffim!«, tönte die Nase.
»Aaalmak! Ich werde dich meinen Krokodilen zum Fraß vorwerfen, wenn du mich nicht augenblicklich einlässt. Ich muss zur Versammlung, das weißt du ganz genau!«, kreischte der vor Zorn bebende Raffim.
In diesem Moment erschien im Haus gegenüber ein Kopf im Fenster und brüllte: »Ruhe, ich will schlafen!«
»Das hier geht dich überhaupt nichts an«, schrie Raffim zurück. »Wir sind eine Geheimgesellschaft!«
»Dann bleibt gefälligst geheim und haltet euer Maul!«, schnauzte der Fensterkopf zurück.
»Ich würde ja, aber Almak, der Trottel, lässt mich nicht zur Versammlung«, entgegnete der immer zorniger werdende Raffim.
»Almak, lass Raffim endlich zur Versammlung, damit ich schlafen kann. Wenn nicht, zeige ich eure ganze Geheimgesellschaft morgen bei der Verwaltung wegen nächtlicher Ruhestörung an!«, polterte der Kopf und zog sich ins Haus zurück.
»Siehst du, das hast du nun davon, Almak. Eines Tages wird er uns wirklich anzeigen. Jede Nacht das gleiche Theater«, brummte Raffim, während er sich durch den nun geöffneten Türspalt zwängte. Der Raum war nur spärlich beleuchtet. Sehr spärlich.
Drei schwindsüchtige Kerzen schienen in Form eines gleichseitigen Dreiecks zu schweben. Erst wenn sich die Augen an die schummrige Beleuchtung gewöhnt hatten, erkannte man, dass die Kerzen auf dünnen Spießen standen.
Rund um die Kerzenspieße kauerten einige Gestalten. Eine davon bewegte sich und sprach: »Na endlich, Raffim, musst du immer zu spät kommen?«
»Zuerst haben die Krokodile nicht weinen wollen und dann hat mich auch noch der Idiot an der Tür aufgehalten«, erwiderte harsch der Neuangekommene.
»Ach so, die Krokodile haben mal wieder nicht so geweint, wie du wolltest. Scheinen doch schlaue Viecher zu sein«, sagte die Gestalt.
»Geschäft ist Geschäft, Seshmosis, aber davon verstehst du Schreiberling ja nichts«, wehrte Raffim ab.
Hier muss unbedingt erwähnt werden, welches Geschäft Raffim betrieb: Er war Devotionalienhändler im Dienste des Krokodilgottes Suchos.
Besser gesagt, in eigenen Diensten, auf eigene Rechnung und auf eigenen Profit handelte Raffim mit allem, was im entferntesten mit dem Kult um Suchos zu tun hat.
Und das ist bei einem Mann mit dem Geschäftssinn von Raffim sehr viel.
Angefangen von Amuletten über kleine Statuen und vergilbten Krokodilzähnen bis zu Gürteln, Sandalen und Taschen. Dazu betrieb er einen Imbissstand mit Krokodilwurst, Krokodilmilch, Krokodilschnaps, Krokodilhackbällchen und geraspelten, mit Honig versetzten Krokodillederresten als Süßigkeiten.
Absoluter Verkaufsschlager waren jedoch seit Jahren Krokodilstränen, die Raffim unter nicht näher bekannten Umständen den Reptilien höchstpersönlich abtrotzte, trocknete und dann in Silber oder Gold fassen ließ und zu horrenden Preisen im Vorhof des Tempels verkaufte.
Wenn man den stiernackigen, pockennarbigen, untersetzten Dreizentnermann Raffim mit seinen Geieraugen sah, mochte man nicht mit den Krokodilen tauschen.
Man ahnte zumindest, wie er an die Tränen kam.
»Schon gut, lasst uns endlich anfangen. Wir sind vollzählig«, konstatierte der als Seshmosis Angesprochene und fuhr fort: »Ich habe eine Botschaft bekommen, die nichts Gutes verheißt. Hört mir zu: Ägypten den Ägyptern! Die Hyksos und ihre Abkömmlinge beherrschen unseren Handel.«
Eine Stimme aus dem Dunkel fragte: »Wer sind die Hyksos?«
»Wir!«, sagte Seshmosis und las weiter vor. »Sie essen nicht nur unser Brot, sie verkaufen es sogar an uns. Sie dienen fremden Göttern, und sie beten auch zu unseren Göttern, sodass diese keine Zeit mehr haben, unsere Gebete zu erhören. Sie treiben Handel mit den heiligen Gegenständen, hörst du, Raffim, das gilt dir!«, unterbrach Seshmosis.
