Der rasende Reporter - Egon Erwin Kisch - E-Book

Der rasende Reporter E-Book

Egon Erwin Kisch

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Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Mit einem Vorwort von Kurt Tucholsky Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände wurde er auch als "der rasende Reporter" bekannt. "Schreib das auf, Kisch!" wurde zum geflügelten Wort in den 1920ern. Lesen Sie hier 48 seiner gelungensten Reportagen und Essays. "Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer." [Kurt Tucholsky] Mit 238 Fußnoten Null Papier Verlag

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Egon Erwin Kisch

Der rasende Reporter

Egon Erwin Kisch

Der rasende Reporter

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: E. Reiss, Berlin, 1925 (317 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-85-8

null-papier.de/671

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Der ra­sen­de Re­por­ter

Un­ter den Ob­dach­lo­sen von Whi­techa­pel

Ein Spa­zier­gang auf dem Mee­res­bo­den

Wie der Ein­bre­cher Breit­wie­ser er­schos­sen wur­de

Die Wel­t­um­seg­lung der ›A. Lan­na 8‹

Ex­pe­ri­ment mit ei­nem ho­hen Trink­geld

Der Floh­markt von Cli­gnan­court

Er­kun­dungs­flug über Ve­ne­dig

To­ten­fei­er in Ko­pen­ha­gen

Ver­stei­ge­rung von Cast­ans Pan­op­ti­kum am 24. Fe­bru­ar 1922

Ada Ka­leh, In­sel des Is­lam

Mei­ne Tä­to­wie­run­gen

Eine Nacht beim Tür­mer von St. Ste­phan

Elf To­ten­köp­fe auf dem Ka­the­der

Ship­ping Ex­change

Das Nest der Ka­no­nen­kö­ni­ge: Es­sen

Mit Aus­wan­de­rern durch Frank­reich

Bom­bar­de­ment und Bas­ar­brand von Sku­ta­ri

Übungs­platz zu­künf­ti­ger Clowns

Die Hoch­schu­le für Ta­schen­spie­ler

Bei den Hei­zern des Rie­sen­damp­fers

Re­fe­rat ei­nes Ver­bre­chers über die Po­li­zei­aus­stel­lung

Schwei­ne­schlach­ten am Roes­kil­def­jord

Er­reg­te De­bat­te über Schiffs­kar­ten

Nach­for­schun­gen nach Dü­rers Ah­nen

Ge­heim­ka­bi­nett des ana­to­mi­schen Mu­se­ums

Stahl­werk in Bo­chum, vom Hochofen aus ge­se­hen

Der Raub­mord im Ho­tel Bris­tol

He­rings­fang

Streif­zug durch das dunkle Lon­don

Fahrt un­ter Was­ser

Miss­ge­bur­ten des Por­zel­lans

Bür­ger­krieg um die Fes­tung Küstrin

Luft­bahn­hof und Re­gen­bo­gen

Aben­teu­er­li­che Schick­sa­le ei­ner Kö­nigs­kro­ne

Wall­fahrts­ort für Kriegs­het­zer

Fa­schings­ko­stü­me

Ei­nes Scharf­rich­ters Le­bens­lauf

El­lip­ti­sche Tret­müh­le

Fürst Bol­kon­ski am Gra­be Trencks

Prü­fungs­sor­gen, Prü­fungs­sor­gen

Nacht­le­ben auf dem Po­le­sa­ner Kai

Dies ist das Haus der Oper

Ge­ne­ral­ver­samm­lung der Schwer­in­dus­trie

Das Fuchs­loch des Herrn von Bal­sac

Wat koofe ick mir for een Gro­schen?

Jid­di­sches Li­te­ra­tur­café

Tote Ma­tro­sen ste­hen vor Ge­richt

Mitt­woch in Kaschau

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

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Der rasende Reporter

(Ja, du kriegst dei­ne Be­spre­chung –!)

E­gon Er­win Kisch, der tsche­chi­sche Jour­na­list, hat (bei Erich Reiß in Ber­lin) ein bunt ein­ge­schla­ge­nes Buch her­aus­ge­ge­ben: ›Der ra­sen­de Re­por­ter‹. »Na, ra­send ... «, wür­de Chris­ti­an Bud­den­brook sa­gen ... Kisch – von dem die ent­zücken­de Ge­schich­te geht, dass Al­fred Pol­gar ihm einst als De­di­ka­ti­on in ein Buch ge­schrie­ben habe: »Dem fein­sin­ni­gen Re­vo­lu­tio­när und un­er­schro­cke­nen Jour­na­lis­ten« – gibt hier eine man­nig­fal­ti­ge Samm­lung sei­ner Be­rich­te aus al­ler Welt: Whi­techa­pel und die Er­schie­ßung des Wie­ner Ein­bre­chers Breit­wie­ser und et­was von den Hei­zern des Rie­sen­damp­fers und He­rings­fang und Tau­cher auf dem Mee­res­grun­de und der Go­lem und Fürst Bol­kon­ski am Gra­be Trencks. Das liest sich glatt und un­ter­halt­sam, und dazu wäre nun wei­ter nichts zu be­mer­ken.

Aber das Vor­wort hat mich mehr ge­fes­selt als das gan­ze Buch. »Die spär­li­chen Ver­su­che«, heißt es dar­in, »die ge­macht wer­den, die Ge­gen­wart fest­zu­stel­len, die Zeit zu zei­gen, die wir le­ben, lei­den viel­leicht dar­an, dass ihre Au­to­ren nicht ganz ge­wöhn­li­che Men­schen sind ... Der Re­por­ter hat kei­ne Ten­denz, hat nichts zu recht­fer­ti­gen und hat kei­nen Stand­punkt.«

Das gibt es nicht. Es gibt kei­nen Men­schen, der nicht einen Stand­punkt hät­te. Auch Kisch hat einen. Manch­mal – lei­der – den des Schrift­stel­lers, dann ist das, was er schreibt, nicht im­mer gut. Sehr oft den des Man­nes, der ein­fach be­rich­tet: Dann ist er ganz aus­ge­zeich­net, sau­ber, in­ter­essant – wenn­gleich nicht sehr ex­akt, nicht sach­lich ge­nug. Denn Scho­pen­hau­er, den er da im Vor­wort her­an­holt, hat et­was andres ge­meint. (»Ganz ge­wöhn­li­che oder plat­te Men­schen kön­nen ver­mö­ge des Stof­fes sehr wich­ti­ge Bü­cher lie­fern, in­dem der­sel­be gra­de nur ih­nen zu­gäng­lich war, zum Bei­spiel: Be­schrei­bun­gen fer­ner Län­der, sel­te­ner Na­tur­er­schei­nun­gen, an­ge­stell­ter Ver­su­che, Ge­schich­te, de­ren Zeu­gen sie ge­we­sen, oder de­ren Quel­len auf­zu­su­chen oder spe­zi­ell zu stu­die­ren sie sich Mühe und Zeit ge­nom­men ha­ben.«) Man lese ein­mal die be­schei­de­nen, de­mü­ti­gen, bei­na­he un­per­sön­li­chen äl­te­ren Be­rich­te die­ser Art, und man wird den Un­ter­schied zwi­schen die­sen Rei­sen­den und ei­nem mo­der­nen Re­por­ter er­ken­nen, der über­all ein Quänt­chen ›Geist‹, ein Zi­tat­chen, eine Schmei­che­lei über die Bil­dung sei­ner Le­ser – kurz: Der ›Zei­tung‹ in sei­nen Be­richt bringt. Nicht zu ver­ges­sen, wo die­se an­geb­lich un­per­sön­li­chen Be­rich­te ste­hen: in ei­nem Wust von Nach­rich­ten, dum­mem Zeug, Te­le­gram­men, Feuil­le­tons und In­se­ren­ten.

Kisch hat recht; es ist tö­richt, in das Ge­schrei: »Das ist nur ein Re­por­ter!« mit ein­zu­stim­men. Re­por­ta­ge ist eine sehr erns­te, sehr schwie­ri­ge, un­ge­mein an­stren­gen­de Ar­beit, die einen gan­zen Kerl er­for­dert. Kisch ist so ei­ner. Er hat Ta­lent, was gleich­gül­tig ist, und er hat Wit­te­rung, Ener­gie, Men­schen­kennt­nis und Fin­dig­keit, die un­er­läss­lich sind.

Vie­les ist gut ge­se­hen, fast al­les ganz un­be­sto­chen. Aber wie ›sach­lich‹ man auch oder wie weit weg vom The­ma man auch schrei­ben mag: Es hilft al­les nichts. Je­der Be­richt, je­der noch so un­per­sön­li­che Be­richt ent­hüllt im­mer zu­nächst den Schrei­ber, und in Tro­pen­näch­ten, Schiffs­ka­bi­nen, Pa­ri­ser Tan­del­märk­ten und Lon­do­ner Elends­quar­tie­ren, die man alle durch tau­send Bril­len se­hen kann – auch wenn man kei­ne auf­hat –, schreibt man ja im­mer nur sich selbst.

Pe­ter Pan­ter (Kurt Tuchols­ky) Die Welt­büh­ne, 17.02.1925, Nr. 7, S. 254.

Unter den Obdachlosen von Whitechapel

Auch die Män­ner und Bur­schen, die in schmut­zi­gen Fet­zen in den Hau­sto­ren und Fens­tern der Lum­pen­quar­tie­re Ost­lon­d­ons zu se­hen sind, sind schon be­dau­erns­wert ge­nug. Aber sie ha­ben we­nigs­tens ihre Schlaf­stel­le, sie ha­ben doch das Glück, sich in den nied­ri­gen Stu­ben mit ei­ni­gen an­de­ren Schlaf­ge­nos­sen auf den Fuß­bo­den bet­ten zu dür­fen, sie ha­ben also im­mer­hin ein Heim. Sie sind reich ge­gen die Ob­dach­lo­sen, die sich müde durch die Schlamm­dis­trik­te schlep­pen; hoff­nungs­los hof­fen sie, von den an­de­ren Ar­men ei­ni­ge Pence zu krie­gen, da­mit sie nicht auf dem Em­bank­ment1 an der Them­se im Fros­te näch­ti­gen müs­sen.

