Schreib das auf, Kisch! - Egon Erwin Kisch - E-Book

Schreib das auf, Kisch! E-Book

Egon Erwin Kisch

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Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Kisch, der "rasende Reporter", wie er auch genannt wurde, schildert buchstäblich und hautnah, wie es ihm zwischen Schützengräben, Feuergefechten und Märschen ergangen ist. Wer das liest, versteht, warum der Erste Weltkrieg auch "Urkatastrophe" Europas genannt wird. Niemals zuvor war der Mensch so sehr seiner Würde beraubt, wurde er ein Spielball der Mächtigen: geschunden, ermordet und als Kanonenfutter missbraucht. Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 31. Juli 1914 und enden am 22. März 1915 mit Kischs Rückkehr aus dem Krieg. Dazwischen erlebt und berichtet er von Gewaltexzessen, sinnlosen Gefechten, Schikanen und Materialschlachten um wenige Meter Frontgewinne. Null Papier Verlag

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Egon Erwin Kisch

Schreib das auf, Kisch!

Das Kriegstagebuch

Egon Erwin Kisch

Schreib das auf, Kisch!

Das Kriegstagebuch

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Verlag E. Reiss, Berlin, 1930 (294 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962816-78-0

null-papier.de/669

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

›Schreib das auf, Kisch!‹

Juli 1914

Au­gust 1914

Sep­tem­ber 1914

Ok­to­ber 1914

No­vem­ber 1914

De­zem­ber 1914

Ja­nu­ar 1915

Fe­bru­ar 1915

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›Schreib das auf, Kisch!‹

Kein Nacht­tisch ohne Kriegs­bü­cher. Ich kann nichts da­für ... »Habe ich den Krieg ge­macht?« sagt die be­lei­dig­te Tan­te bei Mar­cel­lus Schif­fer. Die Tan­te hat’s gut – sie braucht die Schmar­ren we­nigs­tens nicht zu le­sen. Eine der Aus­nah­men: ›Schreib das auf, Kisch!‹ Die Neu­aus­ga­be ei­nes al­ten Kriegs­ta­ge­bu­ches von Kisch, mit ein paar meis­ter­haf­ten Schil­de­run­gen, die in je­dem Le­se­buch ste­hen soll­ten. (Er­schie­nen bei Erich Reiß in Ber­lin.) Nie­mand kann sa­gen: So war der Krieg. Er kann nur sa­gen: So war mein Krieg. Man muss sich das Ge­samt­bild aus Bild­chen zu­sam­men­set­zen. Kisch gibt sol­cher Bild­chen gar vie­le. Und der Über­gang über die Dri­na ge­hört in ein li­te­ra­ri­sches Mu­se­um.1

Kurt Tuchols­ky, Kri­ti­ken und Re­zen­sio­nen

An­spie­lung auf den his­to­ri­schen Ro­man »Die Brücke über die Dri­na« von Ivo An­drić (1945)  <<<

Der Blei­stift zit­ter­te und das Herz zit­ter­te, als die­ses Ma­nu­skript ent­stand, das du jetzt le­sen wirst.

Du bist klü­ger, als der Sol­dat war, der all das in sein No­tiz­buch krit­zel­te – sech­zehn Jah­re sind ver­gan­gen, Krieg und Frie­den sind ver­gan­gen mit Leh­ren, mit Kämp­fen um die Mäch­te und Per­so­nen, die wir da­mals nicht sa­hen, weil wir in den Schüt­zen­gra­ben be­foh­len wa­ren und auf den Schüt­zen­gra­ben ge­gen­über zu lu­gen hat­ten.

Der Her­aus­ge­ber K. ist mit dem Pro­to­koll­füh­rer K. nicht mehr iden­tisch.

Die heu­te er­folg­rei­chen Kriegs­bü­cher sind ohne Zwei­fel wei­ser. Sie stel­len die Tat­sa­chen von da­mals auf Grund der Er­fah­run­gen von heu­te dar, auf Grund der Ver­hält­nis­se und Ab­sich­ten von heu­te.

Vor dem Re­sul­tat sah der Krieg im Grun­de über­all gleich aus, in den Ar­gon­nen wie vor Sa­lo­ni­ki, in Ser­bi­en wie in den Kar­pa­ten, vor Pr­ze­mysl wie vor Ver­dun, 1914 wie 1918, auf der sau­be­ren ers­ten Sei­te des No­tiz­buchs wie auf der blut­be­fleck­ten letz­ten. Kriegs­ta­ge­buch wie Kriegs­ta­ge­buch.

In das mei­ni­ge ste­no­gra­fier­te ich un­un­ter­bro­chen. Es war nicht für den Druck ge­dacht, hat aber dann doch, noch wäh­rend des Krie­ges, ver­geb­li­che Ver­su­che un­ter­nom­men, aus dem Schüt­zen­gra­ben zu drin­gen, um sich hör­bar zu ma­chen. Schließ­lich er­schi­en ein Teil da­von, und auch das ist schon vie­le Jah­re her, bei K. An­dré in Prag un­ter dem Ti­tel »Sol­dat im Pra­ger Korps«. Zur Ein­lei­tung wur­de da­mals ge­sagt:

Wenn ei­ner beim Aus­he­ben der De­ckung auf einen ver­dutz­ten Maul­wurf stieß, so lach­te er: »Schreib das auf, Kisch!«

Zwei strit­ten halb im Scherz: »Wenn du noch mal mein Hand­tuch be­nüt­zen wirst, so schmier ich dir eine Ohr­fei­ge, dass man dir gleich die Er­ken­nungs­mar­ke ab­neh­men kann!« Und da­mit die­se War­nung auch or­dent­lich ge­bucht sei, rief mir min­des­tens ei­ner der Strei­ten­den zu: »Na­piš to, Ki­schi!«

Wenn ein Ka­me­rad ge­fal­len war, den alle rühm­ten, dann sag­ten sie mir: »Er war ein fei­ner Bursch. Schreib das auf, Kisch!«

Hat­te man Rum ge­fasst, ging ei­ner auf die La­tri­ne: »Na­piš to, Ki­schi!«

So for­der­te man (iro­nisch und ernst) den Jour­na­lis­ten auf, der auch als Sol­dat stets die Blät­ter sei­nes No­tiz­bu­ches be­krit­zel­te, und der Sol­dat be­krit­zel­te im­mer­fort die Blät­ter sei­nes No­tiz­bu­ches, weil man ihn (iro­nisch und ernst) auf­for­der­te.

Und schließ­lich wur­de das »Schreib das auf, Kisch!« ein ge­flü­gel­tes Wort, an­ge­wen­det auch, wenn ich nicht in der Nähe war.

Nicht in Schlag­wor­ten habe ich mei­ne Ein­drücke nie­der­ge­schrie­ben, son­dern ge­nau in der glei­chen Form, wie sie hier im Druck vor­lie­gen. Meist mit­ten im Aben­teu­er, nie­mals aber spä­ter denn vier­und­zwan­zig Stun­den nach dem Er­leb­nis. Wäh­rend die an­de­ren wu­schen, gru­ben, koch­ten oder schlie­fen. Als ich dann ver­wun­det ins Hin­ter­land kam und mei­ne in­zwi­schen aus dem Ste­no­gramm der No­tiz­bü­cher über­tra­ge­nen Ein­drücke durch­sah, ver­such­te ich an­fangs, hier und da einen Satz zu ver­än­dern, der mir un­wich­tig oder falsch er­schi­en, manch­mal ein Wort ein­zu­fü­gen, manch­mal einen Ge­dan­ken fort­zu­las­sen. Aber im­mer wie­der muss­te ich die­se Kor­rek­tur be­sei­ti­gen, denn sie er­wies sich im wei­te­ren Ver­lau­fe als un­lo­gisch und un­rich­tig: was mir heu­te falsch er­scheint, war da­mals rich­tig. Und ich muss­te eben das Da­mals gel­ten las­sen und än­der­te nichts mehr.

So wird frei­lich der Le­ser die­ses Pro­to­koll­bu­ches er­ken­nen, wie ich mich in Cha­rak­te­ris­ti­ken und in Voraus­sa­gen im Fel­de häu­fig ge­täuscht habe. Wenn man über die Tage Buch führt, dann ver­zeich­net man nicht bloß die ge­glück­ten Spe­ku­la­tio­nen, und wenn man die Auf­zeich­nun­gen in Druck legt, so darf man sich nicht klü­ger ma­chen, als man war. So ließ ich auch die Feh­ler und Wie­der­ho­lun­gen ste­hen. Man­che Tage wa­ren ein­tö­nig. Und doch habe ich ih­ren Ver­lauf ge­nau ver­zeich­net, denn die­ses Buch schreibt vor al­lem den ge­wöhn­li­chen Tag des ge­wöhn­li­chen Sol­da­ten im Krie­ge.

Das Buch ist den Sol­da­ten des Pra­ger Korps ge­wid­met: den Freun­den, die man dort un­ten rasch ge­wann und die man rasch ver­lor. Oft all­zu rasch.

Juli 1914

Frei­tag, den 31. Juli 1914.

Als zehn­jäh­ri­ger Jun­ge habe ich ein Ta­ge­buch zu füh­ren be­gon­nen. Wenn ich heu­te, da ich zwan­zig Jah­re äl­ter bin und an­de­re Mög­lich­kei­ten be­sit­ze, mich zu äu­ßern, wie­der die Füh­rung ei­nes Ta­ge­bu­ches auf­neh­me, so be­stim­men mich dazu meh­re­re Grün­de: das Ge­fühl, eine his­to­ri­sche Zeit zu er­le­ben, die Un­mög­lich­keit, die wich­tigs­ten mei­ner Er­leb­nis­se der­zeit pu­bli­zis­tisch preis­zu­ge­ben, die per­sön­li­chen Er­eig­nis­se, die, im Zu­sam­men­hang mit der po­li­ti­schen Lage, in den letz­ten Ta­gen mich ge­trof­fen ha­ben und die in mir die Er­war­tung we­cken, dass ih­nen wei­te­re fol­gen wer­den.

Al­ler­dings sind die Er­leb­nis­se die­ser letz­ten Tage größ­ten­teils nur von schmerz­haft ero­ti­scher Na­tur, wo­durch die Ein­lei­tung mei­ner Kriegs­no­ti­zen so­zu­sa­gen den Me­moi­ren ei­nes Ca­sa­no­va von trau­ri­ger Ge­stalt äh­neln wird.

Ich bin auf Grund der alar­mie­ren­den Nach­rich­ten aus Binz auf Rü­gen am Diens­tag, dem 28. die­ses Mo­nats, nach Ber­lin ab­ge­reist. Am Mitt­woch be­kam ich einen Ex­press­brief mei­nes Bru­ders, dass ich so­fort zum Re­gi­ment ab­zu­ge­hen habe. Ich hol­te mir im k. k. Kon­su­lat mei­ne Be­glau­bi­gung für die Frei­fahrt und eine Weg­zeh­rung von ei­ner Mark und fünf­und­fünf­zig Pfen­ni­gen. Mei­ne Freun­din Tru­de sag­te mir zum Ab­schied, sie habe mir noch et­was zu beich­ten, sie möch­te nicht, dass zwi­schen uns eine Lüge sei, wenn ich in den Krieg zie­he. Sie woll­te lan­ge nicht mit der Spra­che her­aus, dann ge­stand sie mir, sie habe ein­mal einen Ein­griff an sich vor­neh­men las­sen.

