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Krieg ist eine Tatsache und ihn zu dokumentieren eine wichtige Aufgabe. Der antike griechische Historiker Thukydides schilderte den Peloponnesischen Krieg, der im 4. Jahrhundert v. Chr. das klassische Zeitalter Athens beendete. Damit schuf er das erste Geschichtswerk überhaupt und prägte bis heute die Art und Weise, wie über Kriege nachgedacht wird. Das ist leider noch immer geboten, denn wer einen Krieg beenden will, muss zunächst seine Ursachen und inneren Zusammenhänge verstehen lernen. Thukydides zeigt, wie das gehen kann.
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Seitenzahl: 1243
Veröffentlichungsjahr: 2024
Thukydides
Der Peloponnesische Krieg
Deutsch nach Johann David Heilmann
Anaconda
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Die vorliegende Übersetzung erschien erstmals 1760 unter dem Titel»Thukydides. Geschichte des Peloponnesischen Krieges«. DieTextgrundlage dieser Ausgabe erschien im Verlag Lambert Schneider,Berlin 1938.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Umschlagmotiv: »Spartan soldier with shield and sword, orangeand black figure ceramic«, matiasdelcarmine / Adobe Stock
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN 978-3-641-32451-3V001
www.anacondaverlag.de
Inhaltsverzeichnis
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Fünftes Buch
Sechstes Buch
Siebentes Buch
Achtes Buch
Geschichtstabellen
Namen- und Sachregister
Erstes Buch
1. Thukydides von Athen hat in gegenwärtigem Werk den Krieg beschrieben, welchen die Peloponnesier mit den Athenern geführt haben. Er hat sich gleich bei dem ersten Anfang desselben an die Arbeit gemacht, weil er sich damals schon im Voraus vorstellen konnte, dass es einer der wichtigsten und merkwürdigsten unter allen bisherigen Kriegen dieser Völker sein würde, da beide damals hinsichtlich aller zum Krieg erforderlichen Rüstungen eben auf dem Gipfel ihrer Macht waren; und auch die übrigen griechischen Mächte schlugen sich teils gleich zu Anfang, teils erst nach längerem Bedenken zu der einen oder der anderen Partei. In der Tat war er eine der stärksten Bewegungen, worin die Griechen und auch einige von den barbarischen Völkern, ja ich möchte wohl sagen, der größte Teil der Menschheit je verwickelt gewesen ist. Denn obgleich sich von den älteren Begebenheiten, die sich vor ihm und noch früher zugetragen haben, wegen der Länge der Zeit nicht viel Gewisses herausbringen lässt, so kann ich doch, so viel sich aus verschiedenen Merkmalen in diesen ältesten Zeiten mit einiger Zuverlässigkeit abnehmen lässt, mir nicht vorstellen, dass sie von sonderlicher Wichtigkeit gewesen sein sollten, so wenig was kriegerische Händel betrifft, als auch in anderer Hinsicht.
2. Es ist offenbar, dass das jetzt sogenannte Griechenland früher keine ständigen Einwohner gehabt hat, sondern dass diese ihre Wohnungen häufig verändert haben; und es kam gar leicht vor, dass diese oder jene ihre Länder verlassen mussten und von anderen verdrängt wurden, von denen immer ein stärkerer über den anderen kam. Es bestand noch kein Handel und Wandel unter den Leuten, und man konnte so wenig zu Lande und zu Wasser mit genügender Sicherheit zueinander kommen, vielmehr suchte ein jeder in seinem Bezirk nur so viel vor sich zu bringen, als zu seinem Unterhalt nötig war, besaß im Übrigen aber weder Geld noch Gut, ließ sich auch nicht das Land anzubauen angelegen sein, da man alle Augenblicke gewärtig sein musste, dass namentlich bei dem Mangel fester Plätze ein anderer käme und einem das Seinige wegnähme; und da folglich ein jeder so vieles, als er zu seiner täglichen Notdurft brauchte, allenthalben leicht zu erlangen glaubte, so kam es ihnen nicht schwer an, ihre Wohnplätze zu verändern. Daher waren sie weder in Ansehung der Größe ihrer Städte, noch anderweitiger Zurüstungen sonderlich stark. Und diese Veränderung der Einwohner mussten die besten Länder am häufigsten erfahren; wie denn solche vornehmlich das jetzt sogenannte Thessalien und Böotien, ebenso einen großen Teil vom Peloponnes, Arkadien und sonst die besten Gegenden betraf. Denn wenn durch diese Güte des Bodens einer und der andere zu einem größeren Vermögen gelangt war als die Übrigen, so veranlasste solches erstlich allerlei inneren Zwiespalt, wodurch sie sich einander aufrieben; und dann waren sie auch auswärtigen Anfällen desto mehr bloßgestellt. Daher hatte auch Attika, welches seines schlechten Bodens halber von den ältesten Zeiten her dergleichen Unruhen nicht erfahren hatte, seine alten Einwohner ständig behalten. Dass dieser unstete Aufenthalt der Einwohner schuld daran gewesen, dass die übrigen Landschaften nie ebenso zu Kräften kommen konnten, davon ist Folgendes ein ziemlich starker Beweis. Wenn nämlich in dem übrigen Griechenland jemand durch Krieg oder einheimischen Zwiespalt von dem seinigen verdrängt wurde, so wandten sich allemal die Angesehensten und Mächtigsten zu den Athenern, wo sie einen sicheren und festen Wohnplatz fanden. Auf diese Art vergrößerte die Stadt durch Erteilung des Bürgerrechts an diese Ankömmlinge schon in den ältesten Zeiten die Anzahl ihrer Einwohner immer mehr, sodass auch die Athener später, weil ihnen Attika zu eng wurde, Pflanzvölker nach Ionien schickten.
3. Was ich von der Schwäche der alten Griechen gesagt habe, davon gibt mir dieses noch einen starken Beweis an die Hand, dass die Griechen offenbar vor dem Trojanischen Krieg nichts mit vereinten Kräften vorgenommen haben. Ja, ich glaube nicht einmal, dass das Land damals schon den gemeinschaftlichen Namen Hellas geführt, oder dass man überhaupt vor den Zeiten des Hellen, des Sohn Deukalions, etwas von diesem Namen gewusst hat, dass vielmehr eine jede Völkerschaft ihre eigenen Benennungen gehabt hat, worunter sonderlich der Name der Pelasger von weitem Umfang gewesen, und dass erst nachher, da Hellen und seine Söhne in Phthiotis mächtig wurden und man sie auch nach verschiedenen anderen Städten einlud, im gemeinen Leben schon bei diesem und jenem der Name der Hellenen aufgekommen. Allein durchgängig hat derselbe doch noch in geraumer Zeit nicht die Oberhand behalten können. Homer gibt uns hiervon einen augenscheinlichen Beweis an die Hand. Denn obwohl er noch lange nach dem Trojanischen Krieg gelebt hat, so legt er doch diesen Namen nie dem gesamten Heer bei, sondern einzig und allein den Phthiotern, die unter dem Achilles gefochten, die die Ersten gewesen sind, die Hellenen genannt wurden; sonst nennt er in seinen Gedichten diese Völker Danaer, Argiver und Achäer. So tut er auch der Barbaren keine Erwähnung; dies kommt meinem Bedünken nach daher, weil die Griechen noch nicht im Gegensatz zu jenen unter einem allgemeinen Namen begriffen waren, der sie davon unterschieden hätte. Diese Griechen haben nun, wie sie in den verschiedenen Städten sich anfänglich durch eine gemeinschaftliche Sprache und nachmals durch diesen allgemeinen Namen unterschieden, vor dem Trojanischen Krieg, wegen ihrer Schwäche und des Mangels gegenseitiger Verbindungen, nichts Wichtiges gemeinschaftlich verrichtet; in diesem Krieg aber, da sie schon stark zur See waren, traten sie zusammen.
4. Denn Minos war der Erste, von dem die Überlieferung meldet, dass er eine Flotte in See gehabt hat; er beherrschte das jetzt sogenannte griechische Meer größtenteils, auch die kykladischen Inseln standen unter seiner Botmäßigkeit, von denen er die meisten zuerst angebaut, nachdem er die Karier daraus vertrieben hatte, sodass er seine Söhne als Häupter der neuen Pflanzstädte bestellte. Und damit seine Einkünfte desto richtiger einlaufen könnten, so säuberte er auch, wie leicht zu erachten ist, das Meer so viel als möglich von den Seeräubern.
