Paradies Amerika - Egon Erwin Kisch - E-Book

Paradies Amerika E-Book

Egon Erwin Kisch

0,0

Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Mit 193 Fußnoten und einem Vorwort von Kurt Tucholsky Kisch liefert in seiner umfangreichen Reportagesammlung, für die er als unerwünschter Kommunist inkognito recherchieren musste, eine unterhaltsame, aber auch ungeschönte Beschreibung des amerikanischen Alltags am Anfang des 20. Jahrhunderts. Es werden die Entrechteten gezeigt und die Ausgebeuteten – die, die den amerikanischen Traum immer hinterjagen; und die erschöpften Seeleute, die Fließbandarbeiter bei Ford oder die Gefängnisinsassen ohne Hoffnung, weil sie der Todesstrafe entgegensehen. Kischs vom Zynismus geschärfter Blick zeigt uns die Spekulanten der Wall Street und die "wild gewordenen" Immobilienmakler, Menschen also, die mit der Arbeit anderer und durch einen Federstrich mehr verdienen, als sie je in ihrem Leben ausgeben können. Der Autor führt uns auch mit viel Humor durch den Wilden Westen und in das Hollywood Chaplins. Zu guter Letzt darf der Leser auch noch die Bekanntschaft machen mit der Amerikanischten aller Sportarten: dem Football, das aber in den Augen des Verfassers nicht wirklich gegen das "richtige" Fußball, also das Europäische ankommen mag. Ist Amerika das Paradies? Ja, aber – wie Tucholsky in seiner Besprechung anführt – letztlich nur für die Unternehmer. Ein Buch, das auch heute geschrieben worden sein könnte und das Kischs einzigartiges Können unter Beweis stellt. Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Egon Erwin Kisch

Paradies Amerika

Egon Erwin Kisch

Paradies Amerika

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, 1973, 1993 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-69-8

null-papier.de/667

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vo­wort

Der Dok­tor Be­cker vor den Pfor­ten des Pa­ra­die­ses

Vora­bend, Tag und Nacht der Prä­si­den­ten­wahl

Kä­fi­ge in Kä­fi­gen, die in Kä­fi­gen ste­cken

Ka­pi­tol und Ka­pi­ta­le

Ta­ge­buch vom New Yor­ker Ha­fen

I. Ei­sen­bah­nen auf dem Was­ser

II. Ha­fen­ar­bei­ter

III. Die Ka­ta­stro­phe des Schwes­ter­schiffs

IV. Las seño­ras in­vi­ta­das

V. Hel­ler Tag vor Weih­nach­ten

VI. Der west­li­che Rand des Ha­fens

VII. Das Ufer im Os­ten

VIII. See­manns­hei­me

IX. Ge­stran­de­te See­fah­rer

X. Wa­rum fehlt hier der Ruf zur Ma­ri­ne?

Har­lem – Fe­ge­feu­er der Ne­ger

Ers­tes Ge­spräch mit Up­ton Sin­clair

Ge­fäng­nis­se auf ei­ner In­sel im East Ri­ver

Als Leicht­ma­tro­se nach Ka­li­for­ni­en

Fau­ler Zau­ber

I. Wild-West

II. Die gute ehr­li­che Per­spek­ti­ve

In­di­vi­dua­li­tät, er­zeugt am lau­fen­den Band

Hil­fe! Grund­stücke sind ver­rückt ge­wor­den

Sechs­tau­send Mal: ›No­thing in!‹

Bag­ger­ma­schi­nen bag­gern Gold

Kri­mi­na­lis­tik in Wa­shing­ton

Sei­ne Ma­je­stät der Kau­gum­mi

Nächt­li­ches Ge­richt

Mut­ter­see­len­al­lein in Phil­adel­phia

Men­schen­han­del in Hol­ly­wood

Über Kon­fek­ti­ons­ar­bei­ter

Fried­hof rei­cher Hun­de

Bil­der­bo­gen: Tiefs­tes Chi­ca­go

I. Der Men­schen­markt

II. Flop­town

III. Die Kuh der Frau O’Lea­ry

IV. Die Bom­be

V. Die Stra­ßen­kreu­zung der Blut­ra­che

VI. Der Trö­del­markt

VII. Wer kennt die Völ­ker

VIII. Re­vo­lu­ti­on der Deut­schen

Eine Bank in Wall Street

Hen­kers­mahl­zeit, ver­ab­reicht von Mis­ter Stein

Film­ko­stü­me

Mum­men­schanz und Quä­ker­stadt

Sein Lied­chen bläst der Po­stil­lon

In ei­nem Thea­ter, das er­schos­sen wur­de

Tech­ni­sche Wun­der­wer­ke der Wun­der­stadt Chi­ca­go

Die Bal­la­de von Sut­ter’s Fort

Ar­beit mit Char­lie Chap­lin

Mit den Schwarz­fah­rern der Ozea­ne

Ge­trei­de­bör­se

In je­dem Schub­fach eine Lei­che

Hol­ly­woods Na­tur, Kul­tur und Skulp­tur

Bei Ford in De­troit

Und das nennt sich Fuß­ball!

I. Vor der Ab­fahrt zum Wett­spiel

II. Am Rand des Spiel­fel­des

III. Starr vor Stau­nen im Sta­di­on

IV. Prälu­di­um des Spiels

V. Die Ein­peit­scher der Ek­sta­se

VI. Der Ball

VII. Na­tur­ge­schich­te des Spiels

VIII. Der Spiel­ver­lauf

IX. Wie wird an­ge­wor­fen?

X. Der rein sym­bo­li­sche Ball

XI. 45.000 Steh­auf­männ­chen

XII. Kri­ti­sche Be­trach­tun­gen des Dok­tor Be­cker

XIII. Re­sul­tat und Skalp

Vier­zehn Din­ge in Sing Sing

Eine Stadt macht nichts als Hüte: Dan­bu­ry

»Tol­le Kis­te«

Er­lebt zwi­schen Hol­ly­wood und San Fran­cis­co

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Vowort

Das? Das ist die ita­lie­ni­sche En­kla­ve, wo­hin die Ita­lie­ner im­mer ihre po­li­ti­schen Geg­ner lo­cken ... (Chor der Fa­schis­ten: »Im­mer! Ein­mal!«) – Ein­mal ist auch ganz schön. »Herr Ros­si hat sich frei­wil­lig auf ita­lie­ni­sches Ge­biet be­ge­ben ... « Ich habe in Pa­ris die jun­ge Dame ge­se­hen, der er da­mals, wie der Zu­fall spielt, ah­nungs­los und frei­wil­lig in sein Ver­der­ben folg­te. Zwan­zig­jäh­rig-frei­wil­lig. Zwan­zig Jah­re Zucht­haus habt ihr ihm auf­ge­brummt, oder wa­ren es drei­ßig? So ge­nau kommt das in Ita­li­en nicht drauf an. Fällt in Russ­land ein Schuss, dann steht Eu­ro­pa auf dem Kopf, wo­mit nicht ge­sagt sein soll, dass die­se Schüs­se zu be­ja­hen sei­en. Quält aber Mus­so­li­ni sei­ne Ita­lie­ner zu Tode, so ist es still – still, von der Bank von Eng­land über die fran­zö­si­sche Bör­se bis zur Burg­stra­ße. Es kommt eben im­mer dar­auf an, für wen man ter­ro­ri­siert ... Ame­ri­ka, du hast es bes­ser als un­ser Kon­ti­nent, der alte –

Nein, doch nicht. Egon Er­win Kisch zeigt uns, dass es hohe Zeit ist, die deut­sche Stra­ßen­mei­nung über Ame­ri­ka zu re­vi­die­ren; das Land sieht doch an­ders aus, als es sich auf den Ver­gnü­gungs­rei­sen be­am­te­ter Nichts­tu­er prä­sen­tiert. ›Pa­ra­dies Ame­ri­ka‹ heißt Kischs Buch (bei Erich Reiß in Ber­lin er­schie­nen). Ame­ri­ka ist ein Pa­ra­dies. Der Un­ter­neh­mer.

E. E. Kisch hat eine Ei­gen­tüm­lich­keit, die ich im­mer sehr be­jaht habe: Er sieht sich in frem­den Län­dern al­le­mal die Ge­fäng­nis­se an. Denn maß­ge­bend für eine Kul­tur ist nicht ihre Spit­zen­leis­tung; maß­ge­bend ist die un­ters­te, die letz­te Stu­fe, jene, die dort ge­ra­de noch mög­lich ist. Wir kön­nen Grie­chen­land nicht so se­hen, wie Ja­cob Burck­hardt es uns ge­schil­dert hat: Grie­chi­sche He­lo­ten sind wich­tig, min­des­tens so wich­tig wie Pra­xi­te­les und die ewig strah­len­de Son­ne.

Kisch hat in Ame­ri­ka viel ge­se­hen, und er hat, was er ge­se­hen, gut er­zählt, le­ben­dig er­zählt, frisch er­zählt. Man hat nicht den Ein­druck, er sei nun hin­ge­gan­gen, um auf alle Fäl­le in Ame­ri­ka al­les schlecht zu fin­den – aber er ist mar­xis­tisch ge­schult und lässt sich nichts vor­ma­chen. Nur ein Ame­ri­ka­ner wird be­ur­tei­len kön­nen, ob er nun auch al­les ganz so ge­se­hen hat, wie es wirk­lich ist – aber wie ›ist‹ ein Land? Der das Land be­herrscht, wird ein andres Bild ha­ben als der, der es er­lei­det; Kisch ist bei den Lei­den­den ge­we­sen. Das Buch ent­hält eine Fül­le von Ma­te­ri­al; ein Glanz­stück bes­ter Dar­stel­lungs­kunst ist das Ka­pi­tel von der Küs­ten­schiff­fahrt nach Ka­li­for­ni­en. Es sind klei­ne Bil­der aus ei­nem großen Lan­de, Roh­ma­te­ri­al für jene ge­wich­ti­gen Bü­cher, die die ›geis­ti­gen Strö­mun­gen ei­nes Lan­des‹ un­ter­su­chen, meist, ohne dass die Ver­fas­ser die Quel­len kenn­ten. Wer eine Ar­bei­ter­bi­blio­thek ver­wal­tet, soll­te das Buch Kischs an­schaf­fen.

Kurt Tuchols­ky, 1930

Der Doktor Becker vor den Pforten des Paradieses

Der Dok­tor Be­cker,1 so sei un­ser Mann ge­nannt, ist mit schwan­ken­den Ge­füh­len an Bord des eng­li­schen Pas­sa­gier­damp­fers.

Nicht des­halb schwan­ken sei­ne Ge­füh­le, weil das Schiff stampft und stößt, nicht des­halb, weil des Dok­tor Be­cker Schlaf­stel­le ge­ra­de über der Schrau­ben­wel­le liegt, und nicht des­halb, weil das Spei­se- so­wie das Rauch­zim­mer sei­ner Klas­se in­fol­ge der Ma­schi­nen­be­we­gung wi­der­lich vi­brie­ren.

Mitt­schiffs2 woh­nend, spü­ren die Pas­sa­gie­re der zwei­ten und gar die der ers­ten Klas­se das Stamp­fen und Sto­ßen des Damp­fers be­deu­tend we­ni­ger, den Gang der Schrau­be über­haupt nicht. Über­dies sind sie ab­ge­lenkt durch Spa­zier­gän­ge auf ei­nem hun­dert Me­ter lan­gen ge­boh­ner­ten Pro­me­na­den­deck und durch Dar­bie­tun­gen von Jazz­band und Sän­gern, de­ren klang­li­che Rei­ze ein Laut­spre­cher zu den Pas­sa­gie­ren der min­der­be­mit­tel­ten Klas­sen leut­se­lig wei­ter­lei­tet.

Die min­der­be­mit­tel­ten Klas­sen, zu de­nen der Dok­tor Be­cker ge­hört, hau­sen im Zwi­schen­deck, aber sie hei­ßen bei­lei­be nicht »Zwi­schen­deck­pas­sa­gie­re«; wenn eine In­sti­tu­ti­on öf­fent­lich kom­pro­mit­tiert ist, än­dert man kur­zer­hand ih­ren Na­men. Das Zwi­schen­deck ist also ab­ge­schafft wor­den, in­dem man es hal­bier­te und je­der Hälf­te eine an­de­re Be­nen­nung gab: »Tou­ris­ten­klas­se« hin­ten und »Drit­te Klas­se« vor­ne. Die­se bei­den Sub­spe­zi­es un­ter­schei­den sich von­ein­an­der haupt­säch­lich durch den Fahr­preis, durch den Rei­se­zweck der Pas­sa­gie­re (die der drit­ten Klas­se sind zu­meist Aus­wan­de­rer mit vie­len Kin­dern) und durch die Be­hand­lung. So zum Bei­spiel tra­gen die Ab­or­te der Tou­ris­ten­klas­se die Auf­schrif­ten »Gent­le­men’s La­va­to­ry« und »La­dies’ La­va­to­ry«, wäh­rend auf je­nen der drit­ten Klas­se nur »For Men« be­zie­hungs­wei­se »For Wo­men« steht, noch dazu in al­len eu­ro­päi­schen Spra­chen, weil man bei solch arm­se­li­gem Pack die Kennt­nis des Eng­li­schen nicht vor­aus­setzt.

