Schamanenkind - Gerd Scherm - E-Book

Schamanenkind E-Book

Gerd Scherm

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der 12-jährige Falko lebt nach dem Tod seiner Eltern bei seiner Tante in einem kleinen Dorf. Die Ferien haben gerade begonnen und versprechen eigentlich nur eines: Jede Menge Zeit und wahrscheinlich eine gehörige Portion Langeweile.  Doch dann begegnet er Magnus, einem etwas kauzigen Einsiedler, und freundet sich langsam mit ihm an. Falko erfährt, dass Magnus eine Menge über die Natur und die indianische Lebensart weiß. Mit seiner Hilfe beginnt er, in einer nicht alltäglichen Wirklichkeit herumzustreifen, die Natur anders zu verstehen und sich mitten im größten Abenteuer seines Lebens wiederzufinden. Und Falko findet Heilung von seiner tiefen Trauer.  Eine liebevolle und spannende Einführung in die Welt des Schamanismus, nicht nur für Kinder und Jugendliche.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 178

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerd Scherm

SCHAMANENKIND

Fantasy 27

Gerd Scherm

SCHAMANENKIND

Fantasy 27

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2016

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Gerd Scherm, Friederike Gollwitzer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 045 0

Vorwort

Im Jahr 2002 kam mein Freund Dr. P. Günter Strauss mit einem ungewöhnlichen Anliegen zu mir. »Könntest du dir vorstellen, in einem Buch Kindern und Jugendlichen den Schamanismus näher zu bringen?«, fragte er und ich gestehe, ich konnte es mir nicht vorstellen. Wie sollte ich etwas erklären, was man nur durch persönliche Erfahrung erfassen kann? Der Schamanismus ist ja kein mechanisches System, in dem man auf einen Knopf drückt und dann geschieht dieses oder jenes. Es gibt auch keinen Guru, der immer recht hat; es gibt nur Lehrer, die einem helfen, die eigenen Wege zu finden.

Etwa ein Jahr später besuchte mich Dr. Strauss in unserem alten Fachwerkgehöft auf der Frankenhöhe. Er erzählte mir vom »Freundeskreis Indianerhilfe e. V.«, einer Initiative von Ärzten, die sich medizinischen und sozialen Projekten für die Amazonas-Indianer widmen. So wie diese engagierten Menschen Wissen und Erfahrungen nach Südamerika bringen, sollte das geplante Buch quasi im Austausch schamanische Erfahrungen hierher bringen.

Nach einigen Tagen intensiver Gespräche hatte mein Freund mich überzeugt. Ich wollte das Wagnis eingehen, meine schamanischen Erfahrungen in einer für mich völlig neuen Form zu artikulieren. Wichtig war für mich, meine Geschichte nicht am Amazonas, den Black Hills, in Sibirien oder einem anderen »exotischen« Gebiet anzusiedeln, sondern bei uns in der westlichen Zivilisation der Gegenwart. Die Handlung findet in einem Dorf statt, das dem meinen auf der Frankenhöhe nicht unähnlich ist. Damit will ich aufzeigen, dass der Schamanismus kein Phänomen ist, das sich auf die sogenannten Naturvölker oder Stammesgesellschaften in fernen Urwäldern oder Steppen beschränkt, sondern im Hier und Heute praktiziert werden kann.

Die Erstauflage meines Romans »Schamanenkind« erschien 2004 und ist seit etlichen Jahren vergriffen. Immer wieder wurde ich nach diesem Buch gefragt und ich freue mich, dass es nun mit dieser Neuauflage den Lesern erneut zugänglich gemacht wird.

Gerd Scherm

Schamanenkind

Die rotbraun schimmernde Eidechse lag starr im prallen Sonnenschein. Falko hatte sich bis auf wenige Zentimeter an den Miniaturdrachen herangerobbt und konnte ihm fast in die Augen sehen. Die Begegnung mit der Echse war das Aufregendste der letzten drei Tage, die gleichzeitig die ersten Ferientage waren. Falko überlegte, ob ihm diese Ferien wohl überhaupt noch etwas zu bieten haben würden. So wie es aussah, lagen vor ihm sechs öde, langweilige Wochen.