5. Die alten Griechen sowohl als auch diejenigen barbarischen Völker, die auf dem festen Land an der Küste oder aber auf Inseln wohnten, legten sich, sobald sie etwas häufiger mit Schiffen zueinander zu reisen angefangen hatten, auch auf die Seeräuberei, wobei sie immer die Mächtigsten zu ihren Anführern hatten, die dieses Handwerk sowohl ihres eigenen Gewinnes halber trieben, als auch denen, die mit Glücksgütern nicht versehen waren, Unterhalt verschafften, indem sie die von Mauern entblößten und nach Art der Dörfer angelegten Städte anfielen und ausplünderten und davon meistenteils lebten, ohne dass sie sich dergleichen hätten zum Schimpf rechnen sollen, vielmehr eine Art von Ehre dareinsetzten. Dieses sieht man noch bis jetzt an einigen Einwohnern des festen Lands, welche sich’s zum Ruhm auslegen, wenn sie ein solches Unternehmen geschickt ausführen; ebenso aus den alten Dichtern, wo sich überall die Einwohner bei den Schiffen, die an ihren Küsten landen, frei erkundigen, ob sie Seeräuber seien; ein Beweis, dass weder diejenigen, an die solch eine Frage geschah, dieses Handwerk für schimpflich gehalten, noch dass die, welche es zu wissen verlangt, jenen dadurch einen Vorwurf gemacht hätten. Selbst auf dem festen Land übte man dergleichen Räubereien; von dieser alten Lebensart sind an vielen Orten Griechenlands noch bis jetzt Spuren übrig, wie bei den ozolischen Lokrern, den Ätoliern, Akarnaniern und auch hiesigerorten auf dem festen Land angetroffen werden. Daher haben die Einwohner des festen Lands von den ehemaligen Räubereien noch dieses beibehalten, dass sie immer Waffen bei sich führen.
6. Zu den damaligen Zeiten führte nämlich in ganz Griechenland ein jeder Waffen bei sich, weil ihre Wohnungen durch keine Mauern gesichert waren und keiner sicher zum anderen gehen durfte, daher Waffen, wie bei den Barbaren, ihre ordentliche Tracht waren. Dass aber ehemals diese Lebensart bei allen Griechen eingeführt gewesen ist, davon hat man einen Beweis an denjenigen Völkern in Griechenland, die heutzutage noch ebendie Aufführung beobachten. Unter jenen waren die Athener die Ersten, die die Waffen ablegten und mit Aufgabe dieser rauen Lebensart geschmeidigere und üppigere Sitten annahmen. Und es ist noch nicht gar lange her, dass wohlhabende Leute hier die Mode abgeschafft haben, bei einem gewissen Alter aus verzärtelter Bequemlichkeit leinene Unterkleider zu tragen und die Haare auf dem Kopf mit goldenen heuschreckenförmigen Schnallen in einen Zopf zu fassen, während sich dieser Zierrat bei den Ioniern, ihrer Verwandtschaft mit jenen zufolge, noch eine geraume Zeit als eine Tracht alter Leute gehalten hat. Die kurzen Kleider hingegen, wie sie noch jetzt getragen zu werden pflegen, sind zuerst bei den Lakedämoniern aufgekommen; wie denn überhaupt bei diesen auch sonst die begüterten Bürger sich in ihrer Lebensart dem großen Haufen gleichstellten. Sie waren auch die Ersten, die ihre Leiber entblößten und sich bei ihren Leibesübungen öffentlich auskleideten und mit Öl bestrichen. Denn in alten Zeiten hatten selbst bei den olympischen Spielen die Kämpfer während ihrer Übungen Gürtel um die Scham gebunden, welche Gewohnheit vor nicht gar langer Zeit erst abgekommen ist. Ja, unter den Barbaren unserer Zeiten ist sie noch jetzt üblich, namentlich bei den Asiaten, welche sich um einen ausgesetzten Preis im Balgen und Ringen üben und solches mit einem Schurz um den Leib tun. Dergleichen Gebräuche der alten Griechen, welche mit den jetzt unter den Barbaren gewöhnlichen übereinstimmen, ließen sich noch mehr angeben.
7. So wie also die in neueren Zeiten errichteten bürgerlichen Gesellschaften, die wegen ihrer stärkeren Schifffahrt schon mehr Reichtümer besaßen, nahe an den Seeküsten befestigte Städte anlegten und die Erdengen besetzten, um solchergestalt bequemer zum Handel zu liegen und auch mächtiger gegen ihre Nachbarn zu sein, so hatten hingegen die älteren sowohl auf den Inseln als auf dem festen Land wegen der anhaltenden Seeräubereien sich weiter von der Küste weg niedergelassen, da der Räubereien, die sie sowohl untereinander trieben als auch gegen andere, die, ohne sich mit der See abzugeben, unweit der Küste wohnten, kein Ende war, wie sie denn noch bis auf den heutigen Tag tief ins Land hinein liegen.
8. Die Einwohner der Inseln, die aus Kariern und Phöniziern bestanden, trieben das Handwerk ebenfalls. Dass diese die meisten Inseln besetzt gehabt, hat man gesehen, als die Athener in dem letzten Krieg Delos reinigten und alle Särge der auf dieser Insel verstorbenen Personen wegschafften, da man nämlich über die Hälfte Karier darin fand, die man noch an ihrer Rüstung erkannte, mit der sie auf ebendie Art, die jetzt noch unter ihnen gebräuchlich ist, begraben waren. Als aber nachher Minos seine Seemacht imstande hatte, konnte man eher zu Schiff von einem Ort zum anderen kommen. Denn dieser hatte damals, als er verschiedene Inseln neu anbaute, die Räuber daraus fortgeschafft. So hatten auch die, die an der See wohnten, bei dem stärkeren Anwachs ihrer Reichtümer sich in ihren Wohnungen fester gesetzt, und einige, die sich vorzüglich bereichert hatten, sogar mit Mauern umgeben. Denn da ein jeder auf seinen Vorteil bedacht war, so ließen sich die geringen Leute von den Reichen als Knechte gebrauchen, und die Mächtigen und Reichen machten sich die kleineren Städte unterwürfig. Und so scheinen die Sachen ungefähr gestanden zu haben, als sie bald darauf den Kriegszug gegen Troja unternahmen.
9. Agamemnon hat, meines Erachtens, bei dem Aufgebot seines Heeres die Freier der Helena nicht sowohl durch ihre eidliche Verpflichtung gegen den Tyndareus, als durch seine überlegene Gewalt an dem Feldzug teilzunehmen genötigt. Es berichten uns nämlich die Peloponnesier aus den glaubwürdigsten Überlieferungen ihrer Vorfahren, dass Pelops anfangs durch seinen großen Reichtum, den er mit aus Asien gebracht hatte, über die dortigen Einwohner, welche dürftige Leute gewesen, die Herrschaft erlangt und der Gegend, wohin er als Fremdling gekommen war, den Namen gegeben habe; und dass es seinen Nachkommen nachmals noch besser geglückt sei, nämlich auf folgende Art. Als Eurystheus gegen die Herakliden zu Felde gezogen sei, habe er während dieses Krieges dem Atreus, der seiner Mutter Bruder gewesen ist, und der wegen des Todes des Chrysippos vor seinem Vater geflohen, Mykene nebst der Regierung anvertraut. Da nun Eurystheus nicht wieder zurückgekommen sei, so habe Atreus mit Genehmigung der Mykener, wegen ihrer Furcht vor den Herakliden, und weil er im Ruf gestanden, dass er ein vermögender Mann sei, auch gegen das Volk sich sehr gefällig bewiesen habe, die Regierung über Mykene und die übrigen dem Eurystheus zugehörigen Staaten erhalten, und so seien die Nachkommen des Pelops über die des Perseus emporgekommen. Und in Betrachtung dieser auf den Agamemnon vererbten Herrschaft sowohl als der Seemacht desselben, woran er den Übrigen weit überlegen gewesen ist, scheinen mir die nach Troja bestimmten Völker aus Gefälligkeit und Furcht mitgegangen zu sein. Denn es ist bekannt, dass er selbst auf diesem Zug die meisten Schiffe gehabt hat, ja dass er den Arkadiern noch davon abgegeben hat, wenigstens bezeugt Homer dies, wenn man ihn anders für einen glaubwürdigen Zeugen gelten lassen will. Ebenderselbe sagt an einem anderen Ort, indem er ihm den Zepter überreichen lässt: »Ganz Argos huldigt ihm, wie auch der Inseln Menge.« Nun hätte er aber bei seinem Aufenthalt auf dem festen Land seine Herrschaft über die Inseln nicht behaupten können, außer etwa über die nahe am festen Land gelegenen, deren aber nicht viel gewesen sein würden, sofern er nicht eine Flotte in See gehalten hätte. Aus diesem Kriegszuge nun lässt sich zugleich entnehmen, wie es vor dieser Zeit in Griechenland ausgesehen haben muss.