»Die sollen erst mal versuchen, ein Krokodil zum Weinen zu bringen, bevor sie mitreden!«, empörte sich Raffim.
»Gut, weiter. Hier steht noch mehr: Die Hyksos haben schnellere Webstühle, sie umwerben unsere Frauen und bringen unseren Kindern Lesen und Schreiben bei. Schluss damit! Denn in Bälde werden sie sich nicht mehr scheuen, unsere Pyramiden und Gräber zu plündern, unsere Frauen zu schwängern und ihren eigenen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Kauft nicht bei Hyksos! Leiht euch kein Geld von Hyksos. Und wenn, dann zahlt es nicht zurück.«
»Das ist heftig. Ich meine, dass sie das Geld nicht zurückzahlen wollen«, schnaufte Raffim. »Wer hat das verfasst? Steht ein Name darunter?«
Nun näherte sich auch Elimas, der Ziegenhirte, mit einer der Schwebekerzen, um besser sehen zu können.
»Ja, da steht eine Hieroglyphe drunter: Sonne – Korb – Löwenkopf – zweimal Brot – Auge – Wedel – Krakel-S.«
»Zweimal Brot nach Löwenkopf?«, fragte eine Stimme aus dem Dunkel.
»Ja, zweimal«, sprach Elimas in die Finsternis.
»Und am Schluss Krakel-S?«
»Ja, am Schluss Krakel-S!«
»Dann ist es Ahmose persönlich, der Pharao. Ich habe sein Siegel oft genug im Bäderamt gesehen.«
»Ich weiß, dass es vom Pharao ist und deshalb ist es ernst, sehr ernst«, sagte Seshmosis mit leicht zitternder Stimme. »Wir müssen etwas unternehmen. Unter Ahmoses Vorgänger Kamose ging es uns schon fast an den Kragen und ich befürchte, jetzt wird es schlimmer kommen.«
»Aber warum sollten uns die Ägypter denn an den Kragen? Sie brauchen uns doch. Wir mahlen das Getreide, wir weben Stoffe, wir sorgen für Erfrischungen in den Bädern, wir schaffen den Müll weg, wir verkaufen ihnen heilige Gegenstände«, wandte Almak ein.
»So wird es auch bleiben. Bis auf das Verkaufen. Alles andere werden wir auch weiterhin tun dürfen – als Sklaven«, erwiderte Seshmosis sarkastisch.
»Geglaubt wird immer! In solchen Zeiten mehr denn je, ich habe keine Angst um mein Gewerbe!«, tönte Raffim in unerschütterlicher Überzeugung.
Seshmosis schüttelte nachdenklich den Kopf. »Geglaubt schon, Raffim, aber du wirst das Geschäft nicht mehr machen. Sie werden dich sicher nicht töten, weil sie dich brauchen. Keiner kann die heiligen Krokodile so gut zum Weinen bringen wie du, das wissen sie. Aber du wirst diesen Job als Sklave machen und für nichts, außer, dass sie dich am Leben lassen.«
»Ich könnte ihnen eine neue Statue des Suchos stiften, eine aus purem Gold! Sie werden mir dankbar sein.«
Doch Raffim schien nicht sehr überzeugt, als er diesen Vorschlag machte. Er wusste, dass sie, wenn sie wollten, auch anders an sein Gold kämen. »Was also sollen wir tun?«, fragte er.
»Wir werden abhauen. Und das möglichst unauffällig. Lasst uns morgen Abend um die gleiche Zeit darüber reden, ich muss noch nachdenken«, entschied Seshmosis.
Als sich fast alle durch die kleine Pforte in die nicht nur wegen der Schwüle drückende Augustnacht davonmachten, hielt Seshmosis Raffim an einer der Decken zurück.
»Sag mal, Raffim, wie schaffst du es eigentlich, heilige Krokodile zu Hack zu verarbeiten und andere Scheußlichkeiten an ihnen zu begehen, ohne dass dir die Priester an den Kragen gehen?«
»Alles eine Frage der Theologie«, antwortete Raffim und seine Geieraugen blitzten in der Dunkelheit, »alles eine Frage der Theologie.«
»Und wie drehst du es wirklich?« Seshmosis ließ nicht locker.