Um 11 Uhr 13 Mi­nu­ten abends fuhr ich vom An­hal­ter Bahn­hof nach Prag. Auf dem Bahn­steig Tau­sen­de von Men­schen, die Deut­schen san­gen die Wacht am Rhein. Nach vie­len Irr­we­gen, Sto­ckun­gen und Ver­schie­bun­gen kam der Zug end­lich am Don­ners­tag um 11 Uhr vor­mit­tags in Prag an. Schon in Bo­den­bach hat­te ich die gel­ben Pla­ka­te ge­le­sen, dar­auf stand, dass sich je­der zum 8. Korps ge­hö­ri­ge Re­ser­vist bei sei­nem Trup­pen­kör­per zu mel­den habe. Bis jetzt hat­te ich ge­glaubt, dass man auf die Ein­be­ru­fung war­ten müs­se; auch im Ber­li­ner Kon­su­lat war mir das ge­sagt wor­den. Nun brach­ten mir die Pla­ka­te dop­pel­te Post: ich wer­de also je­den­falls in den Krieg zie­hen, mög­li­cher­wei­se aber noch be­straft wer­den, weil ich nicht schon am Sonn­tag bei mei­nem Trup­pen­kör­per ein­ge­trof­fen war, dem k. u. k. In­fan­te­rie­re­gi­ment Nr. 11 in Pi­sek, bei wel­chem ich Re­ser­ve­kor­po­ral bin.

Vom Bahn­hof fuhr ich so­fort nach Hau­se und pack­te mei­ne Sa­chen. So viel, dass sie ein win­zi­ges Hand­täsch­chen füll­ten, das ich nur auf Aus­flü­ge mit­zu­neh­men pfle­ge. Eine Zahn­bürs­te, Kamm, Sei­fe, vier Ta­schen­tü­cher, drei Hem­den, zwei Un­ter­ho­sen. Mei­ne Mut­ter woll­te mir noch eine drit­te Un­ter­ho­se und ein Nacht­hemd ein­pa­cken, aber ich lehn­te ab: »Du glaubst wohl, dass ich in den Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg zie­he?«

Dann fuhr ich in die Vor­stadt Smi­chow zu Kla­ra. Ich hat­te sie schon sechs Mo­na­te nicht mehr ge­se­hen, aber statt freu­dig auf­zu­sprin­gen, als ich ein­trat, wur­de sie krei­de­bleich. »Wa­rum bist du so er­schro­cken?« frag­te ich sie. Sie war kaum im­stan­de, mir eine Ant­wort zu ge­ben, so muss­te ich von Neu­em fra­gen: »Warst du mir nicht treu?« Sie zeig­te mir, ohne mich an­zu­se­hen, einen Ring, den sie an der lin­ken Hand trug. »Du bist also ver­lobt?« Sie nick­te. Nach ei­ner Wei­le erst be­gann sie zu spre­chen: ich hät­te ihr so sel­ten ge­schrie­ben, ihr in mei­nen spär­li­chen Brie­fen im­mer nur zu­ge­re­det, dass sie tan­zen, sich un­ter­hal­ten, Aus­flü­ge ma­chen sol­le, so­dass sie längst den Ein­druck ge­won­nen habe, ich möge sie nicht mehr. Das war nun wahr und nicht wahr. Ich hat­te ihr al­ler­dings ab­sicht­lich so we­nig ge­schrie­ben, da­mit sie sich nicht an mich ge­bun­den füh­le, da­mit sie ihre Frei­heit habe, wenn ich mich in Ber­lin un­ter­hal­te. Aber ins­ge­heim hat­te ich doch ge­glaubt, sie wür­de mir auch treu blei­ben, wenn sie, an­de­re Leu­te ken­nen­ler­nen und an ver­schie­de­nen Ver­gnü­gun­gen teil­neh­men wer­de.

Um 6 Uhr 20 Mi­nu­ten abends ging mein Zug nach Pi­sek. Zu Hau­se aß ich zu Mit­tag und sprach mit mei­nen Brü­dern, die nicht ein­rücken, da sie zu je­nen Korps ge­hö­ren, die nicht mo­bi­li­siert sind. Wir mach­ten Wit­ze, um Be­sorg­nis­se der Mut­ter zu zer­streu­en, und dann fuhr ich zur Bahn. Dort dräng­ten sich Hun­der­te von Re­ser­vis­ten um die Kas­se, in ih­rer Mit­te ein hüb­sches Mä­del.

Ich bot mich an, ihr die Fahr­kar­te zu lö­sen, was sie gern an­nahm. Wir ka­men ins Ge­spräch, und wäh­rend wir im Ei­sen­bahn­zug zu­sam­men­ge­pfercht ne­ben­ein­an­der­sa­ßen, er­zähl­te sie, dass sie nach Pi­sek fah­re, wo mor­gen ihre Kriegs­trau­ung mit ei­nem ins Feld ab­ge­hen­den Re­ser­ve­of­fi­zier statt­fin­de. Sie heg­te nur die Be­fürch­tung, dass ihr Bräu­ti­gam sie nicht auf dem Bahn­hof er­war­ten wer­de, da man auf dem Post­amt die Ab­sen­dung ih­res Te­le­gramms ab­ge­lehnt hat­te und die Züge un­re­gel­mä­ßig ver­keh­ren. Ihre Be­fürch­tung stei­ger­te sich, als sie von den Mit­pas­sa­gie­ren er­fuhr, dass in Pi­sek die Züge in zwei Sta­tio­nen hal­ten, in »Pi­sek Hal­te­stel­le« und in »Pi­sek Stadt«, und dass es ganz aus­ge­schlos­sen sei, dort im Ho­tel ein Zim­mer zu be­kom­men, weil die Stadt voll von Of­fi­zie­ren und je­des Zim­mer mit sie­ben bis acht Per­so­nen be­legt sei. Nun war sie ver­zwei­felt, so spät abends dort ein­zu­tref­fen und viel­leicht al­lein in der Stadt die gan­ze Nacht um­her­ir­ren zu müs­sen, da sie doch das Haus Pi­sek 217 nicht fin­den und – fän­de sie es auch – ein frem­des Haus nicht alar­mie­ren kön­ne. Die Pas­sa­gie­re rie­ten ihr, in Při­bram die Fahrt zu un­ter­bre­chen, zu über­nach­ten und um 6 Uhr mor­gens wei­ter­zu­fah­ren. Ich nahm die­se An­re­gung auch für mich auf und er­klär­te, es eben­so ma­chen zu wol­len, um nicht die Nacht in den Stra­ßen Pi­seks zu­zu­brin­gen. In Při­bram sprang ich dann mit ihr aus dem Wag­gon. Wir gin­gen in das nächs­te Ho­tel und aßen Abend­brot. Sie ge­wann Ver­trau­en zu mir, er­zähl­te mir von ih­rer lang­jäh­ri­gen Be­zie­hung zu ih­rem Bräu­ti­gam, dem sie ziem­lich kri­tisch ge­gen­über­stand und den sie haupt­säch­lich des­halb hei­ra­ten wol­le, weil er pen­si­ons­be­rech­tigt sei. Im Üb­ri­gen ge­wann ich aus dem Ge­spräch, vor al­lem aus ih­rer Schil­de­rung der Ei­fer­suchtss­ze­nen und der Vor­wür­fe, die ihr der Bräu­ti­gam ge­macht habe, die Über­zeu­gung, dass sie selbst nicht all­zu ein­wand­frei sei. Ich ver­schob nun das Ge­spräch auf lus­ti­ge­re Ba­sis und be­stach drau­ßen den Kell­ner, dass er er­klä­re, nur ein ein­zi­ges Zim­mer mit zwei Bet­ten zur Ver­fü­gung zu ha­ben, aber kein ein­zi­ges Zim­mer mit ei­nem Bett.

Mor­gens um 6 Uhr fuh­ren wir nach Pi­sek. Ich be­gab mich so­fort in die Ka­ser­ne. Hun­der­te von Re­ser­vis­ten stan­den im Hof, teils ein­ge­klei­det, teils noch nicht. Un­zäh­lig vie­le alte Be­kann­te. Doch wie hat­ten sich die meis­ten seit un­se­rer ge­mein­sa­men Dienst­zeit ver­än­dert! Sol­che, die ohne par­fü­mier­te Schüt­zen­schnur da­mals die Ka­ser­ne nicht ver­las­sen hät­ten und so­gar in der An­ord­nung der Di­stink­ti­ons­ster­ne Ko­ket­te­rie be­wie­sen hat­ten, hiel­ten es jetzt nicht mehr der Mühe wert, sich einen her­ab­hän­gen­den Knopf fest­zunä­hen oder die all­zu lan­gen Är­mel ein­zu­säu­men. Sie sa­hen ver­wahr­lost aus; das Zi­vil­le­ben, das sie da­mals so er­sehnt hat­ten, hat­te ih­nen üb­ler mit­ge­spielt als der Feld­we­bel. Sie wa­ren ge­al­tert, tru­gen Voll­bär­te und wa­ren Fa­mi­li­en­vä­ter ge­wor­den, und es be­rühr­te mich selt­sam, als ein eins­ti­ger Kom­pa­nie­kol­le­ge, der ein Rie­sen­laus­bub ge­we­sen und mit mir mo­na­te­lang im Ar­rest ge­ses­sen hat­te, er­zähl­te, dass er Va­ter von fünf Kin­dern sei.

Man sprach über Ser­bi­en, über den Selbst­mord des Ma­ga­zi­n­of­fi­ziers Haupt­mann Tho­ma, von dem das Gerücht ver­brei­tet ist, dass er sich heu­te we­gen Un­ter­schla­gun­gen ge­tö­tet habe. In Wirk­lich­keit soll das Ma­ga­zin in Ord­nung sein und Tho­ma die Tat nur aus Ner­vo­si­tät und Angst vor dem Rum­mel be­gan­gen ha­ben.

Am Nach­mit­tag wur­de pla­ka­tiert, dass der Kai­ser die all­ge­mei­ne Mo­bi­li­sie­rung an­ge­ord­net habe. Mir fiel mei­ne Mut­ter ein: mei­ne vier Brü­der wer­den wohl jetzt ein­rücken müs­sen; mein Herz­schlag stock­te, als ich mir ver­ge­gen­wär­tig­te, wie jetzt zu Hau­se al­les in der gräss­lichs­ten Auf­re­gung we­gen der Abrei­se in einen großen Krieg sei. Die Leu­te la­sen das un­heil­ver­kün­den­de Pla­kat ohne Ver­ständ­nis: »Es ist gut, dass auch die an­de­ren Län­der dran­kom­men.« – »Das be­deu­tet, dass auch die Jä­ger­ba­tail­lo­ne ein­rücken müs­sen« usw.