10. Nur würde es übereilt sein, wenn man aus dem geringen Umfang von Mykene oder dem jetzigen schlechten Ansehen mancher damaligen Städte schließen wollte, es dürfte diese Rüstung wohl so groß nicht gewesen sein, als die Dichter sie machen und die gemeine Sage sie bestätigt. Denn gesetzt den Fall, dass die Hauptstadt der Lakedämonier öde gelassen werden, und nur die Tempel und die Grundstücke von den dortigen Gebäuden übrig bleiben sollten, so würden, wo ich nicht irre, unsere Nachkommen nach Verlauf einer langen Zeit sich schwerlich vorstellen, dass ihre Macht dem Ruf davon gleich gewesen sei. Und dennoch haben sie im Peloponnes von fünf Teilen zwei wirklich im Besitz und die Oberanführung nicht nur über die ganze Halbinsel, sondern noch über viele auswärtige Bundesgenossen. Allein da ihre Stadt nicht ineinandergebaut, auch mit keinen prächtigen Tempeln oder anderen Gebäuden besetzt ist, sondern nach der alten griechischen Art aus zerstreuten Haufen von Häusern besteht, so möchte sie einem bei dem allen ziemlich ohnmächtig vorkommen. Wenn wir hingegen ebenden Fall bei den Athenern setzen wollten, so würde man aus dem äußeren Anblick der Stadt schließen, sie sei noch einmal so mächtig, als sie wirklich ist. Man muss also nicht gleich so ungläubig sein und in solchen Fällen mehr auf die wahre Macht als auf das äußere Ansehen der Stadt sehen. Und da ist allerdings glaublich, dass jenes Kriegsheer das ansehnlichste gewesen ist, das man bis dahin beieinander gesehen hat, obwohl es unseren jetzigen nicht gleichgekommen ist. Denn wenn man auch nur Homers Gedichten hierin Glauben beimessen will, der doch aller Wahrscheinlichkeit nach als ein Dichter seinen Gegenstand durch die Kunst zu erhöhen gesucht haben wird, so sieht es doch noch sehr unansehnlich aus. Er lässt den ganzen Zug aus tausendundzweihundert Schiffen bestehen. Darunter haben die Böotier hundertundzwanzig und die des Philoktetes fünfzig Mann an Bord. Hiermit hat er meines Erachtens die höchste und die geringste Anzahl angeben wollen. Denn wie stark die Übrigen besetzt gewesen sind, hat er in dem Verzeichnis der Schiffe nicht angezeigt. Nur gibt er zu verstehen, dass auf des Philoktetes Schiffen die ganze Ladung aus lauter streitbaren Leuten bestand, welche das Ruder selbst geführt haben. Denn er stellt die Ruderknechte alle als Bogenschützen vor. Von anderem Tross aber wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht viel dabei gewesen sein, außer was sich etwa auf den Schiffen der Könige und anderer vornehmer Kriegsbedienten befunden, da sie mit kriegerischer Rüstung über die See gehen wollen, ihre Schiffe auch mit keinem Verdeck versehen, sondern auf die alte Art ungefähr wie die Raubschiffe gebaut gewesen sind. Wenn man also den Überschlag nach einer mittleren Zahl zwischen den stärksten und schwächsten Schiffen macht, so ergibt sich eine gar mäßige Anzahl von Leuten, die bei dieser Gelegenheit zusammengekommen sind, wenn man nämlich rechnet, dass ganz Griechenland dieselben gemeinschaftlich gestellt hat.
11. Und daran war nicht sowohl der Mangel an Leuten als der Geldmangel schuld. Die Schwierigkeit, den nötigen Unterhalt zu bekommen, machte, dass sie ein nicht gar ansehnliches Heer mitnahmen, sondern nur so viel, als sich ihrem Vermuten nach in Feindesland vom Krieg würden nähren können. Und doch weiß man, dass sie nach der unmittelbar nach ihrer Ankunft gewonnenen Schlacht (an deren Wirklichkeit einen die nachher zustande gebrachte Befestigung ihres Lagers nicht zweifeln lässt) auch noch nicht einmal ihre wirkliche Macht ganz gebraucht, sondern aus Mangel an Lebensmitteln sich im Chersones mit dem Feldbau beschäftigt und aufs Rauben gelegt haben. Daher konnten auch die Trojaner wegen dieser Verteilung der griechischen Macht ihnen um so viel eher ganze zehn Jahre lang Widerstand tun, indem sie den jedes Mal zurückgebliebenen Haufen genugsam gewachsen waren. Hätten jene auf diesem Zug hinreichenden Vorrat von Lebensmitteln bei sich gehabt und den Krieg mit vereinigten Kräften, ohne dem Raub und dem Landbau nachzugehen, unausgesetzt fortgeführt, so würden sie entweder die Trojaner leicht aus dem Feld geschlagen haben und ihrer solchergestalt mächtig geworden sein, da sie selbst bei ihrer Zerstreuung mit den einzelnen Haufen, so wie solche jedes Mal bei der Hand waren, sich gegen sie behauptet haben, oder auch durch eine förmliche Belagerung Troja in kürzerer Zeit und mit weniger Mühe erobert haben. So aber war der Geldmangel Ursache, dass, wie vor der Zeit alles sehr kümmerlich zuging, so auch selbst diese über alle vorhergegangenen Begebenheiten berühmt gewordene Rüstung in der Tat unerheblicher gewesen ist, als sie der Ruf nachher gemacht hat und wir uns heutzutage nach den von den Dichtern davon erteilten Beschreibungen vorstellen.
12. In der Tat dauerten die Wanderungen und das häufige Umziehen in Griechenland noch nach dem Trojanischen Krieg fort, sodass es wegen Mangels an der nötigen Ruhe nicht aufkommen konnte. Denn da es sich mit der Rückkunft der Griechen von Troja so lange verzog, so veranlasste dieses allerlei Revolutionen und vielfältige Misshelligkeiten in den Städten, da oft der eine Teil weichen musste, der sodann neue Städte anlegte. So wurden unsere heutigen Böotier im sechzigsten Jahr nach der Eroberung von Troja von den Thessalern aus Arne vertrieben und bauten das jetzt sogenannte Böotien an, welches vorher das Kadmeïsche Land hieß (obwohl ein Teil derselben schon vor der Zeit diesen Strich innegehabt hat und auch von da aus nach Troja gezogen ist); ebenso machten die Dorier im achtzigsten Jahr nach dem Trojanischen Krieg sich mit den Herakliden zu Herren des Peloponnes. Endlich gelangte aber doch Griechenland mit vieler Mühe und nach langen Jahren zu derjenigen dauerhaften Ruhe, die diesen Wanderungen ein Ende machte und es in den Stand setzte, Pflanzvölker auszuschicken. Da besetzten denn die Athener Ionien und die meisten Inseln, die Peloponnesier aber den größten Teil von Italien und Sizilien und verschiedene Gegenden in Griechenland, welche insgesamt erst nach dem Trojanischen Krieg angebaut worden sind.
13. Als nachher die Griechen mächtiger wurden und sich mehr auf die Erwerbung von Reichtümern legten, als vorher geschehen war, so warfen sich mit der Vermehrung der Einkünfte auch häufig eigenmächtige Regenten in den Städten auf, während vorher die erbliche Regierung der Könige üblich gewesen war, die ihre bestimmten Ehrenvermächtnisse hatten. Nunmehr bauten auch die Griechen Flotten und machten sich mehr mit der See zu tun. Und zwar sollen die Korinther die Ersten gewesen sein, welche der heutigen Art, mit den Schiffen umzugehen, am nächsten gekommen sind; auch soll Korinth die erste Stadt in Griechenland gewesen sein, in der man dreiruderige Schiffe gebaut hat. So findet es sich auch, dass Ameinokles, ein korinthischer Schiffbaumeister, den Samiern vier Schiffe gebaut hat, von dessen Ankunft bei den Samiern bis zum Ende dieses Krieges fast dreihundert Jahre verflossen sind. Die älteste Seeschlacht aber, von der wir etwas finden, ist die, welche die Korinther den Kerkyräern geliefert haben, von welcher Begebenheit bis auf gedachten Zeitpunkt auch ungefähr zweihundertundsechzig Jahre sind. Da nämlich Korinth auf einer Meerenge lag, so war daselbst von jeher ein starker Handel gewesen, indem die übrigen Griechen mehr zu Lande als zu Wasser tätig waren, sodass die, die in dem Peloponnes und außerhalb desselben wohnten, stets über Korinth gingen, wenn sie zueinander reisten. Daher besaßen sie denn ungemeine Reichtümer, wie dieses auch von den alten Dichtern bemerkt worden ist, welche sie mit dem Beinamen einer begüterten Stadt bezeichnen. Als auch die Griechen später mehr zur See fuhren, reinigten sie vermittelst ihrer Flotten das Meer von den Seeräubern und zogen auf diese Weise den Land- und Seehandel nach ihrer Stadt, wodurch diese infolge des Zuflusses von Geld eine der mächtigsten Städte wurde. Nachher, nämlich unter der Regierung des ersten persischen Königs, Kyros, und seines Sohnes Kambyses hatten die Ionier auch eine starke Seemacht, sodass sie auch in ihren Kriegen mit dem Kyros in den dortigen Gewässern eine Zeit lang die Herrschaft behaupteten. Polykrates, der zu des Kambyses Zeiten über Samos herrschte, brachte ebenfalls durch die Stärke seiner Flotten verschiedene Inseln unter seine Botmäßigkeit und eroberte unter anderen auch Rheneia, welche er dem delischen Apollon widmete; und die Phokäer, welche Massalia angebaut haben, überwanden die Karthager in einem Seetreffen.
