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Egon Erwin Kisch (1885 - 1948) war ein österreichischer, später tschechoslowakischer Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er als "der rasende Reporter" bekannt. Sein Werk "Eintritt verboten" wurde 1934 erstveröffentlicht.
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Seitenzahl: 195
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I
Hinab rasselt der Förderkorb. Ein Brett oben, ein Brett unten. Dazwischen die Passagiere und ein leerer Hunt. Die Felsen, die wir durchfahren, werden zu Seitenwänden des Förderkorbes. Plötzlich klafft eine Wölbung im Schacht, rechts und links ahnen wir Korridore.
In diesem Stockwerk hat der Förderkorb (der gleiche wohl) hundert Jahre lang hundertmal am Tag gehalten, alle Passagiere, alle Lasten wurden ein- oder ausgeladen, hundert Jahre lang war hier Endstation. Ein Heer von Sklaven schürfte von morgens bis nachts, von nachts bis morgens, aber eines Tages war die Strecke abgebaut, und der Fahrstuhlschacht wurde tiefer hinabgeführt.
Nach fünfzig Metern springt wieder ein Bogen Schwarz in den Lichtschein unserer Karbidlampe. Der Eingang zu diesem Korridor ist so niedrig, daß ein Mensch ihn nicht aufrecht passieren kann. Hier stieg kein Mensch ein und keiner aus. Wer in diesem Stollen gearbeitet hatte, hob nach getaner Arbeit nicht sich im Fahrstuhl zum Lichte empor, nur das von ihm geförderte Erz. Die Bergleute dieser Region kamen zu Fuß durch einen Tunnel, den sie sich von ihrer Wohnstätte auf der Erdoberfläche schräg in den Felsen hacken mußten, und kehrten nach Feierabend wieder zu Fuß durch ihren Tunnel heim. Mitten in ihr Haus, das das Königlich spanische Strafhaus war.
In das Königlich spanische Strafhaus von Almaden wurden nur die zu lebenslänglicher Zwangsarbeit Verurteilten eingeliefert. Ihre Lebenslänglichkeit dauerte nicht lange; viele, viele Generationen haben innerhalb des vorigen Jahrhunderts einander abgelöst, die quecksilberne Luft im Bergwerk verkürzte die Haft.
Das alte Zuchthausgebäude steht noch ganz rüstig und massiv inmitten der kleinen Wohnwürfel von Almaden. Man renoviert es jetzt, um Arbeiterwohnungen zu schaffen. Der schräge Felsengang vom Zuchthaus ins Bergwerk wird nicht mehr benutzt.
Vorbei fahren wir am Stockwerk der Sträflinge und an anderen Stollen. Sooft der Förderkorb einen toten Gang passiert, knarrt er, als wolle er sich der Weiterfahrt widersetzen, wieder dort Station machen, wo er Tausende und aber Tausende Male gehalten hat, und noch einmal Fühlung nehmen mit der Rampe, deren bewegliche Fortsetzung er so lange gewesen. Jedoch das Förderseil stoppt nicht. Nimmermehr wird jemand hier oben die kilometerlang sich windenden Labyrinthe betreten, ihr Abbau ist längst vollbracht.
Fast fünf Minuten lang tauchen wir hinab zwischen Stein und Stein, zwischen Schiefer und Quarzit. Im zwölften Stockwerk der Grube San Aquino steigen wir aus, hier endet der Förderschacht, wenn auch die Schichten noch weiter nach unten abgeteuft sind.
Wir klimmen eine ungefüge, schwankende Leiter bergab, und wieder eine ungefüge, schwankende Leiter bergab, und wieder eine – beschwerlich solches Klettern mit dem offenen Licht in der Hand, insbesondere für einen, der es nicht gewohnt ist. Dann sind wir in Sohle dreizehn, dreihundertsiebzig Meter unter dem irdischen Licht.