»Nun ja, es ist eine Frage der Auslegung. Der Krokodilgott Suchos manifestiert sich in einem Krokodil, das haben die Priester bewiesen. Dieses auserwählte Krokodil befindet sich immer im Zentrum des Tempels unter der Obhut der Priester. Ich habe mir nun gesagt, wenn Suchos in diesem Krokodil ist, kann er nicht gleichzeitig in all den anderen sein, die ohne priesterlichen Beistand im Nil plätschern. Ich hatte darüber einen längeren Disput mit dem Grünschillernden Großkophta und dem Goldgezähnten Hierophanten. Es war ein sehr konstruktives Gespräch. Sie wollten mir zuerst über die Bilokalisation an den Kragen, über die Potenz Suchos', gleichzeitig an mehreren Orten sein zu können. Das gab ich unumwunden zu und führte aus, dass Suchos ja wirklich in der Gestalt eines Krokodils sowohl in Theben, als auch in Karnak, in Memphis, als auch in Qurna wie auch in jedem anderen Suchos-Tempel Ägyptens gleichzeitig präsent ist. All diese erhöhten Krokodile sind Suchos, zugegeben. Aber wie sieht es mit den anderen aus? Mit denen, die gerade ohne priesterliche Gegenwart in der Sonne dösen, sich vermehren oder einen Fischer fressen? Wenn in ihnen Suchos wäre, müsste dann nicht bei jedem Krokodil von den unermesslichen Quellen des Nils bis zur Mündung ein Priester stehen? Und wenn nicht, was ist dann die Besonderheit der Krokodile in den Tempeln? Wenn in allen Krokodilen Suchos ist, was macht dann die Tempelkrokodile zu etwas Besonderem? Wenn aber nur die Tempelkrokodile etwas Besonderes sind, was spricht dann dagegen, die anderen Krokodile gottgefällig zu Hack und anderem zu verarbeiten?«, schloss Raffim mit einem Augenaufschlag, den man bei anderen Menschen als unschuldig bezeichnet hätte. Bei ihm sah es allerdings so aus, als würden sich zwei Falltüren im oberen Drittel seines Gesichtes öffnen.
»Und dieser Argumentation sind der Grünschillernde Großkophta und der Goldgezähnte Hierophant gefolgt?«, staunte Seshmosis.
»Ja, und meinen anderen Argumenten auch«, nickte Raffim.
»Welche anderen Argumente?«
»Kleine rechteckige und runde. Goldfarben. Durch und durch goldfarben«, grinste Raffim.
»Ich verstehe. Du warst theologisch absolut überzeugend.«
»Absolut!«, bekräftigte der Devotionalienhändler.
»Lass uns nach Hause gehen. Wir haben eine schwere Zeit vor uns«, sagte Seshmosis mit leiser Stimme und ging durch die Pforte.
Seshmosis wollte und konnte noch nicht nach Hause zurückkehren. Gleich nach Verlassen des Versammlungsortes wandte er sich nach Westen und ging zum nahen Ufer des Nils. Raffims Erwerbsquellen hatten sich längst in den Schlamm verkrochen und der Fluss wälzte sich träge nordwärts. Die ganze Stadt schien zu schlafen.
Seshmosis setzte sich ans dunkle Wasser und hoffte, dass die stetige Bewegung auch seine eigenen Gedanken in Bewegung bringen würde.
Trotz der Abwesenheit der ihm verhassten Krokodile war es für ihn eine schreckliche Nacht. Alles war schrecklich – schrecklich schicksalsträchtig, schrecklich wichtig, schrecklich bedeutend. Und die Stechmücken, die als Einzige außer ihm noch wachten, waren auch schrecklich.
Seshmosis seufzte. Ohne es zu wollen, hatte er Verantwortung übernommen. Dabei war er, wie sein Name schon sagte, einfach der Sohn eines Schreibers, der auch Schreiber war. Manche nannten ihn auch, ob seines Wissens, Ben Milon, den Sohn eines Wörterbuchs. Na ja, es gab Schlimmeres.
Er war, wie gesagt, Schreiber und kein Politiker. Es behagte ihm überhaupt nicht, dass die anderen von ihm Ratschläge und Entscheidungen verlangten. Er war bisher immer einer gewesen, der aufgeschrieben hatte, was geschehen war, nicht einer, der sagte, was geschehen soll.
Nun aber war alles anders. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Umstände.
Er wusste, dass die Zeit seines Volkes, der Hyksos, der Fremden, in Ägypten vorbei war. Dabei gab es die Hyksos gar nicht. Das ägyptische Hekau Chasut, was eigentlich»Herrscher der Fremdländer« bedeutet, war lediglich ein Sammelbegriff für alle, die vor Generationen von Osten her aus der Wüste in das Land am Nil gekommen waren, um in einem fruchtbareren Land ihr Glück zu machen.
