Der perfekte Plan - Hanne-Vibeke Holst - E-Book

Der perfekte Plan E-Book

Hanne-Vibeke Holst

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Beschreibung

Wettlauf gegen das Vergessen

Jeder Tag, an dem sie noch klar denken kann, ist ein Gewinn. Denn Elizabeth Meyer weiß, dass dieser Zustand nicht von Dauer ist: Die Diagnose lautet Alzheimer. Als sich erste Aussetzer zeigen, kämpft die hochkarätige Politikerin mit aller Kraft gegen das schleichende Vergessen — niemand darf von ihrer Krankheit wissen. Die Zeit rennt ihr davon, und Elizabeth sucht fieberhaft nach einer Nachfolgerin …

In ihrer Hand hält sie eine Kinokarte, doch an den Film kann sich Elizabeth beim besten Willen nicht erinnern — dabei ist die Vorstellung erst zwei Stunden her. Drei Jahre sind vergangen, seit Elizabeth Meyer von ihrer Alzheimererkrankung erfahren hat, und jetzt zeigen sich die ersten Aussetzer. Erst verzweifelt, dann zunehmend gefasst, versucht sich die Spitzenpolitikerin mit der verstörenden Situation zu arrangieren. Auf Hilfe kann sie dabei nicht hoffen, denn Elizabeth hat beschlossen, ihre Krankheit geheim zu halten. Ist ihre Zeit gekommen, will sie allein und ohne Aufsehen in einer Klinik aus der Welt scheiden. Doch vorerst hat die Politikerin aus Leidenschaft noch eine Mission zu erfüllen: Sie will ihre Parteikollegin Charlotte auf ihre Nachfolge vorbereiten, auch wenn es ihr mit jedem Tag schwerer fällt, ihren Zustand zu verschleiern. Doch Charlotte scheint ganz andere Pläne zu haben …

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
New York, drei Jahre zuvor
Copyright
Für meine Mutter
New York, drei Jahre zuvor
PATIENTEN WIE DIESE MACHTEN es ihm unmöglich, mit dem Rauchen aufzuhören.
Die erste Zigarette hatte er bereits nach dem Frühstück geraucht, schnell und verstohlen auf seiner Terrasse im 14. Stock, wo er einen mediterranen Atriumgarten angelegt hatte. Eine Seltenheit zwischen Wolkenkratzern und Bürosilos. Es erfüllte ihn mit Stolz, die noch kleinen Apfelbäume, das Feigenspalier und die Trauben an den Weinstöcken vorzuzeigen, die irgendwann zusammen mit den immergrünen Fichten den Blick auf Ground Zero zur einen Seite verdecken und gleichzeitig die Aussicht auf die Freiheitsstatue gewähren würden. Waren seine Gäste von diesem teuer bezahlten Panorama noch nicht hinreichend beeindruckt und zeigten wenig Sinn für die duftenden Kräuter und die marokkanischen Mosaiktische, hielt er noch einen weiteren Trumpf bereit, der auch ein Trumpf des Immobilienmaklers gewesen war: dass man genau auf dieser Terrasse im Battery Park ein Teil der Tragfläche des American Airlines Flight 11 gefunden hatte, der gekaperten Passagiermaschine, die von dem Ägypter Mohammed Atta im Namen Allahs am 11. September 2001 um 8:46 Uhr in den Nordturm gesteuert worden war. Diese Information sorgte in der Regel für einen Moment betretenen Schweigens; einige, vor allem Frauen, erschauderten und gingen schnell zurück in die Wohnung, während andere, vor allem Männer, der Faszination des Überwältigenden nachgaben und so lange stehen blieben, bis sie das zaghafte Kitzeln der Langeweile verspürten.
Aufgewachsen in Jerusalem als Nachkomme zionistischer Pioniere und gezeichneter Holocaust-Opfer, hatte Dr. Shalev nie das Privileg genossen, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu beklagen. Die Angst, dass Israel ausradiert werden könnte, hatte seine Kindheit infiziert, und als junger Mann war er in eine schmerzhafte Krise gestürzt, als sein bester Freund im Bus nach Haifa einem Selbstmordattentäter zum Opfer fiel, der als israelischer Soldat verkleidet gewesen war. Diese palästinensische Untat und die ihr folgenden Vergeltungsaktionen hatten Idan Shalev daran zweifeln lassen, dass die Zukunft noch etwas anderes als Leid und Unglück, Hass und Rache brachte. Die Krise führte dazu, dass er den Glauben an Gott und den Zionismus verlor, sich gegen eine militärische Karriere und für den Arztberuf entschied in der naiven Hoffnung, mit den eigenen Händen lindern und wiedergutmachen zu können, was andere an Schmerzen verursachten und Böses taten. Und als er an diesem frühen Novembermorgen auf der Terrasse meditiert und seiner Frau einen Abschiedskuss gegeben hatte, um anschließend in halsbrecherischer Geschwindigkeit in seinem aufsehenerregenden kanariengelben Jeep durch den Battery Tunnel in seine Praxis in Brooklyn zu fahren, konnte er mit Recht behaupten, dass er zwar keine Wunder, aber zumindest doch täglich gute Taten vollbrachte. Als ehrgeiziger Immigrant und passionierter Neurologe tat er alles in seiner Macht Stehende, der steigenden Anzahl an Patienten zu helfen, die mit der Zeit aus den mondänsten Stadtteilen Manhattans an ihn überwiesen wurden. Das Problem, das an ihm nagte und für die tägliche Packung Marlboro verantwortlich war, war die Tatsache, dass dies nicht genug war. Er fühlte sich dennoch schuldig - glaubte, versagt zu haben, weil er abgehauen war. Und jeden Tag musste er trotz seiner Bemühungen Männern und Frauen, die mit bangen Ahnungen zu ihm kamen, um das Ergebnis ihrer CT-Scans und gefürchteten Labortests zu erfahren, das Todesurteil überbringen.
Wie ihr, einer ausländischen VIP, der ersten Patientin an diesem Morgen. Eine kultivierte honigblonde Dänin, die trotz ihres Geburtsjahres 1944 noch immer attraktiv war, ohne die verunstaltende Schärfe, die viele dunkle Jüdinnen mit dem Alter entwickelten. Es musste das Osteuropäische sein, das durchschlug, denn kam nicht ein Zweig der Familie aus Litauen? Bevor sie vor den Pogromen des Zaren geflohen und in Dänemark gelandet waren? Auf dem Weg nach Amerika, wie so viele andere zu dieser Zeit. Das hatte Ben, ihr Bruder, sommersprossig und mit grünen Augen wie seine Schwester, ihm redselig bei einer ihrer ersten Konsultationen erzählt, bei denen sie den Stammbaum skizziert hatten. Eine genealogische Disziplin, in der die meisten Juden Meister waren. Sie wussten es alle. Oder sie versuchten es herauszufinden. Woher sie kamen, wessen Ururenkel sie waren, wohin sie ausgewandert waren, wer sich wo befand und - was am wichtigsten war - wer überlebt hatte und wer gestorben war. Perished in Holocaust, wie es so schön hieß.
Dr. Shalev atmete tief durch. Er war erst 39, doch jedes Mal, wenn er hier durchmusste, fühlte er sich alt wie ein hart geprüfter Rabbiner. Deshalb wählte er nicht nur den Patienten zuliebe den längeren Umweg aus Höflichkeitsfloskeln und Small Talk. Einige Patienten ergriffen dankbar die Gelegenheit und halfen ihm, das Unumgängliche hinauszuschieben, indem sie selbst drauflosplapperten; andere saßen bereits blass da und drückten die Hand ihres Begleiters. Doch sie saß ruhig abwartend auf der Stuhlkante und gab ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder nur sehr knappe Antworten - »Thanksgiving ist gut verlaufen, danke« -, und sie war alleine gekommen. Im Taxi. Er kannte den Typ, hatte viele dieser Art prominenter Patienten. TV-Sterne, administrierende Direktoren, Anwälte - hohe Tiere, die volle Diskretion verlangten und es vorzogen, ihre Probleme selbst anzugehen. Starke Einzelkämpfer, die nicht auswichen, sondern die Ohrfeigen einsteckten, wie sie kamen. Während er versuchte, das Gespräch in die Länge zu ziehen und ein Sicherheitsnetz für sie zu spinnen, wanderte ihr Blick von ihm zu dem Ausdruck, der auf dem Schreibtisch lag und Aufmerksamkeit verlangte, und als sie schließlich auch den Kaffee ausschlug, kam er nicht mehr darum herum. Er musste sagen, wie es war. Oder zumindest in etwa, wie es war. Denn obwohl sie darauf bestehen würde, die Wahrheit zu erfahren, würde er lügen, beschönigen und abmildern. Er würde die Prognosen und die präventiven Wirkungen der Medikamente besser darstellen, als sie tatsächlich waren. Andernfalls würde sie vermutlich die Praxis verlassen und sich direkt in den Fluss stürzen - was er ihr nicht einmal zum Vorwurf machen könnte.
