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Man nennt mich Retti-Palais … Wie ergeht es einem Haus, das von seinem Erbauer nie bewohnt wurde? Gerd Scherm leiht dem Bauwerk seine Stimme, lässt das Palais im fränkischen Ansbach von sich und seinen Gefühlen erzählen. Das Haus spricht von seiner Wut und seinen Enttäuschungen, seinen Sehnsüchten und Hoffnungen, seinen Erinnerungen und Ängsten. Und es macht den Baumeister Leopoldo Retti für sein späteres Schicksal verantwortlich. Gerd Scherms Text ist ein poetisches Nachdenken über Bauwerke und Behausungen.
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Seitenzahl: 21
Man nennt mich Retti-Palais, aber das ist nicht das, was ich bin. Und so möchte ich auch nicht heißen. Schon lange nicht mehr.
Was ich bin?
Ein Haus, sicher, auf jeden Fall, aber ehrlich gesagt, klingt mir das zu profan, zu gewöhnlich.
Und Retti-Palais möchte ich schon gar nicht heißen.
Wegen ihm, wegen Leopoldo Retti, dem Mann, der mich verraten hat.
Nun bin ich da, ohne ihn, aber mit seinem Namen – „das Retti-Palais“.
Dabei fühle mich gar nicht als „ein Das“, als ein Neutrum, ganz und gar nicht. Ich denke, im Prinzip bin ich feminin.
Heimat möchte ich sein, genau Heimat und die Heimat ist weiblich.
Immer schon, weil Frauen ein Zuhause ausmachen.
So wie erst Menschen Architektur zur Wohnung machen, machen Frauen eine Wohnung erst zum Zuhause.
Jedenfalls aus meiner Sicht. Und ich bin ja ich, deshalb darf ich das.
Aber die Frage ist doch nicht nur was, sondern auch wer bin ich? Wie sollte ich wirklich heißen?
Vielleicht „Villa“, das klingt sehr schön.
„Villa“ wäre eine mir genehme Bezeichnung, ja „die Villa“, das gefällt mir.
Doch zurück zu Leopoldos Verrat, der mich bis heute kränkt. Einst sollte ich für ihn da sein, er plante mich als Zukunft für sich.
Er und ich …
Ihn sollte ich beherbergen, seine Familie sollte ich umfangen, beschützen, bewahren.
Wir waren sozusagen verlobt, einander versprochen.
Leopoldo Retti und ich, seine Villa.
Dieser wunderbare Baumeister erschuf mich aus sich, aus seinem Kopf, aus seinen Fantasien.
Er zeichnete mich, wieder und wieder – von vorne, von hinten, von allen Seiten, jede Etage, jedes Zimmer.
Raum für Raum entstand ich aus seiner Vorstellungskraft.
Und welche Kraft das war!
Welche Imagination!
Es war meine Gnade und mein Glück, von solch einem Mann erdacht zu werden.
So viel Verheißung, so viel Anfang!
Ja, die Erinnerungen …
Wir Bauwerke existieren ja nicht erst dann, wenn der erste Mensch das fertige Haus betritt.
Wir sind von Anfang an dabei, wir existieren bereits im Kopf des Meisters.
Ich war quasi Augen- und Ohrenzeugin meiner eigenen Entstehung.
Und wie ich es genossen habe!
Es ist ein eigenartiges Gefühl, vor dem ersten Spatenstich den eigenen Bauplatz zu besichtigen.
Diese leere Fläche zu sehen und zu wissen, an diesem Ort werde ich dereinst sein.
Eine Art pränatale Imagination …
Ich schwelgte in diesen Bildern, sah Menschen ein- und ausgehen, hörte ihre Stimmen und ihr Lachen, sah mich selbst von ihrem Leben erfüllt.
Es gab für mich so viel Zukunft – damals.
Und dann diese Enttäuschung!