Und die­se Al­le­relends­ten der Elen­den sind noch in Ge­sell­schafts­schich­ten ge­teilt, noch un­ter die­sen Ob­dach­lo­sen be­ste­hen Ver­mö­gens­un­ter­schie­de. Wer sie­ben Pence er­bet­telt hat und sie für das Nacht­la­ger zu op­fern be­reit ist, kann in ei­nem der fünf Lord Row­ton Lod­ging Hou­ses2 oder in ei­nem der vom Lon­do­ner Coun­ty Coun­cil3 er­rich­te­ten Bru­ce Hou­ses ein Käm­mer­chen mit Bett und Stuhl mie­ten; wem der Tag nur sechs Pence be­schert hat, kann im Volk­s­pa­last Lo­gis be­zie­hen und sich bei et­was Fan­ta­sie in einen Klub ver­setzt glau­ben. Al­lein wer selbst die­se spär­li­che Zahl von Pfen­ni­gen am Abend nicht bei­sam­men hat und gar nicht dar­an denkt, in den »Ca­su­al Wards«4 das biss­chen Nacht­quar­tier am Mor­gen mit har­ter Stein­klopf­ar­beit zu be­zah­len, der zieht in ei­nes der acht Lon­do­ner Heils­ar­mee-Nachta­sy­le, von de­nen na­tür­lich das Whi­techap­ler die trau­rigs­ten Gäs­te be­her­bergt. Al­l­abend­lich wankt ein Zug müh­se­lig, schmutz­star­rend, frie­rend, al­ters­schwach und not­ge­beugt in die Midd­le­sex Street, die am Sonn­tag der Tan­del­markt mit lau­tem Ge­wo­ge er­füllt. Hier steht an ei­ner Stra­ßen­e­cke das Asyl der Heils­ar­mee. Mein Ko­stüm war mir fast über­trie­ben zer­fetzt er­schie­nen, als ich es an­ge­legt hat­te. Ein Blick auf mei­nen Nach­bar be­lehr­te mich ei­nes Bes­se­ren. Der Mann, der hier vor der Ein­gangs­tür in sei­nen Lum­pen den Dienst ei­nes Heils­ar­mee-Funk­tio­närs ver­sah, hielt mich auch noch der Fra­ge wert: »Bett oder Prit­sche?«

»Um drei Pence.«

»Also Prit­sche. Die Trep­pen hin­un­ter.«

So stei­ge ich denn die Stu­fen zur Un­ter­welt hin­ab, wäh­rend die Rei­chen, die im Ver­mö­gen von fünf Pence wa­ren, es sich oben im Schlaf­saal gut ge­hen las­sen kön­nen. Am eng ver­git­ter­ten Schal­ter, wo mein Name in das Lo­gier­buch ein­ge­tra­gen wird, be­zah­le ich mei­ne Mie­te und er­hal­te eine Quit­tung dar­über mit der Bett­num­mer 308 zu­ge­wie­sen. Dann tre­te ich in den Ver­samm­lungs­saal ein: ein drei­e­cki­ger, großer Kel­ler­raum, von Rei­hen grob ge­zim­mer­ter Bän­ke er­füllt. An der Wand ein Po­di­um mit ei­nem von Wachs­lein­wand be­deck­ten Har­mo­ni­um – an­schei­nend ist der Abend­got­tes­dienst schon vor­bei. Die Keller­de­cke ist von sechs Ei­sen­trä­gern ge­stützt, längs der Wand ver­lau­fen Heiz­röh­ren.

Was die Stadt in ih­ren tiefs­ten Ab­grün­den nicht mehr zu hal­ten ver­moch­te, was selbst Whi­techa­pel, die­ses Asyl der De­s­pe­ra­dos al­ler Welt­tei­le, nicht mehr auf­zu­neh­men ge­wagt hat­te, was zu Bet­tel und Ver­bre­chen nicht mehr ge­eig­net ist, scheint hier ab­ge­la­gert wor­den zu sein. Da sit­zen sie und ver­der­ben die war­me Luft. Der eine schnallt sei­nen Holz­fuß ab und lehnt ihn an die Bank. Der an­de­re macht In­ven­tur, ei­ni­ge hun­dert Zi­ga­ret­ten- und Zi­gar­ren­stum­mel ne­ben sich aus­brei­tend. Ei­ner holt aus sei­nem Schnapp­sack die Din­ge her­vor, die er wahl­los aus dem Rinn­stein auf­ge­le­sen: Stücke al­ten Bro­tes, den Rumpf ei­ner Pup­pe, zu­sam­men­ge­ball­te Zei­tun­gen (er glät­tet sie sorg­fäl­tig), den Rest ei­ner Bril­le, das Ru­di­ment ei­nes Blei­stif­tes. Ei­ner bin­det sein Bruch­band zu­recht, ei­ner wi­ckelt sei­ne Fuß­lap­pen ab, ei­ner ver­daut hör­bar – alle Sin­ne wer­den gleich­zei­tig ge­fol­tert.

Die Mehr­zahl der Gäs­te sind Grei­se, mit grau­en Haar­sträh­nen, zer­zaus­tem Bart und Au­gen, die sich nicht mehr zu der Ar­beit auf­raf­fen kön­nen, einen Blick zu tun. Teil­nahms­los star­ren sie ins Lee­re. Nur wenn ein Es­sen­der oder et­was Ess­ba­res in den Bann­kreis die­ser Au­gen kommt, fla­ckert in den mat­ten Pu­pil­len Le­ben auf, und sie rich­ten sich gie­rig, nei­disch, sehn­süch­tig auf den Schmaus.

Am Schal­ter der Kan­ti­ne hängt ein Zet­tel, auf dem steht, zu wel­cher Stun­de Mahl­zei­ten er­hält­lich sind, je­doch man kann die Schrift nicht le­sen, denn eine Ar­mee von Mau­er­as­seln hockt auf dem Pa­pier. Der Kan­ti­neur ist ein­äu­gig. Vi­el­leicht ist er – wie die meis­ten Funk­tio­näre der Heils­ar­mee – frü­her selbst ein Ob­dach­lo­ser ge­we­sen und hat in ei­ner der blu­ti­gen Schlach­ten, die im Be­reich des eins­ti­gen Jago Court5 noch heu­te manch­mal ent­bren­nen, sein Auge ver­lo­ren. Nun reicht der be­kehr­te Po­ly­phem den Hung­ri­gen Spei­se und Trank. Ein Stück Brot kos­tet einen Far­thing6 – die Schei­de­mün­ze, die man im üb­ri­gen Eng­land gar nicht mehr kennt, hat hier ih­ren Geld­wert. Jede der üb­ri­gen Spei­sen ist für einen hal­b­en Pen­ny zu ha­ben. Auf Tas­sen auf­ge­schich­tet, lie­gen ge­räu­cher­te und ge­sal­ze­ne He­rin­ge, aus ei­nem Kes­sel wird ein Blech­ge­fäß mit Sup­pe ge­füllt, aus ei­ner Schüs­sel reicht man dem Käu­fer eine Por­ti­on Ha­fer­schleim, und aus ei­nem an der Wand ste­hen­den Kup­fer­sa­mo­war strömt beim Auf­dre­hen des Hah­nes fer­ti­ger Tee. Von Zeit zu Zeit schrei­tet ein Asyl­be­diens­te­ter die Ban­krei­hen ab, um die ge­leer­ten Scha­len zu sam­meln.

Und schon be­ginnt der To­ten­tanz. Mei­ne Zim­mer­kol­le­gen ha­ben ihre Lum­pen von sich ge­wor­fen, nun ste­hen die vie­len, vie­len Ge­rip­pe nackt oder in To­ten­hem­den an ih­ren Sär­gen und lup­fen ihr Bahr­tuch zu­recht. Dann schlüp­fen sie in ihre Ru­he­stät­te.

Man­che su­chen erst mit ei­nem bren­nen­den Streich­hölz­chen ihr La­ger ab. Ha­ben die­se von tau­send­fäl­ti­gen Bis­sen und Sti­chen des Le­bens zer­fleisch­ten Lei­ber noch aus längst ver­gan­ge­nen bes­se­ren Ta­gen den Ab­scheu vor dem Un­ge­zie­fer ge­ret­tet? Oder aber wol­len sie die­se Emp­find­lich­keit nur vor­täu­schen? Es wird kaum mehr als »Hoch­sta­pe­lei« sein. Denn alle die Su­chen­den le­gen sich schließ­lich in die ih­nen zu­ge­wie­se­ne Schach­tel zur Ruhe, und es blie­be ih­nen ja doch auch dann nichts an­de­res üb­rig, wenn ihr Su­chen von noch so großem Er­folg be­glei­tet ge­we­sen wäre.

Ich möch­te gern war­ten, bis das Licht ver­löscht, da­mit ich un­be­merkt in Klei­dern und Stie­feln ins Bett schlüp­fen kann. Aber lei­der hat sich zwi­schen mei­nem Nach­bar zur Lin­ken, ei­nem un­ge­fähr zwan­zig­jäh­ri­gen Row­dy, und ei­nem et­was äl­te­ren Kol­le­gen ein Ge­spräch ent­s­pon­nen, das sich ne­ben mei­nem Bet­te ab­spielt.

»Wo­her ken­ne ich dich?« fragt der Äl­te­re. »Ich kann mich nicht er­in­nern.«

»Aus Pen­ton­ville.« Der Jun­ge sagt das os­ten­ta­tiv laut. An­schei­nend will er, es mö­gen auch an­de­re ver­neh­men, dass er schon im Zucht­haus war.

»Bist du schon lan­ge drau­ßen?«

»Oh, seit­her war ich wie­der im Po­li­ce Court.«7

»Wie kamst du her­aus?«

»Dan­ny Row­lett stood bail for me.«8

»Wes­halb?«

»Er brauch­te mich.« Das ist noch stolz ge­sagt, und mehr ver­rät der Jun­ge nicht.