Abends hat­te ich mei­nen Tor­nis­ter zu pa­cken und den Man­tel dar­auf­zu­schnü­ren. Pfui, war das eine Ar­beit! Ich glau­be, ich wür­de »im Fel­de« lie­ber er­frie­ren als den Man­tel an­zie­hen. Müss­te ich ihn doch wie­der ein­rol­len.

August 1914

Sams­tag, den 1. Au­gust 1914.

Ich habe den Abend bei ei­nem Kauf­mann ver­bracht, den ich aus der Zeit ken­ne, da er in Prag Funk­tio­när der So­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei war. Er be­wir­te­te mich und prahl­te vor sei­ner Frau mit sei­nen Be­zie­hun­gen zur Li­te­ra­tur, wozu er mich als Zeu­gen an­rief. Er er­zähl­te, dass er vor drei oder vier Jah­ren jede Nacht mit Hugo Sa­lus durch­ge­bum­melt und ihm in ei­nem Bor­dell 20 Kro­nen ge­borgt habe; Sa­lus habe das Geld ver­sof­fen, aber nicht zu­rück­be­zahlt. Gu­ter Sa­lus! Du hast wohl in dei­nem gan­zen Le­ben noch nie 20 Kro­nen ver­sof­fen, am al­ler­we­nigs­ten aber aus­ge­lie­he­ne! – Die Frau des Kauf­manns ängs­tig­te sich, dass ihr Mann als Land­sturm­mann in den Krieg zie­hen wer­de. Er selbst be­stärk­te sie durch ab­sicht­lich un­ge­schick­te Trös­tun­gen in ih­rer Be­sorg­nis, um sich als Krie­ger groß­zu­tun und ihre Lie­be durch Be­fürch­tung zu stär­ken. So hat­te ich die miss­li­che Auf­ga­be, die Frau trös­ten und – um des Man­nes wil­len – gleich­zei­tig her­vor­he­ben zu müs­sen, dass ihm Ge­fahr dro­he.

Des Mor­gens fass­te ich in der Kom­pa­nie mein Ge­wehr und die Pa­tro­nen­ta­schen. Ich häng­te nun den Tor­nis­ter und die üb­ri­ge Rüs­tung um und wank­te un­ter der Last. Da­bei sind die schar­fen Pa­tro­nen noch gar nicht ver­packt! Auch eine Le­gi­ti­ma­ti­ons­kap­sel, das Ver­band­päck­chen und ein Säck­chen mit Salz er­hiel­ten wir.

Vor­mit­tags wur­den wir ran­giert; ich bin Flü­gel­mann des vier­ten Zu­ges, zwei­tes Glied, und Kom­man­dant des vier­ten Schwar­mes. Zwölf Leu­te sind mei­ner Füh­rung un­ter­stellt. Nach­mit­tags er­hielt je­der Mann zwei­hun­dert schar­fe Pa­tro­nen, ich als Schwarm­füh­rer nur vier­zig. Ich emp­fin­de dies jetzt als Glück, denn ich weiß nicht, wie ich die­se blei­er­ne Last zu mei­nen an­de­ren Las­ten ge­tra­gen hät­te.

In Pi­sek starb ein Fähn­rich vom Train auf dem Markt­platz an Herz­schlag. Ein Sol­dat von der Land­wehr hat sich er­schos­sen, ein Ka­dett von der Ar­til­le­rie, töd­lich an­ge­schos­sen, liegt im Spi­tal. Die Gat­tin ei­nes Re­ser­vis­ten in Purk­ra­ditz ist wahn­sin­nig ge­wor­den. Ob­wohl wir sol­ches er­fah­ren, sind wir in bes­ter Lau­ne. Es ist we­ni­ger Gal­gen­hu­mor als Leicht­sinn und viel­leicht Un­kennt­nis der Sach­la­ge. Auch hier be­rührt sich die Wir­kung der höchs­ten Dumm­heit mit der der höchs­ten Klug­heit: was kann man Bes­se­res tun als sorg­los sein? Und es ist ein Glück, dass die gute Stim­mung an­ste­ckend wirkt. Die aus­ge­ge­be­nen Kaf­fee­kon­ser­ven wer­den von uns an die Dorf­ju­gend ver­teilt. Den stei­ner­nen Zwie­back und die Fleisch­kon­ser­ven pa­cken wir in die Brot­sä­cke, mit dem Kom­mis­sta­bak wird von den Nicht­rau­chern ein schwung­haf­ter Han­del ge­trie­ben. Di­stink­ti­ons­ster­ne sind in Pi­sek nicht er­hält­lich, die Char­gen ha­ben sie sich des­halb mit Krei­de oder Blei­stift auf die Ega­li­sie­rung1 ge­malt. Ho­te­lier Selt­mann aus Prag, der eben mit dem Au­to­mo­bil hier an­ge­kom­men ist, er­zählt, dass Jau­res we­gen sei­ner Kriegs­geg­ner­schaft er­mor­det und dass der Lo­včen von den Ös­ter­rei­chern im drit­ten Sturm ge­nom­men wor­den sei. Ich kann die­se Nach­rich­ten nicht glau­ben.

Auf dem Markt war um 7 Uhr Ve­rei­di­gung. Der Platz konn­te die Men­schen nicht fas­sen; wie in ei­nem He­rings­fass war man ge­drängt. Oberst­leut­nant Ha­lus­ka um­arm­te sei­ne al­ten Kom­pa­nie­sol­da­ten, aus den Fens­tern des Rat­hau­ses wur­den Blu­men ge­streut, und je­der der ar­men Re­ser­vis­ten, die ges­tern ver­zwei­felt von Weib und Kind fort­ge­zo­gen sind, be­zog die Kuss­hän­de der ele­gan­ten Da­men nur auf sich und er­wi­der­te sie. Als die Re­gi­ments­fah­ne un­ter den Klän­gen der Volks­hym­ne auf den Platz ge­tra­gen wur­de, stieg die Er­re­gung, und in der Pau­se zwi­schen den bei­den Be­feh­len »Zum Ge­bet« und »Vom Ge­bet« sand­te ge­wiss fast je­der ein Stoß­ge­bet zum Him­mel, ob­wohl bei den hun­dert­fa­chen Wie­der­ho­lun­gen die­ser Übung auf den Ex­er­zier­fel­dern nie­man­dem je­mals ge­sagt wor­den war, dass die­ser Zeit­raum für ein Ge­bet ver­wen­det wer­den sol­le. Nach kur­z­er Mes­se las Haupt­mann Tur­ner mit Schwung, Pa­thos und er­staun­li­chem Or­gan den Schwur deutsch für die deut­sche Mann­schaft, die ihn wie­der­hol­te; dann kam der tsche­chi­sche Schwur. Es war falsch or­ga­ni­siert, dass man nicht aus den Deut­schen ein Ba­tail­lon for­miert hat­te, das ge­trennt von den an­de­ren ge­schwo­ren hät­te. So stand bei je­dem Schwur die Mann­schaft der nicht­be­tei­lig­ten Na­ti­on be­deck­ten Haup­tes in »Ruht«-Stel­lung da­bei. Die Wor­te der Schwur­for­mel sind über­dies in jäm­mer­li­chem Stil ab­ge­fasst, die Zä­su­ren un­sin­nig, die Spra­che ist phra­sen­haft und ge­schwol­len. Es folg­te eine an Hand des kai­ser­li­chen Ma­ni­fes­tes aus­ge­ar­bei­te­te Rede des neu­en Re­gi­ments­kom­man­dan­ten, des Obers­ten Karl Wo­k­oun, die vom Ma­jor Lašek ins Tsche­chi­sche über­setzt wur­de. Hier­auf brach­te der Oberst ein Hur­ra auf den Kai­ser aus, die Mann­schaft schwenk­te die Kap­pen, die Of­fi­zie­re zück­ten die Sä­bel, das Pub­li­kum in den Fens­tern wink­te mit Hü­ten und Ta­schen­tü­chern. Nach­dem noch vom Bür­ger­meis­ter die Fah­ne mit ei­nem rot-wei­ßen Band ge­schmückt wor­den war, be­gann der Ab­marsch, Blu­men reg­ne­te es aus man­chen Fens­tern, Frau­en und alte Män­ner im Pub­li­kum wein­ten, und die Er­re­gung pflanz­te sich auf die Mann­schaft fort, die sich müh­te, die Rüh­rung un­ter Zy­nis­men zu ver­ber­gen.

Sonn­tag, den 2. Au­gust 1914.

Heu­te Nacht ist ein ehe­ma­li­ger Frei­wil­li­ger des Re­gi­ments, ein Ser­bo-Kroa­te, der sich frei­wil­lig zur Dienst­leis­tung ge­mel­det hat­te, un­ter Spio­na­ge­ver­dacht fest­ge­nom­men und ver­hört wor­den. Es wur­de ihm bis jetzt nichts nach­ge­wie­sen. Um 2 Uhr nachts ist die ers­te Kom­pa­nie mit dem Zug über Ta­bor süd­wärts ab­ge­gan­gen. Wir an­de­ren lun­gern vor der Ka­ser­ne her­um. Die einen er­zäh­len, dass es be­stimmt ge­gen Russ­land gehe, aber Of­fi­zie­re und Bahn­be­am­te glau­ben aus ver­schie­de­nen An­zei­chen schlie­ßen zu kön­nen, dass wir ge­gen Ser­bi­en be­stimmt sind.

Mit­tags wur­de die Löh­nung ver­teilt. An­geb­lich wur­de ein Mann ver­haf­tet, des­sen Bu­ckel nicht echt war, son­dern ein Pa­ket von Gif­ten – was die Leu­te so er­zäh­len! Um halb 6 Uhr abends for­mier­ten wir uns auf der Stra­ße zum Ab­marsch. Wir wur­den mit Blu­men be­schenkt, eine alte Frau ver­teil­te an die Sol­da­ten bro­schier­te Exem­pla­re des Evan­ge­li­um Jo­han­ni, und die Ab­schied­neh­men­den und die Zu­rück­blei­ben­den be­kreu­zig­ten ein­an­der. Wir for­mier­ten uns in vier Kom­pa­ni­en (die drei an­de­ren Ba­tail­lo­ne sind be­reits im Lau­fe des Ta­ges ab­ge­gan­gen), der Ba­tail­lons­kom­man­dant ließ die Stra­ße ab­sper­ren und die Zi­vi­lis­ten ver­ja­gen, wo­bei er laut und er­regt schimpf­te, weil die Frau­en sich nicht vom An­blick ih­rer ab­zie­hen­den Män­ner los­rei­ßen konn­ten. Die Maß­re­gel schi­en mir nicht op­por­tun und nicht un­be­dingt not­wen­dig; den Re­ser­vis­ten tra­ten die Trä­nen in die Au­gen, als sie ihre Frau­en da­von­ge­jagt sa­hen. Wa­ren nicht auch die drei an­de­ren Ba­tail­lo­ne ohne Ab­sper­rungs­maß­re­geln ord­nungs­ge­mäß ab­ge­reist? Über­dies klet­ter­ten ei­ni­ge Re­ser­vis­ten­frau­en durch die Fens­ter wie­der in un­ser Kar­ree und brach­ten den Sol­da­ten Was­ser, von Neu­em ihre Män­ner un­ter herz­zer­rei­ßen­dem Schluch­zen um­ar­mend.