Seit dem Unfalltod seiner Eltern vor fast genau einem Jahr lebte Falko bei seiner Tante hier in diesem kleinen Dorf am Fluss. Er hatte diesen Bruch in seinem Leben immer noch nicht richtig verarbeitet. Der Tod der Eltern, der Umzug von der Stadt aufs Land, die neue Schule, der Verlust der alten Schulkameraden. Falko war zwölf Jahre alt und ziemlich einsam.

Plötzlich schnellte die Eidechse um ihre eigene Achse und verschwand in einem Erdloch. Etwas hatte sie erschreckt und Falko war sich sicher, dass nicht er die Ursache war. Er blickte um sich, konnte aber nichts entdecken. Dann schaute er nach oben. Dort kreiste, nicht weit über ihm, ein Raubvogel. Falko hatte keine Ahnung, ob es ein Bussard oder ein Habicht war. Ein Falke war es mit Sicherheit nicht, Falken waren kleiner, das wusste er. Wegen seines Namens hatte er sich ein bisschen mit diesen Vögeln beschäftigt und er besaß auch ein Buch über sie. Ansonsten konnte er als Stadtkind lediglich den Adler ausschließen, von dem er wusste, dass er viel größer war und es ihn hier in der Gegend mit Sicherheit nicht gab. Der Vogel schien sich für ihn zu interessieren. Falko dachte angestrengt nach, ob solche Raubvögel auch Menschen angreifen würden, kam aber zu dem Schluss, dass dies höchstens Adler oder Geier tun. Das beruhigte ihn und die aufkeimende Angst verschwand. Der Vogel schwebte noch etwas tiefer und war nur noch etwa drei Meter über seinem Kopf. Dann drehte er ab und flog zum Fluss. Das Ufer war dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen, ein ideales Gelände für Enten, Bisamratten, Fischotter und Biber, die er hier schon voriges Jahr beobachten konnte. Der Raubvogel verschwand im hohen Buschwerk, nicht weit von ihm. Falko fixierte mit seinem Blick das Gelände, in der Hoffnung, dass der Beutegreifer sich bald wieder daraus erheben würde. Plötzlich kam Bewegung in die Äste und Blätter, es knackte und raschelte, als würde sich etwas Großes darin aufhalten. Etwas sehr Großes.

Dann teilten sich die Äste und ein Mann kam zum Vorschein. Falko staunte mit offenem Mund.

›Wo kommt der denn auf einmal her?‹, dachte sich Falko. Er kannte den Mann, es war Magnus aus dem Dorf.

Kennen war eigentlich zu viel gesagt. Er wusste, dass es Magnus gab und dass er im Dorf wohnte, mehr aber auch nicht. Schon damals, als er mit seinen Eltern die Tante im Dorf zweimal jährlich besucht hatte, war ihm der Mann aufgefallen. Falko hielt ihn für einen komischen Kauz, der so ganz anders war als die anderen Dörfler. Die waren entweder Bauern oder Nebenerwerbslandwirte, wie man die Leute nannte, bei denen noch ein paar Kühe oder Schweine im Stall standen und die ein paar Äcker und Wiesen bewirtschafteten. Viele von denen waren inzwischen auch als Vermieter von Zimmern und Ferienwohnungen erfolgreich und boten »Ferien auf dem Bauernhof« für Stadteltern mit Stadtkindern an. Die durften dann Ponys reiten und Ziegen streicheln, Hühner füttern und mit kleinen Hasen schmusen, in Scheunen toben und auch im Heu schlafen.

Aber Magnus war anders. Falko besaß zwar keine Ahnung, wieso und warum, aber er spürte es. Und dieser Magnus kam jetzt aus dem Gebüsch auf ihn zu, in dem vorher der Raubvogel gelandet war.

Falkos Staunen und Verwunderung wichen einer zunehmenden Angst. Was wollte der Mann von ihm? Und wo kam er eigentlich her? Natürlich aus dem Gebüsch, aber wieso? War er die ganze Zeit dort gewesen? Dann musste er schon eine Stunde darin gesessen haben, denn so lange beobachtete Falko schon die Eidechsen auf dem kleinen Sonnenhügel der Wiese.

»Hallo, Falko«, sagte der Mann.

»Hallo«, erwiderte Falko leise, der immer noch auf dem Boden saß und zum überraschenden Ankömmling emporblickte.

»Ein schöner Platz, der kleine Hügel«, stellte Magnus fest. »Ich bin früher auch oft hier gesessen.«

»Es gibt hier eine Menge Eidechsen«, antwortete Falko unsicher.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Magnus und nahm, ohne eine Antwort abzuwarten, neben Falko Platz. Dann saßen beide schweigend nebeneinander.