»Nun gut, Mrs. Meyer«, nahm er Anlauf und griff nach dem Bogen mit den Laborergebnissen. »Der Test ist leider positiv. Aber …«
Sie jammerte nicht, sie weinte nicht, sie rief nicht den Allmächtigen an. Blinzelte nur ein paar Mal schnell hintereinander, wie eine defekte Leuchtstoffröhre in einer Lagerhalle am Westufer. Befeuchtete ihre Lippen, führte die Hand zur Wange und schien in sich zusammenzusinken. Sah mit steifen Pupillen durch ihn hindurch, während er sie routinemäßig über die Möglichkeiten der Behandlung und die vielversprechenden Fortschritte in der Forschung aufklärte, es sogar schaffte, die innerhalb »einer überschaubaren Anzahl von Jahren« eventuell mögliche Gentherapie zu erwähnen.
»Wie viel Zeit habe ich noch?«, fragte sie knapp. »Bevor man etwas merkt?«
Fünf Jahre, hatte er geantwortet. Genau kann man es nie wissen. Es kommt darauf an.
Später im Raucherzimmer saß er der Einbildung auf, er könne jederzeit mit dem Rauchen aufhören. Doch er würde rauchen, solange er als Neurologe arbeitete, und ebenso lange, wie er rauchen würde, würde er sich wie alle anderen Neurologen für seinen schwachen Charakter schämen.
Drei, vier Jahre nahm er an, als er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, seinen Kittel zuknöpfte und sich mit einem leichten Räuspern für den nächsten Patienten wappnete. In drei bis vier Jahren würde Elizabeth Meyer, die Vorsitzende der dänischen Sozialdemokraten, kaum mehr in der Lage sein, ihr eigenes Spiegelbild zu erkennen.
STAUB UMGIBT DIE KOLONNE gepanzerter Militärfahrzeuge, die sich im Morgengrauen durch die afghanische Wüstenlandschaft schlängelt. Ein Steinadler schwebt mit der Thermik über die gezackten Berggipfel, ein Otter taucht in dem nahe gelegenen Flussbett, doch obwohl alles Frieden und keine Gefahr auszuatmen scheint, sind die dänischen Truppen lange genug in der Provinz Helmand, um sich nicht täuschen zu lassen. Der Major, der neben dem pickeligen Fahrer des gepanzerten Mowag Eagle sitzt, ist angespannt. Über Radio hat er den Zugführer in dem voranfahrenden Aufklärungsfahrzeug angerufen, um sich zu versichern, dass das Situationsbild normal ist. »Nur die Ruhe«, kommt es in forschem Bornholmerisch, »die Route ist frei«. Knapp zwei Minuten später, gerade als der Schütze von seinem Platz im Beobachtungsturm über Funk mitteilt, dass er dringend sein Geschäft verrichten muss, passiert es. Der vorausfahrende Eagle wird von einem Sprengsatz getroffen; einer USBV, einer sogenannten Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung, die den ganzen vorderen Teil des Fahrzeugs mit einem ohrenbetäubenden Knall aufreißt, der für immer im Gehörgang der Überlebenden haften bleiben und sie an diesen Morgen erinnern wird, an dem drei ihrer Kameraden vor ihren Augen in Stücke gerissen wurden. Darunter ein Zugführer aus Bornholm, Vater von zwei Jungen, für die er bald ein Held im Bilderrahmen sein wird. In die Statistik wird dieser Stabsunteroffizier als das siebte dänische Opfer im Krieg gegen die Taliban eingehen. Und wie der Staatsminister später am Tag, als die Angehörigen unterrichtet und die Medien aufgewacht sind, erkennen muss, wird er nicht das letzte Opfer bleiben. So ist das nun einmal, wenn man seinen Beitrag im Krieg gegen den Terror leistet. Alles hat seinen Preis.
DER VERLUST DER DÄNISCHEN Soldaten hat es noch nicht bis in die Medien geschafft und wird deshalb in dem Bündel umadressierter Tageszeitungen nicht erwähnt, die ein schläfriger Zeitungsbote wie üblich in Richtung Briefkasten wirft, um so schnell wie möglich mit seiner Runde im Ferienhausgebiet an der Sejerø-Bucht fertig zu werden. An diesem ersten Samstag im August beschäftigen sich die Zeitungen vor allem mit dem Staatsminister, der in sein Ferienhaus ins Languedoc gefahren ist und über die Ausschreibung der Wahlen nachdenkt - vielleicht bereits in Verbindung mit der Eröffnung des Folketings im Oktober. Die belanglosen Artikel und lahmen Reportagen aus dem Sommerland, die das Sommerloch geprägt haben, werden deshalb schon dieses Wochenende von Analysen und Spekulationen darüber abgelöst, wie der politische Herbst aussehen wird. Experten und Kommentatoren geben ihre mehr oder minder einhellige Meinung zum aktuellen Ergebnis der Meinungsumfragen zum Besten. Alle greifen das Spannungsmoment auf - wird es der Opposition mit der sozialdemokratischen Vorsitzenden an der Spitze gelingen, die Regierung zu stürzen? Und nur wenige verfallen nicht dem Klischee, dass es auf jeden Fall ein »Präsidentenwahlkampf« werden wird mit zwei Hauptakteuren: Bording und Meyer. Gewinnt Elizabeth Meyer, wird sie Dänemarks erste Staatsministerin. Verliert sie, verliert sie alles. Ihre Ehre und die der Partei.
Aus solchen Szenarien sind politische Dramen gemacht. Und mit solchen Szenarien verkauft man Zeitungen. Mehr Zeitungen als mit dem Verlust von drei weiteren Soldaten, die, so traurig es auch ist, bald in Vergessenheit geraten sein werden. Bei den meisten.
ELIZABETH MEYER HAT WACH gelegen und auf das Röhren des Mopeds gehört, das ihr sagt, dass die Zeitungen da sind. Der Junge ist spät dran heute, es ist fast halb acht. Sie liegt seit einer Stunde wach und denkt nach, was sie tun soll, wie sie ihr Problem lösen soll. So beginnen die meisten ihrer Tage, seit ein israelischer Neurologe in einer Praxis in Brooklyn ihr angenehm nüchtern einen Befund übermittelt hat, auf den sie nicht vorbereitet war. Ihr Großvater, ja. Ihre Mutter, ja. Ihr Bruder, ja. Aber doch nicht sie! Nie im Leben ist ihr auch nur der Gedanke gekommen, dass sie, die immer die Starke gewesen ist, durch eine so fatale Konstruktionsschwäche zu Fall gebracht werden könnte. Ein Fehler in der Erbmasse, ein Familienfluch, der auf mütterlicher Seite von Generation zu Generation zum Tragen kommt, über den jedoch niemand zu sprechen wagt: dass man nach Überschreiten der sechzig in der Familie Epel wieder zum Kind wird. Unzählige sind im Nebel verschwunden, um niemals mehr daraus aufzutauchen.
Sie hat es niemandem erzählt. Keinem einzigen Menschen. Das hatte sie sofort beschlossen, als sie mit den Testergebnissen in der Tasche Dr. Shalevs Praxis verlassen hatte und auf eine Bank am Fluss gesunken war. Kettenrauchend hatte sie dort gesessen, während das Herbstlaub in Zeitlupe durch die Luft gewirbelt und golden und weinrot vor ihren frisch geputzten Stiefelspitzen gelandet war. Sie musste das für sich behalten, es mit sich selbst ausmachen, selbst eine Lösung finden. Denn das wusste sie bereits an diesem Vormittag, an dem die Novemberkälte sie schließlich hochgetrieben hatte, dass sie weder wie ihr Großvater noch wie ihre Mutter oder ihr Bruder enden wollte. Niemandem wollte sie zur Last fallen, niemand sollte sie dahinsiechen sehen. Niemand sollte sie füttern, anziehen, baden und ihre Windeln wechseln. Deshalb musste sie eine Lösung finden, bevor jemand merkte, wie es um sie stand.
Nicht das WIE ist das Problem. Es gibt Kliniken in der Schweiz, die so etwas ordnen. Schön und nett. Gegen eine ordentliche Bezahlung sorgen sie sogar für den Heimtransport. Es ist das WANN, auf das sie noch keine Antwort gefunden hat. Wann ist es zu früh und wann schon zu spät? Sie hat genug gelesen, um zu wissen, dass die Einsicht in die eigene Krankheit als Erstes versagt. Plötzlich kann es zu spät sein. Sie weiß schließlich nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Drei Jahre? Zwei Jahre? Eins? Wie auch immer, es müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, bevor sie handeln kann: Sie muss die Sozialdemokraten an die Macht gebracht haben. Und sie muss Charlotte Damgaard darauf vorbereitet haben, ihren Posten zu übernehmen. Letzteres gehört nicht zu den leichtesten Aufgaben.
