Der politische Konsens - Tobias Braun - kostenlos E-Book

Der politische Konsens E-Book

Tobias Braun

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf welchem Grund ruhen Demokratien und ihre politischen Ordnungen? Was sind die Quellen von Einigkeit, wie die Bedingungen von Einigung? Und liegt der Demokratie ein Konsens als Fundament zugrunde oder bringt sie ihn erst hervor? Tobias Braun nimmt den Begriff des »politischen Konsens« als Ausgangspunkt und sondiert damit die Grundlagen und Spannungen moderner und postmoderner Demokratietheorien, u.a. von Fraenkel, Barber und Habermas sowie Mouffe und Nancy. Er zeigt auf, was für Rückschlüsse aus dem Fehlen des »Einen« in Bezug auf die innertheoretische Funktion konsensualer Annahmen gezogen werden können - und beantwortet die Frage, ob der Konsens einer bestimmten Kultur entstammt oder das Ergebnis politischen Streits ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1892

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tobias Braun, geb. 1983, ist als Mitarbeiter für Wissenschaftskommunikation an der Hochschule Schmalkalden tätig. Er publizierte u.a. zum Begriff der Privilegien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Themen der politischen Theorie.

Auf welchem Grund ruhen Demokratien und ihre politischen Ordnungen? Was sind die Quellen von Einigkeit, wie die Bedingungen von Einigung? Und liegt der Demokratie ein Konsens als Fundament zugrunde oder bringt sie ihn erst hervor? Tobias Braun nimmt den Begriff des »politischen Konsens« als Ausgangspunkt und sondiert damit die Grundlagen und Spannungen moderner und postmoderner Demokratietheorien, u.a. von Fraenkel, Barber und Habermas sowie Mouffe und Nancy. Er zeigt auf, was für Rückschlüsse aus dem Fehlen des »Einen« in Bezug auf die innertheoretische Funktion konsensualer Annahmen gezogen werden können – und beantwortet die Frage, ob der Konsens einer bestimmten Kultur entstammt oder das Ergebnis politischen Streits ist.

Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch POLLUX – Informationsdienst Politikwissenschaft

und die Open Library Community Politik 2024 – einem Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Hauptsponsor: Fachinformationsdienst Politikwissenschaft – POLLUX Vollsponsoren: Technische Universität Braunschweig | Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg | Universitätsbibliothek der FernUniversität Hagen | Freie Universität Berlin – Universitätsbibliothek | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Goethe-Universität Frankfurt am Main | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek | TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek | Humboldt-Universität zu Berlin | Justus-Liebig-Universität Gießen | Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt | Ludwig-Maximilians-Universität München | Max Planck Digital Library (MPDL) | Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn | Ruhr-Universität Bochum | Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg | SLUB Dresden | Staatsbibliothek zu Berlin | Universitätsbibliothek Chemnitz | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Universitätsbibliothek „Georgius Agricola“ der TU Bergakademie Freiberg | Universitätsbibliothek Kiel (CAU) | Universitätsbibliothek Leipzig | Universität Wien | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Universitäts- und Landesbibliothek Münster | Universitäts- und Stadtbibliothek Köln | Universitätsbibliothek Bielefeld | Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar | Universitätsbibliothek Kassel | Universitätsbibliothek Osnabrück | Universitätsbibliothek St. Gallen | Universitätsbibliothek Vechta | Vorarlberger Landesbibliothek | Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern | Zentralbibliothek Zürich | ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hochschulbibliothek Sponsoring Light: Bundesministerium der Verteidigung | Bibliothek der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden | Bibliothek der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig | Bibliothek der Westsächsischen Hochschule Zwickau | Bibliothek der Hochschule Zittau/Görlitz | Hochschulbibliothek der Hochschule Mittweida | Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) | Landesbibliothek Oldenburg | Österreichische Parlamentsbibliothek Mikrosponsoring: Bibliothek der Berufsakademie Sachsen | Bibliothek der Evangelische Hochschule Dresden | Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig | Bibliothek der Hochschule für Bildende Künste Dresden | Bibliothek der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden | Bibliothek der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig | Bibliothek der Palucca-Hochschule für Tanz Dresden | Leibniz-Institut für Europäische Geschichte | Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Tobias Braun

Der politische Konsens

Über die Suche der Demokratie nach dem verlorenen »Einen«

Edition Politik | Band 169

Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2022

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird.https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld© Tobias Braun

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

https://doi.org/10.14361/9783839472026

Print-ISBN: 978-3-8376-7202-2

PDF-ISBN: 978-3-8394-7202-6

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7202-2

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Den Damen in meinem Leben – den anwesenden und den abwesenden.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Die begriffliche Grundbestimmung des Konsenses

2. Der Konsens zwischen Übereinstimmung und Übereinkunft

3. Der Konsens zwischen dem Ko und dem Sens

3.1 Zugänge zum Denken der Gemeinschaft

3.2 Das Versprechen der Identität – Juliane Spittas Kritik am Denken der Gemeinschaft

3.3 Der Sens – Zwischen Sinn, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit

3.4 Zwischen Ko und Sens – Über Kennzeichen, Strukturen und Grenzen

4. Die begrifflichen Dimensionen des Konsenses

I. Zwischen Persistenz und Partizipation – Die Systemtheorie David Eastons

1. Das Modell des politischen Systems, sein Aufbau und seine Umgebung

2. Der Konversionsprozess – Über die Mechanismen der Umwandlung

3. Die Unterstützung der Objekte und Strukturen des politischen Systems

3.1 Die politische Gemeinschaft – Vom Ko, den Teilen und dem Ganzem

3.2 Das Regime – Die Geltung der Regeln und die Regeln der Geltung

3.3 Die Autoritäten – Zwischen Dezession, Autonomie und Dependenz

3.4 Die Modi der Unterstützung

4. Die Stressreaktionen – Mechanismen und Strukturen der Entschärfung

II. Die Prävalenz des Vielen. Konsensuale Implikationen liberaler Demokratietheorie

1. Ernst Fraenkels Neopluralismus – Zwischen pluralem Dissens und integralem Konsens

1.1 Das repräsentierte Eine und das streitende Viele

1.2 Die Verbindung und die Verbindlichkeit – Die Bedeutung und die Grenzen des »Einen«

1.3 Instanzen und Mechanismen der Integration – Über Kontexte, Koordination und kollektive Identität

2. John Rawls Politischer Liberalismus – Die Übereinstimmung im Vernünftigen

2.1 Der Politische Liberalismus und der Neopluralismus Fraenkels

2.2 Vernünftigkeit, Reziprozität und der Grund – Die Strukturen des Allgemeinen

2.3 Die Ordnung des Vielen – Zwischen Stabilität, Einheit und Entpolitisierung

3. Zum politischen Denken von Jürgen Habermas – Das kommunizierte Eine zwischen universaler Rationalität und konkreten Kontexten

3.1 Soziale Integration über Sprache – Kommunikatives Handeln und rationale Verständigung

3.2 Die Lebenswelt als Integrationsstruktur – Über die Auflösung eines Sinnspeichers

3.3 Entgrenzung und Einschränkung – Deliberative Demokratie und prozedurale Rechtstheorie

4. Demokratie als Existenz im Ko – Benjamin Barbers Starke Demokratie

4.1 Die Magere Demokratie als Kritik am Liberalismus

4.2 Die Starke Demokratie – Lebensform, Transformation, Pluralismus

III. Politik und Demokratie in Zeiten des fehlenden Einen/den – Das politische Denken des Postfundamentalismus

1. Agonismus, Hegemonie und negative Ontologie – Chantal Mouffes radikale Demokratie

1.1 Über die Formation des Sozialen – Fundierung des Denkens im Grundlosen

1.2 Die Ungewissheit der Moderne und das Paradoxe der Demokratie

1.3 Impulse – Denken mit Schmitt und Wittgenstein

1.4 Die agonale Kanalisierung des Konflikts. Über das/dem Politische/n

1.5 Über die Dynamik der Kämpfe und die radikale Demokratie

1.6 Der Pluralismus und die Stiftungen des Einen – Zwischen Konsens und Dissens

2. Im Abwesen des Einen – Die Demokratie als Instituierung im Denken Claude Leforts 

2.1 Die Perspektive der Phänomenologie – Wissenschaft und Philosophie des Politischen

2.2  Die Frage der Demokratie – Am leeren Ort

2.3 Vom Ursprung, der Teilung und den Teilen…

2.4 Der Sinnraum der Gesellschaft – Zwischen Koexistenz, Konsens und Konflikt

3. Über die gemeinsame Öffnung. Jean‐Luc Nancys Denken der Demokratie im Un‑Grund

3.1 Am und im Anfang – Der hermeneutische Zirkel als Eröffnung des Sinns

3.2 Im Mit einer Welt – Zwischen Kommunikation, Ko‑Präsenz/s und Konsens

3.3 Singulär Plural Sein – Eine Ontologie des Ko

3.4 Zugänge zum Politischen

IV. Am Ende

1. Konsens, Ko, Sens

2. Die Axiologie im Denken der Demokratie

Literatur

Spuren des Konsenses – Eine Art Prolog

Das Wir entscheidet: Mit diesem Motto überschrieb die SPD ihr Programm zur Bundestagswahl im Jahre 2013. Welches Wir wird hiermit aber indiziert? Bezieht sich die erste Person plural, die da entscheidet, auf das Kollektiv der Partei und ihren geronnenen Willen, oder hebt dies Wir auf eine Einheit höheren Grades ab, auf die Wählenden, die Bürgerschaft oder eine abstrakte Instanz politischer Kooperation? Und verweist die genuine politische Qualität der Dezision auf eine Praxis kommunaler Partizipation oder auf eine übergeordnete Handlungsnorm: Entscheiden also Wir oder muss das Wir von den Entscheidenden als Maßstab Berücksichtigung finden?