Nach einer Weile fragte Magnus: »Bist du überhaupt nicht neugierig?«

»Worauf?«

»Woher ich auf einmal komme. Und was ich dort im Gebüsch gemacht habe.«

»Schon«, gab Falko zu, ohne jedoch weiter nachzufragen. Er traute sich einfach nicht. Er konnte die Situation nicht einschätzen, wusste nicht, was der andere von ihm wollte.

»Ich habe dich beobachtet.« Magnus’ Feststellung brachte Falko fast aus der Fassung. Warum beobachtete ihn dieser Mann? War er einer von dieser Sorte, vor der seine Eltern ihn immer gewarnt hatten? Falko wusste, dass es Männer gab, die auf zwölfjährige Knaben »standen«, wie das die Älteren nannten.

»Nicht das, was du jetzt denkst«, grinste Magnus.

»Woher wollen Sie wissen, was ich jetzt denke?«, fragte Falko trotzig.

»Weil man es dir an der Nasenspitze ansieht. Und weil ich es an deiner Stelle auch denken würde.«

Das konnte Falko akzeptieren und er wurde etwas mutiger.

»Ich weiß, dass deine Eltern gestorben sind, und ich weiß auch, dass es dir deswegen immer noch ziemlich schlecht geht.« Magnus blickte ihn mit ernsten Augen an.

Falko war das Thema unangenehm und er wollte möglichst schnell ablenken.

Beschützer

Deshalb fragte er: »Wo ist der Vogel abgeblieben?«

»Der ruht sich im Gebüsch aus, ich denke, er schläft jetzt ein Weilchen. Es war für ihn ziemlich anstrengend.«

Falko verstand überhaupt nichts. »Warum ist Fliegen für ihn anstrengend, er ist doch ein Vogel?«, fragte er verwundert.

Magnus lachte. »Das schon, aber er ist es nicht gewohnt, Passagiere mitzunehmen.«

»Passagiere?«, wiederholte Falko. »Ich habe nur den Vogel gesehen.«

»Nun, er hat mich mitgenommen. Deshalb bin ich auch nach der Landung aus dem Gebüsch gekommen.«

Falko konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass dieser Magnus ihn auf den Arm nahm.

»Dann sind Sie wohl auf seinem Rücken gesessen wie Nils Holgersson?«

»Das wäre auch nicht schlecht. Aber dazu war der Vogel wohl etwas zu klein. Ich war nicht auf ihm, sondern in ihm.«

»So wie Jonas im Bauch des Wals?« Falko bekam langsam genug von diesen Lügengeschichten.

»Das kommt der Sache schon näher, aber der beste Platz für solche Flugreisen ist nicht der Bauch, sondern das Gehirn«, erwiderte Magnus ganz sachlich, als würde er über die Vor- und Nachteile des Straßenbahnfahrens reden.

»Und wie kommt es, dass ein erwachsener Mensch in das Gehirn eines Vogels passt? Haben Sie eine Pille erfunden, die einen schrumpfen lässt?«

Magnus lachte laut. »Wäre nicht schlecht, oder? Aber es ist ganz anders. Es ist nicht körperlich, das wäre auch viel zu gefährlich. Ich erkläre es dir und du wirst es verstehen, auch wenn es zuerst kompliziert klingt. Willst du es wissen?«

Falko nickte. Klar wollte er es wissen. Erstens schien die Sache interessant zu sein, auch wenn sie bestimmt erfunden war und zweitens war er von Natur aus neugierig.

Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Magnus. Er freute sich, dass er das Interesse des Jungen geweckt hatte.

»Ich nenne die Technik, so zu reisen, ›Borgen‹. In der Praxis funktioniert das so: Ich sitze an einem geschützten Platz, so wie vorhin im Gebüsch, und suche mir einen Vogel aus. Es geht natürlich auch mit anderen Tieren, aber bleiben wir beim Vogel. Ich habe also diesen Habicht gesehen.«

»Ein Habicht war es also!«, unterbrach ihn Falko.