Sie seufzt leise, um ihren schlafenden Mann nicht zu wecken, den sonnengebräunten norwegischen Reeder, schließt die Augen und beginnt mit ihrer Morgenroutine: Schritt für Schritt geht sie ihr Tagesprogramm durch. Zuerst ruft sie sich die Schwerpunkte ins Gedächtnis - das Mittagessen mit Charlotte und Thomas und ein paar notwendige Telefonate. Anschließend geht sie die To-do-Liste durch. In chronologischer Reihenfolge. Kaffee aufsetzen, Ofen anzünden. Nicht vergessen, die Brötchen herauszuholen. Tisch decken. An Kjells Diabetestabletten denken! Anschließend visualisiert sie, dass sie im Hafen Kaiserhummer holen, im Ökohofladen Dill, Gurken und Himbeeren kaufen will, wenn es welche gibt; und sie darf Butter, Crème fraîche und Mayonnaise im Supermarkt nicht vergessen. Sie geht das Rezept für die selbst gemachte Mayonnaise durch, prägt sich ein, dass sie den Dotter, der pasteurisiert sein und am besten Zimmertemperatur haben sollte, mitverarbeiten muss. Das macht sie, bis sie die Liste so oft wiederholt hat, dass sie sicher ist, dass sie sitzt. Anschließend zählt sie alle Mitglieder des Folketings auf, einen nach dem anderen. Ruft sich alle 47 Gesichter ins Gedächtnis und ordnet ihnen mit einer gewissen Mühe Namen zu. Dann kann sie aufstehen. Nach ihrem Mantel auf dem Haken greifen, sich ins Bad schleichen und das Nötigste an Morgentoilette erledigen. Den Ofen anzünden, die Kaffeemaschine einschalten und nach draußen gehen und ihren Badeanzug von der Leine nehmen. Mit Badeanzug und Handtuch über dem Arm weitermachen, einen Blick auf den Zeitungsstapel werfen, während sie am Briefkasten vorbeikommt, und die Augenbrauen hochziehen, als sie kurz ein Foto von sich sieht. Sie lässt die Zeitungen liegen und geht nach rechts zum Strand hinunter, um, wie jeder Beobachter einschließlich des Zeitungsboten weiß, ihr übliches Morgenbad zu nehmen.
»ICH HABE KEINE …«
»Wie bitte?«, stöhnt Charlotte, während sie nackt, warm und willig daliegt und wartet, dass er das Kondom überzieht.
»Wir haben das letzte in Siena gebraucht. Nachmittags, als die Kinder mit den anderen am Pool waren«, flüstert er außer Atem und streckt die Hand nach ihr aus. »Wir brauchen doch keins, Schatz! Ich passe auf.«
»Verdammt, Thomas!«, flucht Charlotte Damgaard wütend und hievt sich auf die Ellenbogen hoch. »Das ist vier Tage her!«
»Ich kann in den Supermarkt runterlaufen«, bietet er an und umfasst ihre Brust, unwillig, diese selige Stunde verstreichen zu lassen.
»Mit einem Steifen und zerzausten Haaren?«
»Eine Unterhose wollte ich schon anziehen.«
Sie lacht.
»Schatz, vergiss es«, sagt sie mit einem Blick auf den Wecker. »Wir haben ohnehin keine Zeit.«
»Och«, sagt er und macht einen Schmollmund wie ein Kind. »Du wirst es ihr sagen, nicht?«
»Was wem sagen?«
»Du sagst Meyer das mit dem Job?«
»Bis jetzt habe ich mich weder darum beworben noch ihn bekommen.«
»Du bekommst ihn. Und du musst ihr sagen, dass du dich zurückziehst. Nicht?«
Thomas lässt ihre Brust los und sieht sie insistierend an. Sie schlägt die Augen nieder und entwirrt ihre Beine aus der Umschlingung mit seinen.
»Natürlich. Aber das Timing muss stimmen. Du kennst schließlich Meyer.«
»Eben«, sagt er trocken. »Deshalb kannst du es ihr auch gleich sagen.«
Charlotte steigt aus dem Bett, fischt ihren Slip vom Schlafzimmerboden, grüßt eine Wollmaus, die seit vier Wochen keinen Staubsauger mehr gesehen hat, und wirft ihm einen Luftkuss zu.
»Machst du einen Kaffee, während ich eine kalte Dusche nehme?«
OBWOHL NIELS-ERIK BORDING meint, gut - und sehr viel besser als früher - abschalten und in der dafür vorgesehenen Zeit Urlaub in Südfrankreich machen zu können, haben die politischen Kommentatoren recht. Die Gedanken des Staatsministers kreisen unablässig um die Arbeit, während er im goldenen Morgenlicht seine übliche Route den schmalen Bergweg zum Plateau hochläuft, wo er in der Regel stehen bleibt und sich an der Aussicht über blau blühende Lavendelfelder, knochige Olivenbäume und eine duftende Vegetation erfreut. Wie die Zeitungen richtig vermuten, beschäftigt ihn die Wahl. Soll er sie jetzt ausschreiben oder noch hinausschieben? Streng genommen können er und seine Koalitionsregierung, gestützt von der Dänischen Volkspartei, noch anderthalb Jahre im Amt bleiben, und vorsichtigere Menschen würden ihm bestimmt empfehlen, den Status quo nicht zu verändern. Andererseits ist Bording bestens mit der politischen Maxime vertraut, jede Chance auf einen politischen Gewinn zu nutzen. Und für Bording bedeutet dieser Wahlsieg alles. Denn trotz seiner Tüchtigkeit und der beiden bereits gewonnenen Wahlen, wird ihm noch immer nicht die Ergebenheit oder sogar Liebe entgegengebracht, die sein Vorgänger auf dem Posten des Parteivorsitzenden erfahren hatte. Nur wenn er ein drittes Mal gewinnt, wird er dem Schatten seines flamboyanten Vorgängers entschieden entgegentreten und endlich die Diskussion über sein eigenes Format beenden können. Gewinnt er, wird er als einer der Kämpfer in der Parteigeschichte in Erinnerung bleiben. In diesem Fall könnte es ihm sogar gelingen, dass er nicht nur respektiert, sondern sogar geliebt wird. Und das wünscht sich Bording, der Bauernjunge mit dem strengen Vater, inniger, als ihm selbst bewusst ist.
Eigentlich macht er sich keine Sorgen. Elizabeth Meyer ist eine Gegnerin, die ihm Respekt abverlangt, doch er sieht sich als absoluter Favorit. Sie hält zwar die Partei zusammen, doch ansonsten hat sie nichts anzubieten; nicht zuletzt fehlen ihr erfahrene Kandidaten, die es mit seiner Ministerliste aufnehmen könnten. Hinzu kommt, dass sie zehn Jahre älter ist als er, von vielen als wenig volksverbunden angesehen wird und noch immer den Makel ihrer Rolle in der blutigen Geschichte der Sozialdemokratie mit sich herumträgt.
Was ihre Kronprinzessin, Charlotte Damgaard, angeht, die Meyer ständig protegiert, so zählt sie nicht zu denen, die er ernst nehmen kann. Obwohl sie sich bereits seit knapp zehn Jahren in der Politik herumtreibt, ist und bleibt sie ein Fliegengewicht und wird sich nicht wirklich halten. Er erkennt eine Vollblutpolitikerin, wenn er eine sieht, und Damgaard ist nie eine gewesen - und wird auch nie eine werden. Dass Meyer trotz ihrer sinkenden Formkurve selbstverständlich an ihr als Nachfolgerin festhält, zeugt trotz ihrer unbestrittenen strategischen Fähigkeiten bereits von einer gewissen Unsicherheit der sozialdemokratischen Parteivorsitzenden. Sie verspielt ihren Vorteil, das andere Geschlecht zu repräsentieren und dadurch die weibliche Wählerschaft anzusprechen, indem sie zu sehr auf die Frauen setzt. Letztendlich sind die Leute nicht daran interessiert, eine Frau an der Spitze zu haben. In Wirklichkeit wollen sie einen starken Mann.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Sozialdemokraten sich nie von der Sturzblutung nach dem missglückten Coup, dem sogenannten Königsmord, erholt und die gähnenden Löcher nach Per Vittrup und Gert Jacobsen, den er heimlich hin und wieder vermisst, nicht zugespachtelt haben, dürfte es ein Leichtes sein, die Wahl zu gewinnen. Ja, es dürfte sich nur schwer vermeiden lassen, da sie über die besten Männer, den stärksten Parteiapparat und das Geld der Wirtschaft verfügen. Ganz abgesehen von der Politik, die die Dänen wollen, ob es nun um Wohlfahrt oder Werte geht. Und sie haben ihn, um es einmal frei heraus zu sagen.
Doch genau wie ein Eliteläufer plötzlich umknicken kann und, vorzugsweise wenn er von dem Rekord zu träumen beginnt, aus dem Flow herausgerissen wird, ist auch die Politik eine äußerst beeinflussbare Größe. Die kleinste Scherbe auf dem Weg kann alles verändern, ein Timing, das im einen Moment perfekt erscheint, kann sich im nächsten als fatal erweisen. Deshalb muss er genau wie seine beiden schweißtriefenden Leibwächter, die konstant die malerische Macchia scannen, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen, den gesamten politischen Horizont absuchen, bevor er einen Entschluss fasst. Einen Entschluss, der nicht allein von seiner Stärke abhängt, sondern vor allem von der Schwäche seines Gegners. Denn genau die gilt es aufzudecken und zur Schau zu stellen. Sie müssen das Loch in der Hecke zeigen. Denn natürlich gibt es eins. Sie müssen es nur finden.
Auf dem letzten steilen Stück vor dem Plateau wird er schneller und setzt zum Sprint an. Damit will er die sehr viel jüngeren Sicherheitsbeamten ärgern, die nur mit Schwierigkeiten mit ihm mithalten können.
Doch über die Schulter nimmt er wahr, dass der eine mit seinem Handy winkt und versucht, ihn einzuholen.