Bis halb 12 Uhr nachts sa­ßen und stan­den wir in der Ein­tei­lung. Ei­ni­ge Sän­ger hat­ten sich zu­sam­men­ge­tan und lie­ßen Cho­rä­le und Volks­lie­der er­tö­nen, meh­re­re Sol­da­ten spiel­ten auf Pflan­zen­blät­tern hüb­sche Lie­der. Man­che hat­ten sich be­sof­fen, die Of­fi­zie­re über­sa­hen dies im All­ge­mei­nen. Dann mar­schier­ten wir, von we­ni­gen Men­schen be­glei­tet, durch die ster­nen­lo­se Nacht an ei­nem Teich vor­bei, der matt schim­mer­te, zum Bahn­hof.

Mon­tag, den 3. Au­gust 1914.

Um Mit­ter­nacht stie­gen wir in den Mi­li­tär­zug, die Wag­g­ons sa­hen in die­ser um­wölk­ten Nacht schwarz aus, und mir fiel ein, dass ich noch nie im In­nern ei­nes Gü­ter­wa­gens ge­we­sen war. »Für 40 Män­ner oder 6 Pfer­de« stand auf dem Wag­gon, drei­und­drei­ßig Mann nah­men dar­in Platz, und un­ser Raum war knapp ge­nug be­mes­sen. Durch die Längs­mit­te lie­fen zwei Bän­ke mit ge­mein­sa­mer Rücken­leh­ne, an den bei­den Längs­wän­den war je eine Bank, nur die Mit­te des Wag­g­ons war zum Ein- und Aus­s­tei­gen frei ge­las­sen. Wir leg­ten Ge­wehr, Tor­nis­ter und Brot­sack un­ter die Bank und schlos­sen die Au­gen.

Ich saß in ei­ner Ecke, an mei­nen hilfs­be­rei­ten Waf­fen­übungs­ka­me­ra­den Wen­zel Ma­rek, Kanal­ar­bei­ter aus Pi­sek, ge­lehnt, und ver­such­te ein­zu­schla­fen. Aber wir drück­ten ein­an­der zu sehr, jede Be­we­gung des einen stör­te den an­de­ren. Des­halb bet­te­ten wir uns auf den Bo­den zwi­schen die Mit­tel­bank und die Bank an der Wand. Es war nicht leicht, denn auch der Bo­den war von Men­schen voll­kom­men be­legt. Die schwe­ren Tor­nis­ter wa­ren in der Dun­kel­heit und räum­li­chen Be­schränkt­heit nicht von der Stel­le zu schie­ben – so muss­te man Rumpf und Bei­ne in die vor­han­de­nen Lücken pres­sen. Aber man schlief in die­ser Stel­lung ei­nes Schlan­gen­menschen im­mer­hin ein. Durch klei­ne ver­git­ter­te Fens­ter hoch oben im Wag­gon, die den Lu­ken ei­nes Po­li­zei­wa­gens äh­neln, schau­ten ei­ni­ge Pi­se­ker den Lich­tern nach, die in der Stadt brann­ten. Sie ver­such­ten sich zu ori­en­tie­ren und frag­ten ein­an­der trüb­se­lig, was wohl die­ser oder je­ner Bür­ger, die­ses oder je­nes Mäd­chen eben ma­chen möge.

Mor­gens um 7 Uhr hielt der Zug in Ta­bor. Dort wur­den Erin­ne­run­gen an­de­rer Na­tur laut. Im Vor­jahr hat­ten wir hier im Kai­ser­ma­nö­ver fried­lich ge­kämpft, vie­le – dar­un­ter auch ich – in der Über­zeu­gung, dass sie zum letz­ten Male Ba­jo­nett und Tor­nis­ter trü­gen. Und Kom­man­dant war der Erz­her­zog Franz Fer­di­nand ge­we­sen.

Wir ka­men an Hüt­ten vor­über, an Wächt­er­häus­chen und an Dorf­bahn­hö­fen, an Bahn­schran­ken, Fel­dern; über­all stan­den Leu­te am Bahn­damm und seg­ne­ten den Zug, Wei­ber ran­gen die Hän­de und schri­en vor Leid. An man­chen Stel­len Gat­tin­nen un­se­rer Re­ser­vis­ten, sie wa­ren her­bei­ge­kom­men und hat­ten stun­den­lang den Zug er­war­tet (wann er kom­men wer­de, konn­te ja nie­mand wis­sen), nur um ih­ren vor­bei­fah­ren­den Män­nern ein Wort der Lie­be zu­ru­fen zu kön­nen. Um 9 Uhr fand in Ve­se­li-Me­zi­mos­ti die Kaf­fee­ver­tei­lung statt. Der Kaf­fee war auf den fla­chen, un­ge­deck­ten Wag­g­ons ge­kocht wor­den, auf de­nen je drei Fahr­kü­chen die gan­ze Nacht hin­durch ge­dampft hat­ten klei­ne Lo­ko­mo­ti­ven mit­ten im Ei­sen­bahn­zug. Ich ver­zich­te­te auf den elen­den Kom­miss­kaf­fee und woll­te mir im Bahn­hofs­re­stau­rant einen bes­se­ren kau­fen. Aber der Schank­tisch war voll von Sol­da­ten, die Sem­meln er­ste­hen woll­ten, so­dass ich nüch­ter­nen Ma­gens den Zug wie­der be­stei­gen muss­te.

In Wit­tin­gau wur­de wie­der Sta­ti­on ge­macht, dort er­zähl­ten uns die Leu­te, dass Russ­land auf die be­fris­te­te An­fra­ge über den Zweck der rus­si­schen Rüs­tun­gen mit der Kriegs­er­klä­rung geant­wor­tet habe. Die Sol­da­ten sind sich im All­ge­mei­nen der Trag­wei­te die­ser Mit­tei­lung nicht be­wusst, die nicht viel an­de­res zu be­deu­ten scheint als einen großen eu­ro­päi­schen Krieg, einen Welt­krieg.

Um halb 10 Uhr wa­ren wir in Chlu­metz. Auf dem Bahn­hof stand der klei­ne Her­zog Max von Ho­hen­berg mit der jüngs­ten Schwes­ter sei­ner Mut­ter, der Grä­fin Hen­ri­et­te Cho­tek, und ei­nem jun­gen Geist­li­chen. Er sah aus, als ob er sei­nem Va­ter, dem Erz­her­zog Franz Fer­di­nand, aus dem Ge­sicht ge­schnit­ten wäre. Der Prinz war aus dem Schloss Chlu­metz her­bei­ge­kom­men, um den Ge­ne­ral­ma­jor Pr­zi­borski, einen Freund des erz­her­zog­li­chen Hau­ses, bei der er­war­te­ten Durch­fahrt der 21. Land­wehr­di­vi­si­on zu be­grü­ßen. Da die­se nicht kam, be­trach­te­te er mit In­ter­es­se die aus­stei­gen­den Trup­pen un­se­res Re­gi­ments und freu­te sich, dass man ihn um­stand. Dann be­stieg er das Auto, das – man kann dies als sym­bo­lisch be­zeich­nen – der Geist­li­che lenk­te. Die Of­fi­zie­re und ei­ni­ge Sol­da­ten rie­fen Hoch, und der Bub dank­te im Weg­fah­ren durch be­geis­ter­tes Schwen­ken sei­ner Ma­tro­sen­müt­ze den Trup­pen, die aus­zo­gen, um den Mord an sei­nen El­tern zu rä­chen.

Bei der Sta­ti­on Erd­weiß ver­lie­ßen wir Böh­men und wa­ren um halb 12 Uhr in Gmünd. Da nur den Of­fi­zie­ren der Be­such des Bahn­hofs­re­stau­rants ge­stat­tet war, ver­such­te ich zum ers­ten Mal die Me­na­ge zu es­sen, ohne Er­folg. In Sig­munds­her­berg hör­ten wir von der Er­mor­dung Poin­carés und von den ers­ten Kämp­fen an der rus­si­schen Gren­ze. In Eg­gen­burg ver­teil­ten Rote-Kreuz-Da­men Li­kö­re und Apri­ko­sen an die Of­fi­zie­re, Zi­ga­ret­ten und Bier an uns.

Bei Tulln wur­de die Do­nau pas­siert, und ei­ni­ge In­fan­te­ris­ten beug­ten sich aus dem Fens­ter, um zu se­hen, wo – Bel­grad lie­ge. Mir wur­de elen­dig­lich schlecht. Mein zim­per­li­cher Ma­gen, das un­re­gel­mä­ßi­ge Sto­ßen und Rat­tern des Gü­ter­zu­ges, eine Er­käl­tung, die ich mir beim Wa­schen auf dem mor­gen­kal­ten Bahn­hof zu­ge­zo­gen hat­te, die Un­mög­lich­keit, Wä­sche zu wech­seln, und an­de­re Un­be­quem­lich­kei­ten be­wirk­ten, dass ich un­ter Kopf­schmer­zen er­brach, und mei­ne Ka­me­ra­den schüt­tel­reim­ten: »Ihr wer­det ihn noch ster­ben se­hen, be­vor wir vor den Ser­ben ste­hen.«

Diens­tag, den 4. Au­gust 1914.

Es war 6 Uhr früh, als wir auf dem Wie­ner Ost­bahn­hof lan­de­ten. Drei­ßig Stun­den ha­ben wir zur Fahrt von Pi­sek nach Wien ge­braucht. Nach ei­ner hal­b­en Stun­de ging’s wei­ter, durch Flo­rids­dorf, rechts und links lach­te auf al­len Bäu­men der Au­gust mit Blü­ten und Früch­ten. Klei­ne Bau­ern­häu­ser nah­men sich selt­sam aus an­ge­sichts der rie­si­gen Gas­an­stal­ten, Schlo­te, Kup­peln und Tür­me im Hin­ter­grund. Wir fuh­ren über Brücken, vor de­nen grau­bär­ti­ge Land­stür­mer mit Auf­schlä­gen der Deutschmeis­ter Wa­che hiel­ten; sie hat­ten Werndl­ge­weh­re mit dem lan­gen Ba­jo­nett und wink­ten uns mit den Müt­zen zu. Um halb 10 Uhr wa­ren wir in Press­burg, wo Me­na­ge ein­ge­nom­men wur­de. Im Schau­fens­ter der Bahn­hofs­buch­hand­lung, in der wir ein ser­bisch-deut­sches Kon­ver­sa­ti­ons­büch­lein kauf­ten, sa­hen wir den »Mäd­chen­hirt«. Auch Zei­tun­gen wur­den ge­kauft, in de­nen wir den Be­ginn des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges und die Be­set­zung von Czen­sto­chau und Ka­lisch durch die Deut­schen la­sen.