»Ja, ein Habicht. Und dann habe ich über meine Gedanken mit ihm Kontakt aufgenommen. Ich fragte ihn, ob ich mir für eine Weile seinen Körper ›borgen‹ dürfe, weil ich etwas beobachten wollte. Das bedeutet, dass er mir für eine Weile das Kommando über seinen Körper überlässt und er sich so bewegt, wie ich es möchte. Natürlich muss er die Muskeln und alles andere weiter selbst steuern, ich kann ja nicht fliegen. Aber in dieser Zeit kann ich alle seine Sinneswahrnehmungen aufnehmen, als wären sie meine eigenen und auch mit seinen Augen sehen. Und so konnte ich dich beobachten, wie du die Eidechse beobachtest. Im Prinzip ganz einfach.«

»Ganz einfach?«, Falko schüttelte den Kopf. »Immerhin ist es die beste Geschichte, die ich seit Wochen gehört habe.«

»Immerhin etwas«, sagte Magnus lächelnd.

Wieder schwiegen beide.

Nach einer Weile fragte Falko: »Machen Sie das öfter?«

»Nur wenn es nötig ist.«

»Nie aus Spaß?«

»Doch, manchmal schon. Es ist einfach schön, über das Land zu fliegen und den Wind zu spüren.«

»Und mit anderen Tieren?«

»Kann auch recht interessant sein.«

»Sie meinen das wirklich ernst?«

Falko begann, an seinen Zweifeln zu zweifeln. Der andere machte keinesfalls den Eindruck eines Lügners. »Sie verarschen mich wirklich nicht?«

»Nein.«

»Kann man das lernen?«, fragte Falko zögernd.

»Man im Sinn von irgendjemand wird es kaum schaffen. Aber wenn du wissen willst, ob du es lernen kannst: Dir traue ich es zu.«

Falko jubilierte innerlich. Weniger wegen der Aussicht als Passagier im Gehirn eines Vogels mitzufliegen, als wegen der Tatsache, dass diese Ferien auf jeden Fall aufregender werden würden, als er geglaubt hatte.

Falko stand vor dem Spiegel und kämpfte mit seinen Haaren. Das war ganz normal, denn er kämpfte immer nach dem Aufstehen damit, seine Haare in Kopfnähe zu bringen. Er verstand nicht, warum sie sich im Schlaf stets von seiner Kopfhaut abspreizten, um wie Antennen, – so bezeichnete es jedenfalls seine Tante Doris –, nach allen Seiten abzustehen. Falko blickte sich selbst tief in die Augen. »Du willst also mit den Vögeln fliegen?«, fragte er sein Spiegelbild. Und er wusste in diesem Moment nicht, ob er sich selbst ernst nehmen sollte.

Für sein Alter war er eigentlich etwas zu klein, in seiner Klasse gab es nur einen, der nicht größer war als er. Falko selbst hielt sich für schlank, andere nannten es schmächtig, oder zart, wie die Psychologin, die ihn nach dem Tod seiner Eltern wochenlang betreut hatte. Diese Frau war ihm unendlich auf die Nerven gegangen mit ihrem berufsmäßigen Mitleid.

Falko warf noch einen Blick in den Spiegel und war einigermaßen zufrieden. Seine Haare zeigten Einsicht und hielten sich zumindest in der Nähe seines Kopfes auf. Das würde Tante Doris gefallen, die großen Wert darauf legte, dass Falko auch in den Ferien nicht »verwahrloste«, wie sie dies immer ausdrückte.

Den ganzen Vormittag musste er immer wieder an die seltsame Begegnung auf seiner Wiese denken. Selbst das spannende Buch, das er las, konnte ihn nicht ablenken. Hatte der Mann wirklich ungewöhnliche Fähigkeiten? Was würde ihn bei seinem Besuch erwarten?

Nach dem Mittagessen machte sich Falko auf den Weg zu Magnus.

Magnus bewohnte ein altes Fachwerkhaus am östlichen Dorfrand. Es war nicht gerade in bestem Zustand. An einigen Stellen bröckelte schon der Putz und vom Fachwerk blätterte die Farbe ab. Vor dem Haus stand eine alte, rot angestrichene Holzbank. Das Grundstück war ziemlich verwildert. Man gewann den Eindruck, dass hier alles wachsen durfte, was Lust dazu verspürte. Im hinteren Teil des Gartens stand ein großer Obstbaum. Sonst konnte man von außen nichts sehen, weil hohe Hecken den Einblick verwehrten.