Ärgerlich verringert der Staatsminister die Geschwindigkeit und bleibt schließlich stehen. Er hasst es, beim Laufen unterbrochen zu werden. Es muss schon um Leben und Tod gehen, dass er Störungen akzeptiert.
Und das tut es in diesem Fall. Der Verteidigungsminister berichtet ihm, er habe gerade die Nachricht erhalten, dass drei weitere dänische Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Getötet durch einen Sprengsatz.
Drei Tote.
Was soll er dazu sagen? Tragisch, traurig, furchtbar?
Er wischt sich mit dem Handrücken den strömenden Schweiß von der Stirn, während er um Atem ringt.
»Ich komme nach Hause«, teilt er kurz mit. »Heute.«
»JACKIE!«, RUFT JOAN LÄCHELND, als sie ihren kleinen Bruder hereinlässt, der wie immer in Militärklamotten herumläuft. Heute trägt er ein sandfarbenes T-Shirt und Kakishorts. »Du bist schon da?«
»Wir wollen doch was vom Tag haben, oder?«, lächelt er und schwenkt ein paar Brötchentüten. »Ich habe Frühstück mitgebracht.«
Sie schüttelt liebevoll den Kopf und lässt ihn herein. Ihre Augen suchen den kurzen Enighedsvej nach neugierigen Nachbarn ab. Holbæk ist eine Kleinstadt. Sie weiß, dass es schnell Gerede gibt. Über das Motorrad, das er am Straßenrand abgestellt hat, werden sie sich auch das Maul zerreißen.
»Okay, dann mache ich gleich Kaffee. Und du kannst ruhig schon mal Matthias wecken«, sagt sie und zieht hinter ihm die Tür zu. Da ist Jackie bereits auf dem Weg die Treppe hinauf zum Kinderzimmer.
KJELL DAHL IST NICHT im Schlaf zu seinen norwegischen Milliarden gekommen. Im Gegenteil, er hat sein ganzes Leben pflichtschuldigst als kalvinistischer Morgenmensch gelebt und war stets als Erster im Büro im Handels- und Seefahrtshaus erschienen, manchmal noch vor der Sekretärin. An den Wochenenden war er vom frühen Morgen an im Fjell, im Sommer mit Wanderstiefeln, im Winter auf Skiern. Als seine erste Frau noch lebte, sind sie oft am frühen Sonntagmorgen zu einer kurzen Tour auf die Hausberge Fløyen und Rundemanen losgezogen oder zu einer langen im Viddafjell. Er war, mit anderen Worten, für seine Kinder, seine Enkel, seine Mitarbeiter und seine bergensischen Mitbürger ein fleißiges Vorbild, dem man nur nachstreben konnte. Außerdem hat er getan, was man von einem Mann in seiner Position erwartet - außer diese zu behalten, was an und für sich schon eine Leistung ist -; er war ein treues Mitglied des Gewerbeverbands von Bergen, des Rotary Clubs und der Freunde der Harmonie. Pflichtgetreu ist er seiner Aufgabe als Vorsitzender des Reedereiverbandes nachgekommen, erst kürzlich ist er zum Vorsitzenden des Theatervorstands ernannt worden, und die Reederei ist der Hauptsponsor des Philharmonischen Orchesters von Bergen. Mit anderen Worten: Kjell Dahl ist in den Augen der Gesellschaft der Traum von einem vorbildlichen Bürger.
So weit, so gut. Er mag es, etwas zu bewirken, liebt es, Dinge in Gang zu setzen, dabei zu sein. Doch auf seine alten Tage hat er der sauren Pflicht den Rücken gekehrt und sich als der Genießer geoutet, der er in Wirklichkeit ist. So hat er zum Beispiel begonnen, lange zu schlafen. Zumindest in den Ferien. Und vor allem wenn er bei Lizzy in Dänemark ist, wo es nicht als unnorwegisch oder leicht suspekt angesehen wird, die halbe Nacht aufzubleiben, dunklen kubanischen Rum zu trinken, Zigarillos zu rauchen und die Sopranos auf DVD zu sehen. Elizabeth, die selbst ein Morgenmensch ist, lässt ihn in Frieden dösen, auch wenn sie ihn öfter darauf hinweist, dass er sich einer unchristlichen Zeitvergeudung schuldig macht. Ihrer Meinung nach braucht kein erwachsener Mensch mehr als sieben Stunden Schlaf, und schon gar kein Mann, der bald die siebzig erreicht hat und langsam seiner Pensionierung entgegensieht. Worauf er erwidert, dass ein Mann, der sich den siebzig nähert, genau so lange schlafen muss, wie er Lust hat, ohne dass sich rastlose Frauen einmischen. Vor allem, wenn es sich um einen Mann handelt, der gerade damit beschäftigt ist, die Leitung seines gut geführten Geschäftsimperiums an die nächste Generation zu übergeben und deshalb auch im Schlaf noch ein paar Milliarden macht.
Im letzten Sommer haben sie sich gutmütig über dieses Thema gezankt, doch dieses Jahr hat sie ihn in Ruhe gelassen. Er ist um die Rüge herumgekommen und musste sich nur mit ein paar harmlosen Zurechtweisungen abfinden. Fast vermisst er ihre spitzen Kommentare, denn die ausbleibende Kritik ist geradezu besorgniserregend. Er kann nicht genau sagen, was mit ihr los ist. Doch in den letzten Monaten schien sie verschlossener und abwesender, als er sie jemals erlebt hat. Manchmal hatte er sogar vermutet, dass sie ihm aus dem Weg gehen wollte, wenn sie mit kurzer Vorankündigung und mageren Entschuldigungen ihre Verabredungen abgesagt hatte. Auf seine Frage, ob etwas nicht stimme, hatte sie nur abwehrend reagiert, es sei alles in bester Ordnung - vor allem mit ihrer Wochenendehe, einem Arrangement, das ihrer Meinung nach auch im zwölften Jahr noch ausgezeichnet funktionierte. Sie hat sich mit Terminen und Müdigkeit herausgeredet - es war schließlich keine leichte Übung, die Partei nach dem spektakulären Abgang von Jacobsen und Vittrup zu sammeln. Gerade hatte sie für Ruhe im Karton gesorgt, als die Herausforderung durch die neue Partei der Mitte, die Allianz, sie zwang, sowohl die Partei wie auch die Politik neu zu überdenken, und auch diese Umwälzungen waren kein Picknick im Grünen. Sie hat gearbeitet wie ein Berserker, und deshalb ist es natürlich auch nicht verwunderlich, wenn sie »etwas erschöpft« ist.
Eine Erklärung, die gutzuheißen er sich entschlossen hat, obwohl er dennoch irgendwann im Winter einen alten Freund angerufen hat - einen Psychiater in Oslo -, um ihn zu fragen, ob seine ansonsten so robuste Frau möglicherweise das eine oder andere Problem haben könnte. Vielleicht eine Depression? Der Psychiater, der sich nur äußerst ungern darauf einließ, eine oberflächliche Telefondiagnose für eine wildfremde Person zu stellen, schloss dies nicht aus. Es handle sich möglicherweise um eine leichte Depression, vermutlich hervorgerufen durch Stress, ein Arztbesuch sei zu empfehlen.
Und den hat er ihr ans Herz gelegt, den Arztbesuch, aber ohne den Psychiater zu erwähnen, und trotzdem hat er sich eine prompte Abfuhr geholt. Dafür hat sie sich ziemlich aufgeregt, als er angedeutet hat, dass sie möglicherweise eine ernst zu nehmende Krise durchmache, und als er hartnäckig weitergebohrt hat, ob es etwas mit dem Tod ihres Bruders zu tun haben könnte, ob sie die Trauer im Prozess des Wiederaufbaus der Partei und des Optimismus nach der Wahlniederlage 2005 nicht richtig zugelassen habe, wurde es nur noch schlimmer. Nein, ihr gehe es bestens, sie sei nicht die Spur gestresst, und er solle sich auf keinen Fall in ihre privaten Angelegenheiten einmischen. Und dazu gehöre auch ihre Trauerarbeit. Es gab schließlich Gründe dafür, dass sie von Anfang an darauf bestanden hatte, dass jeder für sich wohnen sollte. Und das hier war einer davon! »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, dann mische ich mich auch bei dir nicht ein!«
Und das hat er versucht. Sich herauszuhalten. Er weiß ohnehin nicht, was er tun könnte. Auch wenn es zu seinen Spitzenkompetenzen gehört, zu handeln und sich zu kümmern, ist Lizzy nicht gerade eine Frau, die es mag, sich von Mr. Fix-it helfen zu lassen. Und Befehlen gehorcht sie nicht, wie sie ihm zu sagen pflegt.
Offiziell findet er sich also damit ab. Weil er weiß, dass er sich zusammennehmen muss. Ihn nicht zu deutlich zeigen darf, seinen Beschützerdrang, diese maskuline Tugend, die moderne Frauen anscheinend nicht mögen. Nichtsdestoweniger fühlt Kjell Dahl, der norwegische Reeder mit der feinen Intuition für andere Menschen, dass seine Frau ihn braucht.