II
Gekrümmten Rückens tappen wir den Weg. Es heißt aufpassen aufs Hangende, damit der mit einer Art Stahlhelm bedeckte Kopf nicht gegen die Holzstempel stoße.
Aus allen Adern blutet der Berg, Blutgerinnsel bedeckt ihn. Das Blut ist Zinnober, die Tränen aber, die auf den rotwunden Felsen glitzern, sind schieres Quecksilber. An manchen Stellen haben sich Bäche gestaut, eine Lache, silbern, sperrt uns den Pfad, der Tränensee aus dem Märchen.
In der Nähe sind Hauer vor Ort, wir hören Metall auf Stein schlagen, hören dröhnendes Rattern des Bohrhammers. Von der Hauptstrecke aus sind alle vierzig Meter lang Querschläge zu den Erzkörpern getrieben. Am Ende des Querschlages hängen Lichter, schwingen Schatten umher.
Wo das Gestein gebräch ist, genügt die Haue, um es abzubauen. Andernorts wird geschrämt. Der Mann, der den Bohrhammer bedient, kehrt uns den Rücken zu und schießt in die steinerne Front, daß die Funken stieben; rechts der Auspuff für den Dampf vervollständigt unsere Illusion, in der Schwarmlinie neben einem nach vorne gut gedeckten MG-Stand zu stehen.
Das breite Eisenrohr mit der luftigen Munition – wir sind unterwegs darüber gestolpert – mündet nicht in den Preßluftbohrer, sonst würde es bei der Sprengung zerrissen werden. Fünfzig Schritt vor Ort geht sein Inhalt in einen Schlauch über, den man leicht wegräumen kann, bevor gesprengt wird.
In der Pause beim Schichtwechsel nimmt man die Sprengung vor. Ekrasit wird ins Bohrloch geschoben, die Kapsel mit Fulminat hinterher. Fulminat ist (CNO)2Hg, eine Quecksilberverbindung. Quecksilber schießt auf Quecksilber, wie der Mensch auf den Menschen schießt.
III
Die Menschen hier unten sind fast alle jung. Blasse, hagere Kumpels, wie anderswo auch. Es hieße lügen, verschwiege man, daß in ihrem Mund unversehrt die Zähne blitzen. Es hieße lügen, spräche man nicht aus, daß ihre Hand fest die Haue schwingt, sicher den Bohrhammer bewegt.
Aber es hieße noch mehr lügen, wenn man nicht hinzufügte, was man obertags in den Straßen von Almaden zu sehen bekommt, es hieße noch mehr lügen, wenn man nicht erwähnte, was Geschichte und Statistik aussagen.
Almaden, das war mehr als die Goldgrube Iberiens, weit mehr: es war seine Quecksilbergrube, Lieferantin der Welt.
Roms galante Damen brauchten Vermillon, das Quecksilbersulfid, zur Schminke. Abdurrahman III., Kalif von Cordova, ließ für seine Geliebte im Lustschlößchen Medinat-az-Zahra die berühmte Fontäne aus Mondlicht errichten, das Quecksilber war. Mit Quecksilber vertrieben die Landsknechte ihre Filzläuse, die Offiziere ihre Franzosenkränke. Der Goldmacher primäres Elixier war Quecksilber, das Metall ist und Flüssigkeit zugleich und überhaupt zur Zauberei reizt.
Nicht nur die Quacksalber verordneten Quecksilber gegen alle inneren Störungen, die studiertesten Medici taten desgleichen. Es schien logisch, daß ein Kügelchen Arznei, vorne-oben eingenommen und ohne Formveränderung, ohne Quantitätsverlust hinten-unten von sich gegeben, alle Stoffe wegstoße, die sich unbefugt auf diesem Weg befinden.
Zum Messen von Temperaturen ist jede Flüssigkeit geeignet, aber von der mit dem größten spezifischen Gewicht reicht das kleinste Quantum aus. Deshalb trug jahrhundertelang jede Thermometerröhre Quecksilber im Leibe, ebenso Barometer und Manometer und Rektifikator.