Falko wusste, dass man das Haus »Schäferhaus« nannte, weil es früher dem jeweiligen Gemeindeschäfer als Wohnung diente. ›Oder war Magnus vielleicht auch noch Schäfer?‹, fragte sich Falko. Aber niemals hatte er ihn mit einer Herde gesehen, weder von Kühen, noch von Schafen, noch von Ziegen. Ja, nicht einmal mit einem Hund.

Als Falko das Grundstück betrat, saß Magnus auf der roten Bank vor seinem Haus.

»Hallo!«, rief er. »Schön, dass du gekommen bist.«

»Hallo!«, erwiderte Falko unsicher.

»Setz’ dich! An so einem herrlichen Tag sollte man im Freien sitzen«, forderte ihn Magnus auf und Falko nahm neben ihm Platz. Nach einer Weile sagte Magnus: »Das mit dem Fliegen ist nicht so einfach. Da muss man vorher erst einige andere Sachen lernen.«

»Was für Sachen?«, fragte Falko misstrauisch.

»Etwas über die Pflanzen und die Tiere. Und vor allem über sich selbst.«

Enttäuschung breitete sich in Falko aus. Wollte ihn der Mann reinlegen? War er ein verkappter Naturfreak, der seine Neugier ausnutzen wollte? Falko merkte, dass er sauer wurde, beschloss aber, vorerst zu schweigen.

Magnus spürte die Veränderung in dem Jungen und dachte schmunzelnd: ›So habe ich damals auch reagiert.‹

»Hast du schon einmal etwas von Schamanen gehört?«, fragte Magnus.

»Ja, das sind doch Medizinmänner oder Zauberer oder so etwas.« Falkos Antwort war mehr eine Frage.

»Genau, und noch vieles mehr. Sie haben die unterschiedlichsten Namen in den jeweiligen Völkern und es hat sie zu allen Zeiten der Menschheit gegeben.«

Falko kicherte. »Und ich soll jetzt Zauberlehrling werden? Bekomme ich dann auch einen spitzen Hut?«

»Der würde zumindest deine widerspenstigen Haare im Zaum halten. Aber Spaß beiseite, es ist egal, wie du die Schamanen nennst oder wie sie aussehen, wichtig ist nur, dass sie etwas bewirken können.«

Falko beschloss, sich auf das »Spiel« einzulassen.

»Statt auf Besen, wird mit Vögeln geflogen, das nenne ich Fortschritt.«

Falko war Ironie durchaus vertraut, eine Gabe, die viele seiner Lehrer gar nicht zu schätzen wussten.

»Ich verstehe deine Reaktion, Falko, ich habe vor vielen Jahren nicht anders reagiert. Schamanen, das war einmal, und wenn es überhaupt noch welche gibt, dann leben sie in Sibirien oder am Amazonas. Und Hexen und Zauberer gibt es nur in spannenden Büchern und Filmen. Das Leben hier braucht so etwas nicht mehr. Solche Leute taugen heutzutage nur noch für Abenteuerromane und Kinofilme. So habe ich jedenfalls damals gedacht.«

Falko war verblüfft, denn genau das waren seine Gedanken.

»Soll das heißen, es gibt wirklich Zaubererschulen?«, fragte er.

»Vielleicht. Aber ich kenne keine«, erwiderte Magnus ernsthaft. »Weißt du, Falko, es gibt einen klugen Satz von William Shakespeare in seinem Theaterstück ›Hamlet‹: ›Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.‹ Nun ja, und wie der Satz sagt, sind es Dinge, die man nicht in der Schule lernt. Eher von so komischen Leuten wie mir.«

Magnus lachte und fuhr fort: »Es gibt alte Traditionen, auch bei uns, die völlig unbemerkt von den meisten Menschen weiterleben. Sie existieren neben der Gesellschaft, die sie nur wahrnimmt, wenn man sie zu Geld machen kann. In schlauen Büchern oder tollen Seminaren wird dann ein Teil der Wahrheit mehr oder weniger verstümmelt unters zahlende Volk geschmissen.«

Jetzt seufzte Magnus und schüttelte den Kopf. In Falko war immer noch viel Unglauben, viel Widerstrebendes und vor allem viel Misstrauen.