Deshalb trotzt er heute seiner neuen Vorliebe für langes Schlafen und schlägt die Decke zur Seite, sobald er die Haustür hört. Jeden Morgen lässt er ihr einen Vorsprung, sodass sie nicht merkt, dass er ihr folgt und oben in den Dünen sitzt und sie im Auge behält, wenn sie ins Meer watet und an der Sandbank vorbei hinausschwimmt. Und jeden Morgen richtet er diskret die kleinen Fehler, die sie wie eine Spur hinter sich herzieht. Heute ist es der Kaffee, den sie vergessen hat, in den Filter zu geben.
Er lächelt nachsichtig, als er das trübe Wasser aus der Glaskanne in das Spülbecken schüttet. Eine dünne Tasse Kaffee. Sagen sie das nicht, die Dänen? Oder ist es eine dünne Tasse Tee? Er muss daran denken, sie danach zu fragen.
NUR DER WEICHE KONTURSTREIFEN des Horizonts markiert die Grenze zwischen Meer und Himmel. Ansonsten ist der Unterschied nahezu ausgewischt. Ein transparentes Lavendelblau geht in eine etwas dunklere Nuance über, träge Wellen kräuseln den Wasserspiegel und lecken ihr Ohr, während sie auf dem Rücken schwimmt und sich vom Meer tragen lässt. Es ist ein Morgen für Poeten, ein Motiv für Impressionisten. Ein Morgen, für den ihr die Worte fehlen, als sie sich mit gesenkten Augenlidern im Wasser wiegt, denn ihr Vokabular gibt für lyrische Lobpreisungen nicht viel her.
Rational, wie sie ist, denkt sie an das Meer als ein Element, als ihr Element. Als H2O. Als etwas, dem sie einmal entstiegen ist und in das sie wieder verschwinden wird. Aus Wasser bist du gekommen, aus Wasser wirst du wieder auferstehen! Sie denkt an Quallen, Fische, Schalentiere und Schnecken. Sie denkt an Algen und Amöben, an Zellen und Grundstoffe.
»Die Ursuppe«, denkt sie. Aus ihr kommen wir. Als das Nichts überall war, gab es nur sie. Eine blubbernde Brühe aus Wasser, Wasserstoff, Kohlenstoffverbindungen, Mikroorganismen. Die Milliarden von Jahren als friedliches, farbloses Nichts existierte. Aus ihr ist das Leben entstanden. So kann man sich den Tod vorstellen. Ist das so schlimm? Kann man sich nicht danach sehnen? Sich aufzulösen und in den Kreislauf überzugehen? Zu Tang und Seegras zu werden? Zu einer Konchylie? Wäre es nur das, wäre es nicht so furchterregend.
Als sie die Augen öffnet, streicht ein langhalsiger Kormoran, die Kennung unter dem Flügel, schwarz über ihr vorbei, wie ein Bomber auf dem Weg in seinen Stützpunkt. Sie schüttelt sich, klappert mit den Zähnen, dreht sich um und beginnt zu kraulen. Sie muss sehen, dass sie an Land kommt.
Da passiert es. Plötzlich, wie ein Stromausfall. Ihr wird schwarz vor Augen. Sie verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo sie ist und wie sie sich über Wasser halten soll. Erkennt nichts wieder, kann die Küstenlinie der Bucht nicht ausmachen, erinnert sich nicht, warum sie in dem kalten Wasser ist. Spürt nur die Panik, als sie feststellt, dass sie keinen Grund unter den Füßen hat. Sinkt, schluckt Wasser, rudert instinktiv mit den Armen, um nicht unterzugehen. Weiß nicht, dass das primitive Reptilgehirn, die Amygdala, automatisch die Führung übernimmt und Alarm schlägt, wenn der feiner entwickelte Hippocampus versagt. Hat Angst, ohne zu wissen, warum, auch als sie hochgezogen und von einem fremden Mann geborgen wird.
»Geh weg!«, schreit sie und schlägt nach ihm, als er sie im Arm hält und ihre Arme festhält. »Geh weg!«
»Alles ist gut, Lizzy!«, beruhigt er sie. »Ich bin es. Kjell!«
Sie blinzelt verwundert, mit Wassertropfen in den Augen.
»Kjell? Was machst du hier?«, fragt sie, denn jetzt ist es ausgestanden. Der Schatten ist vorübergezogen, die Sonne scheint wieder. Sie erinnert sich an alles, kann klar denken.
»Ich passe auf dich auf«, sagt er und löst seinen Griff.
»Du passt auf mich auf? Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen«, zischt sie.
Er neigt den Kopf leicht zur Seite und sieht sie forschend mit zusammengekniffenen Augen an. Das Wasser sammelt sich in dem Terrassensystem seines Gesichts aus diagonalen Furchen und Rillen. Die Bartstoppeln sind auffallend weiß im Gegensatz zu seinem sonnengebräunten Gesicht.
»Natürlich kannst du das«, sagt er schließlich und küsst ihre Hände. Zuerst die eine, dann die andere. »Aber du darfst mir nicht noch einmal solche Angst einjagen. Ich dachte, du gehst unter!«
Sie macht sich von ihm frei.
»Ich hatte nur einen Krampf. Sollen wir zurückschwimmen?«
Dann sprechen sie nicht mehr darüber. Nie.
NORDJÜTEN SIND BESONNENE LEUTE. Und bei der Polizei in Nordjütland regt man sich auch nicht unnötig auf. Deshalb äußert man sich nicht übereilt, als TV2/Nord am Tatort erscheint, um einen Beitrag über den nächtlichen Bombenanschlag auf die Somalische Einwanderervereinigung zu bringen. Eine Rohrbombe hat den gesamten Eingangsbereich zerstört, alle Fenster sind kaputt, der größte Teil des Inventars ist ruiniert. Glücklicherweise gäbe es keine Personenschäden, unterstreicht man, da der Anschlag nachts erfolgt sei. Offensichtlich wollte man niemanden verletzen. Nur Furcht einjagen.
Noch kann man nicht sagen, ob das Motiv einen rassistischen Hintergrund hat. Es kann sich auch um einen internen Konflikt handeln. Ob ein Zusammenhang zwischen dieser Episode und den vielen anonymen Drohbriefen besteht, die im Sommer an Bürger mit, wie es heißt, »ethnisch klingenden Namen« verschickt wurden, ist ebenfalls noch ungewiss. Jedenfalls offiziell.
Doch abseits der laufenden Kamera bestätigt man dem Reporter, mit dem man ansonsten gut zusammenarbeitet, dass es nicht ganz so abwegig ist anzunehmen, dass beide Fälle in die Rubrik hate crime fallen. Jedenfalls konzentriert sich die Ermittlung auf gewisse extremistische Elemente. Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass man in Nordjütland ein rassistisches Milieu hat, das man sonderlich ernst nehmen muss. »Wir wollen die Realität doch nicht aus den Augen verlieren«, ist zu hören, als der Journalist ein paar zu schnelle Schlussfolgerungen zieht. Aber er kommt auch aus Seeland, von der Teufelsinsel.
»HALLO, WIR SIND NICHT mehr in Italien!«, ruft Thomas und stemmt mit den Füßen dagegen, als Charlotte bei einem Überholmanöver von zwei Autos schneller als 110 km/h fährt. »Dafür bekommst du einen Punkt!«
»Ja, ja«, antwortet sie kurz angebunden und kann sich gerade noch einordnen, bevor die unterbrochene Mittellinie der Landstraße in eine durchgezogene Linie übergeht.
»Kann Papa nicht fahren? Mir wird schlecht!«, beklagt sich Johanne auf dem Rücksitz. Jens ist mit den iPod-Kopfhörern in den Ohren eingeschlafen.
»Dann hör auf, SMS zu verschicken!«, schneidet Charlotte ihr das Wort ab.
»Warum bist du so verdammt sauer, Mama?«
»Du sollst nicht verdammt sagen!«
»Das tust du doch auch. Dauernd!«
»Okay, Frieden!« Thomas hält abwehrend die Hände hoch. »Wir brauchen eine Abkühlung. Ich spendiere ein Eis! Wir müssen ohnehin tanken«, meint er mit einem Blick auf den Tankanzeiger.
Charlotte gibt seufzend nach und blinkt, als sie an der Tankstelle in Herrestrup sind.
»Aber ihr bekommt nur ein Eis, wenn ihr versprecht, etwas zu Mittag zu essen.«
Jens nickt, fügsam wie immer, noch benommen vom Schlaf. Ins Leben zurückgerufen durch das Wort »Eis«.
»Ja, ja«, stimmt Johanne, die Zwillingsschwester, ein, »aber warum bist du so sauer? Willst du nicht zu ihr?«
»Ich bin nicht sauer, und ich besuche Meyer gerne. Ich bin nur ein bisschen traurig, dass die Ferien vorbei sind«, antwortet Charlotte, als sie das Auto vor die Tanksäule rollen lässt.
»Bringst du eine Zeitung mit?«, fragt sie Thomas, als er seinen langen Körper aus dem Auto gewunden hat. Er ähnelt noch immer einem jungen Lulatsch, obwohl auch er die vierzig überschritten hat.
»Mmm«, nickt er ihr liebevoll zu und schlendert in seinem bewusst sexy Gang, der ihn wie eine Giraffe aussehen lässt, was sie ihm früher auch oft gesagt hat, zu dem Tankstellenkiosk.