Der Dok­tor Be­cker hät­te auf die Ta­fel »Gent­le­men’s La­va­to­ry« gern ver­zich­tet, wenn er da­für sei­ne zwi­schen ei­ser­ne Wan­ten und Trä­ger ge­dräng­te Ka­bi­ne nicht mit drei Schlaf­ge­nos­sen tei­len müss­te, ob­wohl er von ih­nen et­was ler­nen könn­te: von dem einen, wie man vor dem Schla­fen­ge­hen sei­ne Hä­mor­rhoi­den kunst­ge­recht be­han­delt, von dem an­de­ren, wie man sich die Nä­gel der Ze­hen schnei­det, ohne da­bei die St­rümp­fe aus­zu­zie­hen.

Wie­der­holt blickt der Dok­tor Be­cker in die Ge­fil­de der obe­ren Klas­sen, wo we­ni­ger Be­gab­te sei­ner Be­rufs­ge­nos­sen oft­mals die Fahrt über den Gro­ßen Teich un­ter­neh­men, sol­che, die in den ru­hi­gen Wo­gen ei­ner ge­neh­men Wel­t­an­schau­ung, ohne zu stamp­fen und zu sto­ßen, erst­klas­sig die Welt durch­strei­fen dür­fen. Er be­nei­det sie nicht um ihre ei­ge­ne Ka­jü­te,3 ob­wohl der Dok­tor Be­cker sich mit der schwarz­äu­gi­gen un­ga­ri­schen Tischnach­ba­rin zwei­fel­los bes­ser an­ge­freun­det hät­te, wenn er nicht zu viert in sei­ner Ka­bi­ne und sie nicht zu viert in ih­rer Ka­bi­ne steck­te. Der Dok­tor Be­cker be­nei­det sei­ne be­güns­tig­ten Vor­fah­ren und Nach­fah­ren auch nicht dar­um, dass auf dem Pro­me­na­den­deck die Fel­der des »Shuffle­board«-Spie­les mit Lack für im­mer auf­ge­malt sind, die­weil sie auf dem Zwi­schen­deck täg­lich mit Krei­de auf­ge­zeich­net wer­den müs­sen. Er be­nei­det sie auch nicht dar­um, dass ih­nen der An­schau­ungs­un­ter­richt er­spart wird, wie man vor dem Zu­bett­ge­hen sei­ne Hä­mor­rhoi­den kunst­ge­recht be­han­delt und wie man sich die Nä­gel der Ze­hen schnei­det, ohne die (al­ler­dings in ei­ner dazu ge­eig­ne­ten Wei­se zer­ris­se­nen) St­rümp­fe aus­zu­zie­hen.

Nein. Er be­nei­det sie – wenn an­ders er sie über­haupt be­nei­det – nur dar­um, dass sie die wei­te Fahrt nicht mit so ge­misch­ten Ge­füh­len zu­rück­le­gen müs­sen wie er.

Wa­rum aber, sag an, sind die­se Ge­füh­le des Dok­tor Be­cker ge­mischt? Die Ge­füh­le des Dok­tor Be­cker sind ge­mischt aus Freu­de und Be­fürch­tung.

Die Freu­de des Dok­tor Be­cker, all­ge­mei­ner Na­tur und leicht er­klär­lich, ist die Freu­de, einen neu­en Welt­teil zu se­hen, Ame­ri­ka, das Land, das un­vor­stell­ba­re, am un­vor­stell­bars­ten nach den Rei­se­schil­de­run­gen. Sei­ne Freu­de wird von der si­che­ren Er­war­tung be­stimmt, dass Ame­ri­ka, das kein Al­ter­tum und kein Mit­tel­al­ter be­sitzt, so­zu­sa­gen der Kas­par Hau­ser4 un­ter den Welt­tei­len, sich un­mög­lich in sei­ner Ent­wick­lung dar­auf be­schränkt ha­ben kann, die Ent­wick­lung der Al­ten Welt ein­zu­ho­len oder zu über­ho­len, also Kra­wat­ten und Wes­ten und Ho­sen­trä­ger und Re­li­gio­nen und Schmin­ken und Bank­häu­ser und Po­li­zei­spit­zel und Bör­sen­ge­schäf­te und Kitsch­fil­me zu er­fin­den und zu ver­voll­komm­nen.

Was aber die Be­fürch­tung un­se­res Freun­des an­langt, so ist sie schon mehr per­sön­li­cher Na­tur. Sie lau­tet: Wer­de ich, der Dok­tor Be­cker, denn über­haupt die­ses Ame­ri­ka zu se­hen be­kom­men? Wer­den sich die für die Rei­se ver­aus­gab­ten Geld- und Zeit­mit­tel nicht als her­aus­ge­wor­fen er­wei­sen, in­dem man mich, den Dok­tor Be­cker, gar nicht das Land be­tre­ten lässt, son­dern ent­we­der zum nächs­ten nach Eu­ro­pa zu­rück­fah­ren­den Schiff bringt oder aber auf der Aus­wan­de­r­er­sta­ti­on El­lis Is­land zu­rück­be­hält, bis sich mein, des Dok­tor Be­cker, Cha­rak­ter als Schwind­ler und Fäl­scher her­aus­ge­stellt hat und mei­ne, des Dok­tor Be­cker, Trans­por­tie­rung nach Sing Sing ge­wiss ist?

Ja, un­ser Freund – sol­len wir ihn denn über­haupt noch so nen­nen? – ist in ame­ri­ka­ni­schem Sin­ne durch­aus übel. Be­reits drei­mal hat man ihm das Ein­rei­se­vi­sum ver­wei­gert. Ein­mal, weil sein Pass durch rus­si­sche Sicht­ver­mer­ke stig­ma­ti­siert war, we­gen welch ver­däch­ti­gen Um­stan­des man er­klär­te, erst im Pres­se­de­par­te­ment Er­kun­di­gun­gen ein­ho­len zu müs­sen; dar­auf ließ es der Dok­tor Be­cker nicht erst an­kom­men. Und als er ein an­de­res Mal, in ei­ner an­de­ren Stadt mit ei­nem an­de­ren Pass, um Ein­rei­se­be­wil­li­gung vor­stel­lig wur­de, be­durf­te es kei­ner Er­kun­di­gung beim Pres­se­de­par­te­ment mehr, um ihm zu sa­gen, dass er sich durch die öf­fent­li­che Be­haup­tung, an Sac­co und Van­zet­ti5 wer­de ein bar­ba­ri­scher Jus­tiz­mord ver­übt, für jetzt und ewi­ge Zei­ten das Recht ver­scherzt habe, Got­tes ei­ge­nes Land zu be­tre­ten. Das drit­te Mal, als der Dok­tor Be­cker über sei­ne Schuld Gras ge­wach­sen glaub­te, er­ging es ihm eben­so.

Sei­ne Freun­de rie­ten ihm nun, er möge bei der ame­ri­ka­ni­schen Kon­su­l­ar­be­hör­de ei­nes an­de­ren Lan­des sein Glück ver­su­chen oder sich ein ge­fälsch­tes Vi­sum be­sor­gen oder durch Be­ste­chung ein ech­tes Vi­sum oder mit frem­den Pa­pie­ren rei­sen und der­glei­chen. Alle die­se Vor­schlä­ge wies der Dok­tor Be­cker weit von sich und nahm nur einen ein­zi­gen an.

Mit Hil­fe des­sel­ben be­fand er sich also an Bord des eng­li­schen Damp­fers und auf der Fahrt nach Ame­ri­ka, wor­über er Freu­de emp­fand, wäh­rend er gleich­zei­tig die Be­fürch­tung heg­te, drü­ben zu­min­dest nicht an Land ge­las­sen zu wer­den.

Schrift­lich er­klärt und eh­ren­wört­lich be­kräf­tigt hat­te der Dok­tor Be­cker, dass er die ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung durch­aus an­er­ken­ne, dass er den ge­walt­sa­men Sturz von Re­gie­run­gen mit­nich­ten gut­hei­ße, dass er we­der An­ar­chist sei noch Kom­mu­nist.

Im Üb­ri­gen gab sich der Dok­tor Be­cker der Beo­b­ach­tung des Le­bens und Trei­bens hin, das sich auf dem Schiff ent­fal­te­te.

Im Ha­fen von Southamp­ton, noch auf der Fahrt längs der eng­li­schen Küs­te und bis hin­über nach Cher­bourg, wo die kon­ti­nen­ta­len Pas­sa­gie­re das Schiff be­tra­ten, hat­te sich be­sag­tes Le­ben und Trei­ben fröh­lich an­ge­las­sen. Mun­te­re Mäd­chen, an­schei­nend fünf­zehn bis sieb­zehn Jah­re alt, hüpf­ten über al­les Schiffs­ge­rät und turn­ten auf der Re­ling, die Rö­cke we­hen und die Hö­schen se­hen las­send. Erns­te Män­ner wür­fel­ten im Rauch­zim­mer bei Gin, Bran­dy, Whis­ky und Cock­tails. Da­men spiel­ten im Auf­ent­halts­raum Kla­vier, dass es eine Art hat­te, manch­mal sang je­mand dazu oder tanz­te gar. Jün­ge­re Leu­te schrie­ben in ihr Ta­ge­buch die Stun­de der Ab­fahrt ein und no­tier­ten vor ei­ner Ta­fel, dass das Schiff heu­te 487 eng­li­sche Mei­len zu­rück­ge­legt habe. Am Mit­tags­tisch un­ter­hielt man sich und wuss­te als­bald von je­dem Mit­rei­sen­den, ob er nach St. Louis oder nach Phil­adel­phia fah­re und die wie viel­te sei­ner See­rei­sen es sei.

Im Ne­ben­zim­mer war für kin­der­rei­che Fa­mi­li­en ge­deckt, und dort saß auch, al­lein an ei­nem Tisch, ein Ne­ger, ein äl­te­rer, an­schei­nend stu­dier­ter Mann mit Bril­le, und ver­zehr­te sei­ne Mahl­zei­ten. Dar­über wun­der­ten sich ei­ni­ge Eu­ro­pä­er und er­fuh­ren, kein Ame­ri­ka­ner wür­de mit ei­nem co­lo­red man, ei­nem Far­bi­gen, an ei­nem Tisch sit­zen. Wun­der­ten sich die ei­ni­gen Eu­ro­pä­er wei­ter­hin, so er­hiel­ten sie die über­le­ge­ne Ant­wort: »Sie wer­den an­ders über die Nig­gers den­ken, wenn Sie erst ein paar Wo­chen in Ame­ri­ka ge­we­sen sind!«

Kann sein, kann sein, viel­leicht sind nur wir Eu­ro­pä­er so när­ri­sche »sen­ti­men­ta­lists«, die Ne­ger auch für Men­schen zu hal­ten. War­ten wir’s ab, um an­ders über die Nig­gers zu den­ken, wenn wir erst ein paar Wo­chen in Ame­ri­ka ge­we­sen sind.

Kurzum, an­fangs war es an Bord kurz­wei­lig und be­leh­rend. Aber all­zu bald mach­te sich der At­lan­ti­sche Ozean, den man bei­na­he über­se­hen hät­te, be­merk­bar. Er schlug Wel­len, das Sch­lin­gern und Sto­ßen und Stamp­fen be­gann. Die Ma­schi­nen rat­ter­ten in die Ge­hir­ne und Ma­gen­mus­keln, es war zum Kot­zen, und man tat dies auch.