Der Äl­te­re gibt sich kei­nes­wegs mit der Aus­kunft zu­frie­den, dass Dan­ny Row­lett sein Vor­recht, steu­er­zah­len­der Bür­ger Lon­d­ons zu sein, zur Bürg­schaft für den jun­gen Kri­mi­nel­len nur ver­wen­det habe, weil er die­sen brauch­te. Das hat­te auch ich mir schon ge­dacht, ob­wohl ich nicht die Ehre habe, den Mis­ter Dan­ny Row­lett zu ken­nen, des­sen Di­mi­nu­tivt­auf­na­me dar­auf schlie­ßen lässt, dass er in den Krei­sen de­rer von Pen­ton­ville eine ge­wis­se Po­pu­la­ri­tät ge­nießt. Wozu je­doch hat er mei­nes Bett­nach­barn so drin­gend be­durft? Ich wer­de es nie er­fah­ren. Wohl aber er­fährt es der Zucht­haus­kol­le­ge. Mein An­rai­ner hat ihn wich­tig­tue­risch mit ei­nem län­ge­ren Blick ge­prüft, und nun be­gin­nen sie zu tu­scheln. Ich sehe mich glei­cher­ma­ßen um die Fort­set­zung des Ge­sprä­ches wie um mei­ne Nachtru­he in Klei­dern be­tro­gen. War­ten kann ich nicht gut, denn das Ge­schäft am Ne­ben­bett mag noch lan­ge dau­ern. Wahr­schein­lich hat Dan­ny Row­lett durch sei­ne Bürg­schaft den jun­gen Mann aus der Zel­le im Po­li­zei­ge­fäng­nis nicht des­we­gen be­freit, um ihn hier, im Mas­sen­quar­tier von Whi­techa­pel, näch­ti­gen zu las­sen. Der op­fer­wil­li­ge Bür­ge hät­te ihm doch leicht auch ein schö­ne­res Nacht­la­ger ver­schaf­fen kön­nen. Der Grund, wes­halb der gute Boy zur Ar­mee des Hei­les zu Gas­te kam, wird also ein ge­schäft­li­cher sein. Er sucht einen Kom­pa­gnon.

Ich muss mich dazu be­que­men, dem äl­te­ren der Bur­schen den Tausch un­se­rer La­ger­stät­te vor­zu­schla­gen, da­mit er bes­ser mit sei­nem As­so­cié9 ver­han­deln kön­ne und mich nicht wei­ter stö­re. Der Mann nimmt an, ohne mei­ne Freund­lich­keit be­son­ders zu quit­tie­ren – er emp­fin­det sie zwei­fel­los als einen Akt des Re­spekts, der ihm, dem Ab­sol­ven­ten von Pen­ton­ville, von Rechts we­gen zu­kommt. Mit ei­ner knap­pen Hand­be­we­gung zeigt er mir sein Bett, das von nun an mei­nes ist.

Mei­ne neu­en Nach­barn sind längst in den Chor des Schnar­chens ein­ge­fal­len, der den Saal hun­dert­stim­mig er­füllt. Der eine hat die schwar­ze Wachs­lein­wand­de­cke über den Kopf ge­zo­gen, des an­de­ren zer­zaus­te Ge­hirn­scha­le lugt aus dem grau­en Grob­lin­nen schau­rig her­vor. Die Lich­ter ver­lö­schen, und nur das schwer­fäl­li­ge Knar­ren von hun­dert Sär­gen sagt mir, dass ich in Ge­sell­schaft bin. Manch­mal dringt ein An­fall von ver­zwei­fel­tem Hus­ten zu der Tru­he her­über, in der ich, auf mei­nen Arm ge­stützt, ger­ne ein­schla­fen möch­te.

Früh um sechs Uhr: ein Pfiff. In den Sär­gen zuckt es, dann tau­chen Schä­del auf, Kno­chen re­cken sich em­por, von Strah­len des Mor­gens fahl be­leuch­tet. Wie Le­ben­de rei­ben sich die­se To­ten die Au­gen und stre­cken sich. Dann ste­hen sie auf und zie­hen die Lum­pen an, die sie abends über den Stuhl ge­legt ha­ben. »In den Wasch­raum«, heißt das Avi­so. Nur we­ni­ge leis­ten der Auf­for­de­rung Fol­ge. Sie sind kei­ne Ge­cken mehr, sie ha­ben beim Fech­ten ums Da­sein die mensch­li­chen Ei­tel­kei­ten ab­zu­le­gen ge­lernt. Im Wasch­saal, an den brau­nir­de­nen Was­ser­be­cken, ste­hen meist nur jün­ge­re Kol­le­gen, die der kos­me­ti­schen Wir­kung des Wasch­was­sers in ih­rem Be­ru­fe als Ge­lieb­te ih­rer Ge­lieb­ten nicht ent­ra­ten kön­nen. An Rol­len hän­gen lan­ge hell­graue Hand­tü­cher für vie­le. Nun geht es wie­der hin­un­ter in den Kel­ler­raum, wo­her wir abends ge­kom­men sind. Ein Mann von der Heils­ar­mee liest ein Ge­bet, es folgt eine kur­ze from­me An­spra­che und wie­der ein Ge­bet. Jetzt kann man um einen Half­pen­ny Tee und um einen Far­thing Brot er­hal­ten, und das Tor öff­net sich. End­lich, den­ke ich und atme der Luft ent­ge­gen. Die an­de­ren aber du­cken sich vor dem ers­ten Hieb der Käl­te.

(engl.) Kai.  <<<

(engl.) Lo­gier­häu­ser, Pen­sio­nen.  <<<

(engl.) Graf­schafts­rat.  <<<

(engl.) Ob­dach­lo­sen­asy­le.  <<<

(engl.) Ge­richt.  <<<

(engl.) Kleins­te eng­li­sche Mün­ze, ¼ Pen­ny.  <<<

(engl.) Po­li­zei­ge­richt.  <<<

(engl.) Dan­ny Row­lett bürg­te für mich.  <<<

Teil­ha­ber, Part­ner  <<<

Ein Spaziergang auf dem Meeresboden

Die Tau­cher­plät­te fährt, ge­folgt vom Am­bu­lan­zwa­gen für Tau­cher­un­fäl­le, auf dem die De­kom­pres­si­ons­kam­mer ist, zur Such­stel­le. Dort wird das Lot aus­ge­wor­fen. Sieb­zehn Me­ter zeigt die Senk­schnur.

Ich bin aber­gläu­bisch, und sieb­zehn ist – wie ich schnell aus­rech­ne – die Sum­me von drei­zehn und der an sich be­deu­tungs­lo­sen Zahl vier. Die »Drei­zehn« stört mich – kein gu­tes Omen. Aber jetzt ist nichts mehr zu ma­chen. Ich bin nicht schuld, wenn es schlecht aus­geht. Der Tau­cher von Schil­ler ist schuld mit sei­ner Wich­tig­tue­rei und sei­nem ewi­gen Abra­ten: »Da un­ten aber ist’s fürch­ter­lich, und der Mensch ver­su­che die Göt­ter nicht …« und so wei­ter. Ich las­se mir aber nun ein­mal nicht ab­ra­ten. Ju­sta­ment nicht.

Und den Gür­tel werf ich, den Man­tel weg und auch Ga­ma­schen, Stie­fel, Rock und Ho­sen. Es wa­ren kei­ne Rit­ter da und Frau­en, den küh­nen Jüng­ling ver­wun­dert zu schau­en. Und wenn­schon: mei­ne Wä­sche habe ich ja an­be­hal­ten. Dar­über kom­men noch eine Un­ter­ho­se und zwei Hem­den aus Tri­kot und au­ßer­dem der Tau­cher­an­zug. Er ist aus gum­mi­ge­tränk­tem Stof­fe und aus ei­nem Stück ge­schnit­ten und passt für alle Kör­per­grö­ßen mehr oder we­ni­ger. (Mir: we­ni­ger.) Über die Schen­kel bis zu den Hüf­ten kann man ihn noch selbst hin­auf­zie­hen, dann muss man auf­ste­hen, mit an­ge­zo­ge­nen El­len­bo­gen die Hän­de auf den Bauch pres­sen, und zwei Hen­kers­knech­te zer­ren das Ge­wand so hoch hin­auf, dass der Kaut­schuk­kra­gen den Hals um­schließt. In die en­gen, all­zu en­gen Kaut­schuk­man­schet­ten hilft dir ein Tau­cher­ge­hil­fe mit zwei schuh­löf­fel­ar­ti­gen Deh­nern. Man be­den­ke: Tri­kot­wä­sche, Kaut­schuk­man­schet­ten! Es ist doch gut, dass kei­ne Rit­ter da sind. Ein ge­streif­ter Zwil­lich­an­zug wird über­ge­zo­gen, das Gum­mi­ko­stüm zu scho­nen. Na, ich muss ja fein aus­se­hen! Um den Hals und über die Schul­tern stülpt man mir den me­tal­le­nen Kol­ler, den ku­gel­run­den Kup­fer­helm hebe ich mir selbst auf das Haupt. Der Gum­mi­kra­gen des An­zu­ges, der Helm­kra­gen und der Helm­kopf wer­den nun von eif­ri­gen Hän­den und mäch­ti­gen Schrau­ben­schlüs­seln zu ewi­ger Ein­heit ge­schmie­det. Zum Glück ist das mitt­le­re der drei Rund­fens­ter (ein vier­tes, un­ge­fähr in Stirn­hö­he, ist ver­git­tert) noch of­fen, so­dass ich auf nor­ma­lem Wege at­men, hö­ren und spre­chen kann. In­zwi­schen sind mei­ne Füße zu Blei ge­wor­den, denn rie­si­ge Rind­le­der­schu­he mit Soh­len aus die­sem Me­tall wur­den mir um­ge­schnallt, je­der sechs Kilo schwer.

Ich schlep­pe mich, un­frei­wil­lig die Gan­gart des Go­lems ko­pie­rend, zur Tau­cher­stie­ge, die vom Deck ins Meer führt. Al­lein auf der drit­ten Stu­fe habe ich, das Ge­sicht ge­gen das Boot ge­wen­det, ste­hen­zu­blei­ben. Ich bin also nur bis zu den Hüf­ten im Was­ser und muss mei­nen Kopf auf das Deck le­gen – die Schwe­re des Hel­mes wür­de mich sonst um­wer­fen. Das Blei­ge­wicht der Füße spü­re ich nicht so sehr, da sie im Was­ser sind. Man hängt mir einen stol­zen Or­den um den Hals, wie ein Leb­ku­chen­herz aus­se­hend und eben­so groß. Er ist aber kei­nes­wegs aus Leb­ku­chen, son­dern aus Blei und wiegt zehn Ki­lo­gramm. Das Rücken­blei – mir bleibt doch nichts er­spart auf die­ser Welt! – wiegt sie­ben. In­des ich, die Stir­ne reu­ig auf den Erd­bo­den ge­presst, al­les mit mir ge­sche­hen las­sen muss, schnallt man auf mei­nem Rücken auch noch den Luft­tor­nis­ter an. Der ist durch den Luft­schlauch mit der vier­zy­lin­dri­gen Luft­pum­pe an Bord der Tau­cher­plät­te ver­bun­den und führt durch ein Rohr im Helm und den klei­nen At­mungs­schlauch in mei­nen Mund. Gu­ter Tor­nis­ter, du wirst da un­ten mein ein­zi­ger Freund sein, nicht wahr, du wirst für mich sor­gen? Du weißt doch: für je zehn Me­ter Was­ser­tie­fe schenkst du mir Luft von ei­ner At­mo­sphä­re mehr. Bra­ver Tor­nis­ter! (Ich streich­le ihn ge­ra­de­zu mit mei­nen Ge­dan­ken.)