Auch wenn sich im Motto der Demos (Das Wir) und das Kratein (entscheidet) verschränken, steht der Grund des Gemeinsamen, Verbindenden und Verbindlichen doch unentschieden zwischen der integralen Identität einer politischen Gemeinschaft und der kreativen Selbstinstituierung in Praxen kollektiver Autonomie. In dem programmatischen Bekenntnis zur Demokratie offenbart sich somit, wenn auch unintendiert, deren ungewisser Ursprung zwischen Kommune und Kooperation im Sinne zweier disparater Prinzipien ihrer politischen Ordnung und Versprechen des Einen. Die Suche der Demokratie nach ihrem Grund und die Versuche und Versuchungen seiner Hypostase lenken den Blick auf die bleibende Aufgabe demokratischer Selbstvergewisserung.

*

Das Parlament der Unsichtbaren: Über ein Internetportal und eine Buchreihe, beides »Raconter la vie« (»Das Leben erzählen«) benannt, versuchte der Historiker und Philosoph Pierre Rosanvallon die politische Gemeinschaft Frankreichs zu konturieren und sich selbst zu vergegenwärtigen. Krisenphänomene wie mangelnde Wahlbereitschaft, fehlendes Vertrauen in Politiker:innen und Politik sowie die Erfolge von Parteien des rechten Randes gaben ihm hierfür den Anlass. Hinzu kam seine Beobachtung eines mehr und mehr aufbrechenden politischen Gemeinwesens sowie die Konjunktur religiöser Konflikte. Als Ursache machte Rosanvallon ein Fehlen der Nähe aus, eines Bewusstseins vom Anderen als Teil des Wir: Demokratie bestehe eben nicht nur aus Institutionen, sondern bedürfe, um einen geteilten Sinn‐ und Handlungsraum zu etablieren, den Konnex einer Welt.

In der angedachten Erzähl‐ und Lesegemeinschaft sollen sich die Bürger Frankreichs voneinander berichten, biographische Einblicke gewähren sowie gegenseitiges Verständnis aufbringen. Über die Erfahrung politischer Gemeinschaft könne das Wir wieder zu Tage treten: Mit der Eröffnung einer geteilten politischen Welt, die uns betrifft, in der wir leben, die wir aber auch einrichten können, entstünden kohäsive Kräfte, die politische Ordnungen stabilisierten, diese mit Leben und mit Energien aufladen würden. In dem Projekt Rosanvallons wird somit die politische Integration an die Kooperation einer Kommune geknüpft. Ist dieser Fundus des Zusammenseins, der als Basis der politischen Ordnung der Demokratie dienen soll, aber überhaupt verfügbar, der kommunale Grund gestaltbar? Trüge seine Politisierung die sozialen Spaltkräfte nicht zugleich zwangsläufig in dies Fundament der Koexistenz?1

*

Ein Bürgerrat: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte 2020 eine Schwächung der Bindung zwischen Wählenden und Gewählten an, die nicht durch die Parlamente oder Parteien aufgefangen würde. Aus der abnehmenden Akzeptanz der politischen Ordnung folgerte er die Notwendigkeit institutioneller Reformen. Um die Demokratie zugleich gegen Totalitarismen und Populismen zu wappnen, schlug Schäuble einen Bürgerrat vor, der die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern vielmehr ergänzen und stärken sollte.2 In diesem »Kompromiss zwischen einer reinen parlamentarischen Demokratie und einer mit Plebisziten« werden Bürger per Los bestimmt, die sich dann intensiv mit Themen befassten und auf Experten zurückgreifen könnten, um so zu Bürgergutachten zu gelangen. Bestehe bei direkten Formen der Demokratie die Gefahr uninformierter und unqualifizierter Beteiligung, verbürge die diskursive Form der Beratung substantielle Abwägungen und Urteile. Nach Schäuble befördert ein solches intermediäres Format zudem das nachfolgende Engagement der Bürger sowie deren Einbindung in Kommunalpolitik und Parteien.

Neben der immanenten Ambivalenz zwischen Delegat und Mandat in der Repräsentation bleibt der Nexus zwischen dem Rat und den Repräsentanten vage, und mit ihm die Autorität der Bürger gegenüber den Vertretern des Kollektiven. Offen ist zudem, wie sich ein Rat der Wenigen und seine Beratung demokratisch legitimieren lassen, übernimmt dieses Modell doch die repräsentativ‐exkludierende Logik und wiederholt somit eher das Problem als es zu beseitigen. Um den genuinen Defiziten der Repräsentation zu begegnen, scheint somit mehr notwendig als eine weitere ephemere Struktur punktueller Responsivität politischer Eliten: Der Sinnder Demokratie muss wiedergewonnen werden, der als Grund ihrer Institutionen, seien es Parlamente, Parteien oder Plebiszite, dienen kann. Ohne sich auf einen formalen Rahmen politischer Ordnung reduzieren zu lassen, besteht ihr Versprechen in der Wahrung kollektiver Autonomie: Die Frage ist dann, wie die Demokratie und ihre Ordnung als Stätte gemeinsamer Mit‐Bestimmung in Praxen direkter oder indirekter Teilhabe und ‑nahme erfahren werden kann. Wann also entscheiden wir?

*

Endnoten

1 https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-das-parlament-der-unsichtbaren.691.de.html?dram:article_id=276628 [letzter Zugriff11.11.20]

2 https://www.sueddeutsche.de/politiak/schaeuble-bundestagspraesident-buergerraete-1.5044696 [letzter Zugriff: 16.11.20]

Vorwort

Diese Arbeit hält manche Bürde bereit, für den Schreibenden ebenso wie für die Lesenden. Neben die schiere Quantität tritt ein hoher Grad an Abstraktion sowie eine gewisse Hermetik der Sprache. Auch wenn dies die Komplikationen selbst nicht zu mindern vermag, so lassen sich diese Hürden doch auf Gründe zurückführen. Der ausgreifende Umfang erklärt sich aus der Kombination eines komparativen und eines analytischen Zugangs: Die Aufnahme eines breiten Spektrums möglichst vieler Varianten demokratietheoretischer Konzeptionen steht der profunden Auseinandersetzung mit der jeweiligen Version gegenüber. Diesem Dilemma aus extensiven und intensiven Ansprüchen konnte nur unter Preisgabe einer handhabbaren Kürze entsprochen werden. Die Abstraktheit indes ist dem Objekt der Erkenntnis geschuldet, dessen Zugang eine Position über den Konzepten der Demokratietheorie verlangt. Demokratie soll hier nicht nach Maßgaben normativer Reinheit, empirischer Validität oder funktionaler Effizienz verhandelt werden, sondern in Hinsicht ihrer Annahmen des Einen, die als Figuren des politischen Konsenses rubriziert und denen auf verschiedenen Ebenen der demokratietheoretischen Konzeption nachgegangen werden soll. Die Distanz zu Fragen realer Demokratie, ihren Manifestationen, Dispositionen und Konditionen, soll deren Relevanz nicht negieren, sie aber außerhalb des hier gewählten Fokus stellen. Mit diesem Ansatz sind Grenzen wie Möglichkeiten verbunden, die im Zuge der methodischen Vorklärung offengelegt werden. Die Mängel an sprachlicher Akribie sind schließlich zugleich intendiert wie unbeabsichtigt: Einerseits soll die semantische Ambiguität politischer Begriffe nicht in fixen Definitionen beruhigt werden, sondern selbst als Impuls, als positive Spannung im politischen Denken und dem Denken des Politischen ausgehalten werden. Die kursiven Markierungen signalisieren dabei Fluchtlinien des Sinns, mithin ein transitives Potential, das die semantischen Referenzen und Reverenzen im Offenen belässt. Andererseits haben die übrigen Defizite sprachlicher Klarheit und Vermittlung kaum eine andere Ursache als die Unzulänglichkeit des Autors. Auch wenn die Ansprüche, die Ausbreitung von Obskurität und Intransparenz zu minimieren und simultan die implizite Polyphonie sprachlicher Mitteilung aufzunehmen, nicht unwesentlich konfligieren, bemüht sich diese Arbeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten um einen produktiven Ausgleich.

Einleitung

»Als Idee betrachtet, ist die Demokratie nicht eine Alternative zu anderen Prinzipien gemeinsamen Lebens. Sie ist vielmehr die Idee der Gemeinschaft selbst.« (John Dewey, The Public and Its Problems, New York 1927, S 148, entnommen aus TdG, S. 46)

»Demokratie bedeutet, eine gemeinsame Welt zu schaffen. Demokratie heißt, Gemeinsamkeit zu produzieren und nicht nur eine repräsentative Regierung zu organisieren.« (Pierre Rosanvallon, Quelle: DLF)

Siglen

[DL] Rosanvallon, Pierre [2010], Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg.

[DpD] Marchart, Oliver [2010a], Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin.

[DuO] Ders. [2013a], Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin.

[EBBD] Agamben, Giorgio [2012], Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie, in: Ders.u.a., Demokratie? Eine Debatte, Berlin, S. 09 – 12.

[HH] Ders. [2010], Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2), Berlin.

[TdG] Gertenbach, Lars et al. [2010], Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg.

[TOK] Patzelt, Werner J. [2013], Transzendenz, politische Ordnung und beider Konstruktion, in: Ders. (Hg.), Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstitution, Bielefeld, S. 9 – 42.

Die Idee der Demokratie nimmt im politischen Denken unserer Zeit eine konstitutive, autoritative sowie omnipräsente Position ein: Weder sind politische Ordnungen außerhalb eines demokratischen Horizontes denkbar noch scheint deren Rechtfertigung und Begründung abseits ihrer Referenz und Reverenz möglich. Neben dieser Allgegenwart1 und Substanzialität des demokratischen Imaginären markiert die Unsicherheit seiner Bestimmung, die Ambiguität seiner Grundlagen und der Unmut seines Befragens und Infragestellens ein zweites Moment unseres politischen Selbstverständnisses.2 Die Demokratie bezeichnet somit einerseits den letzten verfügbaren Grund kollektiver Ordnung und die einzige Möglichkeit legitimer politischer Organisation, andererseits kann sich die Demokratie ihrer Substanz und Autorität kaum mehr versichern. Die Theorie der Demokratie ist maßgeblich von der Intension geleitet, sich just dieses Defizits anzunehmen.