Viel zu schö­ne Mä­dels schenk­ten uns in al­len Sta­tio­nen Zi­ga­ret­ten, Schnaps, Feld­post­kar­ten. In Nagy­ma­ros brach­ten uns Jü­din­nen (Som­mer­frisch­le­rin­nen) Blu­men, Zi­ga­ret­ten und Obst an die Bahn und sand­ten uns Küs­se nach, in Wai­zen be­sorg­ten Pfad­fin­der un­se­re Be­wir­tung, kurz, die Stre­cke durch Un­garn glich ei­ner Via tri­um­pha­lis. Die­se Vor­aus­zah­lung stimm­te mich trüber als die Trä­nen der Zu­rück­blei­ben­den in Böh­men. Wird man uns ver­höh­nen, um­ju­beln oder be­dau­ern, wenn wir zu­rück­fah­ren, oder wer­den wir nicht mehr zu­rück­keh­ren? Um 9 Uhr wa­ren wir in Bu­da­pest, kauf­ten dort et­was Sala­mi und tran­ken Bier. Ge­gen halb 11 Uhr fuh­ren wir wei­ter.

Mitt­woch, den 5. Au­gust 1914.

In der Nacht an Moor­land­schaf­ten vor­über, in de­nen sich der Mond spie­gel­te. Der Kom­pass be­lehr­te uns, dass un­se­re Fahrtrich­tung die süd­li­che ist. Also, es steht fest: wir zie­hen ge­gen Ser­bi­en. Ku­ku­ruz­kol­ben, Ta­bak­stau­den und Hop­fen­ran­ken stan­den rechts und links von uns. Der ehe­ma­li­ge (de­gra­dier­te) Kor­po­ral Val­ta, ein Pra­ger Striz­zi, sang Bän­kel, ein Vor­rei­ter un­se­res Trains, im Zi­vil­ver­hält­nis Zir­kus­ar­tist, pro­du­zier­te sich in un­se­rem Wag­gon als Feu­er­fres­ser und Ent­fes­se­lungs­künst­ler, aus ei­nem Trän­kei­mer hol­te er mit dem Mun­de Zwan­zig-Hel­ler-Stücke her­aus. In Tom­bo­racs, Sü­dun­garn, be­ka­men wir um halb 1 Uhr nach­mit­tags Me­na­ge. In Csas­var-Ma­sor tra­fen wir einen Zug mit Ka­det­ten­schü­lern aus Te­mes­vár, dann Züge mit Ei­sen­ma­te­ri­al, mit Ka­no­nen, mit Mu­ni­ti­on.

Die­se kriegs­ge­mä­ßen Trans­por­te scho­ben sich zwi­schen uns und eine Land­schaft von bib­li­schem Frie­den und herr­li­cher Fül­le. Die Son­ne leuch­te­te über die sanf­ten Hö­hen, die Son­ne leuch­te­te über die grü­nen Rü­ben­blät­ter und ro­ten Mohn­blü­ten, die Son­ne leuch­te­te über das rei­fe Obst und über die Wein­ran­ken an den Bäu­men, die Son­ne leuch­te­te. Wird die Son­ne je­doch so leuch­ten, wenn wir mar­schie­ren wer­den, so trifft uns alle der Hitz­schlag.

Man fühlt nicht mehr, dass man schon drei Tage in der Ei­sen­bahn steckt, man ist schon im­mu­ni­siert ge­gen das Rat­tern, die Leu­te ha­ben die Zelt­blät­ter von Fens­ter zu Fens­ter ge­spannt und lie­gen dar­in wie in Hän­ge­mat­ten, die Ta­schen­tü­cher müs­sen den Dienst von Mos­ki­to­net­zen ver­se­hen, denn die Stech­mücken ha­ben kei­nen von uns mit ih­ren Sti­chen ver­schont. Nie­mand denkt mehr an die Wol­lust des Bet­tes da­heim. In Hi­das-Bony­had wur­den wir von Deut­schen mit Wein be­wir­tet. Es wa­ren Be­woh­ner der Sprachin­sel »Dol­na­er Hüt­te«. Ein Rie­sen­tun­nel folg­te mit Lärm und Rauch, und Ruß flog uns in die Au­gen. In den Sta­tio­nen über­all deut­sche Bau­ern und Bäue­rin­nen. Sie spre­chen bay­ri­sche Mund­art und ha­ben schwä­bi­sche Na­men, tra­gen schwar­ze Sti­cke­rei­en von kost­ba­rer Schön­heit.

In Moragy er­zähl­te man uns von Spio­na­ge und Spio­na­ge­ver­dacht, aber auf al­len Wag­g­ons der Trup­pen­trans­por­te sind ge­krit­zel­te Auf­schrif­ten zu le­sen: »Es lebe das 28. Land­wehr­re­gi­ment«, »Hoch die Pra­ger Sa­ni­täts­sol­da­ten«, »Drum san mer Lands­leut, Leit­me­rit­zer Bu­ben« usw.

In Ba­tas­zek me­na­gier­ten wir und hör­ten vom Sta­ti­ons­vor­stand, dass ein rus­si­sches Luft­schiff mit zwei Of­fi­zie­ren ges­tern her­un­ter­ge­schos­sen und die Pi­lo­ten ge­fan­gen­ge­nom­men wor­den sei­en. In Baja (dem al­ten Ba­jae) tra­fen wir mit un­se­rem drit­ten Ba­tail­lon zu­sam­men.

Don­ners­tag, den 6. Au­gust 1914.

An ei­nem Zaun, an dem sich die Ran­ken ei­nes Le­bens­baums em­por­streck­ten, sah ich, als der Zug abends im Frei­en hielt, einen Jun­gen, mit dem ich ins Ge­spräch kam. Er stand schon die zwei­te Nacht drau­ßen und sah den Mi­li­tär­zü­gen nach. Volk­mann Jo­sef spricht nicht Un­ga­risch, aber er ver­steht es und kann es le­sen, denn er hat es in der Schu­le ge­lernt. Deutsch kann er je­doch nicht le­sen, ob­wohl er ein Deut­scher ist, denn er hat es in der Schu­le nicht ge­lernt.

Um 8 Uhr früh fuh­ren wir über die stark­be­wach­te Do­nau­brücke. Im Was­ser stan­den bi­zar­re Bäu­me und selt­sa­me Insel­for­ma­tio­nen. Al­les ist hier Über­schwem­mungs­ge­biet. Die Leu­te am Ufer tru­gen ser­bi­sche Trach­ten und rie­fen uns in ser­bi­scher Spra­che Se­gens­wün­sche auf den Weg nach. Die Brücke mün­det in Er­dut, al­les ist be­reits dop­pel­spra­chig: un­ga­risch und kroa­tisch. In Dalj lie­ßen sich alle Sol­da­ten auf der au­to­ma­ti­schen Waa­ge, die am Per­ron stand, wie­gen. Ich wog 74 Kilo ohne Aus­rüs­tung. Wir sand­ten An­sichts­kar­ten ab. Man darf nicht schrei­ben, wo man ist und wo­hin man fährt. Man darf nur schrei­ben: »Mir geht es gut, was macht Ma­rie­chen?« Und auch das nur auf of­fe­nen Kar­ten. Aber alle hiel­ten die Hän­de über ihr Ge­krit­zel, da­mit nie­mand er­fah­re, was sie ih­rem Mä­del für wich­ti­ge Ge­heim­nis­se mit­tei­len.

Eng­land soll an Deutsch­land den Krieg er­klärt ha­ben, Ja­pan an Russ­land – wer weiß, ob’s wahr ist.

In Neu-Dalj, ei­ner Mi­li­tär­sta­ti­on, 2 km von uns ent­fernt, sind ges­tern um 6 Uhr früh durch einen Zug­zu­sam­men­stoß (?) zwei Mi­li­tär­zü­ge ent­gleist. 16 Tote und 47 Ver­letz­te vom 62. In­fan­te­rie­re­gi­ment aus Un­garn. Wir pas­sier­ten auf der Wei­ter­fahrt die Un­glücks­stät­te, schreck­lich zer­trüm­mer­te Wag­g­ons, die Puf­fer ver­bo­gen wie al­tes Blech, die Rä­der auf­wärts ge­streckt wie die Bei­ne ei­nes ver­reck­ten Hun­des, die Wän­de sind Spä­ne ge­wor­den.

Durch die­se Ka­ta­stro­phe wird sich un­ser Auf­marsch um min­des­tens zwei Tage ver­zö­gern.

Ba­ja­er deut­sche Schnit­ter ka­men von der Puß­ta Sla­wo­ni­ens, wo sie Ern­te­diens­te ver­rich­tet hat­ten. Bos­ni­sche Re­ser­vis­ten, man­che mit ös­ter­rei­chi­schen Mi­li­tär­me­dail­len, sa­hen wie Grei­se aus, ob­wohl sie höchs­tens vier­zig Jah­re alt wa­ren.

Die Hit­ze ist so stark wäh­rend un­se­rer Fahrt durch die un­end­li­chen Mais­fel­der Sla­wo­ni­ens, dass ei­ni­ge Ohn­machts­an­fäl­le vor­kom­men und schwe­re Be­fürch­tun­gen laut wer­den. Um halb 7 Uhr fal­len – ein ein­stim­mi­ges Gott­sei­dank be­grüßt sie – große Re­gen­trop­fen in die Wag­gon­fens­ter. Aber schon in Bo­ro­vo an der Do­nau hör­te es lei­der zu reg­nen auf. Um 7 Uhr abends stie­gen wir in Vin­kov­ce mit um­ge­häng­ter Rüs­tung aus. Dann wur­den wir wie­der ein­wag­go­ni­ert und ka­men um 10 Uhr abends in Zu­pa­nye an.

Nach ei­ni­gen Kon­trol­len mar­schier­ten wir 6 km bis zum Ufer der Save bei Oras­ze.

Der Durst kleb­te un­se­re Zun­ge an den Gau­men, wir wank­ten auf dem Marsch un­ter der Tor­nis­ter­last, da wir nichts ge­ges­sen hat­ten und vier Tage lang durch­ge­schüt­telt wor­den wa­ren. Am Ufer roll­ten wir uns in un­se­re Zelt­blät­ter ein und leg­ten uns auf den feuch­ten Wie­sen schla­fen. Ge­gen 2 Uhr wur­den wir ge­weckt und fro­ren wie die Spat­zen. Alle zo­gen sich Wes­ten an und Leib­bin­den.

Wir be­stie­gen drei Last­käh­ne der Do­nau-Dampf­schiff­fahrts­ge­sell­schaft, in de­nen – wie He­rin­ge ein­ge­pfercht – zwei­tau­send Mann Un­ter­kunft fan­den. Die drei Schif­fe wur­den von ei­nem Damp­fer ins Schlepp­tau ge­nom­men und die Save auf­wärts ge­zo­gen. An Bord wur­de ein Sol­dat ohn­mäch­tig, ein an­de­rer von re­li­gi­ösem Wahn­sinn be­fal­len.

Frei­tag, den 7. Au­gust 1914.