Noch ist die Aus­rüs­tung nicht vollen­det, die zum »Skaf­an­der« – so nennt die Ma­ri­ne den Tauch­ap­pa­rat Rou­qua­y­rol-Denay­rou­ze1– ge­hört. Ein Hanftau, die Füh­rungs­lei­ne, schlingt man mir mit­tels ei­nes Leib­sti­ches um die Hüf­ten, Hand­schel­len aus Kaut­schuk presst man mir über die Ge­len­ke, da­mit die Gum­mi­man­schet­ten noch fes­ter an­lie­gen und mei­ne Hand sich blu­tig rö­tet, und einen Dolch in bron­ze­ner Schei­de reicht man mir, und ich ste­cke ihn in den Gür­tel. Ha, jetzt sol­len sie nur kom­men, die Hai­fi­sche und Del­phi­ne – oder die See­schlan­ge!

Der Tau­cher­meis­ter dämpft mei­ne krie­ge­ri­sche Stim­mung et­was her­ab. Er ist ein er­fah­re­ner Mann, hat schon man­ches Schiff auf dem Mee­res­grund be­tre­ten und wur­de oft ge­holt, in Seen und Flüs­sen des Bin­nen­lan­des zu tau­chen; un­ter an­de­rem hat er im Vel­de­ser See nach der ver­sun­ke­nen Glo­cke ge­sucht. Er ist ein er­fah­re­ner Mann, und auf sein Wort muss man hö­ren, so­lan­ge das Mit­tel­fens­ter des Hel­mes noch of­fen ist. O weh, wie vie­le Leh­ren gibt er mir! Ich muss, um Got­tes wil­len, im­mer das Mund­stück des At­mungs­schlau­ches schön im Mun­de be­hal­ten und kann, um Got­tes wil­len, ja nicht durch die Nase at­men und soll, um Got­tes wil­len, ja nicht die Füh­rungs­lei­ne los­las­sen und darf, um Got­tes wil­len, die Ori­en­tie­rung nicht ver­lie­ren, und wenn ich Na­sen­blu­ten oder Ohren­sau­sen be­kom­me, so macht das gar nichts, und ein Ruck an der Füh­rungs­lei­ne be­deu­tet, dass ich den Grund er­reicht habe, zwei Ru­cke, dass ich zu­we­nig Luft habe und dass man da­her oben ra­scher pum­pen müs­se, drei Ru­cke be­deu­ten Ge­fahr, vier, dass ich nach rechts, fünf, dass ich nach links, sechs, dass ich zu­rück­ge­hen will, und ähn­li­che Din­ge. Das hät­te er mir frü­her sa­gen sol­len, der Herr Tau­cher­meis­ter, dann hät­te ich mir’s wohl über­legt …

Aber schon wird an der Luft­pum­pe ge­ar­bei­tet, ich habe das Mund­stück, das vor mir ei­ni­ge hun­dert wa­cke­re Tau­cher in den Mund ge­nom­men ha­ben, zwi­schen Zäh­ne und Lip­pen ge­presst, und das letz­te Fens­ter wird mit er­schre­ckend großen Schlüs­seln fest­ge­schraubt. Ade, schö­ne Luft, die man da oben nach Gut­dün­ken ein­at­men kann, durch Mund oder Nase, in x-be­lie­bi­gen At­mo­sphä­ren … Ich bin her­me­tisch von dir ab­ge­sperrt, ich sehe dich, aber ich füh­le dich nicht mehr! Ade!

Es geht die Trep­pe ab­wärts, mei­ne rech­te Hand um­klam­mert die Füh­rungs­lei­ne, die lin­ke ist frei. Ein paar Stu­fen, dann hört die Trep­pe auf, und ich schwe­be, schwe­be tief hin­ab. Ich seg­ne das ver­fluch­te Ge­wicht auf mei­nen Stie­feln – das be­wirkt jetzt, dass ich mei­ne Ab­wärts­fahrt in auf­rech­ter Hal­tung zu­rück­le­ge und mit den Fü­ßen zu­erst auf den Mee­res­bo­den kom­me. Nun, ehr­lich ge­spro­chen, ich seg­ne mei­ne Blei­soh­len der­zeit nicht, ich habe ganz an­de­re Din­ge im Kopf.

In Au­gen­bli­cken der Er­re­gung pfle­ge ich mir vor al­lem eine Zi­ga­ret­te an­zu­zün­den – dar­an ist jetzt nicht zu den­ken. Ich den­ke zwar doch dar­an, aber ich weiß, dass es nicht mög­lich ist, und so ver­zich­te ich. Ich den­ke also an an­de­re Din­ge, an die ich in mei­nem Le­ben noch nicht ge­dacht habe: dass du mir nicht durch die Nase at­mest, Kerl, und dass du das Mund­stück um Got­tes wil­len nicht aus dem Maul fal­len lässt, der Helm, zum Teu­fel noch mal, ist der Helm schwer! Nein, das ist nicht der Helm, das wird der Was­ser­druck sein, sieb­zehn Me­ter, kei­ne Klei­nig­keit. Nein, auch der Was­ser­druck ist es nicht, es ist der Kaut­schu­k­an­zug, der drückt das Blut auf­wärts ge­gen den Kopf und schröpft mich; wie war das doch, was der Tau­cher­meis­ter sag­te, ein Ruck heißt hin­auf­ho­len, zwei Ru­cke hei­ßen, dass ein Hai­fisch da ist, drei Ru­cke be­deu­ten Kaut­schuk­man­schet­ten, vier Ru­cke, dass ich nach links will … Aber schließ­lich ge­wöh­ne ich mich dar­an, auf dem Mee­res­grun­de zu sein. Ich tre­te mei­ne Wan­de­rung an und kom­me mir wie ein Kind im Stor­chen­tei­che vor. Nun, da bin ich ei­gent­lich doch schon wei­ter: Die Na­bel­schnur fehlt mir nicht, und so­gar einen Gum­mi­lut­scher habe ich im Mund. Nicht ver­lie­ren, Bubi, sonst kommt der böse Tau­cher­meis­ter!

Nur mei­ne Hän­de sind nackt und grei­fen in die Näs­se, es ist kei­ne Feuch­tig­keit zu spü­ren, bloß zu se­hen. Rings um mich über­all Was­ser, blau­es Was­ser. Ich gehe tro­ckenen Fu­ßes durch das Meer: Das Wun­der, das der Ge­samt­heit der Kin­der Is­raels wi­der­fah­ren war, voll­zieht sich nun an mir ein­zel­nem. Ich tap­pe schwe­ren Schrit­tes über kal­ki­ge Stei­ne, Aus­tern­mu­scheln und Mu­schel­kalk, über­wach­sen mit See­gras, Al­gen, Tang, Moos oder Gott weiß was. Dort die Mu­schel will ich auf­he­ben, so­zu­sa­gen als Edel­weiß des Mee­res; ich lege sie mir dann zu Hau­se auf den Schreib­tisch als An­den­ken für mich, und wenn mich Be­su­cher nach der Be­son­der­heit die­ser Mu­schel fra­gen, so be­mer­ke ich leicht­hin: »Ach nichts, die habe ich ein­mal so vom Mee­res­grund auf­ge­le­sen, sieb­zehn Me­ter un­ter der Ober­flä­che.«

Ja, hat sich was mit »auf­ge­le­sen«. Ich knie nie­der, um sie »auf­zu­le­sen«. Aber ers­tens kann ich sie nicht pa­cken, denn bald greift mei­ne Hand viel zu nahe, bald viel zu weit. Ich habe zwar in der Schu­le ein­mal et­was von der Bre­chung des Lich­tes im Was­ser ge­hört, ohne es zu glau­ben. Es ist doch so – ich kann die Mu­schel nicht fin­den, die ich vor mir sehe. Schließ­lich fin­de ich sie. Sie ist aber so fest an­ge­wach­sen, dass ich sie nicht los­krie­ge. Ru­hig fas­se ich eine an­de­re – ganz ver­geb­lich, auch die be­wegt sich nicht. Na, liegt auch nichts dran, ich kau­fe mir mor­gen ir­gend­ei­ne Mu­schel und lege sie auf mei­nen Schreib­tisch. Nach ein, zwei Jah­ren wer­de ich schon sel­ber steif und fest glau­ben, dass ich sie vom Mee­res­grun­de auf­ge­le­sen habe.

Ich ste­he auf und gehe wei­ter. Also, die­ser Schil­ler­sche Tau­cher, das war ein Lüg­ner: Es wal­let nicht und sie­det nicht und brau­set nicht und zischt nicht, und kein damp­fen­der Gischt spritzt bis zum Him­mel, und von Sala­man­dern und Mol­chen und Dra­chen, die sich laut Aus­sa­ge des Mauld­re­schers der Bal­la­de hier in dem »furcht­ba­ren Höl­len­ra­chen« re­gen sol­len, habe ich nichts be­merkt, ge­schwei­ge denn von ei­nem grau­sen, zu scheuß­li­chen Klum­pen ge­ball­ten Ge­misch des stach­lich­ten Ro­chens, des Klip­pen­fischs und des Hum­mers gräu­li­cher Un­ge­stalt, auch wies mir nicht dräu­end die grim­mi­gen Zäh­ne der ent­setz­li­che Hai, des Mee­res Hyä­ne. Schil­ler ist da ei­nem Hoch­stap­ler tüch­tig auf­ge­ses­sen. Oder hat sein Tau­cher in sub­ma­ri­ner Angst in den bra­ven Sar­di­nen so grim­mi­ge Mee­res­un­ge­heu­er ge­se­hen? Die schwim­men näm­lich wirk­lich in großen Men­gen um­her, kom­men bis an mein Vi­sier und schau­en mir treu­her­zig in die Au­gen. Sie hal­ten mich wohl für ir­gend­ei­nes der selt­sa­men leb­lo­sen Din­ge, die ih­nen in den Kriegs­jah­ren von freund­li­cher Sei­te als Spiel­zeug auf den Mee­res­grund ge­sandt wur­den. Da ich mir ein sol­ches Fisch­lein ha­schen will, springt es schnell da­von. Nach ei­nem mehr als halb­stün­di­gen (drei­und­drei­ßig Mi­nu­ten, um prä­zis zu sein) Spa­zier­gang kom­me ich ohne ir­gend­ein Cor­pus de­lic­ti an das Ta­ges­licht. Und doch habe ich das Meer von Grund auf ge­se­hen und ein Er­leb­nis ge­habt, das mir nir­gends vor­ge­kom­men ist, au­ßer heu­te auf dem Mee­res­grun­de. Auf die Ge­fahr hin, dass man mich für einen noch grö­ße­ren Auf­schnei­der hal­ten wer­de, als ich den Tau­cher Schil­lers, will ich es ver­ra­ten: Ich bin wäh­rend der gan­zen Pro­me­na­de kei­nem Be­kann­ten be­geg­net.