Im Fokus dieser Untersuchung steht das dialektische Verhältnis des Einen und Vielen in der genuinen Axiologie demokratietheoretischer Konzepte, das mittels eines elaborierten Begriffs des politischen Konsenses analysiert werden soll. Es geht um die Taxierung jenes Grades an Übereinstimmung, an Einigkeit und Einverständnis, die politische Ordnungen tragen, zentriert auf Theorien der Demokratie und deren Selbstausweise. Dies Unternehmen will keine Ideengeschichte des Konsenses im politischen Denken anbieten, sondern benutzt diesen Begriff als ein aufschließendes Instrument in die Theorien der Demokratie. Auch wenn die Annahmen des Einen in Folge der Grundlosigkeit der Moderne verloren gegangen und als Gründe nicht mehr einholbar sind, bleiben sie in den Theorien präsent, so die leitende These. Mithilfe des politischen Konsenses soll die Axiologie der Demokratietheorien sondiert und über den Umgang mit dem Fehlen des Einen Rückschlüsse auf die innertheoretische Funktion konsensualer Annahmen gezogen werden: Auf was ruhen Demokratien und ihre spezifischen politischen Ordnungen, Verfahren und Institutionen, wo sind die Fundamente der Einigkeit, was die Bedingungen der Einigung? Geht ein Konsens der Demokratie als ihr Grund zuvor, meint er eine bestehende politische Kultur oder ist er das Ergebnis politischer Verfahren? Steht das Eine über dem Vielen, ist es dessen Basis oder das Ergebnis eines oder seines Dissenses?

Der galanteste Einstieg in die Thematik bietet sich in dem klassischen Diktum Böckenfördes, also in jener Erkenntnis, wonach Verfassungen immer auf Garantien beruhen, die sie selbst nicht einholen können.3 Zwar mag konkreten Verfassungen diese Ungewissheit ihrer Grundlagen vernachlässigbar erscheinen, in Fragen ihrer theoretischen Validität und normativen Rechtfertigung wird dieser Mangel jedoch akut. Das Postulat Böckenfördes soll hier auf Demokratietheorien übertragen und versucht werden, mit Hilfe der Axiologie Klarheit über die Organisation ihrer Begründung zu erhalten. Unter Axiologie soll dabei das Zusammenspiel von Grundannahmen, ‑sätzen und ‑prinzipien verstanden werden, auf die sich die Konzepte ex‐ und implizit stützen. Im Falle der Theorie der Demokratie manifestiert sich dies in der chiastischen Beziehung des Einen und Vielen als einer Polarität, deren Achsen sich gleichwohl verflechten und in der komplexen Ordnung ihrer Begründung ebenso unterstützen wie bedrohen. Weder kann sich die Demokratietheorie eines dieser Momente entledigen noch sie final ausgleichen. Folglich lässt sich ihr dialektisches Verhältnis auch als Antinomie (Hidalgo 2014) lesen, welche die Demokratietheorie notwendig begleitet. Die Hypothese ist, dass in der derzeitigen späten Moderne innerhalb der Begründungsarchitektur der Demokratietheorien der Pol des Vielen hervor‐ und jener des Einen simultan zurücktritt. So können Annahmen des Einen nicht mehr als Grund dienen, bleiben aber, und das markiert der Doppelsinn des Fehlens, innerhalb der Theorien präsent. Das Diktum Böckenfördes wird demnach erweitert: Es geht nicht nur um unverfügbare Prämissen, sondern um eine spezifische Disposition der Axiologie der modernen und postmodernen Demokratietheorie in der Situation der Ungewissheitsgewissheit (Marchart). Der Zweck dieser Arbeit besteht mithin darin, die Axiologie der Demokratie und die Folgen der Grundlosigkeit auf die Theorien und ihre Selbstausweise zu exponieren: Auch wenn hieraus kein valideres, reineres oder praktikableres Modell der Demokratie folgen kann, soll zumindest das Verständnis ihrer komplexen axiologischen Organisation vertieft werden.

Den Spuren des Konsenses wollen wir in modernen und postmodernen demokratietheoretischen Konzeptionen folgen: Spuren, weil die Annahmen4 des Einen ebenso explizit wie implizit, ebenso direkt wie vermittelt und ebenso zentral wie peripher in den Theorien vorliegen können. Wir vermuten Anzeichen des Konsenses sowohl in Postulaten von Identität, Integrität und Authentizität als auch in Formen von Zusammengehörigkeit, Übereinstimmung und Eintracht, dem Gemeinsamen und dem Geteilten. Behauptungen des Allgemeinen5 und Notwendigen, des Normalen, Neutralen und Gewissen sind ebenso zu beachten wie Konventionen oder Kontexte einer Kultur. Die Ordnung der Konflikte kann ebenso konsensuale Aspekte bergen wie die Funktion und Performanz politischer Strukturen. Letztlich ist jeder Form des Ko, der Gemeinschaft, des Gemeinsamen und Mitgeteilten, und des Sens, der Bedeutung, Orientierung und Ausrichtung, nachzugehen. Weil die Annahmen des Einen an diversen Stellen, in verschiedenen Modi und Qualitäten auftreten und ebenso inhaltliche Behauptungen der Theorien wie subtile Vorannahmen oder konzeptionelle Rahmen, ebenso intime Potentiale wie externe Arrangements und periphere Kontexte meinen können, schließt sich eine vorlaufende, übergeordnete Definition aus: Der Ausrichtung und ‑gestaltung des Konsenses muss in den Konzeptionen der Demokratie nachgegangen werden. Neben der Frage, welche Qualität und welchen Ursprung der politische Konsens hat, ist es von Relevanz, welcher Status ihm innerhalb der Demokratietheorien zukommt, welche Position er ein‐ und welche Funktion er übernimmt. Um die multiplen Figuren, Gesten und Momente der Annahmen des Einen und die dialektische Beziehung zum Vielen zu sichten, greifen wir auf den Begriff des politischen Konsenses zurück, dessen Bestimmung die grundlegende Aufgabe dieser Arbeit sein wird.

*

Ihren Ausgang nimmt diese Studie von der Annahme der genuinen Situation der Moderne als dem absoluten Auf‐sich‐Verwiesen‐Sein der Gegenwart und dem Verlust aller transzendenten Garantien des Einen.6 Die Grenzmarken der Sicherheit (Lefort) sind abhandengekommen, keine Natur, kein Gott oder Kosmos können noch als fester Grund politischer Ordnung dienen. Aus dem Mangel letztinstanzlicher Gewissheit folgt zugleich weder die Negation aller Versuche ihrer Einholung noch der Schwund ihrer Relevanz. Mit Marchart formuliert bleibt der Grund im Abwesen anwesend, im doppelten Sinne des Fehlens. Auch wenn sich dieses Signum der Moderne umfassend ausnimmt, ist die Grundlosigkeit als eine genuine Herausforderung demokratietheoretischer Selbstbegründung und ‑bestimmung zu begreifen: Wie gehen Demokratietheorien mit dem Fehlen des Einen um, wie versuchen sie sich selbst zu begründen und was ist der geteilte Grund kollektiver Entscheidungen?7 Dabei sind neben dem Ausweis des Demos und seiner politischen Qualität auch die Implikationen des Kratein zu beachten, das einerseits als Punktierung und Ort der Macht die Einrichtung einer Position über dem Vielen markiert und andererseits die Produktion von Einigkeit anzeigt, also den Prozess und die Konditionen der Konversion des Vielen zum Einen im Sinne der Einigung.

Auch wenn wir nach Ambivalenzen und Ambiguitäten fahnden und dabei Spannungen und Leerstellen fokussieren, geht es uns dabei nicht um konzeptionelle Defizite, sondern um die konstitutive Reibung, die den Umgang mit dem Fehlen des Einen irreduzibel begleitet. Eben weil wir davon ausgehen, dass das Alternieren zwischen den Polen nicht durch eine wie auch immer geartete Perfektion eines demokratischen Modells stillgestellt werden kann, ist es nicht unsere Intension, konsensuale Varianten der Demokratie gegen dissensuale Versionen zu verteidigen.8 Im Spiel des Einen und des Vielen gibt es keinen Sieg und keine Sieger: Weder ist die Spannung tilgbar noch die Gleichwertigkeit und ‑ursprünglichkeit der Momente aufhebbar. Ohne die konstitutive Relevanz des Einen zu marginalisieren, vermuten wir in der modernen Demokratietheorie einen Akzent des Vielen, der die Suche nach dem verlorenen Einen, dessen Abwesen und Fehlen, lohnenswert erscheinen lässt. Der Zweck dieser Arbeit erfordert ein Vorgehen, aus dem gerade deswegen kein an sich wünschenswerter Vitalisierungsschub des demokratischen Projekts resultieren kann, weil der hier gebotene Zugang dezidiert einen Rückzug (im Sinne Nancys) verlangt. So stehen wir vor der Aufgabe eines eigenen demokratischen Einsatzes – im Sinne des Auftrags einer Enthaltung. Wir schreiben über Demokratietheorie und müssen über ihr bleiben.9