Hasenfelle beizt man von alters her mit Quecksilbernitraten, ehe sie zu Filzhüten geformt werden. Viele Farben, vornehmlich der submarine Schiffsanstrich, taugen nichts, wenn sie nicht Quecksilber enthalten.
Und alles kam aus jener iberischen Grube, die keinen Namen hatte, einfach die Grube (arabisch: »al maden«) war. Nur im österreichischen Idria und im italienischen Montamietta gab es eine Konkurrenz; die Vorkommen dort konnten sich jedoch an Ergiebigkeit mit dem spanischen niemals messen. Der Erzzug von Almaden erreicht eine Mächtigkeit von acht bis vierzehn Metern bei einem durchschnittlichen Erzgehalt von dreizehn Prozent, wogegen in jenen Auslandsgruben der Erzgehalt kaum 0,8 Prozent ausmacht.
In Montamietta und Idria werden die Arbeiter, die obertags beim Destillationsprozeß die Quecksilberdämpfe einatmen, nach einiger Zeit zur Grubenarbeit kommandiert, damit sie sich unten erholen. Das Umgekehrte geschieht in Almaden, denn der Gifthauch der unterirdischen Felsen ist hier stärker als der des kondensierten Quecksilbers. Almaden: reichste Quecksilbergrube in der Erde der Erde.
Die christlichen Könige aus den Häusern Aragonien, Kastilien, Habsburg und Bourbon, mit Galeerensklaven, also unentgeltlichen Bergleuten, weniger gesegnet als ihre phönikischen, griechischen, römischen, westgotischen und arabischen Vorgänger und verschuldet bis dorthinaus, konnten ihre Gläubiger nur mit Quecksilber bezahlen, mit dem noch nicht geförderten Quecksilber. Zunächst ward Almaden als Lehen den Tempelrittern gegeben, die dem Hof bei seinen Kriegen halfen. Später, gerade als Quecksilber für die spanischen Kolonien zur Ausbeutung der neuentdeckten Silbergruben unentbehrlich geworden war, erhielt die Familie Fugger zu Augsburg für eine Karl V. gewährte Anleihe die Grube zum Pfand.
Was Spanien für Südamerika brauchte, kaufte Spanien anderthalb Jahrhunderte lang von den Fuggers, die es dem spanischen Boden durch spanische Leibeigene entreißen ließen. Endlich war der Vertrag abgelaufen, und Spanien versuchte, die Grube in eigener Regie zu führen, wobei Mörder und Staatsverbrecher als unentgeltliche Arbeitskräfte helfen sollten. Jedoch 1870 mußte dem englischen Haus Rothschild für die dem Staat geborgte Summe von 42 Millionen Pesetas eine Hypothek auf Almaden und eine jährliche Abzahlung von 32 000 Flaschen Quecksilber gewährt werden.
Um eine solche Produktion herauszuholen, reiste Direktor José de Monasterio nach Mitteleuropa, studierte die modernsten Bergwerkseinrichtungen, kaufte eine Wattsche Dampfmaschine und andere Apparate. Das Pensum wurde erfüllt, mit dem Nebenergebnis, daß die Belegschaft von den Giftgasen geradezu niedergemäht wurde.
Vor der Ofenanlage rotteten sich die Arbeiter zusammen und protestierten gegen den Massenmord. Direktor Monasterio stellte sich ihnen mit seinem Ingenieur Sebastian Buceta entgegen, und beide wurden getötet. Das war um 1870, während der ersten spanischen Republik. Das absolute Königtum hätte nicht härter Rache nehmen können: an zehn Galgen ließ die Republik zehn Arbeiter von Almaden baumeln.