Rou­qua­y­rol-Denay­rou­ze ist die Be­zeich­nung für ein Tauch­ge­rät, wel­ches von 1864 bis weit ins 20. Jahr­hun­dert ge­bräuch­lich war. Es ist be­nannt nach sei­nen Er­fin­dern, dem Berg­bau­in­ge­nieur Be­noit Rou­qua­y­rol, dem Ma­ri­ne­of­fi­zier Au­gus­te Denay­rou­ze und sei­nem Bru­der Louis. Be­son­ders be­mer­kens­wert ist, dass das Gerät so­wohl schlauch­ver­sorgt als auch au­to­nom, also ohne Schlauch be­nutzt wer­den konn­te. In­so­fern ist der Rou­qua­y­rol-Denay­rou­ze der Urahn der heu­ti­gen un­ab­hän­gi­gen Tauch­ge­rä­te, die im Tauch­sport gang und gäbe sind. (Wi­ki­pe­dia)  <<<

Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde

Die Ver­fol­ger ha­ben Angst vor dem Ver­folg­ten.

Da­bei kann es sein, dass die fünfein­halb Leu­te, die mit der Bahn zur Jagd hin­aus­fah­ren, zu spät kom­men, erst zum Ha­la­li. Denn eine Par­tie der Jä­ger und Trei­ber ist mit dem Auto vor­aus ins Re­vier.

Die fünfein­halb sind der Suk­kurs1 und sol­len ganz un­auf­fäl­lig fol­gen. Vor der Hal­le des Franz-Jo­seph-Bahn­ho­fes ste­hen sie auf den Stu­fen und war­ten, bis sich die lin­ke der drei Tü­ren öff­nen wird. Sie ha­ben nichts zu tun als so, als ob sie ein­an­der nicht ken­nen wür­den.

Sol­cher Mü­ßig­gang fällt ih­nen si­cher­lich schwer: In Reich­wei­te sind Bur­schen, die sich – un­be­fug­ter­wei­se – zum Kof­fer­tra­gen an­bie­ten und auf ih­ren Mi­li­tär­kap­pen ein Flü­gel­rad an­ge­hef­tet ha­ben, da­mit sie dem Rei­sen­den Ver­trau­en ein­flö­ßen. Die könnt man so schön schnap­pen, in fla­gran­ti, »Bei­le­gung falschen Amts­cha­rak­ters«.

Wär eh g’­schei­ter, als da raus­fah­ren, Jagd ma­chen auf aan, was ka Fa­xen macht …

Fried­li­che Pas­sa­gie­re mit Ruck­sä­cken las­sen in ih­ren Ge­sprä­chen Na­men von Dör­fern und Adres­sen von Bau­ern fal­len, bei de­nen man ge­gen Wä­sche oder Schmuck­sa­chen oder gar bloß Geld But­ter ein­tau­schen kann und Kar­tof­feln und Eier. Sonst wür­den sol­che An­ga­ben auch die fünfein­halb in­ter­es­sie­ren, denn auch De­tek­ti­ve der Po­li­zei­di­rek­ti­on Wien ha­ben eine Frau, die es ih­nen un­ter die Nase reibt, wenn der Nach­bar Le­bens­mit­tel nach Hau­se bringt …

Wär eh g’­schei­ter, als da raus­fah­ren …

Sie las­sen es sich nicht an­mer­ken, dass sie Jagd­fie­ber ha­ben, Angst vor dem Wild. Aber man er­kennt ihre Angst dar­an, dass sie sich nichts an­mer­ken las­sen wol­len. Die Vir­gi­nia in ih­rem Mun­de ver­löscht nicht …

End­lich öff­net sich die Tür – »Aber net drän­geln, mei­ne Hörr­schaf­ten, wer wird denn a soo drän­geln.« – »Oha, Sö Pimpf, Sö!« –, und man ist vor dem Kas­sen­schal­ter: »Fahr­kar­ten­aus­ga­be zu Lo­kal­zü­gen bis Tulln«. Auf ei­nem Zet­tel ste­hen die Ab­fahrts­zei­ten, und ge­gen­über der Herr Göd des Bahn­hofs, der se­li­ge Franz Jo­seph im Krö­nungs­man­tel, und hält eine halb ein­ge­roll­te Staats­be­am­ten­le­gi­ti­ma­ti­on in der Hand, bei de­ren Vor­wei­sung er nur den hal­b­en Fahr­preis be­zah­len muss. Zu sei­nem Glück ist er aus Gips und wird nicht ner­vös von der öden Drän­ge­rei und War­te­rei, auf die alle schimp­fen – bis auf die fünfein­halb, die ein­an­der noch im­mer nicht ken­nen und rie­sig phleg­ma­tisch sind. »I? Gor ka Spur!«

Gerät man zu gu­ter Letzt doch in den Wag­gon, so ist er ge­spickt voll, und die Füße frie­ren. Es ist kein Ver­gnü­gen, mit der Bahn nach Sankt An­drä-Wör­dern zu rei­sen. Ein Ver­bre­cher wird sie kaum be­nüt­zen, umso we­ni­ger, wenn er Rad­renn­prei­se er­run­gen hat. Si­cher­lich setzt er sich, nach­dem er in Wien sei­ne Ge­schäf­te er­le­digt hat, ein­fach aufs Rad und fährt ent­lang der Do­nau oder über Neu­wal­degg, an kei­ne Ab­fahrts­zeit ge­bun­den (kei­nem Ge­quet­sche und kei­ner kal­ten Ei­sen­bahn­zug­luft aus­ge­setzt, den Fahr­preis er­spa­rend), nach Hau­se, nach An­drä-Wör­dern.

Ob er tat­säch­lich in An­drä-Wör­dern wohnt?

Hin­ter Kah­len­ber­ger­dorf, in Klos­ter­neu­burg, in Kier­ling, auf den Dü­nen von Krit­zen­dorf, in Höf­lein und Grei­fen­stein ist die Mehr­zahl der Hams­te­rer aus­ge­stie­gen, der Ei­sen­bahn­wa­gen ist halb leer, die fünfein­halb ken­nen ein­an­der schon ein we­nig, und man kann den Nach­barn lei­se fra­gen: ob’s auch wirk­lich ganz ge­wiss ist, dass ✳✳✳ in An­drä-Wör­dern steckt? Ob’s nicht ein April­scherz ist? (Wir schrei­ben heu­te den 1. April 1919.)

Nein, nein, kein April­scherz, wie alle ge­dacht ha­ben, als sie es heu­te hör­ten … Dies­mal ist es si­cher. Vor drei Wo­chen hat­te man er­fah­ren, dass ✳✳✳ in der Atz­gers­dor­fer Müh­le sei; in der Scheu­er hat­te er sei­ne Werk­stät­te. »Wie wir hin­ein­kom­men in die Scheu­ne – ist sie leer. Wo­hin er sich ge­wen­det hat, hat nie­mand ge­wusst, trotz­dem er alle sei­ne Ap­pa­ra­te mit­ge­nom­men hat. Wir ha­ben in der Um­ge­bung nach­ge­forscht nach neu­en Mie­tern – um­sonst.« Der Wag­gon hat sich ganz ge­leert, nur fünfein­halb Men­schen sind noch dar­in. Man kann ein­an­der wie­der ken­nen und un­ge­niert spre­chen. »Erst ges­tern ha­ben wir er­fah­ren, dass der Breit­wie­ser« – her­aus ist das Wort! – »in ei­ner ganz an­de­ren Ge­gend steckt. In Sankt An­drä, wo das Haus schon her­ge­rich­tet wor­den ist, wie er noch in Atz­gers­dorf war.«

Und ist das zu­ver­läs­sig?

»To­tal zu­ver­läs­sig! Wir ha­ben schon al­les re­cher­chiert. Es ist die so­ge­nann­te Kä­ferl­sche Vil­la. Vor zwei Mo­na­ten hat sie der Ru­dolf Schier ge­kauft, als ›ge­we­se­ner Holz­händ­ler‹ hat er sich aus­ge­ge­ben. Acht­und­zwan­zig­tau­send Kro­nen war der Kauf­preis. Schier hat sie gleich bar be­zahlt, ohne zu han­deln, hat al­les aus­ma­len las­sen, Mö­bel sind aus Wien an­ge­kom­men, und zu­letzt ist ein ver­deck­ter Streif­wa­gen abends im Hof ab­ge­la­den wor­den. Es ist klar, dass da die In­stru­men­te dar­in ge­we­sen sind. Na, viel­leicht wer­den wir’s heu­te schon wis­sen!« An der Vir­gi­nia­zi­gar­re wird fest ge­saugt, ob­wohl sie gar nicht aus­zu­ge­hen droht.

Glau­ben Sie nicht, dass er Wind be­kom­men hat und auf und da­von ist?

»Heu­te früh war er noch da, und die Vil­la ist be­wacht – in al­len Nach­bar­häu­sern sind un­se­re Leu­te. Wenn er jetzt ent­wischt ist, muss das viel Blut ge­kos­tet ha­ben. Schie­ßen tut er gleich!«

Ja, schie­ßen tut er gleich. Zwei von den fünfein­halb zei­gen Wun­den, die sie von Breit­wie­ser ha­ben. »Be­vur i hin bin, müs­sen no a paar Ki­we­rer hin­wern.« Dies sei sein ste­reo­ty­per Schwur. Be­teu­ern die Ki­we­rer hier im Zug.