Auf Deck wur­de es sehr öde, in den Auf­ent­halts­räu­men und im Re­stau­rant des­glei­chen. Nachts lag man auf schma­lem Bett, doch schütz­ten zwei Bret­ter vor dem Her­aus­fal­len. Es war we­ni­ger ein Bett als ein Sarg, ein Ar­me­sün­der­sarg, ein Na­sen­quet­scher. Am Kop­fen­de brach­te der Ste­ward ein Körb­chen mit Pa­pier­ein­la­ge an, die, wenn sie zum Bre­chen voll war, durch eine neue er­setzt wur­de. Au­ßer­dem wa­ren für vier Per­so­nen zwei Was­ser­glä­ser zum Trin­ken und Gur­geln, ein Wasch­be­cken und zwei Nacht­töp­fe vor­han­den. Die Luft da un­ten war – ohne Über­trei­bung – dem­ge­mäß.

Nach zwei bis drei Ta­gen trie­ben die­se Luft und der Hun­ger die Men­schen wie­der nach oben, ob­wohl es kaum leicht war, sich in die­sem Zu­stand an­zu­klei­den, sei­ne Hä­mor­rhoi­den in Ord­nung zu brin­gen und die Stie­gen em­por­zutau­meln, em­por­zu­wan­ken.

So ver­sam­mel­ten sich auf dem Deck ei­ni­ge Frau­en von etwa vier­zig Jah­ren, die sich ge­bro­chen auf die Lie­ge­stüh­le war­fen, wo­bei eine Bri­se die Rö­cke we­hen und die Hö­schen se­hen ließ und sol­cher­art der Be­schau­er ver­blüfft er­kann­te, dass die ält­li­chen Da­men mit den hüp­fen­den, tur­nen­den Back­fi­schen vom Rei­se­be­ginn iden­tisch sei­en.

Lang­sam ka­men Män­ner ins Rauch­zim­mer, sie wa­ren blass ge­wor­den, und es dau­er­te ge­raum, be­vor ih­nen der Bran­dy wie­der schmeck­te, den sie vor­erst nur zur Stär­kung zu sich nah­men, und dann der Whis­ky, der Gin, der Por­ter und die Cock­tails.

Am ra­sche­s­ten wa­ren die kla­vier­spie­len­den La­dies auf ih­ren Pos­ten und die Kin­der, die zu die­sen Klän­gen hops­ten. Auf Deck wur­de Schiffs­ten­nis ge­spielt, als Ball diente ein Kaut­schu­kring, den man mit der Hand fan­gen und wie­der übers Netz schleu­dern muss. An­de­re Ver­gnü­gun­gen be­ste­hen dar­in, Gum­mischei­ben auf num­me­rier­te Fel­der ei­nes Bret­tes zu wer­fen oder Rin­ge über eine Stan­ge. Haupt­sport ist »Shuffle­board«, das Schie­ben von Holz­schei­ben in eine mit Num­mern mar­kier­te, etwa vier Me­ter ent­fern­te Flä­che.

Ge­sprä­che kom­men in Fluss, und vie­le äu­ßern Angst, bei der Lan­dung Schwie­rig­kei­ten zu be­geg­nen. Manch­mal ver­lan­ge das ame­ri­ka­ni­sche Ar­beitsamt eine Kau­ti­on von fünf­hun­dert Dol­lar von de­nen, die nur ein Be­suchs­vi­sum ha­ben, da­mit sie das Ein­wan­de­rungs­ge­setz nicht um­ge­hen und kei­ne Ar­beit im Lan­de an­neh­men; manch­mal leh­ne der vom Ein­rei­sen­den als Bür­ge an­ge­ge­be­ne ame­ri­ka­ni­sche Bür­ger die Bürg­schaft ab, und der­glei­chen.

Er­fah­re­ne Ame­ri­kafah­rer ver­scheu­chen die­se Sor­gen. Es sei längst nicht mehr so streng mit der Ein­wan­de­rungs­kon­trol­le. Nie­mand wer­de zu­rück­ge­schickt, der das Vi­sum hat. Nur mit den Bol­sche­wis­ten ma­che man kei­ne Ge­schich­ten, da sei man un­er­bitt­lich. Es gäbe sol­che, die sich das Vi­sum er­schlei­chen, aber man kom­me im­mer dar­auf, die Pas­sa­gier­lis­ten wer­den ja vor­her nach New York ge­sandt, und dort habe die Po­li­zei die ge­naues­ten il­lus­trier­ten Ver­zeich­nis­se von al­len po­li­tisch An­rü­chi­gen der gan­zen Welt.

Was dem Dok­tor Be­cker fer­ner miss­fällt, ist: von Zeit zu Zeit taucht im Be­reich der min­der­be­mit­tel­ten Pas­sa­gier­klas­se ein stäm­mi­ger jun­ger Mann mit un­lo­gi­scher Horn­bril­le auf, der zwar an­gibt, zum ers­ten Mal nach USA zu fah­ren, sich aber kun­dig durch die ver­bo­tens­ten Tü­ren des Damp­fers be­wegt. Er hat, von der be­vor­ste­hen­den Prä­si­den­ten­wahl aus­ge­hend, den Dok­tor Be­cker in ein po­li­ti­sches Ge­spräch ge­zo­gen. Wie gern wä­ren wir hin­zu­ge­tre­ten und hät­ten dem Dok­tor Be­cker zu­ge­raunt, auf kei­nen Fall et­was zu ant­wor­ten! Zu spät, der Dok­tor Be­cker ent­wi­ckel­te dem Frem­den be­reits sei­ne po­li­ti­sche Mei­nung, be­kann­te sich mu­tig und of­fen zur Ja­ros­lav Hašek­schen6 »Par­tei ei­nes ge­mä­ßig­ten Fort­schritts im Rah­men der Ge­set­ze«; er sei zwar Re­pu­bli­ka­ner und De­mo­krat, sag­te der Dok­tor Be­cker, leh­ne es je­doch ent­schie­den ab, in den Cho­rus de­rer ein­zu­stim­men, die den ent­thron­ten Fürs­ten einen Esel­stritt ver­set­zen, da die­se doch al­le­samt ent­sa­gungs­voll nur dem Woh­le ih­rer Un­ter­ta­nen ge­dient ha­ben und nie­mand an ihre Wie­der­kehr den­ke.

In die­sem Au­gen­blick kam eine Sturz­wel­le, die schwarz­äu­gi­ge un­ga­ri­sche Dame, zu­fäl­lig da­ne­ben ste­hend, übergab sich, und die po­li­ti­sche De­bat­te war so­mit in ad­äqua­ter Wei­se be­en­det.

Wei­ter geht die Fahrt, und es scheint, als ob die Tur­bi­nen sich all­mäh­lich von der See­krank­heit er­ho­len. Die Kar­te im Rauch­raum zeigt Ta­ges­leis­tun­gen von 535 Mei­len.

Ei­ni­ge jun­ge Ame­ri­ka­ne­rin­nen las­sen sich von Dok­tor Be­cker die Grund­be­grif­fe der deut­schen Spra­che bei­brin­gen und la­chen sich schief dar­über, dass »Kind« säch­li­chen Ge­schlech­tes sei, un­be­scha­det, ob es einen Kna­ben oder ein Mäd­chen be­deu­te. Ki­chernd su­chen sie un­ter dem Tisch des­sen männ­li­ches Ge­schlechts­merk­mal, da sie hö­ren, man sage: »Der Tisch«. Als aber »Fräu­lein« und »Mäd­chen« als Neu­tra be­zeich­net wer­den, prus­ten sie her­aus und ren­nen da­von.

Zwi­schen der ver­schäm­ten drit­ten Klas­se und der un­ver­schäm­ten kann man, ob­wohl es nicht er­laubt ist, einen Spa­zier­gang wa­gen, tief un­ter den pri­vi­le­gier­ten We­gen. Die­ser sub­ma­ri­ne Weg vom Heck zum Bug7 führt an den Ma­schi­nen­räu­men vor­bei, aus de­nen hef­tig wie Faust­hie­be die Hit­ze em­por­schlägt. Auf der an­de­ren Sei­te des Kor­ri­dors: Schlaf­s­tät­ten und Auf­ent­halts­räu­me der Be­man­nung; nack­te Men­schen sit­zen da, vom Öldampf und der Glut sich er­ho­lend. An den Wän­den hän­gen die Vor­schrif­ten für den Fall von Alarm, Schiffs­zu­sam­men­stoß, Feu­ers­brunst oder Ne­bel. Die Mann­schaft hat aus­zu­har­ren auf ih­rem Pos­ten, bis die Pas­sa­gie­re ge­ret­tet sind. Ein Pla­kat ver­bie­tet, Mor­phi­um, Ko­kain, He­ro­in und Ec­go­ma­nin zu schmug­geln. Stra­fe bis zu tau­send Pfund Ster­ling und bis zu zehn Jah­ren Zwangs­ar­beit wird an­ge­droht.

Am vor­letz­ten Tag, wäh­rend die Fahr­gäs­te beim Abend­brot sit­zen, fin­det ein See­manns­be­gräb­nis statt. Ein Ar­bei­ter, der die Pa­ketsen­dun­gen für das mor­gen aus dem New Yor­ker Ha­fen kom­men­de Post­schiff vor­be­rei­te­te, stürz­te einen drei­ßig Me­ter tie­fen Schacht hin­ab und blieb zer­schmet­tert lie­gen. Er war drei­und­zwan­zig Jah­re alt, Frau und Kind le­ben in Ame­ri­ka und wer­den mor­gen wahr­schein­lich glück­strah­lend auf dem Pier sei­ner war­ten. Die Lei­chen­tei­le wur­den in ein mit Blei­stücken be­schwer­tes Stück Stoff ge­näht, das eng­li­sche Ban­ner dar­über­ge­brei­tet, der Ka­pi­tän liest ein Ge­bet, und auf zwei Sei­len lässt man den To­ten hin­ab.

Die Ar­bei­ter keh­ren von der To­ten­fei­er zu den Ma­schi­nen zu­rück, an den Pas­sa­gie­ren vor­bei, die vom Abend­brot zum Schiffs­fest in den Loun­ge­room8 ge­hen und so von dem Un­fall er­fah­ren.

Da der Vor­sit­zen­de des Fest­ko­mi­tees ein mit­rei­sen­der Re­ve­rend ist, ge­denkt er ein­lei­tend des »in Aus­übung sei­ner Pf­licht« ge­stor­be­nen See­manns und spricht ein Ge­bet, bei des­sen Be­ginn alle eng­li­schen Da­men au­to­ma­tisch die Hand an die Au­gen le­gen, um sie in­brüns­tig zu ver­de­cken.

»Nun aber«, sagt der Pas­tor, »wol­len wir uns fröh­li­che­ren Ge­dan­ken zu­wen­den!«

Ein Jüng­ling re­zi­tiert (schlecht) ein Ka­pi­tel der »Pick­wi­ckier«, eine Dame singt mit schief­ge­zo­ge­ner Nase (schlecht) eine Arie aus »Tra­via­ta«, zwei Kin­der tan­zen (schlecht) Charle­ston, und ein Kauf­mann aus Chi­ca­go er­zählt (schlecht) drei Wit­ze über Ir­län­der.

Wäh­rend die­ses letz­ten Vor­tra­ges rief ein New Yor­ker Kauf­mann ei­nem an­de­ren New Yor­ker Kauf­mann, der ein über­le­gen-ab­leh­nen­des Ge­sicht mach­te, die Wor­te zu: »What did you ex­pect from Chi­ca­go?!«9 Und dem Dok­tor Be­cker schi­en es, als hät­te er den Spre­cher be­reits ein­mal bei ei­ner Hoch­zeit in Brünn ge­se­hen, wo er mit Be­zug auf einen Vor­tra­gen­den aus Iglau in dem glei­chen Ton­fall äu­ßer­te: »Ha­ben Sie et­was Bes­se­res aus Iglau er­war­tet?«

Und dann kommt die Preis­ver­tei­lung des Bridge-Tur­niers, und zum Schluss singt man »God save the King«. Bei ähn­li­chen An­läs­sen war der Dok­tor Be­cker ver­prü­gelt wor­den, weil er sich nicht von sei­nem Stuhl er­ho­ben hat­te, dies­mal aber steht er pa­trio­tisch auf. »New York vaut bien une mes­se«,10 mag er kal­ku­lie­ren.

Der nächs­te Tag ist der letz­te der Fahrt – aber nur für Ers­te-Klas­se-Pas­sa­gie­re mit ame­ri­ka­ni­schem Bür­ger­recht der letz­te Tag an Bord.