Ge­gen halb 11 Uhr früh wur­den wir, be­deckt mit Koh­len­staub und Dreck, in Ja­me­na aus­ge­schifft. Wir mar­schier­ten. Die Son­ne brann­te wie irr­sin­nig, von un­se­ren Ge­sich­tern floss es in Bä­chen, un­se­re Ho­sen­trä­ger wa­ren nass zum Aus­win­den, mei­ne Un­ter­ho­sen hat­ten sich schon vor­her in der Hit­ze an die Haut ge­klebt und wa­ren so beim Auf­stei­gen und Aus­s­tei­gen wäh­rend der Ei­sen­bahn­fahrt zer­ris­sen wor­den, dass jetzt mei­ne Haut an der Tuch­ho­se kleb­te, was zum Schrei­en weh tat, die St­rümp­fe drück­ten, und ich spür­te blu­ti­ge Fuß­bla­sen. Halb­tot mach­ten wir im Dor­fe Obers­ka nach acht Ki­lo­me­tern Rast, wo es we­nigs­tens Was­ser gab.

An ei­nem or­tho­do­xen Kirch­hof vor­bei, des­sen Kreu­ze wie Schei­ben zum Vo­gel­schie­ßen aus­sa­hen, ka­men wir um halb 8 Uhr abends nach Bje­li­na. Wir hat­ten ein Nest er­war­tet und fan­den eine Stadt mit al­len Merk­ma­len des Ori­en­ta­li­schen und doch auch mit vie­len mo­der­nen Bau­ten; und in­mit­ten der Men­ge ver­schlei­er­ter Frau­en, der klei­nen Mäd­chen in Plu­der­ho­sen und der weiß­bär­ti­gen Tür­ken, in­mit­ten des Blu­men­gar­tens von ro­ten, grü­nen, wei­ßen und blau­en Fe­zen und Tur­ba­nen sah man ele­gan­te Dra­go­ner­of­fi­zie­re, Au­to­mo­bi­le, Ge­nerä­le und der­lei. Ähn­lich ist es vo­ri­ges Jahr im al­ba­ni­schen Sku­ta­ri bei der Über­ga­be an die Mäch­te zu­ge­gan­gen, aber die­se un­ge­heue­ren Mas­sen von Mi­li­tär, von ei­nem Mi­li­tär, das mit der ori­en­ta­li­schen Um­ge­bung durch­aus kon­tras­tiert, hat­te es dort nicht ge­ge­ben. Wir wur­den in ei­ner Scheu­er ein­quar­tiert und durf­ten dann durch die Stadt schlen­dern. Das Rat­haus ist jetzt vom Kom­man­do des 8. Korps ok­ku­piert.

Bei ei­nem Kauf­mann trank ich für einen Kreu­zer Ku­ku­ruz­bier und aß Sul­tans­brot – bis­her hat­te ich ge­glaubt, dass der Gau­ner Duko Pet­ko­vic die­sen Schmar­ren ei­gens für die Märk­te der Groß­städ­te er­fun­den habe.

Auf dem Markt­platz steht ein Gal­gen, ein Pflock mit ei­nem Na­gel oben. Heu­te sind ein Pope und ein Stu­dent ge­hängt wor­den. In der Nacht hör­ten wir Schüs­se, es gibt schon Vor­pos­ten­ge­plän­kel.

Sams­tag, den 8. Au­gust 1914.

Vor­mit­tags fand das Be­gräb­nis ei­nes 73ers statt, der ges­tern Nacht auf Feld­wa­che er­schos­sen wor­den ist. Um 4 Uhr nach­mit­tags hör­te ich das Ge­bet des Muez­zins. Im gel­ben Ge­bet­man­tel sang er eine Kol Nid­re-Me­lo­die,2 rings um den fi­li­gran­ge­schnitz­ten Bal­kon des Mo­schee­tur­mes schrei­tend. Ich ließ mich von dem Mann auf dem Kam­pa­ni­le nicht zwei­mal ein­la­den und be­gab mich so­fort zum Got­tes­dienst in die Mo­schee. Dort sprach der Ho­dscha kroa­tisch dar­über, dass die mos­le­mi­schen Sol­da­ten im Krie­ge nicht fas­ten müs­sen. Der Raum war qua­dra­tisch und mit Tep­pi­chen be­deckt. Die Mos­lems hiel­ten die Hän­de zum Ge­bet aus­ge­brei­tet und be­weg­ten rhyth­misch ih­ren Kör­per.

Im Café er­fuh­ren wir von zei­tungs­le­sen­den Män­nern, spa­nio­li­schen Ju­den, Eng­land habe wirk­lich den Krieg an Deutsch­land er­klärt. Sie teil­ten uns auch mit, dass die Nach­rich­ten von der Er­mor­dung Poin­carés und von der Er­stür­mung des Lo­včen nicht rich­tig sei­en. In ei­nem Wa­gen fuhr eine ver­wun­de­te Ser­bin vor­über. Sie hat­te an­geb­lich einen Brun­nen ver­gif­tet und war da­bei er­tappt wor­den; als sie flüch­te­te, sand­te man ihr einen Schuss nach. Ein Ser­be wur­de mit­tels Au­to­mo­bil ins Korps­kom­man­do ein­ge­lie­fert. Er trug die Uni­form ei­nes In­fan­te­ris­ten un­se­rer bos­ni­schen Re­gi­men­ter. Der Jun­ge – er soll ein ser­bi­scher Of­fi­zier sein – hat­te die Au­gen ver­bun­den. In sei­nem Ge­sicht zeug­te kein Fält­chen von Be­sorg­nis oder gar von Angst, ob­wohl ihm der Tod von Hen­kers­hand ge­wiss ist. Den­sel­ben ent­schlos­se­nen, gleich­mü­ti­gen Ein­druck muss­te ich von ei­nem Ko­mi­tat­schi3 ge­win­nen, der in sei­ner tia­ra­ar­ti­gen, schwar­zen Fell­müt­ze mit Hand­schel­len in das Gen­dar­me­rie­kom­man­do ein­ge­lie­fert wur­de. So leicht, wie man sich’s denkt, wird der Kampf nicht sein ge­gen die­se zum Tode ent­schlos­se­ne Welt!

Man glaubt auf der Pra­ger Gra­ben­pro­me­na­de zu sein. Vor dem Korps­kom­man­do­ge­bäu­de und dem Ho­tel sah man fast alle Mit­glie­der des böh­mi­schen Adels: Lob­ko­witz, Schön­born, Thun, Win­disch­grätz, Schwar­zen­berg, Lažans­ky, Ko­lowrat, Ring­hof­fer.

Sonn­tag, den 9. Au­gust 1914.

Das Re­gi­ment mar­schier­te etwa vier Ki­lo­me­ter bis zu ei­nem frei­en Platz, wo eine Feld­mes­se ab­ge­hal­ten wur­de. Der Di­vi­si­ons­pfar­rer hielt eine Pre­digt, in der er mit­teil­te, Papst Pius X. habe den Sol­da­ten einen Ablass von al­len ih­ren Sün­den ge­währt. Dann wur­de »Zum Ge­bet« ge­bla­sen. Un­se­re Kom­pa­nie be­zog mit­tags den Wacht­dienst. Im Mi­li­tär­la­ger, wo­hin wir zu­nächst ab­mar­schier­ten, er­zähl­ten uns die Dra­go­ner und die dort in den Ba­ra­cken un­ter­ge­brach­ten Pra­ger Lands­leu­te des 28. In­fan­te­rie­re­gi­ments von den Ver­wun­de­ten, die am Mor­gen von den Feld­wa­chen in das Spi­tal ge­bracht wor­den wa­ren, dar­un­ter ein In­fan­te­rist mit elf Ma­schi­nen­ge­wehr­schüs­sen und ein Zug­füh­rer, der zwei­mal in den Kopf ge­trof­fen wur­de. Gera­de wer­den fünf Frau­en vor­bei­ge­führt, bei de­nen man Ani­lin fand; man be­schul­digt sie, dass sie da­mit Obst ver­gif­ten woll­ten, aber sie er­klä­ren, den Farb­stoff zum Fär­ben von Wol­le zu be­nö­ti­gen. Die Mi­li­tär­be­hör­den sind un­end­lich miss­trau­isch, denn die gan­ze Be­völ­ke­rung ist hier ser­bo­phil ge­sinnt. Mit Ser­bi­en ver­bin­det sie die Spra­che und die ge­mein­sa­me Re­li­gi­on, der sie fromm an­ge­hö­ren und de­ren Au­to­no­mie Ge­le­gen­heit zu ir­re­den­tis­ti­scher Po­li­tik gab; drü­ben, jen­seits von Save und Dri­na, sit­zen die Kir­chen­fürs­ten, aus Bel­grad und Scha­batz kom­men alle Bü­cher und alle Zei­tun­gen.

Auf der Sta­ti­ons­wa­che sind die Spio­na­ge­ver­däch­ti­gen. Ich schau­te in die Ar­res­te. In der ers­ten Zel­le stand der jun­ge ser­bi­sche Of­fi­zier in der Bos­nia­ken­uni­form, den man ges­tern im Auto ins Korps­kom­man­do ge­bracht hat­te. In der nächs­ten Zel­le wa­ren drei zer­lump­te Bur­schen, Zie­gen­hir­ten. Im drit­ten Raum war ein dun­kel­far­bi­ger Mann un­ter­ge­bracht, der die Uni­form ei­nes ös­ter­rei­chi­schen Feu­er­wer­kers trug. In der vier­ten Zel­le lag auf ei­ner Prit­sche ein Mann mit lan­gem, pech­schwar­zem Pro­phe­ten­haar und Chris­tus­bart. Sei­ne Au­gen fun­kel­ten auf, als sich der De­ckel über dem Guck­loch be­weg­te, und ich sah, dass sie schwarz, feu­rig und in­tel­li­gent wa­ren. Er dürf­te ein Pope sein. Ich schau­te noch in der Nacht in sei­ne Zel­le: er ging schlaf­los auf und ab, wäh­rend alle an­de­ren schlie­fen. Der Feu­er­wer­ker ist an­geb­lich von der Be­hör­de ge­sucht wor­den, da sich bei der Un­ter­su­chung des Sa­ra­je­vo­er Dop­pel­mor­des her­aus­ge­stellt habe, dass er ein Mit­wis­ser ge­we­sen; er war nicht zu fin­den, erst jetzt habe man ihn bei sei­nem Ar­til­le­rie­re­gi­ment ent­deckt, wo­hin er bei der Mo­bi­li­sie­rung als Re­ser­vist in der Hoff­nung ein­ge­rückt war, dort nicht ge­fun­den zu wer­den. In der letz­ten Zel­le wa­ren etwa zwölf Tschužen (so nen­nen wir die Land­leu­te), dar­un­ter ein ganz al­ter mit weißem Voll­bart, schwar­zer Lamm­fell­müt­ze und ro­ten St­rümp­fen; auch er soll ein An­hän­ger des Sa­ra­je­vo­er Prin­cips4 ge­we­sen sein.