Nicht bekannt sind die Namen der Gehängten, nicht bekannt das genaue Datum. Über die Revolte von Almaden steht kein Wort in der Geschichte von Almaden, kein Bild und kein Andenken im Betriebsmuseum. Weder in der spanischen Enzyklopädie noch in den Monographien über soziale Bewegungen findet sich etwas über diesen Aufstand. Und doch war er ein einzigartiger Maschinensturm. Er richtete sich nicht gegen die Maschine als Verdrängerin vom Arbeitsplatz, er richtete sich gegen ihre Massenfabrikation von Giftmord. Diesem Maschinensturm fielen nicht die Maschinen zum Opfer, sondern zwei Männer, die sie eingeführt hatten, und zehn von denen, die sich dagegen gewehrt.
Die Arbeiter Almadens wissen von dieser Begebenheit ebensowenig wie die Bücher. Es lebt kein Zeitgenosse mehr des Tumults und der Hinrichtungen, vielleicht auch keiner mehr von den Söhnen der Zeitgenossen.
Man erreicht kein hohes Alter in Almaden.
IV
Auf einen Greis deutend, der abends auf der Calle de Canalejas bettelte, sagte mein Begleiter: »Das ist der Bruder eines Jugendgenossen.«
Ich verstand nicht gleich. »Du meinst wohl, der Großvater?«
»Aber nein. Er ist erst dreißig Jahre alt.«
Ich sah ihn an, den Greis, der dreißig Jahre alt ist. Ohne Zähne, ohne Farbe im Gesicht, stand er da und streckte seine Hände dem abendlichen Korso auf der Calle de Canalejas entgegen. Wahrlich mitleidheischende und mitleiderregende Hände! Sie schwangen in rasendem Tempo hin und her, als gehörten sie nicht zu dem Körper, der müde, wie tot, an einer Wand lehnte.
Solchen Schüttlern und Zitterern – nicht Opfer des Krieges, sondern Opfer des Quecksilbers – begegnet man in der Zeile zwischen den ebenerdigen kahlen Häuschen von Almaden auf Schritt und Tritt. Zahnlose anämische Greise, auch sie vielleicht nur dreißig Jahre alt.
In Bretterkisten, die mit Rädchen versehen sind, werden einjährige oder fünfjährige Kinder – wer vermag hier das Alter abzuschätzen – von älteren Geschwistern spazierengeschoben. Welch eingefallene, unkindliche, hoffnungslose Gesichterchen!
Ich würde mich nicht wundern, wenn mein Begleiter mir sagte, diese Kleinen hätten schon Jahre der Grube hinter sich. Aber sie haben sie erst vor sich.
V
Vor den Kumpels, die wir im matten Flämmchen unserer Grubenlampe den Zinnoberstein behauen oder bebohren sehen, haben in anderen Epochen die Schicht gemacht: Galeerensträflinge der Phöniker; Sklaven der Griechen; von den Arabern gefangene Giaurs, Ketten und Kugeln klirrten an ihren Füßen; Leibeigene, mit Peitschen angetrieben. Die nachfolgende Schicht hatte nur einen Ausgang aus dem Schacht: den Eingang ins Zuchthaus, nur einen Ausgang aus dem Zuchthaus: den Eingang in den Schacht.
Sklavenarbeit und Sträflingsarbeit wurden schließlich aufgehoben, und Lohnarbeit trat an ihre Stelle; Spanier einer spanischen Republik fuhren ein, von denen man eines Tages zehn an den Galgen knüpfte, um die anderen einzuschüchtern.
Noch vor einigen Jahren war die Belegschaft von Almaden vom Militärdienst entbunden. Ohne dieses Privileg hätten hier nur wenige Arbeit gesucht, hätte man den Betrieb unmöglich vor Abwanderung schützen können. Heute ist das Gesetz aufgehoben. »Die allgemeine Wehrpflicht der Republik Spanien duldet keine Ausnahme.« Vor allem, wenn Arbeitslosigkeit herrscht. Dann nimmt jeder jede Arbeit an. Auch die im Quecksilberbergwerk.