14. Dieses sind die vornehmsten Seemächte, von denen wir in jenen Zeiten etwas finden. Allein obwohl dieses alles unleugbar viele Menschenalter nach dem Trojanischen Krieg vorgegangen ist, so führte man doch noch wenige Schiffe von drei Reihen Rudern, sondern behalf sich mit langen Schiffen von fünfzig Rudern. Nur kurz vor dem Persischen Krieg und dem Tod des Dareios, welcher dem Kambyses auf dem persischen Thron folgte, hielten die sizilianischen Tyrannen und die Kerkyräer eine beträchtlichere Anzahl dreiruderiger Schiffe in See, und dieses waren auch die letzten griechischen Flotten von einiger Erheblichkeit vor dem Ausbruch des Krieges mit dem Xerxes. Denn die Flotten der Ägineten, Athener und einiger anderen hatten wenig zu bedeuten und bestanden meistenteils nur aus Schiffen mit fünfzig Rudern. Ja selbst die Schiffe, welche die Athener lange nachher während ihres Krieges mit den Ägineten und bei dem erwarteten Einfall der Barbaren auf des Themistokles Anraten bauen ließen und mit denen sie nachher das Seetreffen lieferten, waren noch mit keinen vollständigen Verdecken versehen.
15. So sah es mit dem Seewesen der Griechen in den ältesten und den nachfolgenden Zeiten aus. Inzwischen wurden diejenigen, welche darin den Vorzug hatten, sowohl durch Erwerbung großer Reichtümer als Ausbreitung ihrer Herrschaft ziemlich mächtig, indem sie mit ihren Flotten die verschiedenen Inseln anfielen und bezwangen, namentlich wenn ihr eigenes Land keines der ergiebigsten war. Zu Lande hingegen kam es zu keinen Kriegen, wodurch ihre Macht einen Zuwachs hätte bekommen können; und wenn sich etwa dergleichen ereignete, so betraf dieses nur die jedesmaligen nächsten Nachbarn. In auswärtige Kriege, welche Eroberungen in entlegenen Gegenden hätten zur Absicht haben sollen, ließen sich die Griechen nicht ein. Man sah keine unterwürfigen Städte, die sich mit den größeren Mächten zu solchem Ende hätten vereinigen sollen; ebenso wenig verbanden sich die verschiedenen Mächte auf gleichem Fuß zu dergleichen gemeinschaftlichen Unternehmungen. Sie schlugen sich vielmehr untereinander jeder mit seinem Nachbar herum. Nur der Krieg zwischen den Chalkidern und Eretriern in früheren Zeiten war von der Art, dass die übrigen Griechen in demselben vorzüglich auf beiden Seiten Partei nahmen.
16. Übrigens kam dem einen dieses, dem anderen jenes Hindernis in den Weg, dass sie nicht recht emporkommen konnten. So fanden die Ionier zu einer Zeit, da ihre Macht sehr ansehnlich zu werden begann, dergleichen an den persischen Königen und besonders dem Kyros, welcher den Kroisos über den Haufen geworfen und den ganzen Strich Landes von dem Fluss Halys an bis an das Meer erobert hatte, darauf auch ihnen zu Leibe ging und die auf dem festen Land gelegenen Städte unters Joch brachte. Dareios bezwang nachher mit der Macht, welche ihm die phönizischen Flotten verschafften, auch die Inseln.
17. Hiernach waren die Tyrannen, so viel ihrer in den griechischen Städten waren, bloß auf ihren eigenen Vorteil und die Verbesserung ihrer persönlichen und häuslichen Umstände bedacht; sie suchten übrigens nur in ihren Staaten die möglichste Sicherheit zu erhalten, ohne sich in große Unternehmungen einzulassen; nur fingen sie mit ihren Nachbarn Händel an. Die sizilianischen Staaten brachten freilich ihre Macht auf einen sehr hohen Grad. So wurde Griechenland von allen Seiten her unter dem Druck gehalten, dass es weder mit vereinten Kräften etwas Großes verrichten konnte, noch auch seine einzelnen Staaten den Mut hatten, etwas zu unternehmen.
18. Nachdem aber die Lakedämonier der Regierung der eigenmächtigen Fürsten zu Athen und in den übrigen Gegenden von Griechenland, welche vorher ebenfalls größtenteils von Tyrannen beherrscht wurden, Sizilien ausgenommen, ein Ende gemacht (da Lakedämon seit der Zeit, wo sich die jetzigen dorischen Einwohner darin festgesetzt hatten, trotz der langwierigen einheimischen Unruhen, wovon es geplagt worden war, gleichwohl von den ältesten Zeiten her sich immer bei einer regelmäßigen Regierungsform erhalten hatte und nie von Tyrannen beherrscht worden war, wie es denn jetzt, von dem Ende dieses Krieges zurückzurechnen, bereits vierhundert und etliche Jahre her sind, dass die Lakedämonier ihre jetzige Staatsverfassung unverändert beibehalten haben) und sich dadurch ein großes Ansehen verschafft hatten, so setzten sie auch in anderen Städten die bürgerliche Verfassung auf einen gewissen Fuß. Nicht lange nach dem Sturz der Tyrannen in Griechenland kam es zur marathonischen Schlacht zwischen den Persern und Athenern. Und im zehnten Jahr darauf gingen die Perser zum zweiten Male mit der bekannten großen Seeflotte auf Griechenland los, in der Absicht, dasselbe gänzlich unters Joch zu bringen. Bei dieser großen Gefahr, welche ihnen drohte, stellten sich die Lakedämonier als die mächtigsten an die Spitze der verbündeten Griechen. Die Athener fassten bei dem Andringen der Perser den Entschluss, ihre Stadt zu verlassen, packten auch wirklich ihre Sachen zusammen, begaben sich damit zu Schiff und versuchten so ihr Glück zur See. Nachdem man die Barbaren mit vereinten Kräften zurückgeschlagen hatte, hingen sich nicht lange darauf die Griechen, welche von dem König abgefallen waren, und die Bundesgenossen beider Städte in diesem Krieg teils an die Athener, teils an die Lakedämonier, weil diese beiden Völker damals offenbar vor allen anderen die mächtigsten waren, und zwar das eine zur See und das andere zu Lande. Ihre Freundschaft blieb einige Zeit hindurch ungestört; allein es währte nicht lange, so fielen Zwistigkeiten zwischen den Lakedämoniern und Athenern vor, die gar bald in einen offenbaren Krieg zwischen ihnen und ihren Bundesgenossen ausbrachen, da denn alles, was von den übrigen Einwohnern Griechenlands etwa uneins war, sich zu einer von beiden Parteien schlug. Und so lebten sie die ganze Zeit hindurch von den persischen Händeln an bis auf den gegenwärtigen Krieg bald im Frieden, bald im Krieg untereinander oder mit ihren abgefallenen Bundesgenossen, wodurch sie das Kriegswesen in recht guten Stand brachten und immer mehr Erfahrung darin erlangten, indem die Übung ihren darauf verwandten Fleiß unterstützte.
19. Die Lakedämonier hatten die Führung über die verbündeten Mächte, ohne sie sich zinsbar zu machen, und begnügten sich bloß damit, deren Staatsverfassung mehr nach ihrer Gewohnheit oligarchisch einzurichten. Die Athener hingegen ließen sich bei ihrer Herrschaft nicht allein mit der Zeit von den verschiedenen Städten ihre Schiffe ausliefern, wovon nur die Chier und Lesbier ausgenommen waren, sondern legten ihnen auch insgesamt eine ordentliche Schatzung auf. Daher übertraf auch die Rüstung, mit welcher sie bloß für sich den Krieg, den wir hier zu beschreiben gedenken, anfingen, alles, was man vor der Zeit während der größten Blüte der verbündeten Mächte von der Art gesehen hatte.
20. So viel habe ich von den älteren Begebenheiten herausbringen können. Indessen dürfte es schwer halten, die jedesmaligen Beweise davon nach der Reihe beizubringen, indem man nur gar zu leicht die Erzählungen von den Begebenheiten alter Zeiten selbst an solchen Orten, wo sie geschehen sind, ohne Unterschied und weitere Prüfung einer von dem anderen anzunehmen pflegt. So ist es zum Beispiel eine gemeinsame Meinung unter den Athenern, dass Hipparchos als Tyrann von dem Harmodios und Aristogeiton erschlagen worden sei; sie wissen nicht, dass Hippias, der Älteste unter des Peisistratos Söhnen, die Regierung gehabt hat, dass Hipparchos und Thessalos nur seine Brüder gewesen sind und dass Harmodios und Aristogeiton nur, weil sie in den Verdacht geraten waren, einer von ihren Mitverschworenen habe an dem zur Ausführung ihres Anschlages bestimmten Tag, ja gerade in dem entscheidenden Augenblick dem Hippias den Handel entdeckt, den Hippias gehen ließen, weil er ihrer Meinung nach schon um den Handel gewusst hatte; weil sie aber doch, bevor man sich ihrer Personen bemächtigte, noch einen Streich hatten ausführen wollen und eben auf den Hipparchos gestoßen waren, welcher sich in dem Leokorion mit den Anstalten zu dem panathenäischen Aufzug beschäftigt hatte, haben sie ihn niedergestoßen. Ebenso wenig richtige Begriffe haben die übrigen Griechen von manchen Dingen, die noch jetzt wirklich vorhanden sind und daher noch nicht durch die Länge der Zeit verdunkelt werden konnten: Zum Beispiel, dass die lakedämonischen Könige jeder nicht eine, sondern zwei Stimmen habe, und dass es daselbst unter den Kriegsvölkern eine Rotte, namens die pitanateische, gebe, welche doch niemals in der Welt gewesen ist. So wenig Mühe geben sich die meisten Menschen bei Erforschung der Wahrheit, sie ergreifen lieber das erste Beste dafür.