Im obe­ren Stock­werk: die Gei­seln. Es sind Ho­no­ra­tio­ren aus ös­ter­rei­chi­schen Land­stri­chen, wo Hin­ter­häl­tig­kei­ten ge­gen das Mi­li­tär vor­ka­men. So­bald sie sich wie­der­ho­len soll­ten, wer­den die Gei­seln hin­ge­rich­tet – die ein­zi­gen, die an die­sen Feind­se­lig­kei­ten nicht di­rekt be­tei­ligt sein kön­nen, weil sie eben in Prä­ven­tiv­haft sind. Das riecht noch stark nach Mit­tel­al­ter. Die zwölf Gei­seln sind teils Po­pen, teils eu­ro­pä­isch an­ge­zo­ge­ne und eu­ro­pä­isch aus­se­hen­de Män­ner, die sich sorg­fäl­tig wu­schen und die Zäh­ne putz­ten. Aus ih­rem Fens­ter lässt sich al­les be­ob­ach­ten, was im Mi­li­tär­la­ger vor­geht, und wenn sie für Ser­bi­en spio­nie­ren woll­ten, so kön­nen sie sich nicht be­kla­gen: man macht ih­nen die Re­cher­chen leicht.

Ich hat­te die Mel­dung, dass in der Nacht Bäu­me im Mi­li­tär­la­ger ge­sprengt wer­den wür­den, um Plät­ze zur Lan­dung von Mi­li­tär­bal­lo­nen zu schaf­fen, an die Re­gi­ments­kom­man­dos von 11 und 73 und an den Di­vi­sio­när Scheu­chens­tu­el zu brin­gen, da­mit die Trup­pen durch die De­to­na­tio­nen nicht alar­miert wer­den mö­gen. Die Mel­dung war auch in der Di­vi­si­ons­kanz­lei aus­zu­rich­ten. Auf dem Kor­ri­dor hielt mich eine Or­don­nanz an. Was ich hier wol­le. Wir er­kann­ten ein­an­der: es war ein Herr Stohl, des­sen Schwes­tern die Pio­nie­rin­nen des Ho­sen­rocks und des Tan­go in Prag ge­we­sen wa­ren. Wir spra­chen von bes­se­ren Zei­ten, dann trat ich in die Di­vi­si­ons­kanz­lei ein. Der Ober­leut­nant ließ sich im Schrei­ben nicht stö­ren. Ich be­gann mei­ne Mel­dung, als er auf­sprang: »Wie hei­ßen Sie?« Nun wie­der­hol­te sich die Er­ken­nungs­sze­ne, die sich eben vor sei­ner Tür ab­ge­spielt hat­te. Es war ein Ober­leut­nant Dr. von Schön­feld, mit dem ich viel ver­kehrt hat­te. Schön­feld war eben aus der Kriegs­schu­le zum Ge­ne­ral­stab aus­ge­mus­tert wor­den. Er er­in­ner­te sich, dass er mich schon ein­mal vor zwei Jah­ren in mei­ner schä­bi­gen Uni­form als Kom­miss­kor­po­ral mit zwei hoch­e­le­gan­ten Da­men auf dem Gra­ben ge­se­hen hat­te. »Der Bru­der der zwei hoch­e­le­gan­ten Da­men ist Ihre Or­don­nanz, Herr Ober­leut­nant.« – »Wer? Der Stohl?« Und schon rief er den Stohl her­ein, und wir un­ter­hiel­ten uns in kol­le­gia­ler Gleich­heit.

Mon­tag, den 10. Au­gust 1914.

Nachts ging un­ser Schwarm auf Pa­trouil­le in die Um­ge­bung des Mi­li­tär­ma­ga­zins und be­setz­te dann die Pos­ten in des­sen In­nen­räu­men, um Au­to­mo­bi­le, Ben­zin­la­ger und Stal­lun­gen zu be­wa­chen. Die gan­ze Nacht war Ka­no­nen­don­ner zu hö­ren, am Mor­gen rat­ter­ten Ae­ro­pla­ne durch den Äther, und auch einen Me­te­or sah ich fal­len. Eben habe ich die ers­ten Lei­chen die­ses Krie­ges ge­se­hen. In der To­ten­kam­mer des Mi­li­tär­la­gers la­gen zwei Lei­chen auf Bret­tern. Ei­ner in In­fan­te­ris­ten­uni­form des 73. Re­gi­ments, der an­de­re nackt, bei­de blut­über­strömt, von Pro­jek­ti­len durch­lö­chert, die Hän­de ge­fal­tet, bei­de von un­heim­li­chem Gelb und von My­ria­den von Flie­gen um­schwärmt.

Ich habe Feld­post­kar­ten ge­le­sen, die die Leu­te nach Hau­se schrie­ben. Mich in­ter­es­sier­te es, weil man ja nichts Sach­li­ches mit­tei­len darf. Ei­ner schrieb sei­ner Braut: »Ich er­grei­fe den Blei­stift und das Pa­pier, um an Dich ei­ni­ge Zei­len zu rich­ten. Dein in­ni­ger Gott­lieb.« Ein an­de­rer: »Lie­be El­tern! Mir geht es gut, Obst habe ich ge­nug ge­ges­sen, be­son­ders Zwetsch­gen, herz­li­che Grü­ße von Eu­e­rem Franz.« An­de­re Kar­ten, auf de­nen die Ab­sen­der schon von blu­ti­gen Ge­fech­ten, über­stan­de­nen Ge­fah­ren und voll­brach­ten Hel­den­stück­chen fa­seln, wer­den wohl nie ihr Ziel er­rei­chen, denn die Zen­sur ist streng.

Am Nach­mit­tag war dienst­frei, und ich woll­te mir ein Freu­den­haus an­se­hen, in der Er­war­tung, es wer­de ir­gend­ei­nen ori­en­ta­li­schen Cha­rak­ter ha­ben. Statt ei­nes Ha­rems fand ich aber die bei­den to­le­rier­ten Häu­ser in der Račans­ka uli­ca nur als ty­pi­sche Bor­del­le von Mi­li­tär­la­gern vor. Der Preis für einen Zim­mer­be­such be­trägt eine Kro­ne und darf – An­ord­nung des Mi­li­tär­kom­man­dos! – nicht er­höht wer­den. Die meis­ten der Frau­en sa­ßen ge­ra­de an ei­ner lan­gen Ta­fel un­ter ei­nem Tau­ben­schlag im Hof und stärk­ten sich mit ei­nem Abendes­sen. Die Sol­da­ten stan­den zu Hun­der­ten be­gie­rig vor den Zim­mern, auf den Kor­ri­do­ren und im Flur bis auf die Stra­ße hin­aus, un­ter­hiel­ten sich durch ent­spre­chen­de Ge­sprä­che oder ver­such­ten durch die Schlüs­sellö­cher zu gu­cken. Die Dir­nen wa­ren fast durch­weg Magya­rin­nen und ei­ni­ge hüb­sche Kroa­tin­nen. Der Kup­pel­wirt saß schwarz­bär­tig und streng hin­ter dem Bü­fett, um sei­nen Arm schlang sich die Bin­de des Ro­ten Kreu­zes …

Ei­ni­ge 73er von der 1. Kom­pa­nie er­zähl­ten mir, sie hät­ten ges­tern in der Nähe des Franz-Jo­sef-Fel­des einen Zeh­ner­jä­ger ge­fun­den, des­sen Kopf ab­ge­hackt und drei­ßig Me­ter weit ge­wor­fen war, bei­de Arme sei­en ab­ge­trennt und von den Un­ter­schen­keln die Haut ab­ge­zo­gen. Es habe den Ein­druck ge­macht, als sei er bei le­ben­di­gem Lei­be ge­schun­den wor­den. Wenn die Ge­schich­te wahr ist, wor­an ich zweifle, so ha­ben die Ser­ben den ar­men Kerl nicht aus Lust an der Bes­tia­li­tät ge­schän­det, son­dern um uns vor den ers­ten Ge­fech­ten Ent­set­zen und Angst ein­zu­flö­ßen.

Diens­tag, den 11. Au­gust 1914.

Im gest­ri­gen Be­fehl wa­ren die Nach­rich­ten ver­laut­bart, die wir über die Ser­ben be­sit­zen, die Dis­lo­ka­ti­on der Haupt­ar­meen und der Vor­trup­pe, dass Pav­lo­vič das Kom­man­do des Ge­ne­ral­stabs an Stel­le des Her­zogs Put­nik über­nom­men habe, und über an­geb­li­che Män­gel der Pro­vi­ant- und Mu­ni­ti­ons­nach­schü­be. Mor­gens üb­ten wir auf dem Bje­li­na-Ex­er­zier­feld das Vor­rücken im Ku­ku­ruz­feld und den selbst­stän­di­gen Auf­marsch der Schwär­me, die fast so groß sind wie un­se­re Kom­pa­ni­en im Frie­den. Au­ßer­dem wur­den wir über das Vor­ge­hen ge­gen die Ko­mi­tat­schi, ge­gen Wei­ber und Kin­der, wel­che Waf­fen ge­brau­chen, be­lehrt. Als wir an der Lei­chen­ba­ra­cke vor­über­ka­men, sa­hen wir dar­in den Haupt­mann Po­korny von den 73ern auf der Bah­re; er war ges­tern Nacht an der Dri­na er­schos­sen wor­den. Wir mar­schier­ten bald nach Hau­se. Von zwei Leu­ten wur­de mir ge­sagt, dass ges­tern ein Brief für mich ein­ge­langt sei, aber die Tag­char­gen und der Rech­nungs­un­ter­of­fi­zier er­klär­ten, von nichts zu wis­sen. Ich war in Be­sorg­nis, dass der ein­zi­ge Brief, den ich seit ei­nem Dut­zend von Ta­gen be­kom­men soll­te, ver­lo­ren­ge­gan­gen wäre. Bis­her hat­te ich das Feh­len von Post nicht emp­fun­den, aber jetzt, da ein Brief hier war und nicht in mei­ne Hän­de kam, wur­de ich ganz ner­vös und rann­te von Pon­ti­us zu Pila­tus, um nach ihm zu for­schen, und ich weiß nicht, was ich für ihn ge­ge­ben hät­te. End­lich – ich war be­reits über­zeugt, dass die Leu­te falsch ge­le­sen hät­ten und nichts für mich ein­ge­langt sei – übergab mir ein Sol­dat un­se­res Schwar­mes den Brief, den er für mich ein­ge­steckt und in der Ta­sche ver­ges­sen hat­te. Er war von mei­ner Mut­ter. Sie zwang sich dar­in zu ei­nem ge­fass­ten, be­ru­hig­ten Ton. Aber alle mei­ne Brü­der sind be­reits Sol­da­ten ge­wor­den, und mein seit kur­z­em ver­hei­ra­te­ter Bru­der Wolf­gang, der als Fähn­rich nach Stryj ein­ge­rückt ist, dürf­te be­reits heu­te im Feu­er ste­hen. Mei­ne Mut­ter hat­te ei­ni­ge Aus­schnit­te von Zeit­schrif­ten bei­ge­legt, die sich mit mei­nem letz­ten Buch be­fas­sen und wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit er­schie­nen wa­ren. Sie pro­phe­zei­ten mir eine Zu­kunft. Zu­kunft! Heu­te Nacht ge­hen wir an die Dri­na.