Almaden ist von der Krise nicht verschont geblieben. Langsam schlich sie durch die Jahrhunderte heran. Wo sind sie hin, die Kurtisanen Roms, die nur des Mercuriums und der Purpurschnecken bedurften, um Lippen und Wangen verführerisch zu röten? Wo sind sie hin, die verliebten Kalifen, die das Herz ihrer Favoritin mit sprudelndem Mondschein erfreuten? Wo sind sie hin, die schlichten Scharlatane, die mit Quecksilberkügelchen gleichermaßen der Hartleibigkeit wie dem Zipperlein und den fraulichen Störungen zu Leibe rückten? Wo sind sie hin, die Hofalchimisten, die mit trockenem Wasser, dem »Diana-Regen«, und anderen Quecksilbergaukeleien den gläubigerbedrängten Monarchen Hoffnungen einflößten?
Verschwunden, verschwunden all das und anderes auch. Das Salvarsan verdrängte die Schmierkur. Es gibt Barometer und Thermometer ohne Quecksilber, Spiegel mit Zinnbelag. Die Republiken Mittel- und Südamerikas, die bis in die letzte Zeit das Quecksilber zur Ausbeutung ihrer Gold- und Silberminen aus dem einstigen Mutterland bezogen, sind zur Autarkie übergegangen und schroten ihre geringprozentigen Zinnobervorkommen selbständig aus.
Was als Antiseptika und für Zahnplomben, was in der Mechanik für Rotationspumpen und für automatische Stromausschaltungen an Quecksilber gebraucht wird, fällt im Weltkonsum nicht ins Gewicht. Der Plan, in den Superzentralen, insbesondere auf Schiffen, statt Wassers Quecksilber verdampfen zu lassen und wieder zu kondensieren, weil Quecksilber weniger Raum einnimmt, hat sich bisher nicht durchgesetzt.
Dennoch ist Almaden keineswegs pleite. Es besteht Bedarf an Quecksilber bei einer Industrie, die keine Pleite kennt, bei einer Industrie, die als Bezieher alle anderen Industrien reichlich aufwiegt. Erraten, die Kriegsindustrie! Jener Quecksilberverbindung, mit der wir den Quecksilberfelsen hier sprengen sehen, des Fulminats, bedürfen die Kapseln der Gewehrpatronen, der Artilleriegeschosse, der Dynamitpatronen, und das ist viel.
Die Almadener Statistik reicht bis zum Jahr 1419 zurück. Wieviel von diesem mittelalterlichen Jahr an bis 1925 jährlich gefördert wurde, ist auf einer graphischen Tabelle im Direktionsgebäude klar ersichtlich. In diesem halben Jahrtausend wurden 5 527 899 Flaschen (nur eine Flasche fehlt seltsamerweise zur runden Zahl) zu vierunddreißigeinhalb Kilogramm produziert, was einer Förderung von 2 847 163 Tonnen Zinnober entspricht. Jene 32 000 Flaschen, die in den siebziger Jahren an Rothschild als Jahrestribut abgeliefert werden mußten und zur Aufstellung von neuen Maschinen und zehn Galgen Anlaß gaben, bildeten den Rekord, niemals war bisher mehr erzielt worden. Erst im Jahre 1928 wurde dieser Rekord gebrochen, mehr als die doppelte Leistung vollbracht: 70 000 Flaschen.
Das ist auch wieder vorbei, soviel beträgt heute der Weltbedarf, von dem Almaden die Hälfte deckt. Produktionsrückgang um fünfzig Prozent nach erfolgter Modernisierung der Maschinen und Rationalisierung des Betriebes bedeutet Massenentlassungen.
Natürlich wird nicht nur die Anzahl der Arbeiter davongejagt, um die man die Belegschaft verringern will, sondern man entläßt alle jene, die nicht mehr die Jüngsten und Gesündesten sind, und nimmt an deren Stelle Junge und Gesunde auf, neue Kräfte.