Sie lächelt unwillkürlich und tankt. Stellt fest, dass der Benzinpreis noch einmal gestiegen ist, und überlegt wie immer, ob sie sich nicht besser von dem alten Volvo-Kombi trennen sollten.
Die Umwelt ist immer noch ihr Herzenskind, und ihrer Meinung nach nehmen die Sozialdemokraten die Klimapolitik nicht ernst genug. Es war kein Zufall, dass sie Umweltministerin war, wenn auch viel zu kurz. Und genau deshalb ist die Anspannung auf der Fahrt hierher zu Meyers Ferienhaus an der Sejerø-Bucht mit jedem Kilometer gestiegen. Thomas hat recht, sie muss ihrer Vorsitzenden sagen, dass sie sich auf einen Sommerflirt mit dem Vorsitzenden des WWF eingelassen hat, bei den Dänen besser bekannt als World Wild Life Fond. Einen Sommerflirt, der schnell zu einem festen Verhältnis werden könnte, da dieser Vorsitzende - ein älterer, hoch geachteter Wirtschaftsboss - Charlotte Damgaard als neue Generalsekretärin ausersehen hat. Formell ist der Posten noch nicht ausgeschrieben - das wird er erst in einigen Wochen -, aber der Vorsitzende gehört zur alten Schule und will die zukünftige Generalsekretärin selbst aussuchen. Deshalb hat er sie bei ihren beiden heimlichen Treffen - einem Mittagessen in der Lumske-Bucht und einem Drink im d’Angleterre - wissen lassen, dass sie den Job bekommt, wenn er sie vorschlägt, obwohl das formelle Anstellungsprozedere natürlich eingehalten werden muss. Ja, sie muss eine Bewerbung schreiben - »und den restlichen Vorstand bezaubern« -, um sicherzugehen, zum Jahreswechsel diesen prestigeträchtigen Posten zu bekommen.
Sie ist also nicht sauer. Sie ist nervös mit zunehmender Tendenz. Denn während sie am Anfang die Anfrage des Vorsitzenden als schmeichelhaftes Angebot empfunden hat, das man jederzeit ablehnen kann, ist ihr im Verlauf des Sommers immer klarer geworden, dass sie jetzt zuschlagen muss. Genau dieser Job kann der Hebelarm sein, mit dem sie sich aus dem Sumpf hieven kann, in dem sie das letzte halbe Jahr gesteckt hat. Seit ihrer abgebrochenen Schwangerschaft hat die Politik sie nicht mehr begeistern können, hat sie die Glut nicht wiedergefunden. Hundemüde hat sie sich gefühlt. Ausgebrannt wie die Kollegen, die im letzten Jahr einer nach dem anderen gegangen sind. Jedes Mal, wenn einer sich zurückgezogen hat, hat sie Lust verspürt, es ihm gleichzutun: einfach alles stehen und liegen lassen, die Welt sich selbst überlassen und nach Hause gehen.
Thomas meint schon lange, dass sie in der Politik ihr Pulver unnütz verschießt, und so langsam muss sie ihm recht geben. Denn obwohl sie die Parteivorsitzende Meyer loyal unterstützt, sie respektiert und auch mag, muss sie erkennen, dass sie sich in vielen entscheidenden Punkten uneinig sind. Der Krieg gegen den Terror und das Engagement der dänischen Truppen in Afghanistan, die Meyer unterstützt, hält Charlotte für einen katastrophalen Fehler. Und die straffe Integrations- und Ausländerpolitik, in der Meyer die Ansicht der Regierung teilt, ist nach Charlottes Meinung absolut intolerabel. Gar nicht zu reden von Meyers Zugang zur Politik - dem Anspruch, für die Macht alles zu opfern. Selbst Spitzenpolitiker haben ein Recht auf ein Privatleben. Wenn sie diese Anhäufung von Frustrationen mit der Möglichkeit vergleicht, ihre eigene Chefin in der eigenen Organisation zu werden, in der sie selbst schalten und walten kann und sowohl mehr Freiheit als auch mehr Gehalt bekommt, während sie gleichzeitig noch die Eisbären retten kann, muss sie nicht lange überlegen. Auch Thomas hat das in den vielen abendlichen Gesprächen unterstrichen, die sie auf der Terrasse in der Toskana beim Klang der Zikaden geführt haben. »Das ist genau dein Ding!«, hat er mit zunehmender Begeisterung gesagt. »Und das war die Politik doch nie, oder?«
Dort, im sonnigen Italien, hat sie das genauso gesehen. Ursprünglich war es schließlich nicht ihre Idee, dass sie, die markante Direktorin der Umweltorganisation »Freunde der Natur«, in die Politik gehen sollte. Es war Meyers. Und obwohl der damalige Staatsminister Per Vittrup sie aus heiterem Himmel zur Umweltministerin gemacht hatte, ist es kein Geheimnis, dass das auf Meyers Veranlassung geschehen war. Genau wie Meyer sie später aufgefordert hat, für das Folketing zu kandidieren. Woraufhin Meyer als neue Parteivorsitzende nach Vittrup Charlotte zuerst zu ihrer Vertreterin und dann zur politischen Sprecherin gemacht hat. Sie haben ja recht, ihre Gegner - irgendwie ist sie immer Meyers Marionette gewesen. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, die Verbindung zu kappen.
Immerhin ist sie inzwischen eine erwachsene Frau von über 40 Jahren. Ja, das gehört auch zu ihren Überlegungen. Der Altersfaktor. Dass sie nicht mehr jung ist. Nicht jung genug, sich ohne ein beträchtliches Risiko zu vermehren, wie der Gynäkologe im Krankenhaus unterstrichen hat. Komischerweise ist ihr erst dort, als sie dösend nach dem Eingriff aufgewacht ist, weinend und furchtbar leer, klar geworden, dass ihr die Jahre wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen sind. Erst als sie das Kind weggemacht hatten, ein Mädchen, hat sie bemerkt, dass die Zwillinge bald keine Kinder mehr sind, dass ihre pensionierte Mutter sich auf das Alter zubewegt, dass Thomas kein Junge mehr ist, sondern ein reifer Mann. Erst da hat sie eingesehen, dass auch ihr nicht mehr alle Türen offen stehen - ja, erst dort in dem Krankenhausbett, wo sie ein paar Tage mit leichtem Fieber bleiben musste, hat sie erkannt, dass die Zeit reif ist, selbst einen wichtigen Entschluss zu fassen: Soll sie sich von Christiansborg trennen und weitergehen oder alles auf die Politik setzen? Ist das Spiel für sie gelaufen - für sie, die jetzt von den Analytikern der »bedrängten mittleren Generation« zugeordnet wird, oder ist nun der Zeitpunkt gekommen, aus ihren teuer erkauften Erfahrungen Kapital zu schlagen und Gas zu geben?
Diese Fragen haben sie in die erste persönliche Krise ihres Lebens gestürzt, die 40-Jahre-Krise, die sie so unbefangen in den Medien als nicht existent bezeichnet hatte. Doch plötzlich hat diese neue Traurigkeit und Ratlosigkeit, die ihrer optimistischen Natur so fernliegt, sie eingeholt. Sie, die immer so tatkräftig und dynamisch war, ist nach dem Verlust des Kindes in eine Art melancholische Passivität verfallen, und sie hatte mehrere Monate gebraucht, um diese zu überwinden. Das Leben, das ihr bisher so einfach und natürlich erschienen war, war plötzlich kompliziert und unüberschaubar, einfach weil sie nicht länger wusste, wer sie war und was sie mit sich anfangen sollte. Als es ihr am schlechtesten ging, bevor die Hormone wieder justiert waren, war es vor allem das Gefühl der Sinnlosigkeit, das sie plagte. Dass sie nach sieben Jahren in der Politik nicht sah, dass sie etwas bewirkt hatte. Es hätte sie genauso gut nicht geben können! Warum sollte sie dann bleiben?
Seitdem hat sie sich mühsam von ihrer Depression befreit, ist nach Christiansborg zurückgegangen, hat ihre Arbeit wiederaufgenommen und auch ihre mentale und physische Stärke wiedergefunden. Doch die Fragen sind geblieben wie ein Dorn im Fleisch: Warum in der Politik bleiben, wenn sie nichts bewirken kann? Und was bringt ihr die Rolle der Kronprinzessin, wenn die Königin nicht zurücktritt?
Obwohl Charlotte Meyer in ihre Überlegungen nicht einbezogen hat, geht sie eigentlich davon aus, dass es bei dem Mittagessen um ihr nachlassendes Engagement gehen wird. Meyer verfolgt immer irgendeine Absicht, und es könnte durchaus sein, dass Meyer selbst heute die Verbindung zu Charlotte beenden will; sie beide wissen, dass Charlotte im vergangenen Frühling nicht die offensivste politische Sprecherin gewesen ist. Und so eine braucht Meyer in einem eventuell bevorstehenden Wahlkampf. In mancherlei Beziehung würde es alles vereinfachen, wenn Meyer sie heute selbst feuern würde. Jetzt muss Meyer das Team zusammensetzen, das die Wahl gewinnt, und für Charlotte würde es kein Schock sein, nicht dazuzugehören. Ganz im Gegenteil, es würde ihr erspart bleiben, selbst zu gehen. Das hat sie zumindest in Italien gedacht. Dass es eine riesige Erleichterung wäre, die Politik zu verlassen.