Al­ler­hand grell­ro­te Bo­jen wer­den pas­siert, sie ha­ben die Form von Schif­fen und tra­gen auch Schiffs­na­men: »Nan­tucket«, »Fire Is­land«. Über­haupt be­lebt sich das sonst nur an sich be­leb­te Meer, Schif­fe tau­chen auf, ein Tor­pe­do­boot­zer­stö­rer scheint di­rekt Kurs auf uns zu neh­men. An ei­nem Schal­ter wech­seln alle ihr letz­tes eng­li­sches Geld ge­gen ame­ri­ka­ni­sches ein. Die De­cken, un­ter de­nen man auf den Lie­ge­stüh­len ge­ruht, bringt man dem Decks­te­ward zu­rück, der den dar­an wie eine Prei­s­an­ga­be bau­meln­den Na­mens­zet­tel ab­nimmt.

Die Da­men er­schei­nen toi­let­tiert und ge­schminkt, die äl­te­ren La­dies er­kennt man jetzt, ohne dass der Wind weht, als die Back­fi­sche aus Southamp­ton wie­der.

Viel zu tun hat der Fri­seur in sei­nem klei­nen La­den, wo man bis­her Kra­gen­knöp­fe und Mund­was­ser kauf­te. Heu­te lässt man sich ra­sie­ren und fri­sie­ren. Je­ner Ka­bi­nen­ge­nos­se des Dok­tor Be­cker, der ihn ge­lehrt, in St­rümp­fen die Ze­hen­nä­gel zu schnei­den, steckt zwei Bril­lant­rin­ge und eine Per­len­na­del an: »We­gen der Im­mi­gra­ti­ons­be­am­ten«, be­merkt er, »sie be­ur­tei­len einen ganz an­ders.«

Der Abend sinkt. Leucht­schif­fe und Leucht­tür­me grü­ßen zwin­kernd, von Swin­bur­ne Is­land her kommt ein Boot mit dem Amts­arzt. Nun müs­sen alle Pas­sa­gie­re den Ham­mel­sprung ma­chen. Mit der Zähl­uhr in der Hand kon­trol­liert er, ob kein Stück der Her­de fehlt. Um halb sie­ben wird die Bar im Rauch­zim­mer ge­schlos­sen. Bis zur letz­ten Se­kun­de ver­pro­vi­an­tie­ren die Män­ner ih­ren Ma­gen mit so viel Whis­ky, als er ver­trägt, und et­was dar­über.

Rech­ter Hand eine Lich­ter­rei­he: Co­ney Is­land, wie man er­fährt, lin­ker Hand Sta­ten Is­land. Kau­gum­mi-Re­kla­me grüßt elek­trisch, be­wegt und ein­dring­lich: »Wrigley’s here, Wrigley’s the­re, Wrigley’s eve­r­y­whe­re«.11

Eben­so die »Sta­tue der die Welt er­leuch­ten­den Frei­heit«. Man sieht sie zu­erst im Pro­fil, die Fa­ckel weit von sich ge­streckt, vom So­ckel aus fällt ein Schein­wer­fer auf ihre lücken­los durch ein fal­ti­ges Ge­wand ver­hüll­te Ge­stalt. Vor nicht all­zu lan­ger Zeit fuhr ganz New York hier­her, wenn je­mand ge­hängt wur­de. Der Gal­gen ist ab­ge­schafft, der Elek­tri­sche Stuhl steht in Sing Sing und auf Bed­loe Is­land die Frei­heits­sta­tue.

Und schon: steu­er­bords die Süd­spit­ze des Ei­lands Man­hat­tan mit den Wol­ken­krat­zern!

Mit die­sen Wol­ken­kuckucks­hei­men der ame­ri­ka­ni­schen Rea­li­tät! Um von den Fäus­ten und El­len­bo­gen der City nicht in den Hud­son ge­sto­ßen zu wer­den, stül­pen sich noch am äu­ßers­ten Rand der In­sel die Ge­schäf­te und Kon­to­re über­ein­an­der, vier­zig, fünf­zig, vierund­fünf­zig Stock­wer­ke hoch.

Die be­rühm­te »Sky­li­ne«, die Kon­tur der New Yor­ker Häu­ser­gi­gan­ten, hebt sich vom abend­li­chen Him­mel ab.

Auf den Fassa­den leuch­ten Recht­e­cke, vie­le Rei­hen, vie­le Eta­gen also. Dar­über strah­len Kup­peln oder Tür­me. Die Ver­gleichs­mög­lich­keit fehlt – sieht man denn, dass das win­zi­ge Spiel­zeug, das acht­los auf der Erde liegt, acht- bis zehn­stö­cki­ge Bau­ten sind?

Er­drückt wird man nicht von ei­ner spätabend­li­chen Be­geg­nung mit den Wol­ken­krat­zern. Nur be­zau­bert. Da steht das Gan­ze als ein ein­zi­ger Block, ein Mont­sal­watsch12 auf senk­rech­tem Fel­sen, sei­ne Zin­nen glü­hen und sei­ne Wacht­tür­me flam­men.

Hart an der Stadt den Hud­son auf­wärts, an fünf­zig statt­li­chen Hä­fen vor­bei, die kei­ne Hä­fen sind, son­dern nur An­le­ge­stel­len des Ha­fens von New York.

Lich­ter und Licht­re­kla­men über­all.

Un­ser Damp­fer ist zu groß, um selbst in sein Lan­dungs­bas­sin zu ma­nö­vrie­ren. So bug­sie­ren ihn acht Schlep­per. Zwei die­ser »tugs« sind Vor­spann, und zwei zer­ren seit­lich das Schiff, zwei ren­nen mit ver­bun­de­ner Nase steu­er­bords und back­bords un­se­ren Rumpf an; wäre ihr Kiel nicht mit Hanf um­wi­ckelt, sie und wir wür­den Scha­den neh­men.

In­des sich die­ses pos­sier­li­che Schub­sen be­gibt, ste­hen auf dem Pier, tief un­ter uns, Men­schen, vie­le Hun­der­te, tü­cher­schwen­kend, hü­te­schwen­kend, schrei­end.

Nur zwei Lan­dungs­brücken wer­den vom bri­ti­schen Stea­mer zum ame­ri­ka­ni­schen Land ge­spannt, die eine für die Pas­sa­gie­re der ers­ten Klas­se, die an­de­re für – das Ge­päck der Ers­te-Klas­se-Pas­sa­gie­re.

Al­les drängt sich an Stel­len zu­sam­men, wo Blick und Schall eine Ver­bin­dung her­stel­len kön­nen zwi­schen War­ten­den und Er­war­te­ten. Er­ken­nungs­sze­nen, Wie­der­se­hens­sze­nen, Empfangs­sze­nen par di­stan­ce.

Noch eine Nacht an Bord, und eine schlim­me. Es stellt sich her­aus, dass der Lärm der Ma­schi­nen sei­ne Vor­tei­le hat­te: heu­te, da sie ver­stummt sind, hört man nicht nur das Schnar­chen und Rülp­sen der Ka­bi­nen­kol­le­gen, son­dern auch al­les aus den an­gren­zen­den Ka­jü­ten. Und an das Rat­tern der Dy­na­mos, das Schau­keln des Schif­fes ge­wöhnt, wird man see­krank und schwind­lig vom jä­hen Gleich­ge­wicht.

Die Pro­ze­du­ren der Pass­kon­trol­le und die Über­prü­fung der Per­so­na­li­en durch die Ein­wan­de­rungs­kom­mis­si­on dau­ern stun­den­lang, von sechs Uhr mor­gens bis über den Mit­tag hin­aus.

Der Dok­tor Be­cker, der als Be­ruf »au­t­hor« an­ge­ge­ben, wird ge­fragt, was er denn für ein Schrift­stel­ler sei.

»No­vel­len und Ro­ma­ne schrei­be ich.«

»Und Po­li­tik?«

»Not at all!«13 er­wi­dert er lä­chelnd.

So darf er hin­un­ter in die Lan­dungs­hal­le, hin­ein nach Ame­ri­ka.

Als Kom­mu­nist muss­te Kisch wäh­rend sei­ner Rei­se einen Deck­na­men nut­zen.  <<<

die Mit­te der Quer- wie der Längs­schiffs­rich­tung  <<<

Wohn- und Schlaf­raum auf Schif­fen  <<<

Berühm­ter Find­ling rät­sel­haf­ter Her­kunft, tauch­te 1828 als etwa Sech­zehn­jäh­ri­ger in Nürn­berg auf.  <<<

Sac­co und Van­zet­ti – Zwei Streik­füh­rer ita­lie­ni­scher Ab­kunft in den USA, 1921 an­ge­klagt, ge­mein­sam einen Mord be­gan­gen zu ha­ben, zum Tode ver­ur­teilt und nach sechs­jäh­ri­ger Haft trotz er­wie­se­ner Un­schuld hin­ge­rich­tet.  <<<

Ja­ros­lav Hašek (1883-1923) war ein tsche­chi­scher Schrift­stel­ler und links-po­li­ti­scher Ak­ti­vist, der vor al­lem durch sei­ne li­te­ra­ri­sche Fi­gur des „bra­ven Sol­da­ten Schwe­jk“ be­rühmt wur­de.  <<<

vor­ders­ter Teil ei­nes Schif­fes  <<<

Ge­sell­schafts­raum  <<<

(engl.) Was ha­ben Sie von Chi­ca­go er­war­tet?  <<<

(franz.) New York ist eine Mes­se wert. Eine An­spie­lung auf den (an­geb­li­chen) Auss­pruch Hein­richs IV. von Frank­reich: »Pa­ris ist eine Mes­se wert.«  <<<

(engl.) Wrigley hier, Wrigley dort, Wrigley über­al!.  <<<

Name der Grals­burg in der Grals­dich­tung  <<<

(engl.) über­haupt nicht.  <<<

Vorabend, Tag und Nacht der Präsidentenwahl

Jim­mie Wal­ker, Bür­ger­meis­ter und the best­dres­sed man of New York (gut an­ge­zo­gen zu sein, gilt im Staa­te der Gleich­heit eben­so viel wie in ei­nem Korps deut­scher Stu­den­ten), Jim­mie Wal­ker steht auf dem Ti­mes Squa­re und spricht mit weit­hin tö­nen­der Stim­me, mit ein­drucks­vol­len Ges­ten und mit schön ge­wun­de­nen Phra­sen zu­guns­ten des de­mo­kra­ti­schen Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Al Smith.

Be­rit­te­ne Po­li­zis­ten hal­ten die Ord­nung auf­recht, Tau­sen­de drän­gen sich, um den Red­ner zu se­hen, die Rede zu hö­ren, sie durch Zwi­schen­ru­fe zu be­le­ben oder zu stö­ren.

Jim­mie Wal­ker rea­giert nicht auf die­se Ein­wen­dun­gen und nicht auf den Bei­fall, er spricht sei­nen Speech, und wenn er zu Ende ist, fängt er von Neu­em an, mit un­ver­min­dert weit­hin tö­nen­der Stim­me, mit ge­nau den glei­chen ein­drucks­vol­len Ges­ten und mit ganz den­sel­ben schön ge­wun­de­nen Phra­sen.

Das tut er die gan­ze Nacht, ohne müde zu wer­den, denn er steht nicht in per­so­na auf dem Ti­mes Squa­re, er steht nur in ef­fi­gie1 auf dem Ti­mes Squa­re, er ist ge­filmt und vi­ta­fo­niert2 wor­den, als er die­se Rede hielt, und nun wird sein Bild durch den Pro­jek­ti­ons­ap­pa­rat auf die Lein­wand und sei­ne Stim­me durch den Laut­spre­cher über den abend­li­chen Platz ge­wor­fen.

Mit­tags hält der de­mo­kra­ti­sche Kan­di­dat eine »Pa­ra­de« ab, in­dem er durch die Stadt fährt. Zu­erst eine Rei­he von Po­li­zis­ten auf Mo­tor­rä­dern, dann Po­li­zis­ten zu Pferd; auf den Dä­chern zwei­er lee­rer Au­to­bus­se spie­len Mu­sik­ka­pel­len; die gent­le­men of the press und die gent­le­men of the fil­m mit ih­ren Ap­pa­ra­ten ste­hen auf dem Deck der nach­fol­gen­den Au­to­bus­se.

Dann: ein of­fe­nes Auto, auf des­sen er­höh­tem Hin­ter­sitz der Kan­di­dat thront. Er trägt den hell­brau­nen Der­by-Hut, der ihn so po­pu­lär ge­macht hat und den er so po­pu­lär ge­macht hat, dass die Schau­fens­ter der Hut­lä­den mit hell­brau­nen har­ten Hü­ten von ge­ra­der Krem­pe an­ge­füllt sind. Al Smith rollt vor­bei, winkt ab­wech­selnd mit der rech­ten und lin­ken Hand, un­be­scha­det, ob die Men­ge ju­belt oder pfeift. Nach ihm die Sui­te be­zahl­ter und un­be­zahl­ter Wahl­män­ner in Au­tos mit großen Pla­ka­ten.