Nun, sie hatten sich dabei nicht nur auf das Glück des fruchtbaren Bodens verlassen und ein wenig nachgeholfen, indem sie die schwachen Pharaonen und Kleinkönige besiegten und unterwarfen. Jeder ist seines Glückes Schmied und manchmal werden eben Schwerter geschmiedet. Das war so und wird wohl immer so bleiben.
Aber nun wurde es eng. Vor nicht einmal zehn Jahren war Theben, sein Theben, der Ausgangspunkt für die Wende. Ein junger, stolzer Pharao, Seqenenre, den der Hyksoskönig Apophis lediglich als Marionette der Landesgeschichte betrachtete, hatte aufbegehrt, war erschlagen worden und sein Tod war ein Fanal, der schreckliche Anfang von einem schrecklichen Ende. Sein Nachfolger Kamose rächte ihn bitterlich und der jetzige Pharao Ahmose setzte die Politik aus seiner Sicht erfolgreich fort.
Seshmosis fühlte sich nicht als Hyksos, als Fremder. Er war hier geboren und aufgewachsen. Dabei war er nie weit weggereist. Und sobald er den Geruch des Nils nicht mehr in der Nase spürte, bekam er Heimweh. Aber daran würde er sich wohl gewöhnen müssen.
Im Norden gab es starke Hyksosführer, da gab es Leute, die sich als Stamm oder gar als Volk fühlten. Die Thebener Hyksos fühlten sich als Thebener, als Weber und Devotionalienhändler, als Bademeister und Müller, als Lehrer und Handwerker, als Statuenputzer und Schreiber. Keiner von ihnen beherrschte einen Ägypter. Keiner, außer Raffim, der einige Ägypter in seiner Krokodilverwertung beschäftigte.
Die Hyksos von Theben waren in Generationen längst Thebener geworden.
Aber das zählte nicht mehr. Die Zeit der Vernunft war verstrichen, die Emotionen und der Hass dominierten, die Argumente waren schon längst von den Parolen abgelöst.
Seshmosis seufzte tief.
Morgen musste er eine Entscheidung treffen und er musste die anderen von seiner Entscheidung überzeugen.
Seshmosis irrte, als er dachte, er und eine Million Stechmücken wären die einzigen Lebewesen in Theben, die in dieser Nacht nicht schliefen.
Wenige Kilometer weiter nordöstlich herrschte rege Geschäftigkeit. In einem Palast minderer Bedeutung und Pracht, der höchstens achthundert Sklaven das Leben gekostet hatte, tagten Politiker und Priester, was im Prinzip ein und dasselbe war.
Kamoses, der regionale Statthalter des Pharaos, versammelte in dieser Nacht den Großen Rat zu einer äußerst wichtigen Besprechung.
Da saßen nun alle, die in Theben Rang und Namen hatten. Der Grünschillerende Großkophta des Suchos, der Goldgezähnte Hierophant, der Gefiederte Speer des Month, die Empfangende Tochter der Isis, der Einäugige Wächter des Horus, die Schlafende Buhlin der Nut, der Scharfrichter der Mafdet, der Höchste Hohepriester des Amun, die Silberklaue des Seth, die Dreibrüstige Dienerin der minderen Triebgötter, der Heilige Schakal des Anubis, die Löwenmähnige Priesterin der Bastet, der Dunkellord der Ammit, der Großanonymus der Namenlosen Götter, der Oberste Zwerg des Bes, das Geliebte Kind des Chons, der Bändiger der niederen Dämonen, die Tanzende Kuh der Hathor, der Schreiber des Thot, der Kommandant der Stadtwache, der Kommandant der Tempelwache, der Kommandant der Palastwache, der Oberste Steuereintreiber, der Oberste Einbalsamierer, die Großvertreterin der nichtgöttlichen Dirnen, der Sprecher der freien Händler, der Verleiher inländischer Währungen, der Verleiher ausländischer Währungen, der Vorsitzende des städtischen Sklavenamtes und der Besitzer der Badehäuser.
»Ehr-, groß- und hochwürdigste Anwesende! Ich freue mich, dass ihr alle in dieser Stunde meiner Einladung gefolgt seid. Wisset, dass unser großer Pharao Ahmose mich, Kamoses, beauftragt hat, das weitere Vorgehen gegen die Hyksos in unserer geliebten Stadt Theben zu koordinieren. Es wäre schädlich und schändlich, wenn ein jeder für sich eigennützige Ziele verfolgen würde. Bei allem berechtigten Zorn auf die Fremden dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei ihnen um eine volkswirtschaftlich eminent wichtige Gruppe handelt. Ein überstürztes Handeln würde uns mehr Schaden zufügen als Nutzen. Deshalb muss ich in aller Schärfe die Vorgänge, die mir zu Ohren gekommen sind, verurteilen.