»Du«, sagt Thomas, als sie nach dem Tanken noch auf dem Parkplatz rasten - sie mit der Zeitung, er damit beschäftigt, sein Magnum aus dem Papier zu befreien. Sie sind so lange zusammen, dass sie ihm nur einen einzigen Blick zuwerfen muss, dass er sie mechanisch von ihrem Gewohnheitsrecht Gebrauch machen und die Schokoladenspitze abbeißen lässt. »Wenn du den Job bekommst, könnte ich mich sterilisieren lassen.«
Sie lächelt kopfschüttelnd und faltet die Zeitung auseinander.
»Du traust dich ja doch nicht. Du glaubst doch, du wirst kastriert«, sagt sie, den Mund voller Eis.
Meyer ist auf der Titelseite. Sie hat ein Sommerinterview zu ihrer Sicht des politischen Herbstes gegeben. Die Sozialdemokraten liegen bei den Meinungsumfragen noch immer im Hintertreffen. Die Radikalen preschen dafür vor. Während die Zahlen für die Dänische Volkspartei und die Allianz rückläufig sind. Ungeachtet dessen erklärt Meyer, dass die Zeit für eine dänische Staatsministerin reif sei, und sie meint damit sich selbt. Natürlich wäre es schön, Teil eines solchen historischen Wechsels zu sein, aber wird es dazu kommen? Kann Meyer Bording wirklich schlagen?
Es gibt auch einen Artikel über einen brutalen Überfall auf einen pakistanischen Taxifahrer in Århus. Das Dokumentationsund Beratungszentrum für Rassendiskriminierung drückt seine Besorgnis über die vielen Gewaltdelikte gegen »Minoritätsdänen« aus, die einen rassistischen Hintergrund haben.
»Ich muss eben die Zähne zusammenbeißen und es wie ein Mann nehmen«, sagt er und schielt zu den Kindern hinüber, die in einiger Entfernung Kaninchen füttern. »Immer noch besser, als wenn du dich sterilisieren lässt.«
»Du könntest es bereuen«, sagt sie und überfliegt den Artikel über den pakistanischen Taxifahrer. Yasemin, eine Assistentin, die vor zwei Monaten als Stellvertreterin ins Folketing eingezogen ist und sich klugerweise als neudänisches Profil der Sozialdemokraten profiliert, wird zitiert: »Die ethnischen Minoritäten fühlen sich in steigendem Maße zurückgesetzt.« Hassan Ashraf, der umjubelte Vorsitzende der Allianz, dagegen predigt wie üblich, dass die Einwanderer eher die fundamentalistischen Islamisten zu fürchten haben.
»Warum sollte ich das bereuen?«
»Falls du später einmal eine Jüngere triffst.«
»Nun ja, du könntest es ja auch bereuen. Und bei Männern lässt es sich rückgängig machen.«
»Ich habe die Kinder, die ich haben soll«, sagt sie so schnell, wie man einen Teppich über eine gefährliche Glut wirft.
»Wann hast du das eigentlich beschlossen?«, fragt er und konzentriert sich scheinbar intensiv auf sein Eis.
»Thomas«, sagt sie und legt eine Hand auf seinen Oberschenkel. »Da sind wir uns doch einig, oder?«
»Sind wir das?«, fragt er kurz angebunden und fängt ein schmelzendes Schokoladenteil mit den Fingern auf.
»Let’s face it!«, sagt sie und schiebt die Sonnenbrille ins Haar. »Ich bin zu alt. Das Risiko, dass es noch einmal passiert, ist nicht kleiner geworden. Es ist sogar noch leicht gestiegen, haben sie gesagt. Und wir würden das nicht noch einmal durchstehen, nicht?«
»Nein«, sagt er und seufzt tief. »Aber wir könnten den Test einfach nicht machen und nehmen, was kommt …«
»Nehmen, was kommt?« Jetzt senkt sie warnend die Stimme. »Willst du damit sagen, dass wir uns falsch entschieden haben?«
»Nein, aber …«, sagt er und sieht sie nicht an.
»Nein, aber was?«
»Nein, aber wir hätten es vielleicht geschafft. Wir hätten ihr vielleicht ein gutes Leben bieten können, wenn wir die Prioritäten anders gesetzt hätten …«
»Schatz, die Ärzte haben gesagt, dass die Chancen schlecht waren! Sie wäre nur wenige Tage lebensfähig gewesen. Verdauungssystem und Herz haben doch auch nicht richtig gearbeitet, nicht?«
Ihre Stimme ist eine halbe Oktave gestiegen, vibriert plötzlich zwischen Wut und Weinen.
»Thomas, bitte! Kannst du damit aufhören?«
»Entschuldige«, sagt er, isst den letzten Bissen Eis und zerbricht den Stil mit einer konzentrierten Brutalität, als würde er einer Henne den Hals umdrehen. »Ich meine nur, dass sie eine Chance hätte haben sollen.«
»Und die haben wir ihr nicht gegeben?«, sagt Charlotte wütend. »Oder meinst du, dass ich ihr die nicht gegeben habe?«
»Ich meine gar nichts«, sagt er. »Ich nehme zur Kenntnis, dass du nicht mehr Kinder haben willst, und deshalb biete ich dir einen Deal an …«
»Du lässt dich sterilisieren, wenn ich der Politik den Rücken kehre und Generalsekretärin beim WWF werde?«
Jetzt lächelt er. Listig, wie sie findet.
»Ist das ein Deal oder nicht?«
Er streckt die Hand aus. Zögernd will sie sie ergreifen. Doch da kommen Johanne und Jens angestürmt.
»Dürfen wir ein Kaninchen haben? Man kann sie kaufen. Wir können uns doch eins teilen?«
OB ES EINE SPONTANE REAKTION ist oder lange geplant, lässt sich schwer sagen. Es kann die Antwort auf die Aufspürung einer islamistischen Terrorzelle in Birmingham durch die britische Polizei sein. Oder ein Ausdruck der Wut der Hamas über einen israelischen Missile-Angriff auf ein Haus in Gaza, in dem angeblich ein Waffenlager sein sollte, und der eine stillende Frau und ihr Baby das Leben gekostet und zu neuen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Steine werfenden Palästinensern und der israelischen Polizei bei der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem geführt hat. Theoretisch kann es auch die Antwort auf die Liquidierung eines prominenten Aufstandsführers der Taliban in der Provinz Helmand durch die NATO-Koalition sein. Man kann Vermutungen anstellen, weiß es aber nicht. Das Datum kann ebenso gut willkürlich gewählt sein. Es muss kein Zusammenhang bestehen. Terror funktioniert am besten, wenn er am wenigsten erwartet wird. Auch in dieser Hinsicht ist al-Qaida hervorragend darin, Schrecken und Grauen zu verbreiten.
Falls dieses Terrornetzwerk wirklich hinter der Todesdrohung steckt, die auf Arabisch von einem vermummten Nachrichtensprecher auf dem Nachrichtenkanal »Stimme des Kalifats« verlesen wird und eine Reihe prominenter Europäer betrifft, die allesamt jüdischer Abstammung sind. In Dänemark handelt es sich um zwei namentlich genannte Personen: um den Oberrabbiner sowie um seine Halbcousine, die Vorsitzende der dänischen Sozialdemokraten, Elizabeth Meyer. Da sie die Tochter des verstorbenen Kürschners Leo Meyer und seiner ebenfalls verstorbenen Ehefrau Rosa Meyer, geborene Epel, ist, ist sie, obwohl die Öffentlichkeit sie als völlig assimilierte Dänin betrachtet, im ethnischen Sinne eine Vollblutjüdin und damit genauso exponiert wie der Oberrabbiner, der über viele Jahre mit wiederholten Drohungen und zunehmenden Schikanen hat leben müssen. Die Synagoge in der Krystalgade wird seit Jahren von Sicherheitskräften observiert, und man fragt sich, ob er sich jetzt dem Druck beugt und die Bodyguards akzeptiert, die der Po lizeiliche Sicherheitsdienst, PET, glücklicherweise in den letzten Jahren hat ausbilden lassen. Auch Elizabeth Meyer wird man Personenschutz anbieten - ein Angebot, von dem man annimmt, dass sie es akzeptieren wird. So, wie die Welt heute aussieht, wäre alles andere unverantwortlich. Dänemark ist schließlich und endlich eine Krieg führende Nation, eng verbunden mit den USA und deshalb den gleichen hasserfüllten Reaktionen ausgesetzt wie die Vereinigten Staaten. Dänemark ist längst kein Märchenland mehr, spätestens seit der Veröffentlichung der Mohammed-Karrikaturen und der gewalttätigen Reaktionen darauf. Alles hängt miteinander zusammen, verbunden in dem gleichen verdammten Kreislauf, und deshalb muss man seine Vorsichtsmaßnahmen treffen. Sich schützen, nicht schlafen, mit dem Schlimmsten rechnen.
»JETZT SIEHT ES WIRKLICH schön aus!«, stellt Meyer zufrieden fest, als der Tisch auf der Terrasse unter dem neu gekauften rechteckigen Sonnenschirm gedeckt ist.
»Hipp, hipp, hurra!«, stimmt der Hausherr fröhlich ein.