Er wollte den Mann nicht verletzen, trotzdem fragte er provozierend: »Aber Sie besitzen die volle Wahrheit?«

»Gut gebrüllt, Löwe.« Magnus lächelte nun wieder. »Aber wer das von sich behauptet, lügt mit Sicherheit, und das weißt du ganz genau. Du bist ein aufgewecktes Bürschchen und das gefällt mir an dir. Sei ruhig misstrauisch und glaube nicht alles, was man dir erzählt.«

»Und warum soll ich ausgerechnet Ihnen glauben?«

»Finde es heraus.«

In diesem Moment bog ein großer, ziemlich dicker, rot getigerter Kater um die Hausecke. »Das ist Januar«, sagte Magnus.

»Januar?«

»Ich gestehe, der Name ist nicht besonders einfallsreich. Er lief mir im Januar vor zehn Jahren zu und seitdem gehört er zu mir. Oder, aus seiner Perspektive, ich zu ihm. Er ist eine treue Seele, die sich meistens im Haus und im Garten aufhält, nur manchmal macht er einen Zug durchs Dorf und über die Felder.«

Falko betrachtete den Kater eingehend und überlegte, ob Magnus ihn wohl auch ab und zu für Ausflüge durchs Dorf »borgen« würde.

»Warte bitte einen Augenblick«, sagte Magnus und verschwand im Haus.

Schon nach wenigen Minuten kehrte er zurück, mit einem großen Buch unter dem Arm. Es war ein Bildband über die Höhlen von Lascaux.

»Dies ist ein Zauberbuch. Besser gesagt, ein Buch über eine Zauberhöhle.«

Magnus schlug das Buch auf und begann zu blättern. Die Seiten zeigten Höhlenmalereien mit Bisons, Auerochsen, Hirschen, Rentieren, Pferden, Rhinozerossen, Bären und Mammuts. Dazu Menschen mit Tiermasken und Jagdwaffen, Hand- und Fußabdrücke und riesige Szenen von ganzen Tierherden und tanzenden Gestalten.

Falko war beeindruckt. Die Farben und die Art, wie die Tiere gemalt waren, berührten ihn.

»Diese Bilder sind über zwanzigtausend Jahre alt«, erklärte ihm Magnus, »und man sagt, die Menschen, die das gemalt haben, waren Schamanen.«

»Das sieht toll aus. Obwohl die Tiere gar nicht realistisch gemalt sind, wirken sie irgendwie lebendig.«

»Gut erkannt, Junge«, nickte Magnus anerkennend.

»Sind Schamanen Künstler?«, fragte Falko.

»Manche sicher. Aber darauf kommt es gar nicht an. Es ist die Magie der Bilder, die zählt. Wollen wir es auch einmal ausprobieren?«

Falko war sprachlos. Er verstand nichts, rein gar nichts. Wollte der Mann jetzt mit ihm Bilder malen? Dann hätte sich Falko gleich fürs Ferienprogramm in der Stadt anmelden können.

»Versuchen wir doch einmal ein Tier auf die Art unserer Urahnen zu fangen«, schlug Magnus vor.

»Indem wir ein Mammut malen?«, fragte Falko unsicher.

»Damit dürften wir wohl kaum Erfolg haben. Es gibt nämlich leider keine Mammuts mehr, oder weißt du das nicht?«

»Natürlich weiß ich das!«, giftete Falko. »Ich frage mich bloß, wie man ein Tier mit Bildermalen fangen kann.«

»Genauso wie die Leute von Lascaux«, entgegnete Magnus ruhig. »Wir könnten uns Fische fangen. Magst du Fisch?«

Falko nickte stumm und ziemlich ratlos.

»Dann komm mit!«, forderte ihn Magnus auf und ging mit ihm in den hinteren Teil des verwilderten Gartens.

Fast eingewachsen von Büschen stand hier eine Holzhütte. Daneben entdeckte Falko einen Haufen mit großen Kieselsteinen. Magnus bückte sich, hob einen Stein auf und steckte ihn in die Hosentasche. Dann öffnete er die Hüttentür und bedeutete ihm einzutreten.

Falko wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Die ganze Hütte war vollgestellt mit Regalen, alten Tischen, einigen Stühlen, Kisten und Fässern. Von der Decke hingen Schnüre mit seltsamen Gegenständen daran, die sich beim näheren Hinsehen als Knochen, Federn, Äste, Glöckchen, Steine, Metallplättchen und anderes mehr erwiesen. In den Regalen lagen neben Schachteln und Gläsern alle möglichen Arten von Tierschädeln, von groß bis klein. In Blumenvasen steckten die größten Federn, die Falko je gesehen hatte und an den Wänden hingen Trommeln und bemalte Holzbretter. Bunte Stöcke, einige mit Federn, Glöckchen oder Steinen verziert, lehnten an der Wand. Diese Hütte roch nach seltsamen Dingen und Abenteuern.