In Wör­dern stei­gen fünfein­halb Leu­te aus, die ein­an­der an­schei­nend noch nie ge­se­hen ha­ben. Ein Sol­dat lun­gert am Bahn­hof und kommt mit ei­nem von ih­nen ins Ge­spräch, wo­bei er ihm so en passant mit­teilt, dass er mit ei­nem an­de­ren im Gar­ten des Hau­ses Leh­ner­gas­se Num­mer elf Wa­che zu hal­ten habe. Dann muss der Sol­dat mal aus­tre­ten und trifft auf dem Pis­soir zwei Zi­vi­lis­ten, die durch ihn er­fah­ren, dass sie sich an den bei­den Ecken der Rie­ger­gas­se zu pos­tie­ren ha­ben.

Ein­zeln geht man vom Dor­fe Wör­dern ent­lang den Wei­den, die die Do­nau und dann den Ha­gen­bach um­säu­men, bach­auf­wärts bis zum Markt­fle­cken Sankt An­drä. Dort oben ist das Wild, ah­nungs­los, ob­wohl die Fal­len be­reits auf­ge­stellt sind.

Von der Leh­ner­gas­se biegt als ers­te Sei­ten­stra­ße die Rie­ger­gas­se ab, eine Li­nie von Vil­len, durch Sta­ke­ten­zäu­ne zu ei­ner freund­li­chen Fassa­de ver­bun­den. Num­mer fünf ist die hüb­sche­s­te: ein Ein­fa­mi­li­en­haus. Die Ve­ran­da nimmt die gan­ze Front­sei­te ein, durch blaue Glas­ta­feln kommt ihr Licht zu, ohne dass man hin­ein­se­hen kann. Wer in das Haus will, muss durch die Türe, die in den Hof führt: das Hau­stor ist auf der Rück­sei­te. In der Mit­te des Ho­fes steht ein Schwen­gel­brun­nen, an den ein Fahr­rad an­ge­lehnt ist, links eine Lau­be und ein Zier­gärt­chen, rechts ein Holz­schup­pen. Ne­ben dem Schup­pen eine kaum zwei Me­ter brei­te Ver­scha­lung, manns­hoch – der Zaun, der die Breit­wie­ser-Vil­la vom Haus Rie­ger­gas­se sie­ben trennt.

Ge­gen den Hin­ter­grund zu: eine hohe Plan­ke, hin­ter der der Ge­mü­se­gar­ten von Leh­ner­gas­se elf ist, wo­hin der Bahn­hofs­sol­dat zwei Mann des Suk­kur­ses be­or­dert hat – der Stand, von wo man die Hau­stü­re im Auge hat, den Bau, aus dem man das Wild her­vor­kom­men las­sen will, um es zur Stre­cke zu brin­gen.

Ein­drin­gen, hin­ein­schie­ßen, of­fen be­la­gern will man nicht. Es wür­de vie­le Op­fer kos­ten und viel Zeit, wenn Ge­fahr ge­wit­tert wür­de.

De­sto fes­ter ist das Ge­he­ge von der Trei­ber­ket­te um­schlos­sen. Am Zaun lau­ern sie, in den Nach­bar­häu­sern, an den Stra­ßen­e­cken. Ein Jagd­hund ist da­bei. Sie war­ten, bis das Wild wech­seln wird. Ein Mäd­chen geht in den Schup­pen und kehrt, Holz­schei­te auf dem Arm, ins Haus zu­rück. Die Ver­fol­ger lau­ern, die den Ver­folg­ten fürch­ten. Karl Breit­wie­ser, der jün­ge­re Bru­der des großen, war schon drei­mal im Hof, auch zwei Frau­en – Lui­se Schier und Anna Maxi­an, ein sieb­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen, die Ge­lieb­te Jo­hann Breit­wie­sers, des Ein­bre­cher­kö­nigs.

Nur er selbst, er selbst ist noch nicht ein ein­zi­ges Mal aus dem Haus ge­tre­ten. Zwei Uhr wird es, drei Uhr, vier Uhr, drei Vier­tel fünf …

Da – da: »Hän­de hoch!«

Breit­wie­ser, der sich am Fahr­rad zu schaf­fen ma­chen woll­te, zuckt auf. Von hin­ten, vom Gar­ten schallt die Auf­for­de­rung. Er dreht sich um: Auch vom Hof­tor her sind Re­vol­ver­mün­dun­gen auf ihn ge­rich­tet. Bleibt nur die Flucht flan­ken­wärts. Ohne Rock, ohne Ho­sen­trä­ger ist er, aber nicht eine Se­kun­de lang denkt er an Über­ga­be, jagt da­von, mit ei­nem Sprung ist er über dem manns­ho­hen Zaun, die Wirt­schaf­te­rin der Nach­bars­leu­te, die Wä­sche auf­hängt, rennt er über den Hau­fen, will durch das Nach­bar­haus auf die Stra­ße, auch hier die Ki­we­rer, Re­vol­ver­schüs­se kra­chen, der Ver­folg­te fürch­tet die Ver­fol­ger nicht, er reißt sei­nen Brow­ning aus der Ho­sen­ta­sche, tau­melt ge­trof­fen; einen Blutstrom ver­sprit­zend, springt er in den Schup­pen von Num­mer sie­ben und schießt von dort. Von al­len Sei­ten feu­ert man in die Holzwand, Po­li­zei­hund »Fer­ro« jagt in die Hüt­te, wirft sein Op­fer zu Bo­den, nun wa­gen sich auch die Ver­fol­ger mit er­ho­be­ner Waf­fe hin­ein. Breit­wie­ser streckt die Hän­de aus: »Net schie­ßen, i tu eh nix mehr.«

Man nimmt sei­nen Brow­ning, der ne­ben ihm im Stroh liegt. Schmerz­ver­zerrt tas­tet Breit­wie­ser nach sei­nen Wun­den. Sie schmer­zen, ob­wohl er weiß, dass er jetzt ster­ben wird.

Karl Breit­wie­ser, der Bru­der, hat sich in­zwi­schen ohne Ge­gen­wehr er­ge­ben. Auch er war im Hof, als das Hands-up-Si­gnal er­scholl, sprang in den Holz­schup­pen, kam aber so­fort mit er­ho­be­nen Hän­den her­vor. »Nicht schie­ßen!« bat er und ließ sich fes­seln, wäh­rend sein Bru­der noch schoss. Die bei­den Frau­en hat­ten das Haus von in­nen ver­sperrt, doch öff­ne­ten sie, als die De­tek­ti­ve an den Fens­tern er­schie­nen und zu schie­ßen droh­ten. Ei­nen Über­fall aus dem In­nern des Hau­ses be­fürch­tend, scho­ben die Po­li­zis­ten den Kna­ben Karl als Schild vor sich her. Lui­se Schier und Anna Maxi­an wur­den fest­ge­nom­men.

Jo­hann Breit­wie­ser wird in die Lau­be ge­tra­gen und von dort, da ihn frös­telt, in sei­ne Woh­nung; er wird auf den Di­wan ge­bet­tet, vom Ge­mein­de­arzt ver­bun­den und – schon in Ago­nie – drei­fach be­wacht im Auto nach Wien ge­bracht. Die Beu­te. Ha­la­li!

Haus­durch­su­chung. Als man in den fens­ter­lo­sen Teil des Kel­lers trat, er­starr­te man vor Stau­nen. Hier stan­den fünf mäch­ti­ge Kas­sen­schrän­ke – Ver­suchs­ob­jek­te für die streng wis­sen­schaft­li­che Ar­beit in die­sem voll­kom­me­nen La­bo­ra­to­ri­um der Tech­no­lo­gie; hier la­gen Stahl- und Ei­sen­sor­ten, eti­ket­tiert und sor­tiert, zur Ma­te­ri­al­prü­fung; hier wa­ren Hef­te und Pa­pie­re mit For­meln und Be­mer­kun­gen von Breit­wie­sers Hand; hier hin­gen in trans­por­ta­blen Schrän­ken Werk­zeu­ge nach der Rei­hen­fol­ge ih­rer Ver­wen­dung: Wach­sta­blet­ten, Schlüs­sel­bun­de, Diet­ri­che, Fei­len, Schrau­ben­zie­her, Brech­ei­sen, Boh­rer für Hand­be­trieb und Schwach­strom, in al­len Aus­füh­run­gen, Grö­ßen – Wer­te von vie­len Tau­sen­den. Das meis­te: ei­ge­nes Fa­bri­kat. Ma­schi­nen, Dreh­bän­ke, Schraub­stö­cke, eine Feld­schmie­de fehl­ten dem Ate­lier nicht. Ein au­to­ge­ner Schweiß­ap­pa­rat für Hit­ze­ent­wick­lung von drei­tau­send­sechs­hun­dert Grad war voll­stän­dig auf­mon­tiert, ge­brauchs­be­reit, die zwei Me­ter hohe Fla­sche mit fünf­tau­send Li­ter kom­pri­mier­ten Sau­er­stoffs stand da­ne­ben.

Oben im Bü­cher­schrank: die tech­ni­sche Biblio­thek Breit­wie­sers; das drei­bän­di­ge Werk »Der Ma­schi­nen­bau« von R. Ge­org, »Das Buch der Tech­nik« von G. Neu­deck, Bän­de der au­to­tech­ni­schen Biblio­thek, »Rä­der und Fel­gen« von Schmidt und die Bü­cher »Die au­to­ge­ne Schwei­ßung«, »Stahl und Ei­sen« …

Die­se sach­li­chen Wer­ke hat­te Jo­hann Breit­wie­ser, Ein­bre­cher, Ge­walt­tä­ter und ge­we­se­ner Markt­hel­fer, un­un­ter­bro­chen ge­le­sen und nach ih­nen sei­ne ex­ak­ten che­mi­schen und tech­no­lo­gi­schen Ver­su­che ge­macht. Ein Mann der Tat, des Mu­tes, des Erns­tes und der In­tel­li­genz – scha­de, scha­de, dass er ein Ge­wer­be ge­wählt hat­te, das schwie­rig und ge­fähr­lich ist und letz­ten En­des nichts ein­bringt als den Tod von der Hand der Ver­fol­ger, die den Ver­folg­ten fürch­te­ten!