»Und du bist am allerschönsten«, sagt er und fängt sie ein weiteres Mal mit dem Sucher seiner neuen Digitalkamera ein. Das ist nicht nur so dahingesagt, denn sie sieht wirklich hervorragend aus in dem gut sitzenden weißen Leinenkleid. Heute Vormittag hat er zwanzig bis dreißig Aufnahmen von ihr gemacht. Nach der Episode am Strand scheint er sie mit neuen Augen zu sehen; als steckte hinter jeder kleinen Alltäglichkeit, der sie nachgeht, eine größere Bedeutung. Deshalb hat er einfach drauflos geknipst, ob sie nun am Hafen Hummer gekauft oder Salat beim Ökobauern oder im Küchengarten Ringelblumen gepflückt hat. Vielleicht auch, weil er weiß, dass dieser Tag einer von den windstillen nordischen Sommertagen ist, von denen es in dieser neuen Regenzeit nur wenige gibt. Außerdem rückt die Trennung näher. Montagmorgen wird sie in Christiansborg erwartet, während er zurück nach Bergen muss - ein Gedanke, mit dem er sich ganz und gar nicht anfreunden kann. Je älter er wird, desto schwerer fällt ihm die Trennung. Wer weiß, wie viele Jahre ihnen noch bleiben? Warum sollen sie die nicht zusammen verbringen? Weil sie nicht will. Und es bringt nichts, sie zu bedrängen.
»Sieh mal«, sagt er und zeigt ihr das Bild auf dem Display. »Du bist schön!«
»Hm«, brummt sie missbilligend und sieht auf die Uhr. »Ist der Grill bereit?«
Danach hat sie schon einmal gefragt, aber er bestätigt es trotzdem. Ja, der Grill ist bereit, die Kohlen glühen. Er hat auch den Weißwein aufgemacht und daran gedacht, Mineralwasser kalt zu stellen.
»Lizzy«, sagt er, ganz versunken und entzückt angesichts des Fotos, das er gerade gemacht hat. »Könntest du dir eigentlich vorstellen, dich porträtieren zu lassen?«
Sie stellt eine Schale mit Zitronenschiffchen ab.
»Bei Gott, nein. Soll ich in der Burg hängen und mich in der Ahnengalerie langweilen? So eitel bin ich nun auch wieder nicht!«
»Nein, aber ich! Ich möchte meine schöne Frau gerne vorzeigen«, sagt er und schenkt ihnen Wein ein. »Du sollst bei mir hängen. Im Büro. Dann kann ich dich im Auge behalten. Wenn du schon nicht mit mir zusammenwohnen willst.«
Sie zieht spöttisch die Augenbrauen hoch.
»Frau Kjell Dahl? Willst du mich mit Juwelen behängen?«
»Die Perlen tun es auch«, sagt er und nickt in Richtung der schlichten Kette aus Südseeperlen, die sie heute trägt. Ein Geschenk von ihm zu ihrem 60. Geburtstag.
»Weißt du was, wenn du etwas zum Vorzeigen brauchst, solltest du dir lieber eine Fußballmannschaft zulegen. Davon hast du mehr!«, sagt sie und sieht wieder auf die Uhr.
»Dann hätte ich lieber einen Hubschrauber«, sagt er und reicht ihr das Glas. Einen R44 Clipper. Diamantschwarz. Nach der morgendlichen Episode ist er ziemlich sicher, dass er sich genau so einen zulegen wird. Es ist einfach zu weit von Bergen nach Kopenhagen, um sich auf ein Linienflugzeug zu verlassen, und der Jet ist oft ausgebucht.
Sie lächelt. Breit und hellrot, wie er es nur allzu selten erlebt.
Dieses Motiv entgeht ihm, als sie ihr Glas hebt und ihn über den Rand des geschliffenen Kristalls nachsichtig anlacht. Das ist schade, denn so sollten alle sie kennen. So unähnlich dem Besen, der kurz darauf wieder auf die Uhr sieht und ärgerlich zischt: »Wo bleiben sie denn? Sie weiß doch, dass ich es hasse zu warten!«
NOCH IMMER SIND KEINE Wolken am blauen Himmel zu sehen. Das Vorgehen wurde abgesprochen, die nötigen Maßnahmen getroffen, doch die Angehörigen der getöteten Soldaten haben noch keine Ahnung, dass ihre Welt eingebrochen ist. Noch hängt die junge Mutter in Rønne bei dem guten Wetter Wäsche auf, noch genießt das Elternpaar im Campingurlaub in Schweden die Aussicht über den See, und noch summt die Freundin in Kerteminde ein Lied, als sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Noch vergisst Jackie für einen Moment den Krieg, während er zum dritten Mal mit seinem laut lachenden Neffen, der zwischen seinen muskulösen, tätowierten Beinen sitzt, juchzend die Wasserrutschbahn im Sommerland-Seeland hinuntersaust.
»WIR NEHMEN KUCHEN, oder?«, fragt Kim, als sie sich endlich durch das mit Heimreisenden überfüllte Fährdeck gearbeitet haben und nun auf die letzten freien Plätze im Restaurant sinken.
»Ich will nichts«, sagt sie und steckt die Speisekarte brüsk zurück in den Halter. »Nur Kaffee.«
»Es gibt Torte«, lockt er. »Mit Erdbeeren.«
»Ich will nichts!«, wiederholt sie scharf und sieht demonstrativ weg.
»Das ist unser letzter Ferientag!«
»Ja!«, nickt sie vielsagend und presst die Lippen aufeinander, als sie ihn wieder ansieht. Er zuckt bedauernd die Schultern. Nimmt gerne für alles die Schuld auf sich, wenn es denn hilft. Für die gewaltigen Regenschauer auf dem Campingplatz in Deutschland. Für das durchnässte Vorzelt. Für die Staus auf der Autobahn. Und vor allem nimmt er die Schuld für einen weiteren missglückten Besuch bei der Schwiegermutter in Brønderslev auf sich. Da kommen sie gerade her. Seit sie aus der Einfahrt im Bøgevej ausgeparkt sind, wo sie den Campingwagen abgestellt haben, hat Anitta nicht ein Wort gesagt. Nicht einmal in den zwanzig Minuten, die sie im Fährhafen in Ebeltoft warten mussten, hat er sie dazu bringen können, mit ihm zu reden.
»Aber wir haben auch Schönes erlebt, nicht?«, versucht er es. »Das Wetter war doch auch vernünftig, von den paar Regentagen einmal abgesehen …«
»Das war das letzte Mal!«, unterbricht sie ihn und greift wieder nach der Speisekarte.
»In Ordnung«, sagt er und lächelt die Kellnerin an, die soeben an ihren Tisch kommt.
»Zwei Kaffee«, sagt er.
»Und zweimal Kuchenbuffet«, fügt sie hinzu.
»Und zweimal Kuchenbuffet«, wiederholt er hoffnungsfroh. EINE VIERTELSTUNDE VERSPÄTUNG SIND fünfzehn Minuten zu viel, und als Charlotte Meyers angespannten Gesichtsausdruck sieht, verflucht sie ihre Eispause an der Tankstelle.
»Entschuldigung«, sagt sie bedauernd und beeilt sich, das Geschenk zu überreichen, eine Flasche Gourmet-Jungfrauenolivenöl, gekauft in Siena. »Johanne ist schlecht geworden, wir mussten halten …«
»Man kann doch anrufen«, antwortet Meyer kurz angebunden, als sie die Terrasse erreicht haben, und bietet reserviert erst Charlotte und dann Thomas die Wange zu dem rituellen Luftkuss dar. »Die Butter schmilzt bereits.«
»Schatz, wir haben Ferien!«, kommt es besänftigend von Kjell Dahl, der aus dem Haus auftaucht und gleich von den Kindern umringt wird. »Wir müssen uns doch nicht so streng an die Etikette halten, oder?«
»Können wir eine Spazierfahrt mit deinem Sportwagen machen?«, bettelt Johanne, während Kjell die Gäste herzlich willkommen heißt.
»Ja, natürlich, wir fahren ein Stück, wenn wir gegessen haben«, verspricht er den Kindern und holt den Weißwein aus dem Kühler.
»Dann will ich vorne sitzen!«, macht Johanne weiter.
»Jetzt hör endlich auf damit!«, geht Charlotte dazwischen.
»Wisst ihr was, wir gehen kurz rein und waschen die Hände«, wirft Thomas schnell ein, um das Bild eines Elternpaars zu untermauern, das sich nicht von ein paar verzogenen Vorführkindern auf den Nerven herumtrampeln lässt.
»Gut, dann können wir schon mal den Wein probieren«, sagt Meyer und hebt ihr Glas, nachdem Kjell mit hineingegangen ist, um für die Kinder Cola zu holen. »Ich hatte total vergessen, wie quirlig die Kinder sind.«
Charlotte hätte beinahe gesagt, dass sie heute auch nicht quirliger sind als sonst, ganz im Gegenteil. Doch da Meyer das Glas
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Dronningeofret bei Gyldendal, Kopenhagen
Copyright © Hanne-Vibeke Holst & Gyldendalske Boghandel,
Nordisk Forlag A/S, Copenhagen 2008. Published by agreement with the Gyldendal Group Agency Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Barbara Raschig Herstellung: Gabriele Kutscha
eISBN : 978-3-641-04654-5
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