21. Indessen wird man von demjenigen, was ich bisher berichtet habe, aus den angegebenen Gründen, ohne Gefahr zu irren, annehmen können, dass es sich so, wie ich gesagt, damit verhält, ohne dass man alles glaubt, was die Dichter davon gesungen und durch die Kunst vergrößert haben, oder auch was unsere Romanschreiber, mehr um den Leser zu vergnügen als sich an die genaueste Wahrheit zu binden, davon aufgezeichnet haben, weil sie niemand der Unrichtigkeit überführen konnte, und ein großer Teil der Begebenheiten selbst durch die Länge der Zeit in die unglaublichsten Fabeln ausgeartet war. Und man wird hoffentlich finden, dass dasjenige, was ich davon erzählt habe, durch die augenscheinlichsten Wahrzeichen, soweit es bei Begebenheiten von so hohem Altertum möglich ist, hinlänglich bestätigt werde. Was nun den gegenwärtigen Krieg betrifft, so kommt es freilich vor, dass man gewöhnlich einen Krieg zu der Zeit, wo derselbe wirklich im Gang ist, für den wichtigsten ansieht, der je geführt worden ist, sobald er hingegen vorbei ist, das Alte wieder mehr bewundert. Inzwischen wird sich doch aus dem Augenschein der Begebenheiten selbst leicht ergeben, dass derselbe an Größe alle vorigen wirklich übertroffen hat.
22. Hinsichtlich der dabei gehaltenen jedesmaligen Reden, welche teils bei den Beratungen zum Krieg, teils während des Krieges selbst gehalten worden sind, habe ich freilich schwerlich alles, was ich davon selbst mit angehört habe und was mir von anderen hinterbracht worden ist, Wort für Wort behalten und aufzeichnen können. Ich habe mich vielmehr damit begnügt, einen jeden dasjenige sagen zu lassen, was nach meinem Bedünken der Sache am dienlichsten war, aber doch dabei so genau als möglich den Hauptinhalt der wirklich gehaltenen Reden selbst wiedergegeben. Hinsichtlich der eigentlichen Begebenheiten des Krieges selbst bin ich nicht den ersten besten Nachrichten noch meinem eigenen Gutdünken gefolgt, sondern habe nur solche Dinge aufgezeichnet, bei denen ich entweder selbst zugegen gewesen bin oder worüber ich von anderen möglichst genaue Nachrichten eingezogen habe. Indessen hat es mich oft viel Mühe gekostet, hinter die eigentliche Wahrheit zu kommen, weil die, die bei den jedesmaligen Verrichtungen zugegen gewesen sind, in ihren Berichten oft nicht einstimmig waren, sondern je nachdem sie der einen oder der anderen Partei günstig waren oder auch ihr Gedächtnis ihnen zustattenkam, die Sachen verschieden erzählt haben. Diese von allen fabelhaften Ausschmückungen entblößten Nachrichten werden dem Leser zwar nicht so angenehm und unterhaltend vorkommen; allein wer auf die Zuverlässigkeit der erzählten Begebenheiten sehen und, in Erwägung, dass nach dem gewöhnlichen Weltlauf künftig einmal ebendergleichen und ähnliche Rollen werden gespielt werden, auf den wahren Nutzen solcher Nachrichten sehen will, der wird völlig damit zufrieden sein. So ist es denn mit dieser Arbeit nicht sowohl darauf abgesehen, den Lesern ein Stück, welches sie auf eine kurze Zeit angenehm unterhalten könne, als vielmehr ein Werk von beständiger Brauchbarkeit in die Hände zu liefern.
23. Es ist wahr, der persische Krieg übertrifft an Wichtigkeit alle Taten der vorigen Zeiten. Indessen war derselbe bald entschieden, und alles kam nur auf zwei Treffen zur See und auf dem Land an. Dieser Krieg hingegen hat sehr lange gedauert und Griechenland so viel Unheil zugezogen, wie es sonst nie in einem gleichen Zeitraume erfahren hat. Nie sind so viel Städte nach ihrer Eroberung verwüstet worden, als hier teils von den Barbaren, teils von den streitenden Parteien selbst geschehen ist (solcher nicht zu gedenken, die bei ihrer Einnahme mit ganz anderen Einwohnern besetzt worden sind); auch sind nie so zahlreiche Beispiele von Leuten, die landflüchtig werden mussten, und von Blutvergießen vorgekommen, als hier in dem Krieg selbst und bei einheimischen Zwistigkeiten erfolgten. Dinge, von denen man vorher zwar hat reden hören, aber selten durch Erfahrung die Bestätigung erlangt hat, verloren hier ihr unglaubliches Ansehen. Von der Art waren die Erdbeben, welche sich über einen großen Teil des Bodens mit außerordentlicher Heftigkeit spüren ließen; die Sonnenfinsternisse, welche sich während des Krieges häufiger zugetragen haben, als man in den vorigen Zeiten je gehört hat; hin und wieder große Dürre und daraus entstandene Hungersnot; und endlich die ansteckende Krankheit, welche so schädlich war und eine Menge Menschen aufrieb. Von allen diesen Zufällen wurden die Griechen zur Zeit dieses Krieges zugleich geplagt. Den Anfang damit machten die Athener und Peloponnesier mit dem Bruch des dreißigjährigen Friedens, den sie nach der Eroberung von Euboia miteinander geschlossen hatten. Und damit man nicht lange zu fragen braucht, wie die Griechen in einen so erschrecklichen Krieg geraten seien, so will ich gleich zu Anfang die Ursachen dieses Bruchs und die ersten Misshelligkeiten, die daraus folgten, mitteilen. Die eigentliche wahre Veranlassung dazu, wovon man aber wenig hat kund werden lassen, war meines Erachtens keine andere als die, dass die Athener wegen ihrer heranwachsenden Macht den Lakedämoniern furchtbar geworden waren und sie dadurch diesen Krieg anzufangen veranlasst hatten. Die Ursachen hingegen, die man öffentlich dafür ausgegeben hat, als ob sie von beiden Seiten den Friedensbruch und den darauffolgenden Krieg veranlasst hätten, waren folgende:
24. Epidamnos ist eine Stadt, welche man zur rechten Hand liegen lässt, wenn man in den Ionischen Meerbusen fährt. Nahe dabei wohnen die Taulantier, eine barbarische Nation von illyrischer Abkunft. Ihren Ursprung hat sie einem kerkyräischen Pflanzvolke zu danken, das dieselbe unter der Anführung des Phalios, eines Sohns des Eratokleides von Korinth und eines Abkömmlings des Herakles, der dem alten Herkommen gemäß aus der Mutterstadt dazu genommen wurde, angebaut hatte. Hierbei hatten sich jedoch auch einige Korinther und andere vom dorischen Stamm zu ihnen gesellt. Dieses Epidamnos nun wurde mit der Zeit eine große und volkreiche Stadt. Nachdem sie aber, so lauten die Nachrichten, viele Jahre lang in einheimische Unruhen verwickelt gewesen war, wurde sie durch einen Krieg vonseiten der angrenzenden Barbaren sehr gedemütigt und verlor einen guten Teil von ihrer Macht. Endlich, kurz vor dem Peloponnesischen Krieg, jagte das Volk die Vornehmen zur Stadt hinaus, welche sich zu den Barbaren begaben und mit denselben die Epidamnier zu Wasser und zu Lande beraubten. Da die in der Stadt befindlichen Epidamnier hierdurch sehr ins Gedränge gebracht wurden, so schickten sie Botschafter nach Kerkyra, ihrer Mutterstadt, und baten dieselbe, sie möchte doch ihrem Verderben nicht müßig zusehen, sondern sich zwischen ihnen und ihren vertriebenen Landsleuten ins Mittel schlagen und dem Krieg mit den Barbaren ein Ende machen. Hierum baten sie als Schutzflehende in dem Tempel der Hera. Allein die Kerkyräer gaben ihrem Ansuchen kein Gehör, sondern ließen sie unverrichteter Sache wieder fortreisen.