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Die Weltumseglung der ›A. Lanna 8‹1

I. Von Prag nach Pressburg über die Nordsee

An Bord der ›A. Lan­na 8‹, auf ho­her See, 8° 30' ö. L.; 53° 58' n. B.; 6. Okt. 1920

Press­burg liegt süd­öst­lich von Prag. Also muss man, wenn man von Prag nach Press­burg will, zu­erst nörd­lich fah­ren, im­mer nörd­lich, bis dort­hin, wo der eu­ro­päi­sche Kon­ti­nent auf­hört, Kon­ti­nent zu sein, hin­ter Ham­burg, hin­ter Cux­ha­ven, noch im­mer nörd­li­cher bis in die Nord­see. Und dann nach Wes­ten, auf Kanä­len und Flüs­sen un­aus­ge­setzt nach Wes­ten, über die We­ser bis zur deutsch-hol­län­di­schen Gren­ze und wei­ter bis zum Rhein … Das ist so die Lo­gik der Was­ser­stra­ßen …

Press­burg liegt 350 Ki­lo­me­ter von Prag ent­fernt, etwa 250 von Bud­weis. Die Moldau hat (bei Ho­hen­furt) einen Ab­stand von bloß 35 Ki­lo­me­tern von der Do­nau (bei Linz). Aber will man von der Moldau auf die Do­nau, so muss man 2170 Ki­lo­me­ter fah­ren, ›bis Ba­bitz‹, sechs Wo­chen lang, acht Wo­chen lang – ich weiß noch selbst nicht, wie das al­les wer­den soll. Mo­ritzl, wo hast du dein lin­kes Ohr?

Der Ten­der »A. Lan­na 8«, der bis­her be­schau­lich im Hol­le­scho­wit­zer Ha­fen oder am Fran­ti­schek lag oder Elb­käh­ne für die Moldau­re­gu­lie­rung schlepp­te oder Koh­len­käh­ne aus Aus­sig am Gän­gel­band schleif­te, ward plötz­lich zu Hö­he­rem aus­er­se­hen: Zu Bag­ge­rungs­ar­bei­ten muss er nach Bra­tis­la­va. Dort soll ein Ha­fen für zwei Mil­lio­nen Ton­nen aus­ge­baut wer­den, und für die Ar­bei­ten braucht man die Mold­auf­lot­til­le. Wie sie hin­kommt? Die tsche­cho­slo­wa­ki­schen Ei­sen­bahn­be­hör­den ga­ben die Aus­kunft: »Per Bahn geht das nicht.« So fuhr »A. Lan­na 8« – als ers­tes Schiff der Re­pu­blik, das von Prag nach Press­burg auf dem Was­ser­we­ge ab­ge­ht – am Don­ners­tag, dem 23. Sep­tem­ber 1920, um sie­ben Uhr früh, vom Hol­le­scho­wit­zer Ha­fen mit sechs Ton­nen Koh­le ab. Es ging bis Mir­scho­witz, dann Lo­bo­sitz und wei­ter nach Aus­sig, wo vier Tage Auf­ent­halt war, bis wir end­lich am 30. einen Wag­gon Koh­le von Pet­schek neh­men konn­ten. Auch ein Haup­ter kam hier an Bord, der um 1400 Mark un­ser Schiff nach Dres­den, Cos­wig, Wer­ben, Lau­en­burg führ­te. Am 4. Ok­to­ber, um zehn Uhr vor­mit­tags, leg­ten wir in Ham­burg am Zoll­ka­nal an.

Vom Kai des Do­wen­fleth und von der Wan­drahm­brücke schau­ten die Mäd­chen in kur­z­en Rö­cken in­ter­es­siert auf den nied­ri­gen Damp­fer mit den neu­en Far­ben. Und wir, wir schau­ten vom nied­ri­gen Damp­fer mit den neu­en Far­ben nicht min­der in­ter­es­siert zu den Mäd­chen in kur­z­en Rö­cken auf dem Kai des Do­wen­fleth und auf der Wan­drahm­brücke hin­auf.

Ein neu­er Lot­se kam an Bord, der uns für 1300 Mark über das Wat­ten­meer nach Wil­helms­ha­ven füh­ren soll, und an der Lan­dungs­brücke stand wie­der ein Fluss­lot­se, der uns in Wil­helms­ha­ven er­war­ten und durch die Kanä­le und über Rhein und Main auf die Do­nau brin­gen wird; der kriegt 8000 Mark. Der See­lot­se be­sah un­sern Kas­ten mit un­ver­hoh­le­nem Miss­trau­en. Aber schließ­lich (1300 Mark sind viel Geld!) sag­te er, es wer­de schon ge­hen, und traf ei­ni­ge Si­cher­heits­maß­nah­men. Eine Ab­fluss­gat­te für Meer­was­ser, das bei See­gang auf Deck schla­gen könn­te, müs­se her­ge­rich­tet wer­den; der her­bei­ge­hol­te Schlos­ser ver­lang­te da­für 300 Mark, wor­auf­hin wir uns die Ab­fluss­gat­te selbst in die Bord­wand hack­ten. Das Ret­tungs­boot, bis­her frei auf den Klam­pen ru­hend, wur­de mit Ket­ten see­fest ge­macht. Der Ka­min wird durch Tros­sen ge­stützt wer­den müs­sen, aber vor­läu­fig schie­ben wir die­se Ar­beit noch auf, da wir Elb­brücken zu pas­sie­ren ha­ben. Wir nah­men vier Ton­nen Stein­koh­le, ein Kom­pass wur­de ein­ge­schifft, die große See­kar­te auf dem Ka­pi­täns­stand auf­ge­spannt.

Mitt­woch, den 6. Ok­to­ber, zehn Uhr fünf­und­drei­ßig Mi­nu­ten vor­mit­tags, sta­chen wir, ers­tes Schiff tsche­cho­slo­wa­ki­scher Flag­ge, von Ham­burg aus in See. Durch den Bin­nen­ha­fen und den Nie­der­ha­fen fuh­ren wir, rechts Sankt-Pau­li-Lan­dungs­brücken, die Hal­len des Elb­tun­nels, der Rie­sen-Bis­marck schaut vom Posta­ment auf den Ten­der mit der rot-blau-wei­ßen Flag­ge, dann sind wir en face2 der Da­vid­stra­ße, Al­to­na, ges­tern Abend wa­ren wir dar­in, in ih­ren Sei­ten­stra­ßen, Hein­rich­stra­ße, Ma­ri­en­stra­ße, Fried­rich­stra­ße bis zur Ree­per­bahn, Lu­pa­nar3 an Lu­pa­nar, eine Welt, in der sich un­ter dem Schrei­en von Mu­sik­au­to­ma­ten in Rie­sen­schau­keln und Ka­rus­sels und Ki­nos und Hip­po­dro­men und Schen­ken und Schau­bu­den und Tanz­rä­dern der tolls­te Welt­groß­han­del der Se­xua­li­tät voll­zieht. Steu­er­bords bleibt hin­ter un­se­rem Schiff der Stein­wär­der zu­rück mit dem ver­öde­ten Ha­pagha­fen; die Schif­fe sind ab­ge­lie­fert, da­vor aber se­hen wir gleich­zei­tig ein ei­ser­nes Fir­ma­ment von tau­send­fach in­ein­an­der­ge­scho­be­nen Gerüs­ten und Ge­stän­gen, die Werft »Bl­ohm und Voß«, Hel­lin­ge und Docks sind be­setzt, Kra­ne fah­ren auf­wärts und seit­wärts, Häm­mer dröh­nen, und auf der Vul­kan­werft ist es nicht an­ders.

An He­rings­log­gern aus Rü­gen fah­ren wir vor­über, an Is­land­fi­schern von Cux­ha­ven, an Se­gel­schif­fen, die das wei­ße Kreuz auf ro­tem Grund tra­gen, wenn sie aus Dä­ne­mark, und das gel­be Kreuz auf blau­em Feld, wenn sie aus Schwe­den sind, ein ame­ri­ka­ni­scher Kar­go­damp­fer über­holt uns bei Blan­ke­ne­se, fast im­mer ei­len die Ma­tro­sen an die Re­ling, ru­fen ihre Of­fi­zie­re her­bei und zer­bre­chen sich sicht­lich die Köp­fe über das Li­li­pu­ta­ner­schiff mit un­be­kann­ten Far­ben.

Von ei­nem deut­schen Drei­mast­scho­ner wer­den wir durch das Sprach­rohr an­ge­preit: »Hal­lo! Was ha­ben S’ da für Flag­gen?«

Wir ha­ben lei­der kein Sprach­rohr an Bord, kön­nen kei­ne Ant­wort ge­ben, und der Drei­mas­ter fährt mit un­be­frie­dig­ter Neu­gier von dan­nen.

Auf Fin­ken­wär­der ar­bei­tet die Deut­sche Werft, weit rück­wärts ist ein Kom­ma auf dem Ho­ri­zont: der Kirch­turm von Bux­te­hu­de; dort übt ein Schmied von al­ters her sein Ge­wer­be aus und ist so po­pu­lär, dass tem­pe­ra­ment­vol­le Frau­en ih­ren schlapp­schwän­zi­gen Ehe­gat­ten die Ver­wün­schung zu­zu­ru­fen pfleg­ten, sie mö­gen sich vom Bux­te­hu­der Schmied eine Ei­sen­stüt­ze zur Stär­kung ih­rer Ener­gie an­schmie­den las­sen. Aus die­ser ehe­li­chen Ver­wün­schung ist dann die Re­dens­art »Geh nach Bux­te­hu­de« ge­wor­den und in Ge­gen­den ge­drun­gen, von wo der Weg in die­ses »Ei­sen­ach« (die­ses Wort ist in Ana­lo­gie zu »Stein­ach« ge­bil­det) zu weit wäre! Back­bords und steu­er­bords wird das Land im­mer kah­ler und fla­cher, es passt sich gleich­sam in sei­ner Form dem Mee­re an, und schließ­lich sieht die Hei­de nicht bloß wie er­starr­te See aus, son­dern sie ist noch wel­len­lo­ser als die­se. Nur hie und da dreht eine Wind­müh­le ihr Ha­ken­kreuz, als win­ke sie uns zu, »hier ist noch deut­scher Bo­den«. Punk­tiert sind schma­le Sand­bän­ke von ras­ten­den Mö­wen. Un­se­re Stra­ße ist von ro­ten und schwar­zen Bo­jen mar­kiert – wir brau­chen den Kom­pass nicht zur Steue­rung.