Dennoch erlaubt ein Ansatz, der die Unentschiedenheit des Spiels des Einen und Vielen als eine konstitutive Disposition der Demokratie begreift, ein genuines Verständnis der Komplikationen ihrer Verwirklichung. Obgleich die Krise der Demokratie so alt ist wie sie selbst (Merkel) und das Zeitalter der Postdemokratie10 (Crouch) eher eine Momentaufnahme abbildet, scheint die demokratische Dynamik bis auf singuläre Ausnahmen11 und der diffusen Affirmation ihrer Idee erschöpft. Konnte sich die Demokratie im Ereignis 68 noch zum Initial einer ganzen Lebensform (Negt) erheben, ging ihr im Nachgang diese Gestaltungskraft und umfassende, integrale Relevanz verloren.12 Einerseits ist der emanzipative Impuls der Demokratie im Sinne eines Wagnisses und ihre ambitionierte Einforderung kollektiver Autonomie nebst den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität einem Arrangement mit den realen Verhältnissen gewichen, dem es eher um das Managen konkreter Probleme und dem Ablauf administrativer Routinen als um den Ethos einer Lebensform bestellt ist: Demokratische Innovation meint nunmehr pragmatische Reform, die Demokratie firmiert nicht als Moment der Erneuerung, sondern der Bewahrung des Bestehenden.13 Andererseits zeigt sich in der Bestimmung der Demokratie eine spezifische Leere, die sich im Spiel des Einen und Vielen verorten lässt: Im Verschwinden der kommunalen Bezüge einer kollektiven souveränen Aneignung politischer Selbstbestimmung und ‑verantwortlichkeit tritt die Aktualität und Relevanz eines Arrangements der Vielen hervor, in dem die Differenz und Differenzen akzentuiert und mit der Vermeidung von Heteronomie und Diskriminierung zugleich die Potentiale politischer Autonomie, der gegenseitigen Verbindung, Verbindlichkeit und Verantwortung kollektiver Bezüge aufgegeben werden.14 Demokratie verliert in Folge des unbedingten Postulats diskriminierungsfreier Neutralität ihr Potential kollektiver Bestimmung (im doppelten Sinn der Sub‐ und Objektivität): Wenn Demokratie dem Zweck dient, Entscheidungen über eine bestimmte politische Ordnung Autorität und Legitimität zu verleihen, mithin Urheber und Adressaten (Habermas) politischer Setzungen zu versöhnen, dann scheint dieses Prinzip politischer Transformation an Sinn zu verlieren. Indem wir den politischen Konsens als aufschließende Figur in die Axiologien einführen, um die multiplen Manifestationen der Annahmen des Einen in den Ansätzen zu sondieren, und zugleich sensibel bleiben für die beständige Reibung mit dem Vielen, können wir einen spezifischen Zugang in die Theorie der Demokratie und den komplexen Status ihres Imaginären entfalten.15

*

Demokratietheorien sind per se irreduzibel immanenten Spannungen ausgesetzt, um deren Ausgleich, Relativierung oder Kaschierung sich die jeweiligen Konzeptionen bemühen.16 In dieser Auslotung demokratietheoretischen Denkens sind die Friktionen zwischen Konsens und Dissens, Kontingenz und Konstitution sowie zwischen dem Gesetz(ten) und der Setzung, also zwischen Einbindung und Selbstbestimmung, instruktiv, wobei sich die Korrelationen nicht auf Dichotomien beschränken, sondern alle Komponenten in einem Zusammenhang stehen. So reibt sich die Demokratietheorie daran, keine vorlaufende Übereinstimmung im Sinne einer Homogenität, Kongruenz oder Konformität annehmen zu können, und zugleich auf eine gegebene, konstitutive Zustimmung, sei es eines Wirs, eines Prozederes oder einer Kultur, abzustellen. Einer Offenheit, Kontingenz und Pluralität steht die Geschlossenheit konkreter Kollektive und Kontexte sowie die Unverfügbarkeit integraler Fundamente gegenüber. Ebenso bindet die Demokratie die Verfassung der Ordnung und deren Legitimität an die Zustimmung der Betroffenen wie sie bestimmte Institutionen, Themen und Werten just diesem Zugriff entzieht. Drittens alterniert das demokratische Denken zwischen einer affirmativ‐inklusiven und einer defensiv‐exklusiven Bezugnahme auf den Konflikt, sei es als der eine Grund und die eine Arena des Streits oder der Geltung dessen Lösung. Letztlich kann auf die Spannung zwischen Selbstbindung und Gebundenheit, also zwischen der emanzipativen Autonomie als permanente Gründung des Wir einerseits und der Eingelassenheit in eine Ordnung, dem heteronomen Zwang des Gegebenen, andererseits verwiesen werden: Einmal meint die Gründung eine im Innen bleibende Selbstschöpfung, das andere Mal verschiebt sich der gemeinsame Grund in ein – zumindest dem Innen – unverfügbares Außen.17 Demokratietheorien sind um die Bildung einer Brücke zwischen diesen Bewegungen bemüht, dem subjektiven Potential kollektiver Autonomie und der Geltungsbeanspruchung einer objektiven Aussetzung18.

Das demokratische Denken nimmt sich als eine polyphone, teils disharmonische Komposition aus, als ein imperfektes Arrangement ihrer zugleich zu‐ und widerstrebenden multiplen Momente. So setzt der Konflikt notwendig Aspekte des Gemeinsamen voraus: Konsens und Dissens stehen gleichzeitig in einem positiven wie in einem negativen Bezug und alternieren simultan zwischen Kontingenz und Konstitution. Gehen wir kurz der Anzeige des konsensualen Potentials im Konflikt nach: Die Opponenten des Konflikts teilen einmütig die Ausrichtung ihrer Gegnerschaft, dem Schlagen (fligere) geht in diesem Sinne ein gemeinsamer Bezug (kon) voraus, wie Gegnerschaft geteilten Sinns (sens) bedarf.19 Im Konflikt sind mithin zwei Bewegungen angelegt, eine antagonistische, konfrontative Op‐Position und eine verbindende, einvernehmliche Kom‐Position. Der Antagonismus scheint dabei das innere Integrationsmoment des Konflikts zu bilden, gleichsam zeigt sich der gemeinsame Bezug als Markierung einer äußeren Grenze an: Die notwendige, nach Innen gehende Distinktion muss sich allem Verbindenden verweigern und drängt den antezedenten Konnex in das Äußere oder das Äußerste des Streits.20 Ebenso können zwei Verhältnisse des demokratischen Denkens und der Kontingenz unterschieden werden, ohne dass es hier eine richtige Version gäbe: Einerseits liegt der Demokratie ihrem Prinzip nach ein Bewusstsein der Kontingenz zugrunde, ist ihr doch das Potential der Entscheidung und Gestaltung eigen, dem wiederum die Veränderbarkeit jedes Gegebenen, die Möglichkeit der Alternative, vorausliegt. Demokratie beschreibt mithin nicht nur, wer nun die Quelle des politischen Potentials ist, sondern auch und diesem voran, dass es dieses diesseitige Potential, losgelöst von jeder Transzendenz, jeder Erhabenheit und Exklusivität, überhaupt gibt. Anderseits ist demokratischem Denken die Bewegung der Ordnung eigen, der Umsetzung der (Selbst‑)Bestimmung, die sich an der Kontingenz reibt und deren Grundlosigkeit und Infragestellung sie nur schwer aushalten kann. Einer prinzipiellen Politisierung steht eine Entpolitisierung, einer Aneignung ein Rückzug gegenüber: Demokratisches Denken steht in diesem Widerstreit, ohne sich aus ihm lösen zu können. Beiden Einschreibungen der Kontingenz in das Denken der Demokratie ist jeweils eine zu unterscheidende Akzentuierung des Konsenses eigen: Einmal konstituiert sich das Eine in der Setzung, dem gemeinsamen Willen eines Wir, als Potential eines Subjekts; zum anderen bildet sich das Eine im Ausgesetzt‐sein im Sinne einer Objektrelation, eine Behandlung, die aber ebenso Übereinstimmung, Akzeptanz und Zustimmung für sich beansprucht. Das Spiel zwischen der Gründung und den Imperativen des Grundes zeigt die Spannungen im Denken der Demokratie, der Kontingenz und des Konsenses ebenso wie ihrer gegenseitigen Einschreibungen an. Hier reicht es, die Implikationen bis zu diesem Punkt verfolgt zu haben, um das komplexe Gefüge von affirmativer Adaption und entsagender Distanzierung wechselseitiger begrifflicher Bezüge und Ebenen absehen zu können.21 Demokratietheorien stehen vor der Aufgabe, diese Spannungen austarieren zu müssen.

Wenn wir im Folgenden diesem Spiel der Reibungen, des Ent‐ und Bezugs der Bewegungen mit einem Fokus auf dem Konsens folgen, meint dies weder, in diesem eine demokratische Essenz auszumachen noch den Anteil der anderen Bewegungen zu leugnen oder zu marginalisieren. Wir wählen diese Perspektive, weil die Axiologien der Demokratietheorien unserer zeitgenössischen Moderne, welcher Präfix ihr auch voransteht, durch einen Akzent des Vielen geprägt sind, und das Eine, die Übereinstimmung und das Kommune gleichsam abseits stehen, aber eine subkutane Relevanz behalten. In der einzigen Gewissheit der Ungewissheit und dem Fehlen oder dem In‑Frage‐Stehen des Einen erhält der politische Konsens eine spezifische Aktualität im Denken der Demokratie: Einigkeit kann nun nicht mehr als sicherer Grund dienen, sie ist abwesend, fragil und erscheint eher als Unterbrechung der natürlichen Ordnung der Uneinigkeit.22 Eben weil das Eine nicht mehr gewiss ist, weder in seinem Ursprung, seiner Position, seiner Funktion noch in seiner normativen Validität, und ebenso wenig seine Produktion überhaupt möglich scheint, stehen moderne Demokratietheorien vor dem Problem, einerseits konzeptionell nicht auf seine Annahmen verzichten zu können, diese aber weder einholen noch rechtfertigen oder begründen zu vermögen.23 Theorien der Demokratie sind sich einerseits der Faktizität eines pluralen, vielstimmigen wie widerstreitenden Vielen bewusst, andererseits bildet die Transformation, die Konversion des Vielen zum Einen, die Bildung eines gemeinsamen Willens und einer geteilten Verbindlichkeit, eine Ambition demokratischer Politik. Das Streben hin zu einem Einverständnis, die Erzeugung von Zustimmung, markiert mithin ein Telos demokratischen Denkens und verlangt diesem ab, die divergenten Spannungen auszugleichen und die heterogenen Willen zu einen. So sehr sich zeitgenössische Demokratietheorie auch in den Bannkreis des Pluralen ziehen lässt, so bleibt ihr doch immer die Zumutung einer Bewegung hin zum Einen, und sei dieses nur ein Punkt am Horizont, inhärent. Neben der Konversion bleibt das Eine auch in den Grundlagen der Ordnungen und den Begründungen der Theorien präsent.