25. Als die Epidamnier hörten, dass sie sich von Kerkyra keine Hilfe zu versprechen hätten, wussten sie sich nicht zu raten und zu helfen. Sie schickten daher nach Delphi, und fragten den Apollon, ob sie die Stadt den Korinthern, ihren Stiftern, übergeben und auf solche Art versuchen sollten, ob diese sich ihrer annehmen wollten; hier erhielten sie zur Antwort, ja, sie sollten sich denselben ergeben und sich ihrer Anführung überlassen. Die Epidamnier reisten also nach Korinth und übergaben ihnen dem Orakelspruch gemäß die Pflanzstadt in ihren Schutz; hierbei führten sie an, dass ihr Stifter aus Korinth gewesen sei, taten ihnen auch den Ausspruch des Apollon zu wissen mit der Bitte, ihrem Verderben nicht gleichgültig zuzusehen, sondern sich ihrer anzunehmen. Die Korinther erklärten sich in der Überzeugung von der Gerechtigkeit eines solchen Verfahrens bereit, sie in Schutz zu nehmen, weil sie an dem Pflanzvolke ebenso viel Anteil zu haben glaubten als die Kerkyräer; zum Teil aber auch wohl aus Hass gegen die Kerkyräer, die sich eine Zeit lang nicht viel um sie bekümmerten, trotzdem sie ein Pflanzvolk von ihnen waren; sie erwiesen ihnen weder bei den allgemeinen feierlichen Zusammenkünften die gewöhnlichen Ehrenbezeigungen, noch ließen sie bei ihren Opferhandlungen einem Korinther jedes Mal die Vorhand, wie die übrigen Pflanzvölker zu tun pflegten, vielmehr gingen sie sehr geringschätzig und übermütig mit ihnen um. In der Tat konnten sie sich, was ihren Reichtum betraf, damals den begütertsten Städten Griechenlands an die Seite stellen; mit ihrer Kriegsmacht taten sie es ihnen noch zuvor, und hinsichtlich ihrer Seemacht maßten sie sich zu gewissen Zeiten vollends einen großen Vorzug an; hierin stand der Ort noch von den Phäaken her, die ihn ehedem bewohnt hatten, in großem Ruf. Ebendieser Umstand machte, dass sie desto mehr Fleiß auf die Ausrüstung ansehnlicher Flotten verwandten. Und ihre Macht war auch in diesem Stück in der Tat nicht gering; denn beim Ausbruch des Krieges hatten sie nicht weniger als hundertundzwanzig dreiruderige Schiffe in See.
26. Da also die Korinther so viel Beschwerden gegen die Kerkyräer hatten, so schickten sie den Epidamniern die verlangte Hilfe mit Freuden, ließen auch zu dem Zweck bekannt machen, dass ein jeder, der Lust hätte, mit nach Epidamnos gehen und sich daselbst niederlassen könnte, und schickten einen Haufen von amprakiotischen, leukadischen und ihren eigenen Kriegsvölkern zur Besatzung mit. Diese nahmen ihren Zug zu Lande bis Apollonia, einer korinthischen Pflanzstadt, weil sie besorgten, zur See möchten ihnen die Kerkyräer den Weg verlegen. Als die Kerkyräer hörten, dass die neuen Kolonisten und die zur Besatzung bestimmten Völker auf dem Zug nach Epidamnos begriffen seien, und die Pflanzstadt sich unter korinthischen Schutz begeben habe, empfanden sie solches sehr übel, stachen auch sogleich mit fünfundzwanzig Schiffen und bald darauf auch mit dem Rest der Flotte in See und befahlen ihnen in den trotzigsten Ausdrücken, sie sollten die Flüchtlinge wieder aufnehmen (die epidamnischen Vertriebenen waren nämlich nach Kerkyra gekommen und hatten das Volk daselbst bei ihren Gräbern und bei ihrer beiderseitigen Verwandtschaft beschworen, dass sie sie doch wieder in ihr Vaterland bringen möchten) und die von den Korinthern geschickte Besatzung und Kolonisten wieder gehen lassen. Doch die Epidamnier wollten von nichts dergleichen hören. Die Kerkyräer liefen also, nachdem sie sich mit den Illyriern vereinigt hatten, mit einer Flotte von vierzig Schiffen gegen sie aus und nahmen die Vertriebenen mit an Bord, in der Absicht, sie wieder nach Epidamnos zu bringen. Nachdem sie ihre Völker an die Stadt hatten rücken lassen, machten sie öffentlich bekannt, dass alle Fremden und auch die Epidamnier, welche Lust dazu hätten, sich sicher hinweg machen könnten, widrigenfalls man mit ihnen als Feinden umgehen würde. Als sich aber niemand daran kehrte, fingen die Kerkyräer an, die Stadt, welche auf einer Landzunge liegt, förmlich zu belagern.
27. Sobald die Korinther durch Boten von Epidamnos aus die Nachricht erhielten, dass es belagert sei, rüsteten sie sich zu einem Feldzug. Zu gleicher Zeit ließen sie eine Verordnung wegen eines neuen Pflanzvolkes nach Kerkyra bekannt machen, wobei alle die, die mitzugehen Lust hätten, zu gleichen Teilen gehen sollten; wer aber nicht gleich mit zu Schiff gehen, sonst aber doch zu dem Pflanzvolke treten wollte, der sollte fünfzig Drachmen Sicherheit stellen, unter welcher Bedingung er zu Korinth bleiben könnte; worauf sich denn von beiden Arten, sowohl die gleich mit zu Schiff gingen, als die das Geld erlegten, eine große Anzahl meldete. Sie ersuchten dabei die Megarer, sie mit einigen Schiffen zu begleiten, für den Fall, dass sie etwa von den Kerkyräern auf ihrer Fahrt beunruhigt werden sollten; diese entschlossen sich denn auch, mit acht Schiffen zu ihnen zu stoßen, ebenso die Einwohner von Paleis in Kephallenia mit vieren. Sie hielten auch bei den Epidauriern deshalb an, welche ihnen fünf zukommen ließen. Die Hermioner gaben auch eins dazu her, die Troizenier zwei, die Leukadier zehn und die Amprakioten acht. Bei den Thebanern und Phliasiern hielten sie um Gelder an und bei den Eleern um leere Schiffe und Geld. Für sich selbst rüsteten die Korinther dreißig Schiffe aus, worauf dreitausend Mann schwer Bewaffnete an Bord gingen.
28. Als die Kerkyräer von diesen Zurüstungen hörten, fuhren sie in Gesellschaft der lakedämonischen und sikyonischen Abgesandten, welche sie mit sich nahmen, nach Korinth und verlangten, die Korinther sollten die in Epidamnos liegende Besatzung samt ihren Kolonisten herausziehen, da sie auf Epidamnos nicht den geringsten Anspruch hätten. Glaubten sie aber, solchen doch darauf zu haben, so wollten sie die Sache auf die gerichtliche Entscheidung solcher Städte im Peloponnes, über welche sie sich beide vergleichen könnten, ankommen lassen, sodass derjenige, dem diese die Pflanzstadt zuerkennen würden, gewonnen haben sollte. Ja, sie wollten alles dem Ausspruch des delphischen Orakels überlassen, nur sollten sie keinen Krieg darüber anfangen. Widrigenfalls, sagten sie, würden sie sich mit Gewalt genötigt sehen, sich zu ihrem Behuf nach anderen Freunden umzusehen, als sie jetzt hätten. Allein die Korinther gaben ihnen zur Antwort, wenn sie sich mit ihren Schiffen von Epidamnos zurückzögen und die Barbaren abführten, so wollten sie die Sache überlegen; bevor dies nicht geschähe, würde es seltsam scheinen, wenn sie unterdessen, dass jene belagert würden, miteinander rechten wollten. Die Kerkyräer versetzten, sie wären bereit dazu, wenn jene auch ihre Leute aus Epidamnos ziehen wollten; sonst aber sollte es ihnen auch lieb sein, wenn beide Teile an Ort und Stelle blieben und so lange einen Stillstand schlössen, bis man die Sache rechtlich entschieden hätte.
29. Allein die Korinther wollten von nichts dergleichen hören, sondern weil ihre Schiffe bemannt waren und ihre Bundesgenossen sich bereits bei ihnen eingefunden hatten, schickten sie erst einen Herold voraus, welcher den Kerkyräern den Krieg ankündigen musste, und gingen sodann mit fünfundsiebzig Schiffen und zweitausend Soldaten nach Epidamnos unter Segel, die Kerkyräer anzugreifen. Die Anführung der Flotte hatten Aristeus, des Pellichos Sohn, Kallikrates, des Kallias, und Timanor, des Timanthes Sohn. Die Landvölker aber hatten den Archetimos, des Eurytimos, und den Isarchidas, des Isarchos Sohn, zu ihren Anführern, als sie bei Aktion im anaktorischen Gebiet, wo der Tempel des Apollon steht, unweit der Mündung des Amprakischen Meerbusens, angekommen waren, schickten ihnen die Kerkyräer mit einem Boot einen Herold entgegen, mit dem Bedeuten, sich ihnen nicht weiter zu nähern; sie selbst aber schifften unterdessen ihre Völker ein, machten in den alten Schiffen das Ruderwerk zurecht, dass sie in See gehen konnten, und besserten die übrigen aus. Als der Herold keine friedfertige Antwort von den Korinthern zurückbrachte und sie achtzig Schiffe bemannt hatten, außer vierzig, welche Epidamnos gesperrt hielten, ruderten sie ihnen entgegen und lieferten ihnen ein ordentliches Treffen, in welchem die Kerkyräer einen wichtigen Sieg erhielten und den Korinthern fünfzehn Schiffe zu Schanden machten. An eben dem Tag fügte sich’s, dass die, welche die Belagerung von Epidamnos führten, diese Stadt auf Bedingungen zur Übergabe brachten, welche darin bestanden, dass sie die Fremden ausliefern, die Korinther aber in Haft behalten sollten, bis man ihretwegen andere Maßregeln treffen würde.