Das ist die große Pa­ra­de. Vor­her ha­ben die Zei­tun­gen spal­ten­lang dar­über ge­schrie­ben, am Abend wer­den sie spal­ten­lang dar­über be­rich­ten. Was war denn los? Ein Kan­di­dat fuhr mit Mu­sik­be­glei­tung durch die Stra­ßen von New York.

»… durch die Stra­ßen von New York.« Das war los. Die fünf­zig­stö­cki­gen, drei­tau­send­fenst­ri­gen Häu­ser­py­ra­mi­den mit­samt ih­ren fla­chen Dä­chern und ih­ren Tür­men und mit­samt ih­ren in schwin­deln­der Höhe un­ge­schütz­ten Ge­sim­sen sind be­setzt von Men­schen, die glück­lich sind, für ei­ni­ge Mi­nu­ten vom Ver­kaufs­stand, von der Ad­di­ti­ons­ma­schi­ne, vom Ar­beit­s­tisch ent­fernt zu sein, hin­ab­gu­cken und schrei­en zu dür­fen und echt ame­ri­ka­ni­sche Pa­pier­schlan­gen, echt ame­ri­ka­ni­sches Kon­fet­ti auf die Stra­ße zu wer­fen.

Die­se Pa­pier­schlan­gen sind die end­lo­sen Strei­fen der bei­den in je­dem Büro auf­ge­stell­ten Empfangs­ap­pa­ra­te für Bör­sen­kur­se und Wirt­schafts­nach­rich­ten. Das Kon­fet­ti aber ent­stand aus den vor­jäh­ri­gen Te­le­fon­bü­chern von New York City, von Broo­klyn und New York Su­bur­ban;3 vor­schrifts­wid­ri­ger­wei­se wur­den sie nicht an die Te­le­fon­ge­sell­schaft ab­ge­lie­fert, son­dern auf­ge­ho­ben, da­mit man sie bei der Ein­ho­lung ei­ner Kanal­schwim­me­rin, ei­nes Ozean­flie­gers oder min­des­tens ei­nes Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten zer­stückeln und die Fet­zen mit vol­len Hän­den ver­streu­en kön­ne. Da hängt, schwebt, weht die­ses La­met­ta aus Druck­pa­pier von den stren­gen Fassa­den hin­ab in die wüs­ten Stra­ßen­schluch­ten, die sich – wäh­rend der An­wär­ter auf dem Weg zur Macht und zum Ruhm wei­ter­zu­fah­ren glaubt – im Nu fuß­hoch be­de­cken mit über­hol­ten Bör­sen­kur­sen und Te­le­fon­adres­sen des Vor­jahrs.

Quer über die Stra­ßen sind Ban­ner mit den Na­men der Prä­ten­den­ten ge­spannt, auf man­chen Gie­beln Fah­nen mit dem Bild ei­nes von ih­nen ge­hisst, grell­bun­te Glüh­bir­nen for­mie­ren sich an den Klub­häu­sern zu flam­men­den Lo­sun­gen, an al­len Stra­ßen­e­cken wer­den Flug­blät­ter ver­teilt, in eng­li­scher, ita­lie­ni­scher, fran­zö­si­scher, rus­si­scher, deut­scher, jid­di­scher, pol­ni­scher und grie­chi­scher Spra­che. (Dies die Rei­hen­fol­ge.) Die Pla­ka­te sind nur in ei­ner Spra­che ver­fasst, frei­lich ist das in je­dem Be­zirk eine an­de­re.

In Har­lem tobt abends eine Pa­ra­de zu­guns­ten Hoo­vers, des »Par­t­ei­ge­nos­sen von Abra­ham Lin­coln«. (Eine gute Pa­ro­le, denn Lin­coln, der Skla­ven­be­frei­er, ist im Ne­ger­be­zirk hei­lig.) An den hun­dert Ki­nos, den Sing­spiel­hal­len, den S­peak-ea­sies,4 den Mu­siklä­den und Lom­bard­ge­schäf­ten von Len­ox Ave­nue vor­bei rollt der Um­zug mit den schrei­end be­häng­ten Au­tos, in de­ren Fonds fein­ge­klei­de­te Ne­ger­her­ren und fein­ge­klei­de­te Ne­ger­da­men sit­zen und auf de­ren Tritt­bret­tern arme schwar­ze Teu­fel das Ban­ner schwin­gen und »Stimmt für Hoo­ver«, »Stimmt für Hoo­ver« brül­len. Zwi­schen den Per­so­nen­au­tos ein Last­wa­gen mit der Mu­sik­ka­pel­le. Selt­sam oder selbst­ver­ständ­lich? – es ist eine Mu­sik­ka­pel­le ohne Sa­xo­fon, ohne Ban­jo, kein ein­zi­ges Werk­zeug der Jazz­band, nur Gei­gen, Brat­schen, Wald­horn und Tschi­nel­len, und die von den Ne­gern en­ga­gier­ten Mu­si­kan­ten sind al­le­samt Wei­ße!

Ein großer Eck­la­den auf dem Broad­way trägt Af­fi­chen an den Fens­tern: »Wenn ihr be­zwei­felt, dass es der Ku-Klux-Klan ist, der die Het­ze ge­gen Smith führt, so tre­tet ein und se­het die Be­wei­se.« Wir tre­ten ein und se­hen die Be­wei­se. Zei­tungs­blät­ter, die Smith we­gen sei­nes Ka­tho­li­zis­mus ver­spot­ten. Ka­ri­ka­tu­ren: auf Smit­hs Schul­tern rei­tet der Papst in Ame­ri­ka ein, aus dem Fens­ter des Wei­ßen Hau­ses ruft Smith den Rat­ten­zug der Je­sui­ten zu sich. De­vi­sen an den Wän­den po­le­mi­sie­ren, nie­mand dür­fe we­gen sei­ner Re­li­gi­on an­ge­grif­fen wer­den.

Sie fil­men um die Wet­te, die bei­den Prä­ten­den­ten. Zwi­schen den Groß­fil­men, zwi­schen den Sze­nen der Mu­sic Halls sieht man sie wie Wrigleys Kau­gum­mi: here, the­re, eve­r­y­whe­re, zu Hau­se, auf der Stra­ße, auf der Tri­bü­ne.

Auch be­mü­hen sie sich, in je­dem ein­zel­nen Hau­se von Ame­ri­ka vor­zu­spre­chen. Per Ra­dio. Von Her­bert Hoo­vers Rede in Ma­di­son Squa­re Gar­den be­kom­men die Rund­funk­teil­neh­mer ein eine Stun­de lan­ges Stück, nach­her von Al Smit­h’s Speech in Broo­klyn ein eben­so lan­ges Stück. Je­der Zwi­schen­ruf, je­der Bei­fall und je­der Pfiff ist in je­dem ra­dio­ge­seg­ne­ten Haus zu hö­ren. Wenn der Lärm nach ei­nem mar­kan­ten Satz zu lan­ge dau­ert, äu­ßert der Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat: »Freun­de! Ver­trö­deln wir die Ra­dio­zeit nicht mit Kund­ge­bun­gen der Ver­samm­lung!«

Er hat recht. Die Ra­dio­zeit ist teu­er, 30.000 Dol­lar die Stun­de. Und all­abend­lich spre­chen nicht nur die Kan­di­da­ten, son­dern auch Par­tei­män­ner für sie.

Heu­te je­doch ist Wahl­tag, St. Elec­tion­day, und da herrscht tags­über die Ruhe ei­ner mo­der­nen Schlacht. Al­les schrei­tet zur Urne – aber der New Yor­ker schrei­tet nicht, und statt der Urne gibt es Ab­stim­mungs­ma­schi­nen, drei oder vier in je­dem Wahl­lo­kal. Die Schlan­gen der vor ih­nen an­ge­stell­ten Wäh­ler win­den sich in­ein­an­der und durch­ein­an­der. Ver­trau­ens­leu­te der bei­den Par­tei­en, an Ab­zei­chen kennt­lich, ge­hen mit Mo­del­len der Ma­schi­ne auf und ab und er­klä­ren je­dem, wie er’s ma­chen muss, dass sei­ne Kan­di­da­ten ge­wählt wer­den. (Sei­ne Kan­di­da­ten. Plu­ral! Denn es wird nicht nur der Prä­si­dent ge­wählt, son­dern auch der Vi­ze­prä­si­dent, der Gou­ver­neur, ein Se­na­tor, der Ober­rich­ter, der Ober­staats­an­walt und ein Kon­gress­mit­glied.)

Ist der Wäh­ler an der Rei­he, sein Pa­pier über­prüft, dann tritt er in das »clo­set« und ver­schiebt einen He­bel, wo­durch ein Vor­hang zu­ge­zo­gen wird. Ab­ge­schlos­sen von al­ler Welt, kann er nun das ver­brief­te Recht des frei­en ame­ri­ka­ni­schen Bür­gers aus­üben: alle paar Jah­re auf sechs Knöp­fe zu drücken und heim­zu­keh­ren.

Erst abends, erst abends geht’s los. Der Ti­mes Squa­re, die Aus­buch­tung des Broad­way, auch an nor­ma­len Aben­den der tob­süch­tigs­te Rum­mel­platz, Tum­mel­platz und Bum­mel­platz der Erd­ober­flä­che, sieht heu­te buch­stäb­lich Hun­dert­tau­sen­de, die das Re­sul­tat er­fah­ren wol­len. New Yorks Po­li­zei, ver­stärkt durch die von Broo­klyn, von Bronx und von Sta­ten Is­land, ist auf­ge­bo­ten, um in der Sie­ben­ten Ave­nue und von der 40. bis zur 59. Stra­ße den Ver­kehr we­nigs­tens ei­ni­ger­ma­ßen auf­recht­zu­er­hal­ten. Als ob die Keh­le von hun­dert­tau­send Gleich­ge­sinn­ten nicht ge­nüg­te, hat je­der noch eine Tril­ler­pfei­fe oder eine Trom­pe­te oder eine Klap­per mit sich, Kin­der schla­gen Tschi­nel­len mit Zinn­tel­lern und Pau­ke auf Wasch­schüs­seln, Chauf­feu­re ver­mie­ten das Deck ih­res Au­tos, kein Fens­ter der Bü­ro­häu­ser, die Fei­er­tag und auch sonst um die­se Zeit längst Ge­schäfts­schluss ha­ben, ist un­be­setzt, kei­ne Lücke zeigt sich an der Brüs­tung der Dach­gär­ten.

Im 8. Stock­werk des »Ti­mes«-Ge­bäu­des leuch­ten die Mel­dun­gen auf. Jede löst Ge­brüll aus und geht sol­cher­art auf akus­ti­schem Wege um die Stra­ßen­e­cken zu je­nen Men­schen­kei­len, die nichts se­hen kön­nen.

Zwölf Uhr eine Mi­nu­te nachts ist al­les aus. Denn es er­scheint mit Flam­men­schrift an der Wand das Te­le­gramm aus Ard­mo­re, Okla­ho­ma:

»Hoo­ver hat in Mis­sou­ri die Mehr­heit er­langt und so­mit die 266. Stim­me im Wäh­ler­kol­le­gi­um.«

Da das Kol­le­gi­um der Wahl­män­ner aus 531 Per­so­nen be­steht, be­deu­tet die Mel­dung aus dem Nest in Okla­ho­ma Mehr­heit und Ent­schei­dung.

Heu­lend und pfei­fend oder ju­belnd und trom­pe­tend oder still und ent­täuscht lo­ckern sich die Mas­sen, ent­fer­nen sich. Am nächs­ten Tag sind die täg­li­chen Fo­li­an­ten aus­schließ­lich ge­füllt mit Hoo­ver und sei­ner Fa­mi­lie, mit Wahl­re­sul­ta­ten und Wahl­be­rich­ten, zwei­und­zwan­zig Mil­lio­nen ha­ben für Hoo­ver ge­stimmt, sieb­zehn Mil­lio­nen für Smith, auf vier­zig Ster­nen der ame­ri­ka­ni­schen Gösch5 ist die Mehr­heit für Hoo­ver, nur auf den rest­li­chen acht für Smith. Wet­ten wer­den aus­be­zahlt, Ver­mö­gen in Wet­ten ge­won­nen, Ver­mö­gen in Wet­ten ver­lo­ren, auf Wall Street fünf Mil­lio­nen Ak­ti­en um­ge­setzt.