Auf einem Tisch, dem man ansah, dass auf ihm oft gemalt wurde, standen Farbtöpfe.

»Meine Schatzkammer«, sagte Magnus mit Stolz und Ironie zugleich.

»Gewaltig!«, stieß Falko aus.

»Freut mich, dass es dir gefällt. Aber jetzt lass uns an die Arbeit gehen. Wir wollen doch einen Fisch fangen!«

»Hier?«, Falko sah sich zweifelnd um und fixierte misstrauisch eines der Fässer.

Wollte ihn Magnus mit einem Salzhering aus dem Fass abspeisen?

»Nein, nicht hier«, lachte der. »Hier machen wir nur den Köder.«

Also nichts Magisches, keine Zauberei, dachte Falko enttäuscht. Ganz normales Köderfischen. Umso erstaunter war er, als Magnus den Stein aus dem Garten aus seiner Hosentasche zog und ihn auf den Maltisch legte. Dann rückte er sich einen Stuhl an den Tisch und forderte Falko auf, das Gleiche zu tun. Falko gehorchte neugierig.

Magnus nahm den Stein in seine beiden Hände und führte ihn an die Stirn. So verharrte er einige Minuten und Falko wagte in dieser Zeit kaum zu atmen.

Dann legte Magnus den Stein wieder auf den Tisch und öffnete einen Topf mit schwarzer Farbe. Er tauchte seinen rechten Zeigefinger hinein und malte auf den Stein die Konturen eines Fisches. Ganz einfach, ganz schlicht – den Umriss, ein Maul, ein Auge, eine Schwanzflosse, eine kleine Rückenflosse. Den Körper überzog er mit einem groben Rautenmuster. Dann wischte er sich den Finger an einem Tuch ab, dem man seine häufige Benutzung ansah, und griff nach einem etwas kleineren Farbtopf. Mit einem kräftigen Blau malte er in seiner Fingertechnik die Rauten auf dem Körper des Fisches aus. Es war sicherlich kein Kunstwerk, aber es handelte sich zweifelsfrei um das Bild eines Fisches.

Als hätte er Falkos unausgesprochene Frage gehört, sagte Magnus: »Damit die Magie eines Bildes wirkt, muss es nicht gut gemalt sein. Beim Jagdzauber ist es nur wichtig, dass man das Tier eindeutig erkennt und mit welcher Absicht man das Bild gemalt hat.«

Dann fügte er noch lachend hinzu: »Ich denke, die Fische, die ich fangen möchte, sind auch keine besonderen Kunstkenner. Also gehen wir zu ihnen.«

Magnus nahm den Stein und holte aus dem Dunkel zwischen den Regalen eine Stange mit einem Netz daran. Sie verließen die wundersame Hütte Richtung Fluss, der nur rund hundert Meter hinter dem Anwesen träge durch den Nachmittag floss.

Sie gingen zu einer Stelle, wo der Fluss nach einer Biegung etwas breiter und seichter wurde. Da standen die beiden nun auf einer kleinen lichten Stelle der sonst dicht bewachsenen Uferböschung.

»Egal, ob man mit Angel, Harpune oder Netz fischt, die richtige Stelle ist das Entscheidende«, klärte Magnus Falko auf. »Jetzt muss ich mich konzentrieren. Aber das spürst du sicher genauso, wie vorhin in der Hütte. Du bist ein sensibler Partner, der weiß, wann man ruhig sein muss«, fügte er noch hinzu.

Dann schaute er konzentriert die Uferlinie entlang, bis er der Meinung war, den geeigneten Platz gefunden zu haben. Dorthin legte er den bemalten Stein und setzte sich dahinter. Falko ließ sich ebenfalls nieder. Nach ungefähr fünf Minuten tauchte Magnus das Netz in den Fluss. Gespannt beobachtete Falko das Wasser und hielt Ausschau nach sich bewegenden Schatten. In schnellen Zickzacklinien näherte sich ein Fisch und da zog Magnus auch schon das Netz aus dem Wasser.