In manchen Tempeln, namentlich solchen mit gehörnten Gottheiten, soll es zu Übergriffen gekommen sein. Glaubt mir, auch ich würde diese Bastarde lieber heute als morgen in den Steinbrüchen des Pharaos schwitzen sehen, aber die Zeit verlangt von uns Opfer. Also haltet euch gefälligst zurück, meine liebe Tanzende Kuh der Hathor! Es ziemt sich nicht, andersgläubigen Tempelbesuchern bei lebendigem Leib die Därme zu entnehmen und damit die Altäre zu schmücken! Zumindest solange nicht, bis ich es ausdrücklich angeordnet habe.
Höret nun gut zu! Dass es Ihm, dem großen Pharao Ahmose, und Mir, seinem Statthalter Kamoses, und dem Ratschluss aller Götter Unter- und Oberägyptens nicht gefällt, dass ihr auf eigene Faust und mit eigenem Schwert handelt. Lasst das, bis ihr nicht die ausdrückliche Anweisung dazu habt! Sonst könnte es sein, dass der eine oder andere Tempel wegen Renovierung geschlossen werden muss. Verstanden?
So, das war der offizielle Teil des Abends. Ihr wollt doch nicht, dass wir hier Schwierigkeiten mit der hohen Politik bekommen, oder?
Merkt euch, Schwierigkeiten sind schlecht fürs Geschäft. Lassen wir Ahmose im Norden seinen Feldzug zur Reichssicherheit machen und pflegen wir die Genüsse der Sicherheit in Theben.
Sag mal, meine liebe Großvertreterin der nichtgöttlichen Dirnen, hast du nicht zufällig einige deiner Expertinnen für interkonfessionelle Toleranz mitgebracht?«
Das war das Startsignal für den ausschweifenden Rest einer Nacht, von der Seshmosis glaubte, dass sie allein ihm und seinen Sorgen geweiht war.
Ungeachtet der Sorgen und Nöte der Hyksos schob der Skarabäus Chepre, der heilige Käfer, auch an diesem Morgen die Sonne über den Horizont.
Obwohl man Harachte, dem Gott der Morgensonne, keinen Tempel in Theben errichtet hatte, gefiel es ihm in seiner göttlichen Großzügigkeit über dieses Manko in der Stadtplanung hinwegzusehen und goldene Strahlen zwischen die Gassen zu schicken, von wo sie sich durch die Häuser schnell bis zum Nil schlängelten, um von dort direkt in das Gesicht des Gottes zurückgeworfen zu werden.
Raffim war von seiner Konstitution her eigentlich für ein Leben in diesem Teil der Welt völlig ungeeignet. Er bekam schon bei Vollmond Schweißausbrüche und triefte ab Sonnenaufgang bis in die Abendstunden wie ein Flusspferd, das gerade aus dem Nil stapfte. Er saß in seinem Repräsentationsraum und schwitzte ungefähr einen Liter pro Minute. Dies lag aber keinesfalls an der Raumtemperatur, die man eher als angenehm kühl betrachten konnte, sondern an seinen beiden Gesprächspartnern, dem Goldgezähnten Hierophanten und dem Scharfrichter der Mafdet. Vor allem die beeindruckenden Amtsinsignien des Scharfrichters machten Raffim nervös: eine lange, oben gebogene Stange mit einem weit herausragenden Messer daran.
Es war nicht die Kraft des Symbols, die Raffim Furcht einflößte, es war vor allem das Wissen, dass dieser Stab häufig auch ganz praktisch eingesetzt wurde – als Hinrichtungsgerät.
Bei seiner Suche nach weiteren Betätigungsfeldern in seinem Geschäft besuchte Raffim immer wieder auch andere Tempel als die des Suchos und konnte sich mit eigenen Augen von den würdevollen Ritualen der Göttin Mafdet überzeugen. Allerdings war, bei aller Würde, der Ausgang des Rituals für mindestens einen Beteiligten äußerst unangenehm. Genau dieses unangenehme Gefühl beschlich Raffim, wenn er nun seine morgendlichen Gäste sah.
Er konnte sich kaum auf das Gesagte konzentrieren und verlor immer wieder den Gesprächsfaden.
»Wie gesagt, Raffim, wir haben nichts gegen dich persönlich, überhaupt nichts. Eher im Gegenteil. Du bist ein treuer Diener Suchos, du zahlst Steuern, wobei du sicher einiges unterschlägst, aber das tut jeder. Dank deiner gibt es in Theben einen florierenden Suchos-Kult, der auch Gläubige aus anderen Städten zu uns bringt, die im Tempel opfern und Geld in der Stadt lassen.«
Wohlgefällig blickte der Goldgezähnte Hierophant auf das schwitzende Bündel Angst jenseits des großen Marmortisches. Es war die Wohlgefälligkeit, mit der eine große Spinne auf eine fette Fliege blickt.