Was ist ge­sche­hen?

Der Kan­di­dat der re­pu­bli­ka­ni­schen Par­tei hat ge­gen den Kan­di­da­ten der de­mo­kra­ti­schen Par­tei ge­siegt. Nun ist aber die de­mo­kra­ti­sche Par­tei na­tür­lich durch­aus re­pu­bli­ka­nisch, und die re­pu­bli­ka­ni­sche Par­tei wür­de es sich sehr ver­bit­ten, für we­ni­ger de­mo­kra­tisch an­ge­se­hen zu wer­den als die de­mo­kra­ti­sche. Der ge­ne­ti­sche Un­ter­schied, dass die De­mo­kra­ten ein­mal die Ver­tre­tung der Plan­ta­gen­be­sit­zer in den Süd­staa­ten und des Klein­bür­ger­tums in den Städ­ten wa­ren, tritt eben­so­we­nig in Er­schei­nung wie der po­li­tisch-his­to­ri­sche Un­ter­schied, dass die Re­pu­bli­ka­ner sei­ner­zeit den Hoch­schutz­zoll be­kämpf­ten.

Per­sön­lich tra­ten die bei­den Stel­lung­su­chen­den mit be­son­de­ren po­li­ti­schen Kö­dern auf. Je­doch Hoo­ver, der das Ren­nen mit drei »P« be­stritt (Pro­spe­ri­ty, Pro­tes­tan­tism und Pro­hi­bi­ti­on), be­ton­te sei­nen Pro­tes­tan­tis­mus wohl­weis­lich nicht. Und für Wohl­stand war sein Geg­ner eben­so. Auch Smith war für die Auf­recht­er­hal­tung der Pro­hi­bi­ti­on, nur woll­te er die Gren­ze des Al­ko­hol­ge­halts für den Be­griff »be­rau­schen­des Ge­tränk« et­was hin­auf­set­zen; er er­klär­te aber, dies be­deu­te eine Än­de­rung der Ver­fas­sung, zu der kein Prä­si­dent Macht und Mög­lich­keit be­sit­ze. Be­dingt trat er da­für ein, die Ver­wer­tung der Was­ser­kräf­te von der Pri­vat­spe­ku­la­ti­on fern­zu­hal­ten, wäh­rend wie­der­um Hoo­ver die­se im Sin­ne der größt­mög­li­chen Pro­spe­ri­tät ver­wen­det zu se­hen wünsch­te.

Kein Un­ter­schied in den Pro­gram­men, kaum ein Un­ter­schied in den Wahl­pa­ro­len. Und auch kei­ne Per­so­nen­fra­ge – da nie­mand bei sol­chen Wah­len ent­schei­den kann, da nie­mand bei sol­chen Wah­len vor­aus­sa­gen kann, wie sich der Kan­di­dat als Prä­si­dent ge­gen­über die­sem oder je­nem Ein­fluss ver­hal­ten wird. Der ein­zi­ge, der je mit fes­tem Pro­gramm auf­trat, war der De­mo­krat Wil­son: »Kein ame­ri­ka­ni­scher Staats­mann darf so ehr­los und cha­rak­ter­schwach sein, un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand USA zur Teil­nah­me am Welt­krieg zu brin­gen.« Trotz der Rie­se­na­gi­ta­ti­on der En­ten­te wur­de er da­für un­ter der Pa­ro­le »He kept us out of the war«6 wie­der­ge­wählt und – er­klär­te den Krieg.

Also auch kei­ne Per­so­nen­fra­ge! Eine rei­ne Macht­fra­ge der Par­tei­en, de­ren bei­de Bun­des­lei­tun­gen acht­ein­halb Mil­lio­nen Dol­lar für Agi­ta­ti­ons­zwe­cke aus­ge­wor­fen ha­ben, ab­ge­se­hen von den Mil­lio­nen der Lan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen. Eine Macht­fra­ge zu Ge­schäfts­zwe­cken.

Die vier­zig Mil­lio­nen Wäh­ler macht das nicht stut­zig.

»Was än­dert sich denn«, frag­te der Dok­tor Be­cker am Wahl­a­bend auf dem Ti­mes Squa­re einen auf­ge­reg­ten Nach­barn, »was än­dert sich ei­gent­lich da­durch, ob Smith oder Hoo­ver ge­wählt wird?«

»Oh, es än­dert sich eben­so­viel, wie wenn Tun­ney statt Demp­sey Welt­meis­ter im Bo­xen wird.«

(lat.) als Bild­nis  <<<

auf Ton­band auf­ge­nom­men  <<<

die New Yor­ker Vo­r­or­te  <<<

Flüs­ter­knei­pen, Bars, in de­nen wäh­rend der Pro­hi­bi­ti­on heim­lich Al­ko­hol aus­ge­schenkt wur­de.  <<<

Lan­des­flag­ge  <<<

(engl.) Er hat uns aus dem Krieg her­aus­ge­hal­ten.  <<<

Käfige in Käfigen, die in Käfigen stecken

Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen wie die Tombs, das be­rühm­te City-Ge­fäng­nis von New York. Der ur­sprüng­li­che Ker­ker stell­te eine Ko­pie der ägyp­ti­schen Kö­nigs­grä­ber (tombs) dar, was ko­misch war und dem Zweck des Ge­bäu­des nicht ent­sprach, wes­halb man den not­wen­dig ge­wor­de­nen Neu­bau im Sti­le der eng­li­schen Kö­nigs­sch­lös­ser auf­führ­te. (sic!)

Nun ist es eine Tu­dor-Fes­tung mit ei­nem Fa­brik­schorn­stein, die Ei­sen­to­re im Wall sind kunst­voll be­schla­gen, und ob­wohl das Kas­tell kei­nen Turm hat, ist je­der Ecke eine große Ke­gel­kap­pe auf­ge­stülpt, als ob. Auch Zin­nen und ähn­li­che Zier­ra­te feh­len nicht, und nach dem Straf­ge­richts­ge­bäu­de führt über die Stra­ße ein Ver­bin­dungs­gang, der ve­ne­zia­nisch ge­wölbt ist und dem­ge­mäß Bridge of Sighs1 heißt, die Seuf­zer­brücke. Es wür­de uns nicht über­ra­schen, wenn dem­nächst ein Rocke­fel­ler et­li­che Mil­lio­nen stif­te­te, um hier auch Blei­kam­mern zu er­rich­ten, weil Ve­ne­dig sol­che be­saß.

Das Ge­fäng­nis sieht also von au­ßen ge­ra­de­zu hui aus. Im In­nern hin­ge­gen – zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen!

Den ers­ten Ein­druck ver­mit­teln die She­riffs, die eben vom Ge­ne­ral Court2 her­ein­kom­men und ge­fes­selt sind. Vi­el­leicht könn­te je­mand ein­wen­den, nicht sie sei­en ge­fes­selt, son­dern der Ge­fan­ge­ne, den je­der She­riff bringt. Aber die Ni­ckel­span­gen schlie­ßen sich mit der glei­chen Fes­tig­keit um die Hand­ge­len­ke bei­der – dass es das rech­te Hand­ge­lenk des an­de­ren und das lin­ke Hand­ge­lenk des einen ist, macht nicht viel aus. Wich­ti­ger ist: der Es­kor­teur hat den Schlüs­sel der Span­ge und einen Re­vol­ver in der Ta­sche, der Es­kor­tier­te aber bes­ten­falls nur einen Re­vol­ver.

Man trifft auch She­riffs, die ge­ra­de ab­ge­lie­fert ha­ben und ein gan­zes Wa­ren­la­ger von ver­ni­ckel­ten Stahl­arm­bän­dern in der Hand tra­gen.

An zwei Zim­mern vor­bei, hin­ter de­ren Ei­sen­ge­stän­gen der Ge­fan­ge­ne mit sei­nem Rechts­an­walt ver­han­deln kann, geht es nach in­nen: den Zel­len zu. Kei­ne ist durch eine Tür ver­schlos­sen, alle nur durch Git­ter­stä­be, so­dass der In­sas­se nicht eine Stun­de des Ta­ges und nicht eine Stun­de der Nacht al­lein ist; er sitzt im Kä­fig, je­der­zeit zur Schau für die vor­bei­ge­hen­den Wäch­ter, und ist doch im­mer ver­schlos­sen.

Und wie ver­schlos­sen! Der Kor­ri­dor, man kennt die­se ei­ser­nen Via­duk­te aus je­der Straf­an­stalt, ist hier kaum einen hal­b­en Me­ter breit und läuft nur zehn Zel­len ent­lang, vier sol­cher Ga­le­ri­en per Stock­werk. Aber nicht nur die Zel­len sind ein­zeln ver­sperrt, son­dern auch jede Ga­le­rie zu­ge­klappt und je­der Ein­gang zu je­dem Stock­werk ver­schlos­sen. Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen: ein Ge­fäng­nis, wo man oben und un­ten, rechts und links kei­nes­falls mehr als acht Schrit­te ma­chen kann, ohne auf ein ver­sperr­tes Ge­stän­ge zu sto­ßen.

Zur Me­na­ge­stun­de sind man­che Tü­ren of­fen: die in die Kü­che, die, aus de­nen die Kal­fak­to­ren kom­men, um aus­zu­fe­gen oder Brot zu ho­len. Wenn nun ir­gend­wo eine Un­ru­he aus­bricht, so ge­nügt ein Druck auf die Alarm­vor­rich­tung, um alle Räu­me zu schlie­ßen und jede Kom­mu­ni­ka­ti­on der Ab­tei­lun­gen zu ver­hin­dern. Ganz eng die Mit­te des Stock­werks, wo die vier Zel­len­gän­ge zu­sam­men­lau­fen, so eng, dass man sich nicht be­we­gen kann: auf die­sem Raum wird die Be­we­gungs­stun­de ab­ge­hal­ten, der Spa­zier­gang.

Ein Wasch­be­cken mit flie­ßen­dem Was­ser ist in der Zel­le und eine Klo­sett­schüs­sel, da­zwi­schen ein klei­ner Tisch mit Sei­fe für das ers­te­re und mit Pa­pier für das letz­te­re. Die­ses Tisch­chen füllt die Qu­er­wand aus, dar­über brennt eine Glüh­bir­ne ohne Schal­ter, rechts an der Wand sind zwei über­ein­an­der an­ge­ord­ne­te Klapp­bet­ten für die Nacht und ein Sche­mel für den Tag und noch ein Tisch­chen. Das ist glei­cher­ma­ßen die Woh­nung für den, der we­gen Über­schrei­tung von Ver­kehrs­vor­schrif­ten zu ei­nem Tag ver­ur­teilt (vom Ver­kehrs­ge­richt er­hält der Chauf­feur das ers­te Mal einen Tag oder 2 Dol­lar Stra­fe, das zwei­te Mal zwei Tage oder 25 Dol­lar, das drit­te Mal 50 Dol­lar oder fünf Tage und Ent­zie­hung des Füh­rer­scheins), wie für den, der un­ter dem Ver­dacht meh­re­rer Raub­mor­de hier­her­ge­bracht wor­den ist und nun even­tu­ell sech­zehn Mo­na­te dar­auf war­ten kann, bis er über die Seuf­zer­brücke zur Ver­hand­lung ge­führt wird.

Denn das Ci­ty-Pri­son of Man­hat­tan be­her­bergt Un­ter­su­chungs­häft­lin­ge (tri­al ca­ses) und Leu­te, die be­reits ver­ur­teilt (sen­tenced) sind, und zwar zu ei­ner Haft von höchs­tens sechs Mo­na­ten. Die al­ler­dings ha­ben einen ge­mein­sa­men Schlaf­saal hin­ter Git­ter­stä­ben.

Ge­son­dert un­ter­ge­bracht sind auch die zum ers­ten Mal rück­fäl­li­gen Ju­gend­li­chen (se­cond of­fen­ders) im Al­ter von 16 bis 20 Jah­ren und die bis­her un­be­schol­te­nen Ju­gend­li­chen. Sie woh­nen im al­ten Teil des Tu­dor-Schlos­ses, un­ter der Seuf­zer­brücke, an der Stel­le, wo bis zum Jah­re 1888 der Gal­gen von New York stand. Der Gal­gen ist dann ver­legt und schließ­lich die bar­ba­ri­sche Stra­fe des Hen­kens ab­ge­schafft wor­den und durch den »hu­ma­nen« elek­tri­schen Stuhl er­setzt.

