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Eine Stadt im Orient: Der Prophet al-Mustafa erwartet das Schiff, das ihn in seine Heimat zurückbringen wird. Bevor er sie verlässt, bitten ihn die Einwohner von Orfalîs, ein letztes Mal zu ihnen zu sprechen: von Liebe, Schmerz, Schönheit, Freude und allem anderen, was die Menschen bewegt. Die Antworten des Propheten sind voller Lebensweisheit und mystischer Tiefe und zählen zum Faszinierendsten, was die spirituelle Literatur hervorgebracht hat.
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Barbara Röhl
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
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ISBN 978-3-492-96602-3
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2014 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Umschlagabbildung: iStockphoto
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Die Ankunft des Schiffes
Zwölf Jahre hatte Almustafa, der Auserwählte und Geliebte, ein Morgenlicht seiner Zeit, in der Stadt Orfalis auf die Ankunft seines Schiffes gewartet, das zurückkehren und ihn wieder auf die Insel seiner Geburt führen sollte.
Dann, im zwölften Jahr, am siebten Tag des Erntemonats Jelul, erstieg er den Hügel außerhalb der Stadtmauern, schaute seewärts und erblickte sein Schiff, das der Nebel herantrug.
Da flogen die Tore seines Herzens auf, und seine Freude strömte weit über das Meer. Er schloss die Augen und betete in der Stille seiner Seele.
Doch als er den Hügel hinabstieg, überkam ihn Trauer, und er dachte bei sich:
»Wie soll ich in Frieden und ohne Kummer scheiden? Nein, nicht ohne eine Wunde in meiner Seele werde ich diese Stadt verlassen.
Lang waren die leidvollen Tage, die ich in ihren Mauern verbracht habe, und lang die einsamen Nächte; und wer lässt schon ohne Bedauern seinen Schmerz und seine Einsamkeit hinter sich?
Zu viele Splitter des Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, zu zahlreich sind die Kinder meiner Sehnsucht, die nackt zwischen diesen Hügeln wandeln, als dass die Trennung mir nicht eine Bürde und Pein wäre.
Nicht ein Gewand werfe ich heute ab, sondern eine Haut, die ich mir mit meiner eigenen Hand herunterreiße.
Nicht einen bloßen Gedanken lasse ich hinter mir, sondern ein Herz, das erst Hunger und Durst mit Süße erfüllt haben.
Doch ich darf nicht mehr zaudern.
Der Ozean, der alle Dinge zu sich zieht, ruft nach mir, und ich muss mich einschiffen.
Denn zu bleiben hieße erfrieren; hieße zu Kristall erstarren und an eine Form gefesselt zu sein, wenngleich die Nachtstunden brennen.
Könnte ich doch alles, was hier ist, mit mir nehmen. Doch wie wäre das möglich?
Eine Stimme vermag die Zunge und Lippen, die ihr Flügel verliehen, nicht mit sich zu tragen. Allein muss sie die Lüfte suchen.
Allein und ohne sein Nest wird der Adler zur Sonne aufsteigen.«
Als er nun den Fuß des Hügels erreichte, wandte er sich zum Meer. Er sah, wie sein Schiff sich dem Hafen näherte, an dessen Bug Matrosen standen, Männer aus seinem eigenen Land.
Und seine Seele rief sie an, und er sprach:
»Söhne meiner uralten Mutter, ihr Bezwinger der Gezeiten,
Wie oft seid ihr in meine Träume gesegelt. Und nun tretet ihr in mein Erwachen zu mir, das mir ein tieferer Traum ist.
Bereit bin ich zum Aufbruch, und meine Ungeduld erwartet unter gesetzten Segeln den Wind.
Nur noch ein Atemzug in dieser stillen Luft, und noch ein Blick zurück voller Liebe, und dann bin ich unter euch, ein Seefahrer unter seinesgleichen.
Und du, weite See, schlafende Mutter,
Die allein dem Fluss und dem Strom Frieden und Freiheit schenkt ...
Nur eine Biegung will dies Wasser hier noch beschreiben, nur noch einmal durch diese Lichtung murmeln,
Dann komme ich zu dir, ein unendlicher Tropfen zu einem grenzenlosen Ozean.«
Wie er so einherging, sah er aus der Ferne, dass Männer und Frauen ihre Felder und Weingärten verließen und zu den Stadttoren eilten.