»Du brauchst dir keine Sorgen machen. Erst letzte Nacht sagte ich zum Statthalter, der Raffim ist in Ordnung. Das ist keiner von den üblichen Hyksos, die immer nur Ärger machen. Raffim hat Verständnis für unsere Kultur.«
Raffim war irritiert. Er ahnte, dass etwas Ungeheures, Schlimmes und Kostenintensives auf ihn zukommen würde. Er beschloss, vorerst abzuwarten.
Während der Scharfrichter der Mafdet weiter schwieg und nichts anderes tat, als seinen Stab zu umklammern, fuhr der Goldgezähnte Hierophant fort: »Wir verlangen nicht viel von dir, Raffim. Es ist auch kein Verrat, sondern ein Beitrag zur inneren Sicherheit. Wir wissen, dass ihr euch in Geheimgesellschaften trefft, bei Kerzenschein im Dreieck springt und dabei in eurer alten Sprache redet. Die Treffen, die Kerzen und das Springen sind uns egal, wir wollen nur wissen, was ihr sprecht!«
Das letzte Wort kam wie ein Peitschenhieb, den Raffim von seinen Krokodilstränen-Gewinnungsaktionen sehr gut kannte.
Warum fiel gerade in diesem Moment sein Blick auf die Hand des Scharfrichters, der seinen Stab so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß waren wie die Linnen einer Mumie? Raffim wand sich innerlich und äußerlich.
»Hochwürdigster, Ihr wisst, dass ich ein treuer Diener von Suchos bin, ein ebenso treu ergebener Bürger der Stadt Theben und leider auch ein nichtswürdiger Hyksos.
Diese Treffen sind rein folkloristischer Natur und keineswegs subversiv. Wir haben sogar aufgehört, unsere Shofarhörner zu blasen, nachdem sich Kaf’nkhter von gegenüber bei der Stadtwache wegen nächtlicher Ruhestörung beklagt hatte.«
»So, so, Folklore also? Und warum im Schutze der Nacht?«, fragte der Hierophant lauernd.
»Nun, Hochwürdigster, wir müssen tagsüber alle arbeiten«, stammelte Raffim so ehrlich, dass selbst der Priester überrascht war.
»Ihr sprecht wirklich nicht über Politik? Ihr schmiedet keine Pläne, wie ihr die Stadt in eure Gewalt bringen könnt?«, schlug er nun einen Verhörton an.
»Politik? Gewalt über die Stadt? Hochwürdigster, wer sind wir denn, uns mit solchen Dingen zu beschäftigen? Seht, ich bin froh, wenn meine Geschäfte gut gehen und die anderen sind auch froh, wenn sie ihr Auskommen haben. Außer Seshmosis vielleicht, weil der kein richtiges Einkommen hat«, antwortete Raffim nun mit Unschuldsmiene. Er begriff langsam, worauf seine beiden Besucher hinaus wollten. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
»Nun gut, ich glaube dir, Raffim. Vorerst. Aber sei sicher, wir werden euch im Auge behalten. Und sollte sich an euren Heimattreffen etwas ändern, so wirst du unaufgefordert zu mir kommen und mir davon berichten. Du wirst es nicht vergessen?«
»Sicher. Auf jeden Fall. Unaufgefordert. Sofort. Umgehend. Selbstverständlich, Hochwürdigster. Sofort«, Raffim begleitete jedes Wort mit einer tiefen Verbeugung.
»Dann ist es ja gut, Krokodilmann. Wir verlassen uns auf dich!«, sprach der Goldgezähnte Hierophant und verließ ohne weiteren Blick auf Raffim den Raum. Lautlos, wie in der gesamten Begegnung, folgte ihm der Scharfrichter der Mafdet.
Der Tag in Theben war wie fast alle anderen Augusttage in Theben verlaufen, langsam, träge und unspektakulär. Einige Hyksos dankten den Göttern, dass es nicht zu einem Pogrom gekommen war, dass ihre Kunden weiter bei ihnen kauften, dass ihr Dienstherr sie nicht im Rausch erschlug, dass ihre Dienstherrin sie im Rausch verführte, dass ihre eigenen Dienstboten keinen Rausch hatten und dass alles in allem alles wie immer war.