Für Ko­kain­schnup­fer und Mor­phi­u­mes­ser, die ge­wöhn­lich gleich­zei­tig Schmugg­ler die­ser To­xi­ne sind, hat man eine drit­te Son­der­ab­tei­lung re­ser­viert, nicht etwa zu dem Be­hu­fe, da­mit sie ein­an­der ken­nen­ler­nen und sich zu ge­mein­sa­men Ge­schäfts­ver­bin­dun­gen zu­sam­menschlie­ßen, son­dern weil die Be­hand­lung die­ser Fäl­le die glei­che ist.

Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen, ein Ker­ker­haus, in dem sich – zwei­mal täg­lich, um zehn Uhr mor­gens und um halb drei Uhr nach­mit­tags – die stäh­ler­nen Klapp­tü­ren der Ga­le­ri­en vor ei­nem Zei­tungs­jun­gen öff­nen, der die Zel­len ent­lang läuft und Ta­ges­blät­ter und Ma­ga­zi­ne ver­schleißt. Das ist gut. Und gut ist auch, dass hier, wie in je­dem ame­ri­ka­ni­schen Ge­fäng­nis (so­gar im Frau­en­zucht­haus) je­der­mann so viel rau­chen darf, wie er lus­tig ist. (Wann wird end­lich in den deut­schen Po­li­zei­ge­fan­ge­nen­häu­sern und Straf­an­stal­ten die Quä­le­rei des Ta­bak­ver­bo­tes auf­hö­ren!)

Der Häft­ling kann täg­lich ein­mal un­ent­gelt­lich te­le­fo­nie­ren las­sen und hat für je­den wei­te­ren An­ruf, der für ihn be­sorgt wird, nur fünf Cents zu be­zah­len. Ein Ge­schäft ist hier, wo man vie­ler­lei er­hält: nicht nur Pfei­fen samt Ta­bak und Put­zern, Zi­gar­ren, Zi­ga­ret­ten und Streich­höl­zer (Deutsch­land, höre: Streich­höl­zer im Ge­fäng­nis!), Kau­gum­mi, Pra­li­nen(!), Sel­ters­was­ser, Ing­wer­bier, Ku­chen, Mar­me­la­de, Öl­sar­di­nen, Spaghet­ti, Kon­dens­milch, Räu­cher­he­ring, Äp­fel und Oran­gen, Blei­stif­te, Schreib­pa­pier, Brief­mar­ken, Ra­sier­cre­me, Ra­sier­bürs­te, Ra­sier­pul­ver und Zahn­pas­ta, son­dern auch Un­ter­hem­den, Un­ter­ho­sen, Hem­den, So­cken, Ta­schen­tü­cher in al­len Far­ben, Stie­fel­wich­se und Woll­hand­schu­he. In den Frau­en­ge­fäng­nis­sen auch Blu­sen, St­rümp­fe, Mie­der­leib­chen, Na­deln, Haar­net­ze, Ta­schen­käm­me und Si­cher­heits­na­deln.

Re­stau­rant im Hau­se. Der Kell­ner geht von Zel­le zu Zel­le, nimmt Be­stel­lun­gen ent­ge­gen und ser­viert de­nen, die Geld ha­ben und mit der An­stalts­kost nicht zu­frie­den sind. Das wirkt merk­wür­dig. Aber die Metho­de des eu­ro­päi­schen Straf­voll­zugs, nur da­durch die Un­ter­schie­de zwi­schen reich und arm auf­zu­he­ben, in­dem man bei­de auf jäm­mer­li­che Ge­fan­ge­nen­kost setzt, führt eben­so­we­nig einen rich­ti­gen Zu­stand her­bei. Ein sol­cher wäre: an­stän­di­ge, die Gast­haus­ver­pfle­gung über­flüs­sig ma­chen­de Kost. Oh, über das Be­den­ken der Spie­ßer, dass es dem Ver­bre­cher im Ker­ker »zu gut ge­hen« könn­te! Das Ge­fäng­nis wird im­mer eine schreck­li­che, ge­fürch­te­te Ört­lich­keit blei­ben, auch wenn man dort an­stän­dig es­sen, mit sei­ner Frau ver­keh­ren, nach Be­lie­ben rau­chen, Brie­fe schrei­ben und Brie­fe und Be­su­che emp­fan­gen dürf­te.

Ge­zahlt wer­den die Gast­haus­spei­sen mit Ge­fäng­nis­mün­zen, die Wa­ren aus dem La­den mit ei­nem Scheck, der vom Häft­ling und ei­nem Zeu­gen un­ter­schrie­ben ist.

Es gibt fer­ner eine Pa­tent­kir­che. Ein schö­ner Al­tar, tief ge­glie­dert, ist dazu da, dass der evan­ge­li­sche Pas­tor zum Hei­land bete, des­sen Bild­nis über dem Kreuz hängt. Aber, husch, hast du nicht ge­sehn, wird der Al­tar­raum zu­ge­klappt, nichts mehr von ihm ist üb­rig, nichts mehr vom Kru­zi­fix und nichts mehr von Je­sus, die Klap­pe ist eine Bun­des­la­de und die Kir­che eine Sy­n­ago­ge. Das heiß ich mir smart, ein Griff – ein Tem­pel; wes­halb aber, um Je­ho­vas, be­zie­hungs­wei­se um Chris­ti wil­len, ge­nügt das nicht, warum müs­sen, hei­li­ge Ma­ria, die Ka­tho­li­ken im un­te­ren Stock­werk eine ei­ge­ne Ka­pel­le ha­ben und so­gar die Ge­sund­be­ter, die Chris­ti­an Science, eine ei­ge­ne? (Apro­pos: »Je­wish Science« heißt in Ame­ri­ka die Psy­cho­ana­ly­se.)

Be­vor wir ein­tra­ten in die Tombs, sa­hen wir auf der Stra­ße eine Grup­pe von Men­schen; sie war­te­ten vor ei­nem Tür­chen im Wall, auf dem »Vi­si­tor­s’ En­tran­ce«3 stand, und wir glaub­ten in ih­ren Ge­sich­tern jene trü­be Mi­schung von Wie­der­se­hen­s­er­war­tung und Sor­ge zu er­ken­nen, die bei Ker­ker­be­su­chen vor­herrscht. Im ei­si­gen De­zem­ber muss­ten sie drau­ßen har­ren, den Bli­cken der Passan­ten aus­ge­setzt.

Wir ahn­ten nicht, von welch grau­en­vol­ler Art der Be­such hier ist.

Die Leu­te schie­ben sich in einen Stol­len, der in das Haus ein­ge­schnit­ten und nach we­ni­gen Schrit­ten zu Ende ist. Links ist die­ser Gang von num­me­rier­ten schma­len Schrän­ken ein­ge­säumt, in de­nen je ein Stuhl steht. Eine Wand des Schranks ist ein ganz eng­ma­schi­ges Draht­netz.

Je­dem Be­su­cher ein Schrank. Je­dem Schrank ge­gen­über, nach ei­nem Zwi­schen­raum von ei­nem hal­b­en Me­ter, ein an­de­rer, die glei­che Num­mer tra­gen­der und eben­so dicht ver­drah­te­ter Schrank. Da­rin, be­suchs­be­reit ab­ge­schlos­sen, der Ge­fan­ge­ne.

So sit­zen, ein­an­der fast un­sicht­bar, un­be­weg­lich und di­stan­ziert, Mut­ter und Sohn sich ge­gen­über, Va­ter und Toch­ter, Gat­te und Gat­tin; viel­leicht Müt­ter ne­ben­ein­an­der, viel­leicht Gat­tin­nen ne­ben­ein­an­der, viel­leicht Söh­ne ne­ben­ein­an­der, eine ge­spens­ti­sche Rei­he an­ge­sichts ei­ner eben­so ge­spens­ti­schen. Wär­ter ste­hen am Ende des Zwi­schen­rau­mes und über­bli­cken ihn.

»Da­mit die Be­su­cher den Ge­fan­ge­nen nichts zu­ste­cken, kei­ne Fei­len, kei­ne Kas­si­ber,4 kei­nen Al­ko­hol, kei­ne Waf­fe und kein Nar­ko­ti­kum.« So wird die­ses Sys­tem er­klärt.

In Eu­ro­pa ist man ja auch auf der­lei Din­ge be­dacht, ohne dass – nein, zeit mei­nes Le­bens habe ich ein sol­ches Ge­fäng­nis nicht ge­se­hen.

Seuf­zer­brücke in Ve­ne­dig  <<<

Ge­richt  <<<

Be­su­cherein­gang  <<<

ge­heim­ge­hal­te­ne schrift­li­che Mit­tei­lung ei­nes Ge­fan­ge­nen an an­de­re Ge­fan­ge­ne oder aus dem Ge­fäng­nis her­aus an die Au­ßen­welt.  <<<

Kapitol und Kapitale

Ge­wohnt, sei­ne Vor­stel­lung von et­was Be­vor­ste­hen­dem zu fi­xie­ren, um sie her­nach mit der Wirk­lich­keit kon­fron­tie­ren zu kön­nen, hat­te sich der Dok­tor Be­cker die Stadt Wa­shing­ton als eine Art Haag aus­ge­malt, einen Bal­kon Ame­ri­kas. Ein Bal­kon ist et­was, was mit dem üb­ri­gen Haus nichts zu tun hat. Man wohnt nicht dort, aber man sitzt dort und ge­nießt.

Wie dach­te sich also der Dok­tor Be­cker die Stadt Wa­shing­ton?

So: Re­gie­rung­s­pa­läs­te, stil­le Plät­ze um­säu­mend, pen­sio­nier­te Mi­nis­te­ri­al­rä­te in den An­la­gen spa­zie­rend, ak­ti­ve Staats­se­kre­tä­re in großen Au­tos um­her­fah­rend, Ge­sandt­schafts­ho­tels, Kaf­fee­häu­ser auf dem Bür­ger­steig mit Se­na­to­ren, De­pu­tier­ten, Par­la­ments­jour­na­lis­ten, po­li­ti­sie­ren­den Da­men und käuf­li­chen Din­gen.

Bei der Kon­fron­ta­ti­on er­wies sich das Fan­ta­sie­pro­dukt als falsch. All das wäre zu eu­ro­pä­isch ge­we­sen. Aber auch ame­ri­ka­nisch ist Wa­shing­ton nicht – au­ßer in ei­ner Hin­sicht, und in die­ser ist es so­gar die Haupt­stadt Ame­ri­kas. Näm­lich als Sam­mel­su­ri­um al­ler nicht­ame­ri­ka­ni­schen Stilar­ten, die an falscher Stel­le an­ge­wen­det sind. Das Finanz­amt er­hebt sich, ein mäch­ti­ger at­ti­scher Tem­pel, dass man glau­ben könn­te, es sei für Gläu­bi­ge be­stimmt und nicht für die Gläu­bi­ger Wall Streets in der gan­zen Welt. Im Schat­ten des Finanz­tem­pels birgt sich, von Bäu­men und Ran­ken­werk um­hüllt, ein Tus­ku­lum, das Wei­ße Haus, wie ge­schaf­fen für die Lie­bes­s­pie­le ei­nes lo­cki­gen Rö­mer­jüng­lings mit sei­ner La­vi­nia. (Hoo­ver, mach mir kei­ne Zi­cken!)

Der Reichs­tag heißt nicht Reichs­tag und nicht Par­la­ment, son­dern er heißt »Ca­pi­tol« und ist des­halb auf dem Um­we­ge über die Lon­do­ner Pauls-Ka­the­dra­le der Pe­ters­kir­che nach­ge­bil­det, die auch nicht auf dem ka­pi­to­li­ni­schen Hü­gel steht.

Als Mo­dell für den Haupt­bahn­hof, die Uni­on Sta­ti­on, ha­ben die Ther­men des Dio­cle­ti­an ge­dient, und dem An­den­ken Ge­or­ge Wa­shing­tons hat man einen täu­schend ähn­li­chen ägyp­ti­schen Obe­lisk am Ufer des Po­to­mac auf­ge­rich­tet.

Ob Wil­son als Grab­mal eine Sphinx be­kommt, steht noch da­hin. Das Mau­so­le­um Lin­colns ist ein Tem­pel, und dem­ge­mäß der Tem­pel der Frei­mau­rer ein Mau­so­le­um – ge­nau nach dem von Ha­li­kar­nass1 in Klein­asi­en ko­piert.