30. Die Kerkyräer errichteten nach beendigtem Seetreffen auf dem Vorgebirge von Kerkyra, namens Leukimme, ein Siegeszeichen und töteten sodann die übrigen Gefangenen, welche sie bekommen hatten, die Korinther aber hielten sie in Haft. Als nachher die Korinther samt ihren Bundesgenossen der Einbuße wegen, welche sie an ihren Schiffen erlitten hatten, wieder nach Hause zurückgegangen waren, bestrichen die Kerkyräer die ganze See um diese Gegenden herum, segelten nach Leukas, einer korinthischen Pflanzstadt, verheerten das Land daselbst und steckten Kyllene, wo die Eleer ein Schiffslager hatten, in Brand, weil sie den Korinthern Schiffe und Geld hergegeben. In dieser Überlegenheit zur See behaupteten sie sich eine geraume Zeit nach dem Seetreffen und fügten in dieser Zeit den Bundesgenossen der Korinther durch häufige Überfälle großen Schaden zu, bis die Korinther endlich mit Rücksicht auf die bedrängten Umstände, worin sich ihre Bundesgenossen befanden, gegen den Sommer eine neue Flotte mit Kriegsvölkern an Bord abgehen ließen, welche bei Aktion und bei Cheimerion in Thesprotien ein Lager errichteten, um solchergestalt Leukas und die übrigen mit ihnen verbundenen Staaten zu decken. Die Kerkyräer stellten sich mit einer Landarmee und mit der Flotte bei Leukimme ihnen gegenüber. Doch griff keiner den anderen an, sondern sie lagen den ganzen Sommer durch still und begaben sich gegen den Winter beide wieder nach Hause.
31. Die Korinther, welche den Krieg gegen die Kerkyräer mit großer Hitze führten, brachten das ganze Jahr nach der Seeschlacht und das folgende mit Erbauung neuer Schiffe zu und rüsteten eine gewaltige Flotte aus, wozu sie aus dem Peloponnes selbst und aus den übrigen Gegenden Griechenlands, durch Versprechung starker Besoldung die Bootsleute zusammenbrachten. Die Nachricht von diesen Zurüstungen beunruhigte die Kerkyräer, und da sie bis dahin mit keinem der griechischen Völker im Bündnis standen und weder dem athenischen noch dem lakedämonischen Bund beigetreten waren, so hielten sie es für das ratsamste, sich an die Athener zu wenden, mit denselben ein Bündnis zu schließen und zu versuchen, ob sie von ihnen einigen Vorschub erhalten könnten. Sobald die Korinther das erfahren hatten, schickten sie ebenfalls eine Gesandtschaft nach Athen, damit diese Macht durch Vereinigung ihrer Flotte mit der der Kerkyräer sie nicht hindern möchte, dem Krieg eine Gestalt nach ihrem Wunsche zu geben. Als die Versammlung beieinander war, redete jeder für seine Partei wider die andere; und zwar ließen die Kerkyräer sich folgendermaßen vernehmen:
32. »Die Billigkeit erfordert es, ihr Athener, dass Leute, die andere um ihre Hilfe ansprechen, wie wir jetzt tun, ohne dass sie große Verdienste aufweisen oder sich auf geleisteten Beistand im Krieg berufen können, jene doch wenigstens vorläufig zu überzeugen suchen, teils und hauptsächlich, dass ihr Gesuch selbst den Vorteilen derselben gemäß, oder doch, wo dieses nicht möglich ist, dass es wenigstens ihnen zu keinem Nachteil gereichen könne; teils, dass sie sich jederzeit eine unverbrüchliche Dankbarkeit werden angelegen sein lassen oder, wenn sie dieses nicht auf eine überzeugende Art dartun können, sich’s nicht verdrießen lassen werden, wenn ihnen ihr Gesuch fehlschlägt. Die Kerkyräer glauben bei ihrem Gesuch um eure Bundesgemeinschaft euch hiervon hinlängliche Sicherheit verschaffen zu können und haben uns zu dem Ende zu euch hergeschickt. Zwar ist unser bisheriges Betragen so beschaffen, dass wir es weder bei euch zu unserem Vorteil anführen noch uns selbst bei gegenwärtigen Umständen einigen Nutzen daraus versprechen können. Wir haben in den vorigen Zeiten niemandem gern im Krieg beigestanden; und nun kommen wir und verlangen dergleichen von anderen; wir sehen uns eben deswegen in diesem Krieg mit den Korinthern von allem Beistand entblößt, sodass die kluge Eingezogenheit, die wir von jeher darin zu beweisen geglaubt haben, dass wir uns in keine auswärtige Bündnisse eingelassen haben, um uns nicht in die Notwendigkeit zu versetzen, nach eines anderen Einfällen seine Gefahr mit ihm zu teilen, gegenwärtig durch eine seltsame Veränderung das Ansehen einer großen Unbedachtsamkeit und Schwachheit gewinnt. Zwar haben wir bei dem stattgehabten Seetreffen die Korinther allein zurückgeschlagen, da sie uns jetzt jedoch mit einer größeren Macht, welche sie aus dem Peloponnes und anderen griechischen Ländern an sich gezogen haben, zu Leibe wollen, sodass wir uns außerstande sehen, mit unserer einheimischen Macht allein die Oberhand zu behalten, unsere Bezwingung von den Korinthern aber von gar zu gefährlichen Folgen für uns sein würde, sehen wir uns genötigt, euch und jeden anderen um Hilfe anzusprechen. Man wird uns bei diesem Unterfangen, welches zu unserer vormaligen Eingezogenheit allerdings im Gegensatz steht, leicht Vergebung widerfahren lassen, weil dabei keine Bosheit, sondern bloß irrige Einsichten zugrunde gelegen haben.
33. Für euch aber wird dieses, wofern ihr unser Gesuch bewilligt, wegen verschiedener Vorteile, die ihr aus einer solchen Verbindung mit uns ziehen werdet, ein erwünschter Vorfall sein. Ihr werdet fürs Erste Leuten die Hand bieten, welche Unrecht leiden und nicht andere beleidigen; sodann werdet ihr dadurch, dass ihr euch unser in einer Gefahr annehmt, worin die wichtigsten Dinge von der Welt für uns auf dem Spiel stehen, uns zu einer Dankbarkeit verbinden, die wir durch unaufhörliche Zeugnisse an den Tag zu legen suchen werden; und endlich haben wir eine Seemacht, welche, außer der eurigen, ihresgleichen nicht hat. Überlegt also nur selbst, ob euch je so bald wieder ein so erwünschter Handel vorkommen und euren Feinden ein solcher Dorn im Auge sein würde, als dieser, da eine Macht, deren Beitritt ihr mit vielen Schätzen und Gefälligkeiten hättet erkaufen mögen, sich euch aus freien Stücken anbietet und sich ohne Gefahr oder Kosten in eure Hände liefert; die euch hiernächst in den Augen der Welt den Ruhm einer besonderen Tugend zuziehen, diejenigen, welchen ihr beispringt, euch höchlich verpflichten und eure Macht ansehnlich vergrößern wird; alles dieses zusammen ist wohl seit Menschengedenken wenigen zuteilgeworden; so wie es wenige Beispiele geben wird, dass ein Staat, der andere um Beistand im Krieg ersucht, denen, bei welchen er darum angehalten hat, nicht weniger Sicherheit und Ansehen zuwege gebracht hat, als er selbst von jenen erhalten. Sollte aber jemand unter euch denken, ein solcher Krieg, in welchem wir euch gute Dienste tun könnten, werde nie wirklich werden, der irrt sich ganz gewiss in seinen Gedanken und bedenkt nicht, dass die Lakedämonier aus Furcht vor eurer Macht schon wirklich mit einem Krieg schwanger gehen und dass die Korinther, welche viel bei ihnen vermögen und zugleich eure Feinde sind, jetzt nur erst mit uns fertigzuwerden suchen, ehe sie mit euch anbinden, damit wir nicht als gemeinschaftliche Feinde unsere Macht gegen sie vereinigen, sie hingegen wenigstens von beiden eins erhalten, entweder uns übel zu tun oder ihre eigene Macht zu befestigen. Wir haben also nur daran zu denken, ihnen durch unseren Antrag und eure Genehmigung dieses Bündnisses zuvorzukommen und lieber angreifungs- als verteidigungsweise vorzugehen.
34. Wollten sie einwenden, es sei ungerecht, dass ihr ein Pflanzvolk von ihnen in Schutz nehmt, so müssen sie wissen, dass ein jedes Pflanzvolk so lange seiner Hauptstadt alle Achtung beweist, als diese gut mit ihm umgeht, bei erlittenem Unrecht aber so gut als fremd wird. Denn es hat mit einer Kolonie nicht die Absicht, dass sie Sklaven der Hinterbliebenen seien, sondern vielmehr gleiche Rechte mit diesen genießen sollen. Dass sie uns aber beeinträchtigt, ist eine Sache, die klar zutage liegt. Denn als man sie als Schiedsrichter nach Epidamnos gerufen hatte, wollten sie die geführten Beschwerden nicht nach dem Weg rechtens, sondern mit bewaffneter Hand schlichten. Und dieses Verfahren, welches sie gegen uns als Leute von einerlei Geblüt beobachten, mag euch zur Warnung dienen, dass ihr euch weder durch ihre Kunstgriffe hinters Licht führen lasst, noch ihnen in dem, worum sie euch geradezu ansprechen, willfahrt. Je weniger man durch seine Willfährigkeiten gegen Feinde sich Vorrat zu künftiger Reue sammelt, desto sicherer geht man.