Auswahl ist da, weit mehr als die 2500 Mann, die das Werk braucht, hundertmal 2500, tausendmal 2500, fast zehntausendmal 2500 Mann. Es gibt Millionen von Arbeitslosen in der Welt, und sie sind allesamt einschränkungslos bereit, sich zu jedem Lohn und unter jeder Bedingung an jeden Arbeitsplatz zu stellen. Verzweiflung bemächtigt sich der Entlassenen und der vergeblich Arbeitsuchenden.
War man ursprünglich mit Fesseln an die verderbenspeienden Höhlen geschmiedet, war man später dadurch hier festgehalten, daß zwischen Kerkerwand und Giftwand nur ein Weg, aber kein Ausweg blieb, hatte man sich hernach nur deshalb ins Quecksilber verdingt, um sein Leben nicht auf Kriegszügen in Südamerika oder Nordafrika zu beenden, entschloß man sich schließlich zur Arbeit in Almaden, weil es keine andere Erwerbsmöglichkeit gab (Tod durch Hunger ereilt die ganze Familie, während das Gift der Mine nur einen umbringt) – im zwanzigsten Jahrhundert hat der Wahnsinn der Wirtschaft den Gipfel erklommen, man wird gewaltsam von den Plätzen der Kettensträflinge verjagt, sehnsüchtig streben Massen in die Korridore des Todeshauchs und vergeblich.
Wer hätte je eine solche Vision auszudenken vermocht: eine Inquisitionskammer, in der die Gefolterten vor Angst zittern, man könnte ihre Daumenschrauben lösen, sie von der eisernen Jungfrau trennen, vom Streckbett vertreiben. Eine unabsehbare Menschenmenge drängt heran, schaut neidisch auf die, die gerädert und gestochen und gepfählt werden, und fleht, auch vorgenommen zu werden.
»Da könnte jeder kommen«, schreien die Folterknechte den Bewerbern zu, »schert euch zur Hölle!«
Zur Hölle? Dort ist sicherlich längst die alte Aufforderung beseitigt worden, beim Eintritt alle Hoffnung fahrenzulassen. Dort steht heute sicherlich nur die Aufschrift:
Wegen Überfüllung geschlossen.
VI
Die Kumpels im Stollen sind zumeist Neueingestellte. Sie sehen nicht aus, als wären sie einst als Kinder in den Bretterkisten durch die Gassen von Almaden gefahren worden. Wohl aber werden sie bald so aussehen wie die vermeintlichen Greise, die dem abendlichen Korso auf der Calle de Canalejas die flatternden Hände entgegenstrecken.
Von der jeweiligen Belegschaft leiden 36,2 Prozent an chronischen Krankheiten, darunter 29,9 Prozent an Merkurialismus (Hydrargyrasis). Festgestellt ist, daß Dämpfe durch die Schleimhäute und den Atmungsapparat sowie durch Wunden in den Körper eindringen; möglicherweise erfolgt die Infektion auch durch die Verdauungsorgane.
Die Folgen sind: Ausfall der Zähne, Blutarmut, Herzschwäche, vorzeitiges Altern, Zerstörung des Nervensystems (die Gliedmaßen beginnen konvulsivisch zu zucken, wenn sie zu einer Bewegung eingesetzt werden), Entzündungen im Mund mit Speichelfluß, Diphtherie des Dickdarms.
Statistiken liegen vor. 535 aktive Arbeiter, über dreißig Jahre alt, mehrere Jahre in der Grube tätig, wurden ärztlich untersucht. Von ihnen wurden nur 251 als gesund befunden, und zwar sieht ihre Gesundheit so aus: 75 vollkommen gesund, 69 von Hydrargyrasis geheilt, ohne daß Spuren zurückgeblieben sind, 107 mit zurückgebliebenen Spuren.
Nicht weniger als 284 der Untersuchten zeigten Vergiftungserscheinungen, davon 16 solche leichterer Art (auffallende Blässe, Zahnausfall, Körperschwäche, Herzfehler und verfrühtes Altern), die übrigen 268 schwere Hydrargyrasis mit Zittern, Entzündungen und inneren Krankheiten.