Atum, der Herr der Abendsonne, kreierte an diesem Tag einen besonders stimmungsvollen Sonnenuntergang, der siebenundvierzig Liebeserklärungen und acht Heiratsanträge zur Folge hatte. Der widderköpfige Gott Chnum, ebenfalls für die Abendsonne zuständig, ließ seinem Kollegen heute den Vortritt. Er arbeitete gerade an einem Sonnenuntergangsexemplar von etwas größerer Bedeutung und Tragweite.
Sein Konzept war schon sehr ausgereift, nur die einzelnen Details des Spektakels wollten sich noch nicht recht ineinanderfügen. Auf jeden Fall wusste Chnum, dass die Farbschattierungen Blutrot, Blutrot und Blutrot eine wesentliche Rolle spielen sollten.
Die Sterne zogen auf und die Göttin Nut hob wie jede Nacht die Mondbarke in den Himmel. Es war die Stunde in der die Schlafende Buhlin der Nut ihr Ritual im Tempel zelebrierte, derweil die göttliche Spitzmaus, m’m-Tier genannt, im Keller des Tempels wie jede Nacht die Sonne restaurierte und polierte. Morgen früh, kurz vor Sonnenaufgang, würde sie damit fertig sein, wie jede Nacht, und dann die Sonnenkugel dem heiligen Käfer Chepre übergeben, der sie auf Geheiß des Gottes der Morgensonne Harachte wie jeden Tag über den Horizont rollen würde.
Es war ein komplexes System von Zuständigkeiten, Kompetenzen und Arbeitsaufgaben, in dem jeder und jede nach seinen Fähigkeiten eingesetzt wurde.
Die Spitzmaus pflegte die Sonne, der Käfer rollte die Sonne und die Götter sagten, wann und wohin.
Die Spitzmaus begann gerade ihr Nachtwerk, ärgerte sich wie jede Nacht ein wenig darüber, immer noch keinen göttlichen Namen zu haben, sondern nur m’m-Tier zu heißen, als Raffim durch eine wohlbekannte Gasse hastete, wissend, wieder einmal zu spät zu kommen.
Almak, der Türwächter mit der langen Nase, lauerte schon auf Raffims Ankunft.
Nach Klopfzeichen und Gegenklopfzeichen öffnete er die Tür einen Spalt und fragte hämisch: »Parole?«
»Der Kopf trennt Himmel und Erde. Und wenn du mich nicht sofort und ohne Gequatsche einlässt, trenne ich deinen Kopf von Himmel und Erde, du Zähmer von Blutegeln«, herrschte ihn Raffim an, schmiss die Tür auf und trat in den Raum.
»Aua!«, schrie Almak und hielt sich die rot anlaufende Zierde seines Gesichtes.
Seshmosis schüttelte den Kopf und sah Raffim fragend an, »Schlechte Geschäfte? Lachen dich die Krokodile aus?«
»Nein, keines von beiden. Die Geschäfte gehen gut und die Krokodile weinen zum Steinerweichen«, schnauzte Raffim zurück. »Nur dass ich heute Besuch von zwei Gästen hatte, gegen die Krokodile Schmusetierchen sind. Der Goldgezähnte Hierophant und der Scharfrichter der Mafdet gaben mir die zweifelhafte Ehre ihres Besuchs.«
»Hast du schlechte Ware geliefert?«, fragte Aram, der Bademeister.
»Nein. Wir waren der Gegenstand ihres Interesses. Wir alle, du, du, du und du!« Raffim stocherte mit dem Zeigefinger in Richtung der dunklen Schemen im Raum. »Sie wollen wissen, was wir treiben, zu welchem Zweck wir uns versammeln und vor allem, worüber wir reden.«
»Und? Hast du es ihnen gesagt?«, kam es lauernd aus einer Ecke.
»Natürlich! Ich habe ihnen alles erzählt, alles. Dass wir im Dreieck springen, dass man hier die Hand nicht vor den Augen sieht, dass wir nicht mehr die Shofarhörner blasen und in der alten Sprache sprechen. Nur nicht, worüber«, grinste Raffim. »Aber ich sage euch, es wird ernst!«
»Es ist egal. Ich habe einen Plan«, unterbrach ihn Seshmosis.
In diesem Augenblick kreisten mehr Fragezeichen im Raum als Stechmücken.