Un­se­rem Zug wur­de die Fah­ne zu­ge­teilt, dann ver­lie­ßen wir Bje­li­na. Dass dies un­wi­der­ruf­lich die letz­te Sta­ti­on der Kul­tur und der Hei­mat sei, war uns al­len klar, und zum ers­ten Mal zog die Trup­pe in trüb­se­li­ger Stim­mung los. Wir san­gen ein Lied, das wir im Frie­den hun­dert­mal an­ge­stimmt hat­ten und das heu­te zum ers­ten Mal zur Si­tua­ti­on pass­te: das Lied von dem Sol­da­ten, der fühlt, dass er nie­mals mehr über die Gren­ze heim­mar­schie­ren wer­de. Der Tor­nis­ter war schwer, Staub­wol­ken la­gen über den Ko­lon­nen, und Mü­dig­keit mach­te sich bald gel­tend. Da Hun­der­te von Train- und Ge­schützwa­gen die Pas­sa­ge er­schwer­ten, stock­te je­den Au­gen­blick der Zug. Bei je­der Sto­ckung war­fen wir uns auf die Land­stra­ße, ob­wohl wir wuss­ten, dass das Auf­ste­hen mit der schwe­ren Rücken­last eine müh­se­li­ge Ar­beit sei.

Die vor­rücken­den Trup­pen bo­ten ein Noc­tur­no von ge­wal­ti­ger ma­le­ri­scher Wir­kung. We­rest­scha­gin, du Stüm­per! Am Him­mel ein Ar­mee­korps von Ster­nen, wie man es kaum je im Abend­lan­de sieht, und von dem fast hell­blau­en Nacht­him­mel hob sich die Sil­hou­et­te der krie­ge­ri­schen Fi­gu­ren und ih­rer Ge­weh­re und Sä­bel düs­ter und be­droh­lich ab; an der rech­ten Stra­ßen­sei­te war eine Bö­schung, auf der ein­zel­ne Leu­te ne­ben ih­rer Ko­lon­ne mar­schier­ten, um nicht so viel Staub zu schlu­cken. Von un­ten sa­hen sie aus wie Gi­gan­ten un­heim­lichs­ter Art.

Nach sie­ben Ki­lo­me­ter Marsch ge­gen Os­ten via Kon­va­lu­ka mach­ten wir hin­ter Ama­li­jah, ei­nem Ort hart an der Dri­na­krüm­mung, auf ei­nem nie­der­ge­mäh­ten Ku­ku­ruz­feld halt. Vor uns schos­sen un­se­re Schwarm­li­ni­en. Wir la­gen da, von Mücken be­läs­tigt. Manch­mal surr­ten große Flie­gen laut vor­bei. Es dau­er­te ei­ni­ge Mi­nu­ten, bis wir er­kann­ten, dass es kei­ne Flie­gen sei­en, die das Sur­ren ver­ur­sach­ten, son­dern – – Ge­wehr­ku­geln. In kur­z­en In­ter­val­len pfif­fen sie über un­se­re Köp­fe hin­weg. »Pzing, das war eine«, lach­ten die Leu­te, »und wie­der eine.« – Das wa­ren die gan­zen Be­mer­kun­gen, die wir mach­ten, und der Ge­frei­te He­ve­ra, der, durch die Zäh­ne pfei­fend, den Schall der Ku­geln täu­schend nach­zu­ma­chen wuss­te, hat­te großen Lach­er­folg. Was hat­te ich nicht schon über die Ge­füh­le im ers­ten Ku­gel­re­gen ge­le­sen! Aber kei­nen von uns be­rühr­te die Feu­er­tau­fe be­son­ders. Vi­el­leicht nur des­halb, weil wir kei­nen Feind sa­hen und die Schüs­se nicht di­rekt ge­gen uns ge­rich­tet, son­dern für die Schwarm­li­nie vor uns be­stimmt wa­ren. Als uns er­laubt wur­de, uns in die Zelt­blät­ter ein­zu­wi­ckeln, leg­ten wir uns nie­der und schlie­fen ein.

Mitt­woch, den 12. Au­gust 1914.

Um 12 Uhr nachts wur­de ich von dem Haupt­mann als Or­don­nanz zum Re­gi­ments­kom­man­do be­or­dert. Ich leg­te mich dort auf mei­nen Tor­nis­ter und woll­te eben ein­schla­fen, als ich vom Re­gi­ment­s­ad­ju­tan­ten ge­weckt wur­de, um dem Ba­tail­lons­kom­man­dan­ten Banauch die Mel­dung zu über­brin­gen, dass er nach Ein­stel­lung des Ar­til­le­rie­feu­ers eine Kom­pa­nie selbst­stän­dig für sich ver­wen­den kön­ne. Ich konn­te den Ma­jor eine Stun­de lang nicht fin­den und irr­te auf We­gen um­her, die trotz der un­ge­heu­ren Trup­pen­zu­sam­men­zie­hun­gen men­schen­leer wa­ren und wo es rechts und links hin­ter He­cken und Ku­ku­ruz­fel­dern aus zehn­tau­send Flin­ten krach­te. End­lich brach­te ich ihm die Mel­dung.

Um Vier­tel 5 Uhr ging ein grau­sa­mes Kra­chen los. Es war un­se­re Ar­til­le­rie, die, um un­se­ren Pio­nie­ren den Brücken­bau zu er­leich­tern, die in dem jen­sei­ti­gen Ge­hölz ver­steck­ten Ser­ben ver­ja­gen und die Bü­sche ra­sie­ren woll­te. Die­se ei­ge­nen Schüs­se wirk­ten auf die Stim­mung schreck­li­cher als die frem­den. Die Pfer­de bäum­ten sich auf, die En­ten und Hüh­ner rann­ten wie ver­rückt um­her. Die Or­don­nan­zen und Of­fi­ziers­die­ner spran­gen von ih­rem Faul­bett, al­les wur­de ner­vös, der Oberst be­gab sich zum Di­vi­sio­när Scheu­chens­tu­el und dann wei­ter bis zur klei­nen Dri­na­in­sel, die von der zwei­ten Kom­pa­nie durch eine pro­vi­so­ri­sche Brücke in der Nacht be­setzt wor­den war. Über un­se­ren Häup­tern scho­ben sich, un­sicht­ba­ren Rie­sen­vö­geln gleich, die Ge­schos­se der hin­ter uns pos­tier­ten Ka­no­nen vor­wärts. Als ein­mal ein Schrap­nell durch die Kro­ne ei­nes Bau­mes husch­te, un­ter dem wir stan­den, griff sich ein al­ter Ge­ne­ral­ma­jor er­blei­chend ans Herz: »Herr­gott, das Ge­schoss hät­te leicht kre­pie­ren kön­nen! Ich gehe lie­ber zu­rück.«

Üb­ri­gens trog der In­stinkt nicht, der eine grö­ße­re Un­ru­he vor den ei­ge­nen Ka­no­nen­schüs­sen als vor dem frem­den Feu­er her­vor­ge­ru­fen hat. Vier Schrap­nel­le un­se­rer Ar­til­le­rie wa­ren zu kurz ein­ge­stellt oder platz­ten vor­zei­tig: von der vier­zehn­ten Kom­pa­nie un­se­res Re­gi­ments, die ge­fechts­mä­ßig in Schwarm­li­nie vor den Hau­bit­zen als Ge­schütz­be­de­ckung lag, wur­den von ei­ge­nen Füll­ku­geln 21 Sol­da­ten ver­letzt. An­de­re Ge­schos­se un­se­rer Ka­no­nen kre­pier­ten in der Dri­na, große Was­ser­ho­sen bil­dend, statt am jen­sei­ti­gen Ufer nie­der­zu­fal­len. Or­don­nan­zen der In­fan­te­rie rann­ten zu­rück, um der Ar­til­le­rie zu mel­den, dass sie zu kurz schie­ße. Eine Bat­te­rie schob die Schuld auf die an­de­re.

Die ser­bi­schen Schüs­se ver­stumm­ten, und man ent­sand­te eine Pa­trouil­le auf das ser­bi­sche Ufer. Der Ge­ne­ral­stab­s­haupt­mann Sto­jan von La­so­tič sprang mit dem thea­tra­li­schen Ruf »Für Kai­ser und Va­ter­land« als ers­ter ins Was­ser, um hin­über­zu­sch­wim­men. Die Pa­trouil­le gab üb­ri­gens bald die Nach­richt, dass sich die Ser­ben un­ter dem Druck des Ar­til­le­rie­feu­ers zu­rück­ge­zo­gen hat­ten. Nur ei­ni­ge Ko­mi­tat­schis müs­sen drü­ben ver­steckt sein, denn hier und da bohrt sich eine Ge­wehr­ku­gel ins Was­ser oder surrt an uns vor­bei. Die Pio­nie­re be­gan­nen so­fort auf großen Holz­zil­len, die in La­st­au­to­mo­bi­len ans Ufer ge­fah­ren ka­men, eine Brücke zu bau­en. Ne­ben uns eta­blier­te sich die k. u. k. Feld­te­le­fon­sta­ti­on. Wenn ich so jetzt nach Haus te­le­fo­nie­ren könn­te! Was wäre die Stim­mung in Wer­fels »In­ter­ur­ba­nem Ge­spräch« ge­gen die­se!

Wir la­ger­ten den gan­zen Mor­gen vor der Brücke, die die Pio­nie­re über die Dri­na bau­ten.

Trink­was­ser gab es nicht, da die zahl­rei­chen bos­ni­schen Schwen­gel­brun­nen ver­gif­tet sein sol­len. Wir sand­ten nach Ama­li­jah, aber in den Trin­kei­mern kam nur trü­bes, von In­fu­so­ri­en be­völ­ker­tes Was­ser zu uns. Ich trank es durch einen blau­en Na­cken­schüt­zer, den ich an den Mund leg­te. Durch die­sen Na­cken­schüt­zer, der bis­her auf dem Hal­se ei­nes In­fan­te­ris­ten ge­klebt hat­te und den nun schon der hal­be Zug als Fil­ter im Mund ge­habt hat­te, schmeck­te das Was­ser bes­ser als Sekt.

Ich saß auf der Stra­ße und krit­zel­te in die­sem No­tiz­buch, als mich Leut­nant Gör­ner frag­te, ob ich ihn schon in mei­nem Ta­ge­buch ver­ewigt habe. »Zu­erst müs­sen Sie et­was Be­son­de­res ge­tan ha­ben«, ent­geg­ne­te ich. Etwa eine hal­be Mi­nu­te spä­ter pfiff eine ver­irr­te Ser­ben­ku­gel durch die Luft, und Leut­nant Gör­ner äu­ßer­te schnell, aber nicht er­regt: »Ich bin ge­trof­fen.« Er wies auf sei­nen Fuß. Wir woll­ten es zu­erst nicht glau­ben, sa­hen aber bald dar­auf, dass er die Wahr­heit ge­spro­chen hat­te. »Es schmerzt wie ein Peit­schen­hieb«, sag­te Gör­ner und hum­pel­te in der Rich­tung zum Sa­ni­täts­platz da­von; er hat­te sei­ne Ver­wun­dung, die eine Heim­rei­se be­deu­tet.