Um ein Verständnis der axiologischen Disposition des demokratischem Denkens zu entfalten, muss die Distinktion zwischen demokratietheoretischen Projekten und einer zurückhaltenden Sichtung ihrer Grundlagen gewahrt bleiben: Beide Zugänge unterscheiden sich nicht nur in ihrem methodischen Zuschnitt, sondern auch in ihrer Reichweite, ihrem Beweisziel und ihrer Aussagekraft und verweigern sich direkten Übertragungen.24 Neben dieser Distanz zum interventionistischen Impetus traditioneller Demokratietheorie nehmen wir ebenso wenig in Anspruch, Aussagen über die Kohäsion25 und Integration konkreter Gesellschaften zu treffen, obgleich diese indirekt als Annahmen und Argumente der Demokratietheorien Eingang finden. Das soziologische Thema sozialen Zusammenhangs26 wie -halts muss von dessen Funktion in der Begründung politischer Theorien27 geschieden werden.28 Da unsere Studie vornehmlich dem Zweck dient, die Axiologie der Theorien zu entdecken, stellt sie die konzeptionellen Selbstausweise in den Fokus, ohne diese Analyse durch äußere Kriterien zu belasten.29 Den offengelegten Spannungen gegenüber können weder Offerten der Auflösung noch der institutionellen Aufhebung gemacht werden, würde ansonsten das Objekt verstellt oder ‑deckt.30

*

Der Ansatz, Demokratie weniger in Hinsicht ihrer Anwendung als auf die Axiologie ihrer Begründung hin zu befragen, ist im Feld der Politikwissenschaft bislang eher eine Randerscheinung.31 Im Sinne der politischen Philosophie geht es um die Reflexion der Grundlagen ihrer politischen Ordnung und zugleich darum, die dialektische Polarität als axiologische Disposition auszuweisen, also die Prävalenz des Vielen und die subkutane Relevanz des Einen zu exponieren. Dies zielt dezidiert nicht auf ein funktionales oder stringentes Modell politischer Organisation, sondern auf die Begründungslogik der Theorie der Demokratie und die Folgen der Grundlosigkeit der Moderne. Zudem fällt die Demokratie in unserer Sicht nicht mit einem Modell der Politik in eins, ihr eignen auch Bezüge zum Politischen, die in der hier vorgeschlagenen Perspektive hervortreten. Just ein Blick auf das Fehlen des Einen macht den Unterschied deutlich: Hat die Ungewissheit in der Politik keinen rechten Ort und bleibt ihr fremd, lässt sich die Grundlosigkeit als ein Wesenszug der Instituierung demokratischer Gesellschaften verstehen, der es erlaubt, die Komplexität ihrer in‑Form‐, in‑Szene‐ und in‑Sinn‐Setzung zu fassen. Der Mangel ist in dieser Formulierung zugleich offenbar: Wenn Demokratie eine soziale Formation bezeichnet, rückt sie in den Fokus sozialphänomenologischer Analysen und nimmt von Ansinnen politischer Ordnung, Regulation und Kontrolle Abstand. Auch wenn sich beide Ansätze distanziert gegenüberstehen, muss eine Demokratietheorie beide Seiten wenn nicht verbinden, so doch zumindest vermitteln und aufeinander beziehen: Demokratien lassen nicht nur einen Blick auf den Umgang mit der Grundlosigkeit zu, wie er sich im leeren Ort der Macht und der Vorstellung einer objektiven Mitte (Lefort) zeigt, sondern sie etablieren auch ein Regime politischer Ordnung, deren Prozedere und Institutionen der Erzeugung verbindlicher Entscheidungen dienen. Die Sondierung der Axiologie muss beide Horizonte beachten, sind doch beide Motive demokratietheoretischer Begründung. Zugleich bietet sich mit der Akzentuierung des Umgangs mit dem Fehlen des Einen eine spezielle Perspektive auf die Gründe demokratietheoretischer Entwürfe.32

Zur Einordnung des Politischen ist es zweckdienlich, die Ausführungen Rosanvallons zu zitieren:

»Mit dem Gebrauch des Substantivs »das Politische« charakterisiere ich sowohl eine Existenzweise des gemeinsamen Lebens als auch eine Form kollektiver Handlung, die sich implizit von der Ausübung der Politik unterscheidet. Sich auf das Politische anstatt auf die Politik zu beziehen bedeutet, von der Macht und vom Gesetz zu sprechen, vom Staat und der Nation, von Gleichheit und Gerechtigkeit, von Identität und Differenz, von der Staatsbürgerschaft und der Höflichkeit, kurz gesagt: von all dem, was eine Polis (cité) jenseits des unmittelbaren Feldes parteilichen Wettbewerbs um die Machtausübung, des alltäglichen Regierungshandelns und des gewohnten Lebens der Institutionen stiftet.« (Rosanvallon 2003, S. 14, zitiert nach Marchart 2010c, S. 143)

Mit Marchart (DpD) lässt sich nicht nur das Verhältnis von Politik und dem Politischen als politische Differenz bezeichnen, er unterscheidet zudem zwei tradierte Varianten des Politischen, ein assoziatives und dissoziatives Modell. Der Betonung der kooperativen Dimension kollektiver Koexistenz und des gemeinsamen Handelns im öffentlichen Raum steht die Akzentuierung der Uneinigkeit, des Konflikts und des Mangels gegenüber. Beiden Typen ist gleich, dass sie auf vorgängigen (Sozial‑)Ontologien aufsetzen und aus diesen, gleichsam verschiedene, Ideale politischer Praxis folgern. Als aktuelle Frage politischer Theorie und Thematik demokratietheoretischer Auseinandersetzung kann die Definition des Politischen für unser Anliegen zunächst als eine Dimension der Konstitution des Sozialen vage bleiben.33 Zu beachten ist, dass sich die Momente der Kon-, De‐ und Instituierung sowohl der direkten Einsicht wie der Aneignung entziehen: Somit führt der Versuch zu verstehen, wie wir zusammen sind, eben nicht zu einem Vermögen, dies Dasein in toto begreifen geschweige denn kontrollieren zu können. Zugleich eröffnet sich in diesem Denken ein Zugang auf die Ausrichtung unserer politischen und sozialen Wirklichkeit (und ihre Perzeption).

Im Rahmen der Theorie der Demokratie ist es unsere Absicht, den Begriff des politischen Konsenses als analytischen Aufriss und Kristallisationspunkt der Axiologie einzuführen. Die Auslotung des Konsenses dient mithin als Grundlage und Orientierung der Suche nach den Annahmen des Einen im Denken der Demokratie. Dabei steht seiner weitläufigen Verwendung eine irritierende Unklarheit gegenüber, die sich ebenso in einer unausgewiesenen Ambiguität seiner lexikalischen Bestimmung bezeugt: So changiert der Konsens zwischen einer Charakterisierung als Übereinstimmung und einer als Übereinkunft: Wird einmal ein ursprünglicher, geteilter Einklang betont, eine Harmonie, so wird das anderes mal auf ein Prozedere verwiesen, das diese Einigkeit erst herstellt. Ferner alterniert der Begriff zwischen den Implikationen seiner Elemente, also Annahmen des Miteinanders, der Zusammengehörigkeit (Ko), und einem (kollektiven) Sinn, einer enthobenen Stimmung (Sens).34 In politischen Gemeinschaften vermuten wir nicht nur inhärente Verbindungslinien zum Konsens, sondern ebenso Strukturen und Implikationen demokratischen Denkens, zum Beispiel im kooperativen Potential des Demos. Auch die Räume des Sinns bieten als Ausrichtung von Bedeutung, Orientierung und Vertrauen sowie Vertrautheit Anknüpfungspunkte.35 In diesen beiden Aspekten scheinen Horizonte auf, nach denen wir in den Demokratietheorien fahnden wollen, also in Postulaten kommunaler Identität wie in jenen kollektiver Kontexte.36 Einem verbreiteten intuitiven Verständnis des Konsenses begegnen wir mit einer elaborierten Interpretation, die die multiplen Korrelationen mit dem Einen offenzulegen verspricht. Im Rekurs auf den Konsens gilt es zugleich die Vereinnahmung37 durch einen prominenten Theoriezweig zu beachten, namentlich dem deliberativen Ansatz, wie er von Habermas nebst anderen entwickelt wurde.38 Wir verstehen den Konsens als offenes Konzept, mit dem sich die Horizonte des Einen in Theorien der Demokratie exponieren lassen: Uns geht es nicht um einen Konsens im Sinne eines optimalen Ergebnisses von Verhandlungen oder als normatives Modell kommunikativer Verständigung. Wir stellen den Konsens nicht neben Mehrheitsentscheidungen39 als anspruchsvollere Konzeption demokratischer Willensbildung oder Entscheidungsfindung (im Sinne einer Konkordanzdemokratie40). Wir verhandeln den Konsens weder als Kriterium eines Regierungsstils noch als Kategorisierung eines bestimmten Demokratietyps. Kurzum nimmt der Konsens in dieser Arbeit die Position eines Mittels ein, nicht des Zwecks.

***

Die Thematik des politischen Konsenses ist der Politikwissenschaft keineswegs fremd: Bereits 1969 führte Manfred Hättich diesen Begriff ein und deklarierte seine Klärung zu einer zentralen Aufgabe politikwissenschaftlicher Demokratieforschung.41 Als Eröffnung der Voraussetzungen und Grundlagen, der Ordnung und der Verwirklichung von Demokratie kommt dem politischen Konsens nach ihm eine signifikante Rolle innerhalb des politikwissenschaftlichen Forschungshorizontes zu. Weiter wies er auf die notwendige Beiordnung des Dissenses hin, dessen Korrelation und Korrespondenz mit dem Konsens gerade im Denken der Demokratie zu ergründen sei. Auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Formulierung ist Hättichs Postulat noch nicht zum Initial einer expliziten Analyse geworden: Unser Unternehmen nimmt den demokratiewissenschaftlichen Impuls42 auf und bemüht sich, ihm in einem komparatistischen Zugang und über die Exploration konzeptioneller Axiologien gerecht zu werden.