Eine Statistik, entsetzlich genug. Aber im Laufe der Jahre, da die Untersuchten im Quecksilber arbeiteten, haben viele andere an ihrer Seite gehackt, mancher eine kurze, mancher eine lange Zeit. Die konnten nicht mit untersucht werden. Sie fahren nicht mehr in die Grube.
VII
Die Erzblöcke, die losgehauenen, werden emporgehoben zum Sonnenlicht. Dort oben die Förderrampe, auf der der Bergmann nach Feierabend aussteigt, ist für das Erz nur eine Umsteigestation, es fährt weiter auf einer Schwebebahn in den metallurgischen Distrikt des Werkes, den Cerco de Buitrones.
Will man das Material begleiten, um keine seiner Etappen aus dem Auge zu verlieren, so muß man diese Marotte mit Unbequemlichkeiten bezahlen. Schlecht sitzt es sich in einem hängenden Hunt.
Eben noch hat man rotwunde, tränenglitzernde, dunkle und lärmende Labyrinthe des Erdinnern durchirrt, jetzt schwebt man dahin zwischen Himmel und Wiesen. Graugrüne Berge mit zinnenartig gezacktem Kamm (die Sierra Morena) spannen sich als Rahmen um die Ebene. Ein karges, aber friedliches Land, Schafe grasen.
Tief darunter kauert das Quecksilber, älter als das Menschengeschlecht, und wehrt sich wie ein Drache mit gifttragendem Fauchen gegen den Eindringling. Beide siegen, beide unterliegen. Mit mir fahren Stücke des erzenen Drachenleibes, blutende, weinende Stücke, unter mir siechen Menschen an seinem Gift dahin.
Die Luftbahn führt über ein Renaissancetor hinweg, den Eingang zum Destillationswerk, über den Mittelbogen ist das spanische Wappen gemeißelt, umhängt von der Kette des Goldenen Vlieses.
Halt! Taumelnd bleiben die Wägelchen stehen, das meine knapp über dem Gipfel eines Abraumhügels. Die Waggonets kippen, das Erzgestein fällt in den Hof, der Passagier klimmt zu Fuß den Hang der Halde hinab.
Arbeiter ordnen die Zinnoberblöcke nach der Ergiebigkeit und laden sie dem Kran auf, der sie zu Haufen schlichtet. Als arm gelten Stücke mit etwa zwei Prozent, die reichen sind oft fünfunddreißig Prozent reich. Einer der Hügel besteht aus zerstückeltem Häuserrest, Ziegeln, alten Bausteinen, Mörtel – Trümmer demolierter Kondensationskammern. Sie haben im Laufe ihrer Arbeit viele Atome von Quecksilber in ihre Mauerwände gesogen und müssen jetzt wieder alles hergeben. Quecksilber ist ein kostbarer Stoff, vielleicht wird es auch einmal zur Ausbeutung des Menschenfriedhofs kommen, wenn's der Konsum verlangt …
Einen Schachtofen aus Spaniens Araberzeit, einen »Bustamento«, hat man hier belassen, und »Xabecas«, bauchige Destillationsgefäße aus Ton, zu langen Strängen verbunden und in Rinnen nebeneinanderliegend. Diese antiken Produktionsmittel verstärken die monumentale Wirkung der modernen.
Acht Schüttröstöfen stehen wie eine Serie von Ozeanriesen da. Alle vom gleichen Typ (System Czermak-Spierck), doch trägt jeder einen anderen Namen am Bug, den Namen eines verstorbenen Verwaltungsrates oder Direktors. Jeder Ofen nimmt andersprozentige Blöcke auf, und seine Endprodukte gehen in ein nur ihm zugehöriges Becken des Quecksilbermagazins über.
Auf einem achtzig Meter langen Laufband nahen Gestein und Kohle, in der fünfhundertfünfziggrädigen Glut des Kessels schmilzt der Zinnober, vergast das Quecksilber und entweicht – glaubt zu entweichen.