Hin­ter den Ke­gel­schlo­ten der Bruns­büt­te­ler Ze­ment­fa­brik (»Hier sieht’s wie in Po­dol aus«, sagt Stru­ha, der alte Ma­schi­nist.) fah­ren wir an der Mün­dung des Kai­ser-Wil­helm-Kanals vor­über, er führt nach Kiel, in die Ost­see. Links Han­no­ver. Rechts rückt die schles­wig-hol­stei­ni­sche Küs­te im­mer wei­ter und wei­ter. Mit dem Glas luge ich nach den Hel­go­län­der Fel­sen aus. Aber ein Moldau­ten­der ist kein Aus­sichts­punkt.

Die Elbe ist hier schon meer­haft. So weit sind die Ufer! Grün­lich wird das Was­ser. Der Nord­west­wind lässt das Schiff rol­len. Der Tag macht sei­ne Pols­ter zu­recht und blin­zelt schläf­rig.

Gas­flam­men auf Leucht­bo­jen, die auch tags­über bren­nen, wer­den sicht­bar. Die Flut schlägt uns ent­ge­gen, ver­zö­gert das Tem­po der »A. Lan­na 8«. Sal­zig und nass ist die Käl­te, die sich uns in Mund und Po­ren drängt. Man­che Leucht­tür­me sind ru­hi­gen Blicks, an­de­re zu­cken un­un­ter­bro­chen mit den Wim­pern. Um sechs Uhr fah­ren wir den großen Kai von Cux­ha­ven ent­lang. Vor sechs Jah­ren habe ich ihn auch ge­se­hen, den großen Kai von Cux­ha­ven. Da war er schwarz von Men­schen, von ju­beln­den Zehn­tau­sen­den, die den größ­ten Damp­fer der Welt se­hen woll­ten. Ich stand oben auf dem Pro­me­na­den­deck, elf Stock­werk hoch, und nur durch den Zeiß konn­te ich die Ge­sich­ter da un­ten un­ter­schei­den. Die Bord­ka­pel­le spiel­te: »Muss i denn, muss i denn zum Städ­te­le hin­aus …«, un­se­re schwim­men­de Stadt fuhr ab, Tü­cher­schwen­ken.

Weh­mü­ti­ger als da­mals die Ab­fahrt muss mich heu­te die An­kunft stim­men. Von un­ten bli­cke ich zum Molo4 em­por. Und kein Mensch ist auf dem herb­sta­bend­li­chen Stein­wall zu se­hen. Nein, es ist nicht mehr das größ­te Schiff der größ­ten Flot­te, auf dem ich da bin. 8 Ton­nen hat »A. Lan­na 8«, 55.000 hat­te die »Va­ter­land«. Kei­nes ih­rer Ret­tungs­boo­te war so klein wie un­ser heu­ti­ges Ve­hi­kel. 1200 Mann Be­sat­zung und 4080 Pas­sa­gie­re – un­ser Dampf­boot hat drei Mann Be­sat­zung für sei­ne See­fahrt und nur einen Pas­sa­gier, mich.

Und für den Zeu­gen die­ser bei­den Er­eig­nis­se von glei­cher Be­griffs­ka­te­go­rie und un­ge­heu­rem Di­men­si­ons­un­ter­schied er­gibt sich bei den Ver­glei­chen, die er un­sin­ni­ger­wei­se an­stellt, nichts an­de­res als das, was je­dem Men­schen un­se­rer Zeit über­all und stünd­lich ein­fällt: dass es nie einen grö­ße­ren Di­vi­sor ge­ge­ben hat als die­se sechs Jah­re.

II. Der Moldaudampfer im Seesturm des Wattenmeeres

An Bord »A. Lan­na 8«, Ems-Jade-Kanal, am 8. Ok­to­ber 1920

Schon am Abend der An­kunft in Cux­ha­ven war der Lot­se, den wir in Ham­burg für die Fahrt übers Meer ge­heu­ert hat­ten, an Land ge­gan­gen und gleich dar­auf an Bord zu­rück­ge­kehrt: Er habe eben aus Ham­burg die te­le­gra­fi­sche Nach­richt be­kom­men, sein Schwie­ger­va­ter sei ge­stor­ben. Hof­fent­lich fin­de er einen Kol­le­gen, der uns von der Elb­mün­dung über das Meer füh­ren wer­de.

Als wir mor­gens aus den all­zu eng in die Wand ge­schnit­te­nen Ko­jen der »A. Lan­na 8« krall­ten, brach­te er den Kol­le­gen und emp­fahl sich von uns, »zum Be­gräb­nis des Schwie­ger­va­ters«. Dem Stell­ver­tre­ter hat­te er al­ler­dings die­ses Mär­chen nicht auf­ge­bun­den, son­dern ihm auf­rich­tig ge­sagt, er traue sich nicht mit un­se­rem Süß­was­ser­kas­ten über eine be­weg­te See. We­ni­ger ehr­lich war er in sei­ner Aus­kunft über den Füh­rer­lohn ge­we­sen; nach lan­gem Zö­gern hat­te er für die Stell­ver­tre­tung 400 Mark be­wil­ligt und hin­zu­ge­fügt, jetzt blei­be ihm nichts mehr als das Rei­se­geld für die Rück­fahrt nach Ham­burg. (Wir er­fuh­ren dies frei­lich erst auf ho­her See von dem Er­satz­mann, der nicht we­nig un­ge­hal­ten dar­über war, nun von uns zu hö­ren, dass sein Kol­le­ge mor­gen in Ham­burg für die Füh­rung 1300 Mark ein­strei­chen wird.)

Un­ser neu­er Lot­se, ein Krab­ben­fi­scher, kennt sich auf dem Wat­ten­meer so ge­nau aus wie in den Ta­schen sei­ner tran­ge­tränk­ten Hose – je­doch kann er nicht in die­se Ta­schen, da sei­ne Was­sers­tie­fel bis zum Schritt rei­chen. Auch er be­sieht un­sern Ma­schi­nen­raum nicht be­sorg­nis­los, denn einen Damp­fer ohne Süß­was­ser­re­ser­voir und ohne De­stil­la­tor für Salz­was­ser hat er wohl noch nie in sei­nem lan­gen See­le­ben ge­se­hen. Mit die­ser Nuss­scha­le soll man über den Ozean? Er lugt auf Ven­ti­la­tor und Glas­stän­der, klopft Röh­ren und Kon­den­sa­tor ab; auf un­se­rer Fahrt durch das Brack­was­ser hat sich noch nicht viel Salz an­ge­setzt, und un­se­re Kes­sel könn­ten auch drei Tage durch Salz aus­hal­ten, ent­schei­det er. Die Tros­sen, mit de­nen Ka­min und Ret­tungs­boot fest­ge­macht sind, prüft er noch­mals.

Um neun Uhr mor­gens (7. Ok­to­ber) stach T. M. S. »Lan­na 8« in See, die »Alte Lie­be«, den Mo­lo­kopf von Cux­ha­ven, run­dend. Fort Ku­gel­ba­ke, so­zu­sa­gen der Grenz­stein zwi­schen Elbe und Welt­meer, liegt erst vor uns, aber wir spü­ren das Jen­seits schon jetzt. Luft ist wie Meer: sal­zig und nass. – Und der Wind lässt uns tau­meln. – Der alte Ma­schi­nist Stru­ha, seit sech­zehn Jah­ren haust er da un­ten im Kes­sel­raum von »A. Lan­na 8«, hat kein Ver­trau­en zu dem flüs­si­gen Salz, das auch den Spei­se­röh­ren sei­nes Kes­sels gar nicht schme­cken will. Pods­kal hat kei­nen Molo und Pelc-Ti­rol­ka kei­nen Leucht­turm – hier aber steckt al­les voll von sol­chen Kin­ker­litz­chen (sra­cicky), und Kom­pass und Rie­sen­see­kar­te sind auch nicht dazu an­ge­tan, be­ru­hi­gend zu stim­men: Wie soll man sich auf dem Was­ser aus­ken­nen, wo kei­ne be­kann­ten Ufer, ja über­haupt kei­ne Ufer und kei­ne be­kann­ten Gast­häu­ser, ja über­haupt kei­ne Wirts­häu­ser sind? Beim Wen­za Ku­ce­ra im Ha­fen­wirts­haus in Hol­le­scho­witz wäre uns al­len woh­ler, ob­wohl der ein al­ter Gro­bi­an ist.

»Wenn’s sa­kra­men­tisch wird«, so macht der alte Stru­ha sein Te­sta­ment, »wenn’s sa­kra­men­tisch wird, dann ver­kriech ich mich im Ma­schi­nen­raum, dass es mich nicht hin­aus­wer­fen kann …«

Der Kom­man­da­to­re von »A. Lan­na 8«, Herr Jirsch, war Zug­füh­rer bei den Pio­nie­ren und hat die Tag­lia­men­to­mün­dung be­fah­ren, und der Boots­mann, der Fran­ta Cihlarík, ist sehr stolz auf sei­ne Kar­rie­re bei der k. u. k. Kriegs­ma­ri­ne. »Já byl5 Boots­manns­maat-Tor­pe­do­in­spek­tor pane!«6

An »Elbe V« kom­men wir vor­über, dem ers­ten der fünf Leucht­schif­fe, die die Ha­fen­aus­fahrt flan­kie­ren; die Be­man­nung die­ser Si­gnal­schif­fe ist sechs Wo­chen an Bord, dann vier­zehn Tage auf Ur­laub an Land, jahraus, jahrein. Ein Mo­tor­boot jagt hin­ter uns her und preit uns an: »Reichs­was­ser­schutz! Halt!« Die Po­li­zis­ten sprin­gen auf Deck und las­sen sich un­se­re Pa­pie­re vor­wei­sen; es er­gibt sich, dass wir kei­ne Schie­ber sind, die un­ter frem­der Flag­ge ein deut­sches Schiff ins Aus­land ver­scha­chern wol­len, wir ha­ben bloß in Un­kennt­nis der Ver­hält­nis­se es un­ter­las­sen, das Du­pli­kat der Aus­fahrts­be­wil­li­gung, vom Reichs­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um (Schiff­fahrts­ab­tei­lung) aus­ge­stellt, ab­zu­ge­ben.