35. Von den Lakedämoniern kann unsere Aufnahme auch nicht als ein Bruch von eurer Seite angesehen werden, da wir bisher mit keinem von beiden im Bunde gestanden haben, euer Bundesvertrag mit ihnen aber ausdrücklich besagt, dass es denjenigen griechischen Städten, welche noch mit keiner von euch beiden im Bunde stünden, freistehen sollte, zu einer von beiden nach ihrem Belieben zu treten. Das wäre doch entsetzlich, wenn es ihnen erlaubt sein sollte, ihre Schiffe mit Mannschaft aus den verbündeten Staaten, ja überdies noch aus den übrigen griechischen Provinzen, und dieses zum Teil von euren Untertanen zu besetzen; und uns wollten sie alle Teilnahme an dem vorhandenen Bund und alle anderweitige Hilfe abschneiden und es euch dennoch zu einem Verbrechen anrechnen, wenn ihr uns in unserem Gesuch willfahrt! Nein, wir würden uns noch weit mehr über euch zu beschweren haben, wenn wir euch nicht dazu sollten bewegen können. Ihr würdet in solchem Fall den Not leidenden und in keiner Feindschaft mit euch begriffenen Teil von euch stoßen; und eure wirklichen Feinde, als den angreifenden Teil, würdet ihr nicht allein in ihren Unternehmungen nicht hemmen, sondern noch dazu gegen alle Gesetze der Billigkeit ihre Macht aus euren Staaten verstärken lassen. Nein, entweder müsst ihr ihnen keine Werbung in euren Ländern gestatten oder uns ebenfalls auf die Art, wie ihr es am ratsamsten finden werdet, Vorschub leisten, und zwar, wie wir es vorzüglich wünschten, durch Errichtung eines feierlichen Bündnisses. Ihr werdet dabei, wie wir schon anfänglich zu verstehen gegeben haben, verschiedene sichtbare Vorteile finden. Einmal und zuvörderst haben wir beide einerlei Feinde (ein Umstand, welcher euch die stärkste Gewähr für unsere Treue leisten kann) und zwar keine schwachen Feinde, sondern die vollkommen imstande sind, ihrer Gegenpartei zu schaden. Sodann habt ihr es mit keiner Landmacht zu tun, sondern wir haben euch bei diesem Bündnis eine Flotte anzubieten, deren Abgang euch unmöglich gleichgültig sein kann. Eure Vorteile erfordern es, dass ihr, wo möglich, keinen anderen zur See aufkommen lasst oder, wenn dies nicht sein kann, allemal die Stärksten auf eurer Seite zu haben sucht.
36. Sollte jemand denken, dies sei schon ganz gut, dabei aber besorgen, es möchte sein Verfahren, wenn er sich dadurch bereden ließe, als ein Bruch seiner übrigen Verträge angesehen werden, der darf nur sicher glauben, dass eine Furcht wie diese, welche durch die Macht unterstützt wird, seinen Feinden nur desto furchtbarer sein werde; ebenso wie im Gegenteil seine vermeintliche Sicherheit bei verweigerter Aufnahme unseres Antrages, bei seiner anderweitigen Schwäche gegen einen so mächtigen Feind, diesen nur desto kühner machen würde. Das Schicksal von Athen wird ja ebenso sehr von euren gegenwärtigen Entschließungen abhängen, als das von Kerkyra. Und man würde die Vorteile dieses gemeinsamen Wesens schlecht besorgen, wenn man bei einem bevorstehenden und bereits so gut wie erklärten Krieg nur auf das Gegenwärtige sehen und sich noch lange bedenken wollte, sich einen Ort zu verbinden, dessen Freundschaft oder Feindschaft den wichtigsten Einfluss auf den Lauf der Sachen haben muss, da er so bequem zu der Fahrt nach Italien und Sizilien liegt, dass gegen unseren Willen kein Schiff von dort her nach dem Peloponnes kommen, von hier aus hingegen allemal eine Flotte bequem dahin abgehen kann; und dergleichen Bequemlichkeiten sind noch mehrere dabei. Um aber endlich alles, samt und sonders, kurz zusammenzufassen, so überlassen wir euch aus folgender Betrachtung zu urteilen, dass ihr uns nicht abweisen dürft. Es gibt unter den Griechen nur drei ansehnliche Seemächte, die eurige, unsere und die der Korinther. Wollt ihr es nun geschehen lassen, dass zwei derselben unter einen Hut gebracht werden und wir den Korinthern zur Beute werden, so werdet ihr eure Seekriege mit den Kerkyräern und Peloponnesiern zugleich zu führen haben. Nehmt ihr aber unser Erbieten an, so werdet ihr in eurem Krieg wider sie die stärkste Anzahl Schiffe auf eurer Seite haben.«
37. So redeten die Kerkyräer. Nach ihnen ließen sich die Korinther folgendermaßen vernehmen:
»Da die Kerkyräer nicht bloß von ihrer Aufnahme in euren Bund geredet sondern auch so getan haben, als ob wir ungerecht mit ihnen, verführen und sie wider Recht und Billigkeit bekriegt würden, so wird es nötig sein, dass wir auch zunächst beide Stücke berühren und sodann zu dem übrigen Inhalt unserer Rede übergehen, damit ihr desto sicherer im Voraus wissen könnt, wessen ihr euch von uns zu versehen habt, und die Vorteile, die euch jene anbieten, nicht ohne genugsame Gründe verschmäht. Erstlich also sagen sie, sie hätten aus kluger Überlegung sich mit niemandem in Bündnisse eingelassen. Allein diese Aufführung hat bei ihnen gewiss keine Tugend, sondern bloße Schelmerei zum Grund gehabt: Sie haben nämlich bei ihren Verbrechen keine Gehilfen und Zeugen haben wollen, welche sie nicht hätten dazu nehmen können, ohne sich in Schimpf und Schande zu stürzen. Dabei macht die bequeme und vorteilhafte Lage ihrer Insel, dass sie auf diese Art über die anderen zugefügten Kränkungen am ersten selbst Richter sein können, ohne sich anderen gemeinschaftlich bewilligten Schiedsrichtern zu unterwerfen, indem sie mit ihren Schiffen selten zu ihren Nachbarn kommen, hingegen andere notwendig sehr stark bei ihnen vorsprechen müssen. Dieses ist also der eigentliche Grund ihrer scheinbaren Parteilosigkeit, nicht ein Vorsatz, an anderer Ungerechtigkeit keinen Teil zu nehmen, sondern dergleichen für sich allein zu verüben, da, wo sie die Stärksten wären, Gewalt zu brauchen, wo sie es heimlich genug treiben könnten, andere zu übervorteilen, und wenn sie irgendeinen Fang getan, der Scham überhoben zu sein. Wären sie, wie sie sagen, rechtschaffene Leute, so hätten sie durch Bewilligung einer Entscheidung nach Recht und Billigkeit ihre tugendhaften Gesinnungen um so viel offenbarer an den Tag legen können, je schwerer andere ihnen beikommen können.
38. Allein so haben sie es mit uns und anderen nicht gehalten. Obwohl sie ein Pflanzvolk von uns sind, haben sie sich doch beständig von uns losgesagt, und nun fangen sie gar einen offenbaren Krieg mit uns an und sagen, sie seien nicht von uns ausgezogen, um übel von uns gehalten zu werden. Allein wir haben sie auch gewiss nicht ausgeschickt, um allerlei Frevel und Mutwillen von ihnen zu erdulden, sondern vielmehr um als ihre Oberhäupter gehörige Achtung von ihnen zu genießen. So machen es unsere übrigen Pflanzstädte: Sie halten uns in Ehren und haben alle kindliche Liebe gegen uns. Es ist also wohl unleugbar, dass, da die meisten mit uns zufrieden sind, diese allein wohl keine begründete Ursache zu ihrem Widerwillen gegen uns haben werden, und dass wir sie nicht gegen allen Anstand bekriegt haben würden, wenn wir nicht auf die gröbste Art von ihnen beleidigt worden wären. Gesetzt aber auch, wir hätten es in dem einen oder anderen Stück versehen, so würde es löblich von ihnen gehandelt gewesen sein, wenn sie unserem aufgebrachten Sinn nachgegeben hätten; und die Schande würde auf unserer Seite gewesen sein, wenn wir so gemäßigte Leute hätten mit Gewalt aufbringen wollen. So aber haben sie aus Übermut und weil ihnen ihr Reichtum alles möglich macht, sich unzähliger Vergehungen gegen uns schuldig gemacht, und jetzt machen sie es mit Epidamnos, welches unstreitig unser ist, ebenso. Solange sich dieses in Not befand, kehrte sich niemand daran; allein als wir kamen, um uns seiner anzunehmen, bemächtigten sie sich seiner auf eine gewalttätige Art, und haben es augenblicklich wirklich noch in Händen.
39. Freilich sagen sie