Ohne direkte Vorläufer zu haben, steht unser Zugang im Lichte verschiedener Quellen, zum Beispiel Nancys politischem Denken, das sich allerdings eher als begrifflich‐immanente Auslotung versteht.43 Den Horizont der impliziten Spannungen, dem Nancy in den Begriffen nachgeht, verfolgen wir in den Axiologien der Theorien. Zugleich nehmen wir Leforts Denken der chiastischen Dialektik des Einen und des Vielen auf, auch wenn wir sie weniger als Strukturen der Instituierung denn als Disposition des Denkens der Demokratie fassen. Gerade weil wir in Demokratietheorien Fortschreibungen gesellschaftlicher Selbstbilder vermuten, bleiben sich beide Ansätze doch nahe. Auch wenn sich unser Zugang durch seinen Fokus auszeichnet, schließt er an einen breiten Kontext politischen Denkens an, in dem Aspekte des politischen Konsenses, wenn auch implizit, verhandelt werden. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, soll es uns zunächst um zwei prägnante aktuelle Ansätze gehen, die mit unserem Denken lose in Kontakt stehen, mit denen wir also gewisse Aspekte teilen, die sich aber gleichzeitig von unserer Unternehmung an zentralen Punkten unterscheiden. Neben einer kursorischen Sichtung demokratietheoretischer Überlegungen Agambens soll Patzelts Konzept der Unverfügbarkeit ebenso punktuell besprochen werden.44

*

Agamben (EBBD, S. 9) differenziert zwei Aspekte der Demokratie im Sinne des Politischen und der Politik: Einmal spreche man über die Verfassung eines Gemeinwesens im Sinne seiner Konstituierung, ein anderes Mal über eine Regierungstechnik als institutionalisierte Struktur.45 Zum einen gehe es um den Grund der Ordnung, dessen Gründung und Instituierung, zum anderen um ein konkretes Regime und dessen Verwaltung. Beide Aspekte stünden zueinander in Distanz, gleichsam seien beide in der Spannung zwischen der souveränen Gründung, dem Setzen, und dem Gesetzten, dem Gesetz, verwoben. Auch wenn sich eine reine Distinktion somit kaum durchhalten ließe, bezeichneten beide Momente differente Elemente der Demokratie: Einerseits gehe es um die Wahrung des transgressiven Pols von Autonomie und Emanzipation, andererseits um die konkrete Umsetzung des Projekts und die pragmatischen Bedingungen der Realisierung der Idee.

Agambens politisch‐theologische Studie zu den Begriffen der Herrschaft und der Herrlichkeit geht der Frage nach, wie Macht im abendländischen Denken das Verständnis der Regierung von Menschen (HH, S. 11) hat annehmen können. Herrschaft verweise in der Herrlichkeit auf eine entzogene, transzendente wie an‑archische Instanz, deren Grund‐ und Anfangslosigkeit (Vgl. HH, S. 78) sich auch der Regierung einschreibe und sich vom Bruch zwischen Sein und Praxis und dem anarchischen Charakter der göttlichen oikonomia (HH, S. 84) her begründe. Dabei wird die komplexe Anlage der Souveränität deutlich, der auch Nancy nachgeht: Ein absolutes Prinzip der Setzung, der reinen Gründungsbewegung eines Willens, bedinge seine eigene Ungebundenheit. Die Souveränität habe keinen Grund außer ihr selbst, sie binde sich nur in ihrer Bindung, ohne dass sie je aus der Bewegung heraustreten könnte. Die Souveränität stehe gleichzeitig über dem Gesetz/-ten und als Grund unter diesem: Dieses Verhältnis alterniere zwischen Bezugnahme und Ablehnung, zwischen Er‐ und Verunmöglichung, zwischen innerem Grund und äußerer Grenze.46 Kurz: Wenn die Souveränität als Grund des Gesetzes/-ten im Sinne des Ursprungs im Willen des Souveräns dienen soll, muss sie just in diesem Moment geleugnet werden, da sich das Gesetz/-te ansonsten seine eigene Negation einschriebe.47 Die Reibung zwischen der absoluten Souveränität und der konkreten Umsetzung könne um die divergierenden Prinzipien der Transzendenz und Immanenz verlängert werden und verweise letztlich auf eine Ambivalenz der Politizität unserer Kultur. (Vgl. HH, S. 99, S. 110 und S. 309)

Demokratietheoretisches Denken steht notwendig in der Spannung dieser Prinzipien und Bewegungen, die es gleichsam austarieren muss. Eine Vermittlung ihrer Heterogenität ist nach Agamben über die Einholung der Zustimmung (zur politischen Ordnung) möglich, meine diese doch die willentliche, souveräne Akzeptanz einer institutionellen Form. Die konsensuale Unterfütterung der Herrschaft ziele demnach nicht auf konkrete Politik, eher kann sie als eine akklamatorische Bekundung diffuser Unterstützung48 verstanden werden.49 Obgleich Agambens Verweis auf den konsensualen Grund politischer Ordnung – besser: die Bedingungen und Vorannahmen in unserem Verständnis politischer Ordnung – und Souveränität durchaus im Sinne einer Annahme des Einen verstanden werden kann, bleibt diese Einholung auf die Zustimmung bezogen wie sie eine offen bleibende Bindung politischer Ordnung an einen demokratischen Ursprung einbegreift. Kurz gefasst will Agamben darauf hinaus, dass Ansätze, die die politische Konstituierung mit kommunikativem Handeln der Öffentlichkeit (z.B. Habermas) verknüpfen, ein tiefliegendes Einverständnis der Akteure zur politischen Ordnung behaupten müssen. Wir werden an dieser Stelle mit unserem Vorhaben anschließen und gleichsam die Suche nach dem Einen um den Horizont des Umgangs mit seinem Abwesen erweitern.

Eine weitere Anbindung ist uns im Anschluss an die aktuelle Debatte über die Konstruktion politischer Ordnung50möglich, in der Patzelt eine Deutung des Unverfügbaren entwickelt, jenes Entzogene, das sich einer Politisierung und Aneignung verweigert: »Bei alledem geht es um die Sicherung bestimmter Wissensbestände, Deutungsweisen, Praxen und von alledem getragenen Institutionen als »unverfügbar«. Unverfügbar meint dabei: der Dispositionsfreiheit des Einzelnen, ja selbst gut organisierter Gruppen entzogen, zumindest hier und jetzt sowie für alle praktischen Zwecke.« (TOK, S. 21) Zentral ist der Status des Unverfügbaren, also die Frage, ob es sich um eine intendierte Stillstellung oder eine sublime Struktur der Grundlegung politischer Ordnung handelt, um eine hegemoniale oder eine vorpolitische Kondition.51 Patzelts Einsatz lässt sich am ehesten als eine Verbindung beider Aspekte verstehen, so bleibt er zwar an der Oberfläche des Gegebenen, will diesen aber bis in ihre konstruktive Grundanlage wie deren symbolische Implikationen (sogenannte Schlusssteine letztinstanzlichen, gemeinsamen Sinnverweises) folgen. Die Persistenz der Ordnung im Blick versucht er, drei sich ergänzende Perspektiven zu trennen: Die geteilte Wirklichkeitskonstruktion steht neben einer Verschränkung von Sinn‐ und Sozialstrukturen und einer geschichtlichen Verortung.52

Anhand des Unverfügbaren geht es Patzelt um die Integrationspotentiale bestehender politischer Ordnungen und die Komponenten konkreter Vereinheitlichung.53 Als deskriptive Analyse faktischer Konditionen ihrer Beständigkeit bleibt sein Ansatz in einer disziplinären Distanz zu Entwürfen der Demokratietheorie, zuvorderst deren normativer Anlage. Jedoch stehen derartige Unternehmungen selbst vor der Aufgabe des Ausweises bestehender konstitutiver Konsense: Die Bestimmung eines nicht‐kontroversen Sektors im Sinne Fraenkels, der den pluralen Interessenwettstreit einhegt und erst ermöglicht, wirft hier ein Schlaglicht.54 Die Unverfügbarkeit ist in unserem Ansatz als eine entziehende Bewegung zu denken, die ebenso auf konsensuale Elemente verweist wie sie sich in Reibung mit der Autonomie, der Kontingenz und dem Konflikt befindet. Wichtig war es an dieser Stelle auf die Überschneidung hinzuweisen und gleichzeitig die Divergenz im Blick zu behalten.

*

Zu Ungunsten einer orientierenden Einordnung kann unsere Untersuchung weder an direkte Vorbilder noch an prominente Schulen anschließen. Unser Vorgehen entspricht zudem kaum klassischen politikwissenschaftlichen Ansätzen, wobei dies allein unserem Erkenntnisinteresse geschuldet ist: Ein Zugang, der sich der Axiologie demokratischen Denkens widmet und in den Versuchen der Selbstbestimmung und ‑begründung den Umgang mit dem Abwesen des Einen offenlegen will, muss äußere Einflüsse tunlichst meiden und sich stattdessen der immanenten Hermeneutik verpflichten. Zugleich meint diese Perspektive nicht, Kritik aufzugeben oder den Postulaten naiv zu vertrauen: Um den Begründungsversuchen der Konzeptionen nachgehen zu können, die Komplexität des Spiels zwischen dem Einen und dem Vielen beobachten und den multiformen Manifestationen in den Axiologien nachspüren zu können, ist jedoch eine gewisse Zurückhaltung geboten.55 Zugleich erlaubt diese Perspektive eine sensible Rezeption der Annahmen des Einen, ebenso in ihren dezenten und intimen, evidenten und externen Status wie in der Prekarität ihrer Begründung. Weil wir die Theorie selbst als imperfekt verstehen, können wir ihre Lücken, Leeren und Läsionen offenlegen. Die Diversität der Gegenstände unserer Betrachtung betten wir in das Konzept des politischen Konsenses ein und setzen es zugleich in den Kontext der reflexiven Grundlosigkeit der (Post‑)Moderne. So verbleibt unser Zugang unentschieden zwischen der intimen Lektüre der Hermeneutik und der polarisierenden Analyse des Dekonstruktivismus: Um die Bewegungen des jeweiligen Denkens, seine Öffnung und Schließung, nachvollziehen zu können, gilt es, sich ebenso auf den jeweiligen Ansatz einzulassen wie gegenüber seinen komplexen Brüchen aufmerksam zu bleiben. Diese Zurückhaltung im Umgang mit Demokratietheorien ist also zugleich strategisch und methodisch geboten.