Und noch et­was ist echt ame­ri­ka­nisch: dass es auch in Wa­shing­ton »Bur­lesk Shows« gibt. Es gibt sie über­all, vom Ti­mes Squa­re in New York über die Main Streets der klei­nen Städ­te bis tief hin­ein in den Wes­ten. Aber in Wa­shing­ton, wo sich im­mer­hin der Ame­ri­ka­nis­mus nicht in so mör­de­ri­scher Gier aus­tobt, über­ra­schen sie, die­se tiefs­ten Er­nied­ri­gun­gen der Frau, die Kehr­sei­te der Frau­en­ver­him­me­lung und der Girl­herr­schaft und vor al­lem je­ner Gran­dez­za, mit der zehn Män­ner im Fahr­stuhl ihre Hüte ab­neh­men, da ein rotz­nä­si­ger Back­fisch ein­steigt – aus­ge­nom­men na­tür­lich im Bü­ro­haus oder in der Fa­brik, wo die Dame viel­leicht gar kei­ne Dame ist, son­dern eine ar­bei­ten­de Frau.

In den Bur­lesks also, um ein Cha­rak­te­ris­ti­kum des ame­ri­ka­ni­schen Le­bens bei die­ser Ge­le­gen­heit ab­zu­tun, be­steht der Haupt­witz dar­in, dass jede der halb­nackt auf der Büh­ne »tan­zen­den« oder »sin­gen­den« Frau­en nach be­en­de­tem Auf­tritt auf Bei­falls­äu­ße­run­gen hin im­mer wie­der aus der Ku­lis­se zu­rück­kehrt, ge­wöhn­lich auf ei­nem über den Zuschau­er­raum ge­leg­ten Steg, und sich je­des Mal wei­ter ent­blö­ßt, bis nichts mehr da ist als ein dün­ner Scham­gür­tel, den sie dann un­ter keu­chen­der Stil­le des Au­di­to­ri­ums ab­knöpft. Es ist ein zwei­ter dar­un­ter. Hört die klat­schen­de Nö­ti­gung noch im­mer nicht auf – die nach ihr auf­tre­ten­den Kol­le­gen ha­ben ih­ren Vor­trag un­ter­bro­chen und ste­hen auf der Büh­ne her­um –, so muss sie ei­ni­ge Wa­ckel­be­we­gun­gen mit dem Bauch oder dem Ge­gen­teil voll­füh­ren.

Kein Wort ge­gen eine ehr­li­che Schwei­ne­rei! Aber tau­send Wor­te Eng­lisch ge­gen den Pu­ri­ta­nis­mus, der den in­dia­ni­schen Holz­schnit­ze­rei­en in den Mu­seen die Or­ga­ne ab­schnei­det und Kunst­wer­ke ver­hüllt, ge­gen die Prü­de­rie, die sich über­all äu­ßert, ge­gen die Galan­te­rie, mit der man die Da­men über­schüt­tet, um im Zuschau­er­raum der Bur­lesks sei­ne wah­re Na­tur zu ent­hül­len, die Frau tie­risch her­ab­zu­wür­di­gen, sie öf­fent­lich – im Ur­sinn des Wor­tes – bloß­zu­stel­len.

Aber wir woll­ten doch von Wa­shing­ton re­den, der Haupt­stadt der Ve­rei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka. Es ist au­ßer in be­sag­ten ar­chi­tek­to­ni­schen und se­xu­el­len Klei­nig­kei­ten voll­kom­men un­ame­ri­ka­nisch. So zwar, dass es hier über­aus vie­le Ge­schäf­te mit Rei­se­an­den­ken gibt, ge­nau wie in Ma­ria­zell. (Vor­neh­me Rei­se­schrift­stel­ler wür­den die Wen­dung »wie in San Jago (sic!) di Com­postel­la« ver­wen­den.) Man kann also email­lier­te Löf­fel mit dem Ca­pi­tol kau­fen, Me­dail­len mit dem Kon­ter­fei Ben­ja­min Fran­klins, Tel­ler, auf de­nen das Wei­ße Haus und der Obe­lisk und die Tre­a­su­ry2 und die dem An­den­ken Abra­ham Lin­colns er­rich­te­te Akro­po­lis zu ei­nem Still­le­ben ver­ei­nigt sind. Auch Al­ben und An­sichts­kar­ten­se­ri­en selbst­ver­ständ­lich; aber merk­wür­di­ger­wei­se gibt es in Wa­shing­ton, wo die Staats­dru­cke­rei und die Dol­lar­li­tho­gra­fie woh­nen, eben­so­we­nig eine gute An­sichts­kar­te wie sonst­wo in Ame­ri­ka.

Ein Kreu­zungs­punkt der Kor­ri­do­re im Ca­pi­tol heißt »Hall of Fame«,3 und je­der der achtund­vier­zig Bun­des­staa­ten hat das Recht, die über­le­bens­großen Sta­tu­en sei­ner bei­den be­rühm­tes­ten Söh­ne hier zu de­po­nie­ren, wes­halb es aus­sieht, als ob je­mand die Ber­li­ner Sie­ge­sal­lee4 ge­kauft und in der Die­le sei­ner Vil­la un­ter­ge­bracht hät­te; wenn wir noch re­gis­trie­ren, dass der Vi­ze­prä­si­dent der Ve­rei­nig­ten Staa­ten, Dawes, wäh­rend bei­der vom Dok­tor Be­cker be­such­ten Sit­zun­gen des Se­na­tes den Vor­sitz führ­te, so ist al­les er­le­digt, was sich ge­gen Wa­shing­ton vor­brin­gen lässt.

Im Üb­ri­gen ist es eine schö­ne Stadt, vor al­lem, weil man bei­na­he gar kei­ne Po­li­zis­ten zu Ge­sicht be­kommt. Phil­adel­phia, mit dem es einen ge­wis­sen Sinn für Ge­schich­te und Tra­di­ti­on ge­mein­sam hat, ist Wa­shing­ton durch eine grö­ße­re Rein­lich­keit vor­aus, den Wol­ken­krat­zer­städ­ten durch Ge­las­sen­heit. Nach Thea­ter­schluss ver­mag man eine Stun­de lang durch die Stra­ßen zu ge­hen, ohne Men­schen zu be­geg­nen.

Die Li­bra­ry of Con­gress, mit Recht welt­be­rühmt, spielt alle Stückeln, die man von ei­ner Biblio­thek ver­lan­gen kann. Das Haus ist sei­ne 6.032.000 Dol­lar un­ter Brü­dern wert, und zwei­tau­send Fens­ter er­mög­li­chen in Lese-, Bü­cher- und Aus­s­tel­lungs­sä­len fast die gan­ze Ta­ges­ar­beit bei na­tür­li­chem Licht. In der Ma­nu­skrip­te­samm­lung sieht man in ei­nem of­fe­nen Al­tar­schrein aus schie­rem Gold die Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung Ame­ri­kas; un­ter den aus­ge­stell­ten Hand­schrif­ten der Prä­si­den­ten feh­len kei­nes­wegs die von An­drew John­son, der we­gen Kor­rup­ti­on und Finanz­schwin­de­lei­en in An­kla­ge­zu­stand er­ho­ben wur­de, oder von Har­ding, des­sen Selbst­mord we­gen sei­ner Teil­nah­me am Öl­schwin­del ein öf­fent­li­ches Ge­heim­nis ist.

Ob­wohl in der Li­bra­ry of Con­gress un­ge­fähr zehn Bü­cher mehr von Dok­tor Beckers Lieb­lings­au­tor vor­han­den sind als in der New Yor­ker Pub­lic Li­bra­ry (dort ha­ben sie nur den »Fall des Ge­ne­ral­st­abs­chefs Redl«, den »Sol­dat im Pra­ger Korps« und den »Klas­si­schen Jour­na­lis­mus«), muss der Dok­tor Be­cker den­noch der New Yor­ker den Preis zu­er­ken­nen. Denn sie dient wirk­lich dem Volk. Je­der Passant der Fifth Ave­nue, der eine Vier­tel­stun­de Zeit hat, je­des Kind, das ein Aben­teu­er­buch (es gibt einen Kin­der­le­se­saal), und je­der Frem­de, der eine Zei­tung sei­ner Hei­mat le­sen, je­der Kauf­mann, der eine Han­dels­vor­schrift nach­schla­gen will, kann im Win­ter­rock hin­auf­ge­hen, einen (un­ent­gelt­li­chen!) Zet­tel (ein­mal!) aus­fül­len; nach fünf Mi­nu­ten leuch­tet sei­ne Num­mer am Schal­ter rot auf, und er be­kommt sein Buch; hat er sich einen Stuhl ge­nom­men und des­sen Num­mer auf das For­mu­lar ge­schrie­ben, so wer­den ihm die Bän­de di­rekt auf sei­nen Platz zu­ge­stellt.

Es be­darf kei­ner Ein­tritts­kar­te, kei­ner Le­gi­ti­ma­ti­on, kei­ner Ge­bühr und kei­ner Bürg­schaft, und die dop­pel­te »ei­gen­hän­di­ge Un­ter­schrift« auf den deut­schen Schei­nen, die be­wirkt, dass der Aus­ga­be­be­am­te den Na­men nie­mals le­sen kann, wird hier nicht ver­langt; im Ge­gen­teil, wer in die­ser Prä­senz­bi­blio­thek stän­dig ar­bei­tet, stem­pelt eine An­zahl von Zet­teln mit sei­nem Na­men und braucht nur die Buch­num­mer dar­auf­zu­schrei­ben. (Wie, fragt der Deut­sche, kei­ne Auf­la­ge, kein Er­schei­nungs­jahr? Nein.) Die Ar­beits­räu­me für die ver­schie­de­nen Fä­cher ha­ben ei­ge­ne Hand­ka­ta­lo­ge, feu­er­si­che­re Schrän­ke für die No­ti­zen je­des Be­nut­zers und Schreib­ma­schi­nen­ti­sche und Wasch­be­cken mit Heiß­luft­trock­ner.

Das Herr­lichs­te aber ist der Zet­tel­ka­ta­log, in dem je­des der drei Mil­lio­nen Bü­cher drei- oder vier­mal vor­zu­fin­den ist, ein­mal un­ter dem Na­men des Au­tors, ein­mal un­ter dem Haupt­wort des Ti­tels, ein- oder zwei­mal in den Wis­sens­ge­bie­ten, zu de­nen es ge­hört. Und die zu ei­ner prin­zi­pi­el­len Fra­ge ge­hö­ren­den Zeit­schrif­ten- und so­gar Zei­tungs­ar­ti­kel sind gleich­falls ein­ge­reiht.

In Wa­shing­ton ist frei­lich der Le­se­saal kein Teil der Stra­ße, hier ar­bei­ten un­ter der far­ben­froh-him­mel­na­hen Kup­pel die fins­te­ren Män­ner, die ein noch so lei­ses Schnäu­zen aus der Er­kennt­nis der ewi­gen Wahr­heit reißt. Es sol­len eine Mil­li­on Bän­de mehr hier sein als in New York, der Re­kord des Bri­tish Mu­se­um fast er­reicht. (Je­des Werk, ir­gend­wo in der Welt er­schei­nend und aufs Co­py­right re­flek­tie­rend, muss in ei­nem Pf­licht­ex­em­plar an die Kon­gress­bü­che­rei ge­sandt wer­den.)

Wer sich lang­weilt in Wa­shing­ton, wer kei­nen Be­kann­ten hier hat oder wer aus sonst ei­nem Grun­de die Sa­che mit­ma­chen will, geht um ein Vier­tel eins zum Prä­si­den­ten der Ve­rei­nig­ten Staa­ten und schüt­telt ihm die Hand. Man braucht sich nur im Vor­zim­mer des Exe­cu­ti­ve Of­fi­ce ein­zu­schrei­ben, wird von dem Be­am­ten mit dem be­wuss­ten fra­gen­den Blick ge­streift, »sieht so ein Mör­der aus?«, und darf sich ein­rei­hen in den Zug, der sich lang­sam ge­gen den Ca­bi­net Room vor­wärts be­wegt. Nahe der Tür sind au­ßen zwei hand­fes­te Män­ner und in­nen der Mis­ter Coo­lid­ge pos­tiert. Der dür­re Alte mit dem Vo­gel­ge­sicht streckt je­dem die Hand ent­ge­gen und stellt ab­wech­selnd eine Fra­ge und eine Be­haup­tung auf. Die Fra­ge lau­tet: »Wie geht’s Ih­nen?«, die Be­haup­tung: »Ich bin froh, Sie zu se­hen.« Hier­auf macht man fünf Schrit­te. Dort ist die Tür!