Und er hörte, wie sie seinen Namen schrien, sich von Feld zu Feld anriefen und einander von der Ankunft seines Schiffes berichteten.
Da sagte er bei sich:
»Sollte der Tag des Abschieds zum Tag werden, an dem wir uns finden?
Wäre es möglich, dass mein Abendschein in Wahrheit mein Morgenrot ist?
Aber was habe ich dem zu geben, der seinen Pflug auf der Hälfte der Furche verlassen hat, oder dem, der das Rad seiner Weinkelter anhielt?
Soll mein Herz zu einem Baum werden, schwer beladen mit Früchten, die ich pflücken und wegschenken kann? Oder meine Sehnsucht strömen wie ein Quell, auf dass ich ihre Becher fülle?
Bin ich denn eine Harfe, dass die Hand des Höchsten mich spielen, oder eine Flöte, dass Sein Atem durch mich fließen könnte?
Ein Suchender der Stille bin ich. Aber habe ich denn in der Stille einen Schatz gefunden, den ich mit Zuversicht herschenken könnte?
Wenn dies der Tag ist, an dem ich meine Ernte einbringe, auf welchen Feldern habe ich dann die Saat ausgebracht, in welchen Jahreszeiten, an die ich mich nicht erinnere?
Sollte dies wahrhaft die Stunde sein, in der ich meine Laterne hochhalte, dann wird nicht mein Licht darin brennen.
Leer und dunkel werde ich meine Lampe heben,
Und der Wächter der Nacht wird sie mit Öl füllen und anzünden.«
Dies sprach er laut aus. Aber vieles in seinem Herzen blieb ungesagt, denn er selbst vermochte sein tiefstes Geheimnis nicht in Worte zu fassen.
Als er die Stadt betrat, strömten alle Menschen ihm entgegen und riefen ihn wie mit einer einzigen Stimme an.
Und die Stadtältesten traten vor und baten:
»Geh noch nicht von uns. In unserer Dämmerung warst du die helle Mittagsstunde, und deine Jugend hat uns Träume zu träumen geschenkt.
Nicht Fremder oder Gast bist du unter uns, sondern unser Sohn und zärtlich Geliebter.
Lass noch nicht zu, dass unsere Augen nach deinem Antlitz hungern.«
Und die Priester und Priesterinnen sagten zu ihm:
»Erlaube nicht, dass die Wellen der See uns jetzt trennen und die Jahre, die du in unserer Mitte verbrachtest, zur bloßen Erinnerung werden.
Deine Seele ist unter uns gewandelt, und dein Schatten hat ein Licht auf unser Antlitz geworfen.
Groß war unsere Liebe zu dir, doch sprachlos und von Schleiern verhüllt. Nun ruft sie laut nach dir und möchte sich dir offenbaren.
So war es immer: Erst in der Stunde der Trennung erkennt die Liebe ihre Tiefe.«
Auch andere kamen und flehten ihn an. Doch er antwortete ihnen nicht, sondern neigte nur das Haupt, und wer bei ihm stand, sah die Tränen auf seine Brust tropfen.
Zusammen mit dem Volk schritt er zu dem großen Platz vor dem Tempel.
Und aus dem Heiligtum trat eine Frau mit Namen Almitra, eine Seherin.
Voller Zuneigung sah er sie an, denn sie hatte ihn als Erste aufgesucht und an ihn geglaubt, damals, an seinem ersten Tag in der Stadt.
Sie grüßte ihn und hob an:
»Prophet Gottes, der du nach dem Allerhöchsten forschst, lang hast du in der Ferne Ausschau nach deinem Schiff gehalten.
Und nun ist dein Schiff gekommen und du musst fort.
Tief ist deine Sehnsucht nach dem Land deiner Erinnerungen, dem Platz deiner ureigensten Wünsche, und unsere Liebe will dich weder fesseln, noch sollen unsere Nöte dich zurückhalten.
Doch um eins bitten wir dich, ehe du uns verlässt: Sprich zu uns und schenk uns von deiner Wahrheit.
Wir wollen sie an unsere Kinder weitergeben, und diese wiederum an ihre Kinder, und sie soll nicht untergehen.
In deiner Einsamkeit hast du Tagwache mit uns gehalten und in deiner Nachtwache gelauscht, wie wir in unserem Schlaf lachten und weinten.
Ende der Leseprobe