Mit dem Konsens heben wir auf eine genuine Disposition in der Axiologie der Theorien ab, die ebenso bestimmte Ambivalenzen undInkonsistenzen aufweist wie sie mit anderen integralen Elementen (wie dem Dissens) korreliert. Die Sichtung der Figuren der Axiologie verlangt einen besonderen Blick: Weil weder die konzeptionelle Position noch die Form oder der Inhalt der Annahmen des Einen fest oder verallgemeinerbar sind, muss die spezifische Qualität des Konsenses ebenso wie seine konzeptionelle Funktion in den jeweiligen theoretischen Entwürfen ermittelt werden. Als involvierte Komponente entzieht sich der Konsens zugleich der jeweiligen theoretischen Rezeption und Reflexion, da er deren Grund56 bildet und die Konzeptionen auf ihm beruhen57. Da wir mit dem Konsens die Logik der Axiome sondieren wollen, die den Entwürfen als Grundlage dienen, stellt sich das Problem ihrer Position: Die Annahmen des Einen stehen einerseits außerhalb des eigentlichen Begründungsanspruchs des jeweiligen Ansatzes und bilden gleichzeitig den Grund seiner Evidenz, und bleiben andererseits in das jeweilige Denken eingebunden und nur in diesem nachvollziehbar.58 Da weder die Qualität des Konsenses eindeutig noch sein Status, seine Position und Funktion in den Demokratietheorien fest sind, muss sich die eingenommene Perspektive ebenso durch Offenheit wie durch Adaptivität auszeichnen: Weder können wir den Gegenstand unseres Fragens (den Konsens) noch den unseres Befragens (die Demokratie) definieren (bestimmen, abschließen und begrenzen), beides ist uns nur in der Selbstreferenz der jeweiligen Denkbewegung, also im Konzept einer Demokratie, zugänglich.59 Der Konsens soll folglich in den Theorien taxiert und zugleich die Konzepte über den Konsens gedeutet werden. Zudem changieren die Theorien der Demokratie zwischen den Ambitionen politischer Aneignung und Gestaltung und den Momenten gesellschaftlicher Selbstaufklärung, ‑beschreibung und ‑vergewisserung, ohne dass einem der Aspekte das Primat zukäme oder ihr Ausgleich jemals perfekt60 gelänge. Die Theorie der Demokratie steht mithin als ein abstraktes Konzept über der Gesellschaft und lässt sich zugleich als innere Verlängerung ihres Selbstbildes deuten, im doppelten Sinne einer Bestimmung ihrer Gegenwart. Um dem politischen Konsens als axiologische Figur in den Demokratietheorien nachspüren zu können, muss also einerseits die Demokratie selbst unbestimmt bleiben: Nur wenn den Versuchen ihrer Definition und Begründung Raum gegeben wird, lässt sich ihr Umgang mit dem Fehlen des Einen observieren. Andererseits muss das Konzept des Konsenses offengehalten werden, um seine Annahmen exponieren zu können. Die Ermittlung der latenten konsensualen Elemente und Strukturen verlangt eine intensive wie immanente Lektüre: Obgleich die damit einhergehenden Strapazen nicht geleugnet werden sollen, liegt dieses Vorgehen, das den Lesenden eine wiederholte Einlassung auf ein zunächst monolithisch für sich stehendes wie in sich entwickeltes Denken abverlangt, in der Sache selbst begründet. Nur in diesem Zugang können wir in den Theorien und ihren Selbstausweisen nach Figuren und Bewegungen fahnden, die auf das Eine, sei es in einem inneren oder äußeren Bezug, verweisen.

Eine weitere Komplikation entsteht infolge einer ausbleibenden Anbindung an Projekte der Anwendung und Umsetzung, wie es in einer politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Demokratietheorien üblich ist. Auch wenn die Applikation eines Konzeptes an eine konkrete Situation, neben anderem, die Konsistenz und Kohärenz der Theorie verlangt, setzt indes der Fokus auf die Umsetzung eigene methodische Schwerpunkte: Dieser Blick zielt eher auf die Validität der Theorie, auf Plausibilität und Evidenz, mit denen sich die Offenheit für axiologische Reibungen aber verliert. Wie indes klar sein sollte, folgen wir einem anderen Imperativ: Um die Spuren nicht zu verdecken, enthalten wir uns äußerer Faktoren der Instrumentalisierung und Operationalisierung. Gerade weil wir Demokratietheorien als simultane Beschreibung, Erklärung und Bestimmung von Wirklichkeit verstehen, würde eine empirische Überprüfung der Theorie eine Verlängerung ihrer selbst bleiben. Wir deuten Demokratietheorie/n als unabschließbare Versuche, die weder sich noch ihr Objekt, weder ihre Idee noch ihre Realität vollständig zu fassen oder zu kontrollieren vermögen. Einem Abgleich der Demokratietheorie kann zudem keine wirkliche Demokratie gegenübergestellt werden, ohne selbst auf demokratietheoretischen Vorstellungen zu gründen. Zugleich erlaubt unser Zugang über die Annahmen des Einen eine breite wie offene Einbeziehung empirischer Axiome: Begründenden Rekursen auf konkrete Situationen und Verweisen auf historische Gesetzmäßigkeiten stehen neben Postulaten anthropologischer oder ontologischer Evidenz.

Somit ist das Verhältnis zwischen Demokratietheorie und Wirklichkeit komplex: Einmal stellt dies Denken eine Diagnose der politischen (und sozialen) Verhältnisse mit einem Fokus auf den Mängeln bereit. Selbstredend ist hierbei der Maßstab der Evaluation schon die Demokratietheorie selbst.61 Zum anderen versehen sich die Demokratietheorien prospektiv mit der Kompetenz zur Therapie, wobei sich ihre Behandlung wiederum an einer Projektion orientiert, deren Validität auf der Theorie selbst fußt. Die Rezeption des Konkreten bleibt so verstanden abhängig von der normativen Grundanlage der Demokratietheorie wie die Herleitung über eine objektive Faktizität als eine Verlängerung der theoretischen Selbstbegründung ohne einen Grund außer ihr verstanden werden muss, als Schatten ihrer selbst.62 Demokratietheorien sind in unserem Verständnis Sinn‐ und Ordnungsstiftungsversuche, die einerseits notwendig in unserer Welt bleiben und anderseits einen Teil dieser Welt bilden (im doppelten Sinne), und nicht als Utopie über der Wirklichkeit schweben.63 Zugleich sind die Demokratietheorien selbst Ausdrucksformen bestimmter Situationen, Welten und Ideologien, aus denen sie sich nicht lösen können. Im doppelten Sinne sind Demokratietheorien Produktionen der Wirklichkeit.

Unsere Suche nach dem Einen muss zugleich gröber und feiner als andere Zugänge verfahren. Indem in dieser Perspektive konzeptionelle Spannungen, Ambivalenzen und Ambiguitäten hervorgehoben werden, treten einerseits blinde Flecken und Lücken klar hervor und können auf ihre konzeptionelle Position und Funktion hin befragt werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass marginale und periphere konzeptionelle Unklarheiten überbetont werden und ihnen eine Relevanz verliehen wird, die in anderen Zugängen durch interpretatorische Auslegung, pragmatischen Abwägung und Fokussierung vermieden werden (können). Tatsächlich wollen wir uns (und damit den Lesenden) einer Offenheit aussetzen, in der die demokratischen Konzepte eben nicht bestimmt, geglättet oder verdichtet werden. Denn nur wenn der Zugang selbst ohne Intention bleibt, vermag er sensibel zu bleiben für die subtilen Annahmen des Einen. Gerade weil wir mit den Demokratietheorien keine Absicht verfolgen, sie keinem Beweis dienen und kein konkretes politisches Projekt begründen, ist es möglich, sie im Unbestimmten und ihre Bewegungen im Unentschiedenen zu belassen. Zudem verlangen wir den Lesenden ab, sich jeweils und immer wieder aufs Neue auf die demokratietheoretischen Entwürfe einzulassen. Durch unseren immanenten Zugang verbleibt unsere Auseinandersetzung in einem engen Dialog mit den Konzeptionen: Auch wenn wir diesen Fokus nicht vermeiden können, versuchen wir, die Referenzen und Korrelationen zwischen den Konzepten kursorisch sichtbar zu machen und so eine gewisse Übersicht zumindest punktuell herzustellen.

***

Diese Arbeit lässt sich grob in zwei Teile gliedern, eine methodische Fundierung und die eigentliche Analyse demokratietheoretischer Konzepte, die ebenfalls zwei Schwerpunkte inform der modernen und postmodernen, postfundamentalen Varianten besitzt. Die folgende Übersicht ist selbst schon argumentativ, sie dient aber der Klärung des Weges und der, gleichwohl vage bleibenden, jeweiligen Zugänge. Gerade weil diese Arbeit sowohl hinsichtlich ihrer Extensivität wie Intensivität Hürden aufweist, scheint dieses Geländer angebracht. Zunächst gilt es, den politischen Konsens als Begriff politischen Denkens zu erhellen, mit dem sich die Annahmen des Einen exponieren lassen. Um diese erschließende Funktion zu erfüllen, muss der Begriff selbst geklärt und seine komplexen Beziehungen zum Einen offengelegt werden. In Ermangelung einer wissenschaftlich standardisierten Definition werden zunächst Lexika und Handbücher herangezogen, um über diese ein belastbares Verständnis zu erarbeiten. Zugleich werden bereits in dieser Grundlegung Ambivalenzen ersichtlich, die unser weiteres Vorgehen begleiten werden.64 Im Anschluss sollen die Implikationen sowohl des Ko in der Diskussion der politischen Gemeinschaft als auch, gleichsam begrenzter, des Sens als Ausrichtung eines mitgeteilten Sinnraums eingeführt werden. Die Bestimmung der konsensualen Anlagen beider Aspekte soll wiederum unseren Umgang mit den Demokratietheorien anleiten und die Horizonte markieren, in denen wir die Annahmen des Einen zumindest vermuten können. Indem wir uns die Breite und Vielfalt axiologischer Formen, Positionen und Funktionen vor Augen führen, können wir sensibel bleiben für ihre verschiedenen Ausprägungen in demokratietheoretischen Konzepten.