»Willst du einen Aufstand machen?«
»Wann sollen wir zuschlagen?«
»Sollen wir die Stadt anzünden?«
»Plündern wir die Tempel?«
»Schänden wir die nichtgöttlichen Dirnen?«
»Schlachten wir die heiligen Krokodile?«
»Pfählen wir die Tanzende Kuh der Hathor?«
»Bestechen wir den Statthalter?«
»Erhöhen wir die Brotpreise?«
»Vergiften wir das Badewasser?«
»Machen wir eine Rechtschreibreform?«
»Beten wir die minderen Triebgötter an?«
»Entführen wir den Obersten Zwerg des Bes?«
»Machen wir einen Bummelstreik?«
»Befreien wir die Sklaven?«
»Blasen wir wieder nachts die Shofarhörner?«
»Nein. Nein! NEIN!!!«
»Nein?«, echote es vielstimmig.
»Nein. Ihr seid Trottel! Wenn ihr einen Aufstand macht, bringt ihr euch selber um. Wenn ihr die Stadt anzündet, verbrennt ihr eure eigenen Geschäfte. Wenn ihr die Tempel plündert, seid ihr im nächsten Ritual Hauptdarsteller. Wenn ihr die nichtgöttlichen Dirnen schändet, müsst ihr den doppelten Preis bezahlen. Wenn ihr die heiligen Krokodile schlachtet, schlachtet euch Raffim. Wenn ihr die Tanzende Kuh der Hathor pfählt, wird sie euch auf die Hörner nehmen. Wenn ihr den Statthalter bestecht, werdet ihr arm, erreicht aber gar nichts. Wenn ihr die Brotpreise erhöht, merkt das keiner, weil ihr das sowieso dauernd macht. Wenn ihr das Badewasser vergiftet, verliert ihr eure Arbeit. Wenn ihr eine Rechtschreibreform macht, leidet nur einer wirklich darunter, nämlich ich, ihr Analphabeten. Wenn ihr zu den minderen Triebgöttern betet, hören sie am Ende auf euch und ihr vermehrt euch wie die Stechmücken. Wenn ihr den Obersten Zwerg des Bes entführt, wird er euch die Haare vom Kopf fressen, zumindest wenn ihr euch bückt. Wenn ihr einen Bummelstreik machen wollt, müsstet ihr euer Arbeitstempo erhöhen. Wenn ihr die Sklaven befreit, müsst ihr deren Arbeit machen. Und wenn ihr wieder nachts die Shofarhörner blast, wird euch Kaf'nkhter persönlich die Haut abziehen. Nein! Nichts von all dem bringt uns auch nur einen Schritt weiter. Wir müssen taktisch und klug vorgehen. Aber wie ich euch kenne, könnt ihr euch darunter nichts vorstellen.«
Seshmosis lehnte sich erschöpft zurück.
»Was sollen wir tun?«, fragte Almak, der Türwächter, wobei er sich immer noch die rote, dick geschwollene Nase hielt und seine Worte wie »wöässöälläwituän« klangen.
»Wir brauchen eine neue Identität«, sagte Seshmosis triumphierend. »Wir brauchen einen neuen Namen.«
»Aber wir haben doch alle Namen?«, wandte zaghaft Aram, der Bademeister, ein.
»Oder meinst du, wir sollen uns Geheimnamen geben, so wie Krokodiltöter, Luftherr, Unterweltfeuer oder so?«, fragte Shamir, der Bäcker, der ein hoffnungsloser Romantiker war.
Seshmosis seufzte. »Behaltet eure Namen oder gebt euch neue, das ist mir völlig egal. Wir brauchen einen neuen Namen für uns alle, für uns! Statt Hyksos brauchen wir einen anderen Namen. Und ich habe auch schon einen: Tajarim!«
»Tajarim?«, echote es aus allen Ecken des Raumes.
»Ja, Tajarim. Das ist aus unserer alten Sprache und bedeutet soviel wie Menschen, die von zu Hause weg sind, in ferne Länder ziehen und gerne woanders sind«, erklärte Seshmosis.
»Du meinst, Tajarim sind Touristen?«, kam es vorsichtig von Raffim.
»So könnte man es sagen, aber Tajarim klingt einfach besser«, nickte Seshmosis zustimmend.
Und dann erklärte ihnen der Schreiber seinen Plan.
Seshmosis sah sich in seinem Zimmer um. Es waren die ersten Blicke des Abschieds.
Das also war sein Lebensraum, das Zentrum seines Seins und nun würde er es bald verlassen. Verlassen müssen, denn er wäre liebend gerne geblieben.
Im Zimmer nebenan wurde er vor achtundzwanzig Jahren geboren, dort war er aufgewachsen und dann war er im Alter von zwölf Jahren in diesen Raum gewechselt, um bei seinem Vater Sesh in die Lehre zu gehen. So wurde Seshmosis, der Sohn des Schreibers Sesh auch ein Schreiber, was sonst?