Dieses adaptive Verständnis des Konsenses zugrunde gelegt, können wir uns im zweiten Schritt den einzelnen demokratietheoretischen Konzeptionen zuwenden. Unsere Auswahl an Demokratietheorien kann sich kaum systematisch begründen: Weder können wir einen Typ selbst auszeichnen noch bietet uns der Untersuchungsgegenstand des Konsenses ein definierendes Kriterium.65 Auch wenn wir uns der Uneindeutigkeit und dem Fehlen systematischer Rückschlüsse bewusst bleiben müssen, wollen wir ein breites Spektrum demokratietheoretischer Entwürfe aufgreifen, neben liberalen, deliberativen und kommunitaristischen Einsätzen auch solche mit systemtheoretischen, antagonistischen und phänomenologischen Schwerpunkten. Diese Breite soll und kann nicht beanspruchen, die ganze Varianz oder auch nur einen Bereich demokratietheoretischer Spielarten abzudecken, erlaubt aber in ihrer Unterschiedlichkeit die Beobachtung der Axiologie in verschiedenen Umgebungen. Wir folgen dem Umgang moderner Demokratietheorien mit der Grundlosigkeit im jeweiligen Denken, erst am Ende können wir uns um eine vergleichende, überschauende Sichtung der Bewegungen bemühen.

Die Beschränkung auf Demokratietheorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, hatten wir bereits aus der Vermutung abgeleitet, dass sich diesen die Situation der Moderne als dem Verlust der Grenzmarken der Sicherheit in akuter Weise stellt. Diese Herausforderung demokratietheoretischer Selbstbestimmung und ‑begründung im Umgang mit dem Fehlen des Einen lässt die Axiologie ebenso wie das Spiel des Einen und des Vielen als eine komplementäre Grundanspannung hervortreten, die sich den Entwürfen einschreibt.66 Die Homogenität des Volkes und die Primordialität des Raumes (z.B. der Nation) standen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als begründende Figuren politischer Ordnung zur Verfügung. Wie schon notiert, vermuten wir in den Axiologien moderner Theorien der Demokratie eine Betonung des Pols des Vielen, der zugleich eine bleibende, wenn auch verdeckte, Aktualität des Pols des Einen gegenübersteht.

*

Den Anfang soll David Eastons Rezeption der Demokratie im Lichte seiner Theorie politischer Systeme machen. Die leitende Aufgabe wird es hierbei sein, der Logik des Systems als funktionaler Einheit und der Konversion der Ein‐ in Ausgaben zu folgen. Neben verschiedenen politischen Objekten unterscheidet Easton zwei Typen und Modi von Unterstützung, wobei die diffuse Variante auf ein Reservoir an Zustimmung im Sinne konsensualer Einvernahme abstellt. Ferner lässt sich im politischen Denken Eastons eine Spannung systemfunktionaler und normativer Imperative offenlegen, in der sich Demokratie ebenso als Stress wie als Ressource ausnimmt: Im Zuge dieser Ambivalenz rückt die Frage ins Zentrum, inwieweit sich die politische Steuerung und Verarbeitung des Systems auf eine leere, abstrakte Technik zurückzieht, die sich an demokratischen Ambitionen und partizipativen Aneignungsversuchen reibt.

Ernst Fraenkels Konzeption des Neopluralismus zielt auf eine politische Organisationsform, die den Dissens partikularer Interessen an‐ und dessen Energien produktiv aufnehmen soll. Aus dem Fakt des Pluralismus folgt ein Modell politischer Ordnung, das Konflikt nicht nur zulässt, sondern als integrale und dynamische Komponente politischer Praxis begreift. Die Interessenvermittlung überantwortet Fraenkel den Repräsentanten, die sich allerdings in einer ambivalenten Position zwischen der Vertretung des Einen und der Wahrung der/s Vielen befinden: Neben die Spannung politischer Delegation und Repräsentation tritt das Gemeinwohl, das sich nicht a priori definieren lässt, sondern aus dem Streit der Vielen hervorgeht. Trotz seiner Akzentuierung des Dissenses nimmt Fraenkel auf koordinierende und integrierende Strukturen Bezug: So setzt die politische Ordnung des Neopluralismus neben dem nicht‐kontroversen Sektor ebenso den consensus omnium und das obwaltende fair play voraus. Über diese konsensualen Aspekte versucht Fraenkel die heterogene Pluralität und Antagonalität in einem prozeduralen Rahmen und einem integrativen Wertekanon einzuhegen: Der Status des Einen und sein Verhältnis zum Vielen ist ebenso zu klären wie die konzeptionelle Korrelation von Konsens und Dissens.

Wie Easton bindet Fraenkel die politische Willensbildung und die Transformation und Integration des Vielen an eine Instanz, die sich außerhalb des politischen Raums befindet: Übernimmt im Denken Eastons die Struktur des politischen Systems und dessen Konversions‐Mechanismus diese Funktion, überträgt Fraenkel dem Wettstreit gesellschaftlicher Interessen und deren Vertretern diese Aufgabe sowie das Vermögen des Ausgleichs der Pluralität. Das Eine bildet sich nicht durch die Ambition oder Kompetenz eines Einzelnen oder einer Gruppe, sondern durch eine externe, vermittelnde Instanz, der eine spezifische integrative Qualität zuerkannt wird. Wie das politische System aus den verschiedenen Eingaben ein valides, generelles Ergebnis generiert, bildet sich im Konflikt der Interessen eine Resultante ihres Ausgleichs. Die Bildung des Einen löst sich hierbei aus dem Handlungsfeld der Vielen und tritt diesen als Effekt einer äußeren, autonomen Struktur gegenüber, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Die politische Aufgabe und Leistung der Transmission des Vielen hin zum Einen bleibt so letztlich an einen Effekt der Emergenz gebunden, dessen konsensuale Potentiale und Konditionen wir im Weiteren herausarbeiten werden. Diese Bewegung der Loslösung ist dabei instruktiv, weil sie die Frage eröffnet, wie kollektive Entscheidungen entstehen und politische Ordnungen und die Konversion mit dem Prinzip kollektiver Autonomie verbunden werden.67

Die Spannung zwischen dem Einen und Vielen lässt sich auch im Denken John Rawls, wenn auch mit anderen Akzenten, wiederfinden. Im öffentlichen Vernunftgebrauch entfaltet dieser ein spezifisches Diskursformat, in dem plurale Lebensentwürfe mit unterschiedlichen Ideologien und Wertesystemen eben dadurch miteinander debattieren können, weil die Argumente dem jeweils anderen plausibel dargebracht werden. Zwar teilt Rawls damit in gewissen Zügen die Externalisierung, gleichsam reicht der Entzug weniger weit, dient der öffentliche Vernunftgebrauch doch als Strukturierung des öffentlichen Diskurses selbst und ersetzt diesen nicht. Auch wenn somit die Materie des Streits eingeschränkt ist, bleibt ein Konflikt über das Geteilte weiterhin möglich. Zugleich müssen Argumente notwendig universal und neutral sein, um gerechtfertigt in den öffentlichen Diskurs zu gelangen. Die Prüfung der Qualität des Allgemeinen überantwortet Rawls der Vernunft, die so eine konstitutive Funktion innerhalb der politischen Ordnung übernimmt. Zugleich stehen dem abstrakten Universalismus der Vernunft als Garant der Generalität die konkreten Kontexte einer entgegenkommenden Kultur gegenüber. Auch wenn Rawls politischen Dissens also durchaus zulässt, sind in den prozeduralen Vorgaben diskursiver Ordnung wiederum Strukturen der Übereinstimmung angelegt, deren konsensuale Potentiale der Integration und Koordination offenzulegen sind. Wegmarken unserer Einlassung sind neben dem öffentlichen Vernunftgebrauch das Konzept des übergreifenden Konsenses sowie die konsensualen Züge der kollektiven Kooperation.

Die Vermittlung der Entgrenzung des abstrakten Universalismus und der Einbindung in konkrete Kontexte begleitet auch den Ansatz Jürgen Habermas. Diente der öffentliche Vernunftgebrauch Rawls als Medium des Universalismus, überantwortet Habermas die Verständigung der Sprache selbst, die er im Konzept kommunikativer Rationalität ausarbeitet. Deren intersubjektive Koordination muss von einem lebensweltlichen Kontext und einem genuin politischen Zugang abgesetzt werden, wobei das Alternieren zwischen den Polen des Abstrakten und Konkreten alle Bereiche durchzieht. Zunächst ist die integrale Rolle kommunikativen Handelns und dessen Potentiale sozialer Integration herauszustellen, um hieran zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der Erzeugung von Einverständnis zu entfalten. Der Moment der Abstraktion reibt sich allerdings an seiner Einlassung in konkrete Kontexte, die beide der Koordination des Handelns dienen. Die Lebenswelt schwankt zwischen einem intuitiven Sinn‐ und Erfahrungsraum und einer modernen Variante, in der sich ihre Ordnung selbst begründen muss: Die antezedenten und subtilen lebensweltlichen Sinnbezüge lösen sich mit ihrer reflexiv‐diskursiven Problematisierung auf. Auch im politischen Denken steht einer emanzipativen Selbstsetzung die objektive Autorität gesetzten Rechts gegenüber: Das Recht selbst versteht Habermas als Medium des Ausgleichs dieser Pole, in der sich die Rollen der Urheber‐ und Adressatenschaft vermitteln und gegenseitig aufheben. Neben der Kombination von Rechts‐ und Diskurstheorie in einem Modell deliberativer Demokratie ist auf die Problematik konkreter politischer Entscheidungen unter den Bedingungen rational‐reflexiver Rechtfertigung hinzuweisen. Die Spannung zwischen universal‐abstrakten und partikular‐konkreten Momenten zeigt sich auch daran, dass Habermas die Dezision politischer Entscheidungen immer anderen Instanzen zuweist und am Ende einer autonomen Verwaltung überantwortet. Letztlich gilt es im Rahmen dieses Konzeptes den Status des