Felsengrau und felsenhoch stehen die Wellen der Röhrenanlage in der Landschaft. Senkrecht steigt in ihnen das Quecksilber hoch, das so lange gebunden war und sich nun freut, ein luftiges Aggregat zu sein; dann läßt es sich längs der nächsten Felsenwand hinab, steigt wieder hinauf, wieder hinab. Kälter wird es ringsumher, immer schwerer wird dem flüchtigen Element zumut, es verliert sein Schweben und Schwingen, um schließlich – just zweihundert Meter hat es innerhalb der Kondensationsrohre durchmessen – müde in ein Becken zu rinnen.
Jawohl, zu rinnen. Es ist das geworden, was es ist: eine Flüssigkeit. Die schwerste aller Flüssigkeiten. Der Aufseher am Ufer des perlmuttnen Sees will das dem Besucher beweisen. Er legt ein eisernes Gewicht auf die Oberfläche des Quecksilbers, ein Stück von fünf Kilogramm. Dann schaut er dich stolz an; siehe, das Gewicht schwimmt wie Papier.
Er schöpft von dem Naß in ein weißes trockenes Tuch, er schwenkt das rundgefüllte Tuch über dem Bassin, glitzernde Strahlen wachsen augenblicklich im Kreis, eine Monstranz entsteht und vergeht, denn allzubald hat der Diana-Regen zu Ende geregnet, das trockene Tuch ist trocken geblieben.
Um meine Hand ins Becken zu tauchen, muß ich stark drücken, es ist, als wäre ein Wasserspiegel auf eine Sprungfeder montiert, ich schiebe auch den Arm hinein mitsamt dem Rockärmel, alles bleibt trocken. Ob meine Manschettenknöpfe aus Gold seien, fragt der Arbeiter besorgt. Wären sie aus Gold oder auch nur vergoldet, so hätten sie sich aufgelöst.
»Sie können auch das Gesicht eintauchen«, fordert er mich auf.
Ist das nicht schädlich?
Er lächelt, wie man im Schützengraben über die Fragen und das Verhalten von Neulingen zu lächeln pflegte.
»Ach nein, einmal eintauchen ist nicht gefährlich.«
VIII
Casa Grande, das große Haus, nennt man in Almaden das Direktionsgebäude, denn im Vergleich zu den Arbeiterhäusern, die es umgeben, ist es ja wirklich ein Wolkenkratzer. In der Casa Grande amtiert der Direktor. Señor Madariaga ist von Amts wegen auch Leiter der zum Werk gehörenden Bergwerksschule, privaterweise Präsident der Internationalen Psychotechnischen Vereinigung.
Wir sprechen über das Bergwerk. Mir ist da unten einiges aufgefallen, die primitiven Grubenlampen mit offenem Licht, keine Schutzvorrichtungen, kein Ausbau im Förderschacht.
»Oh, das reicht alles aus«, sagt der Direktor, »wir hatten seit hundert Jahren keine Katastrophe, schlagende Wetter gibt es nicht im Zinnobererz, ernsthafte Unfälle sind sehr selten. Wenn nur die Quecksilberdämpfe nicht wären!«
Der Ventilator im Stollen war auf 600 Kubikmeter eingestellt, ist das nicht zuwenig Wetterzufuhr?
»Der Ventilator kann per Minute 1250 Kubikmeter leisten, aber es ist nicht gut, ihn auf voll einzustellen, das entwickelt noch mehr Quecksilbergas.«
Was also läßt sich gegen das Gift tun?
»Es gibt kein Mittel. Die Einwirkung auf den Arbeiter kann man nur dadurch herabmindern, daß man die Arbeitszeit des einzelnen beschränkt. Die Bergarbeiter machen alle drei Tage eine sechsstündige Schicht, sind nur achtmal im Monat unter Tag. Zwei Monate im Jahr sind sie mit Feldarbeit beschäftigt, ein Gut von 10 000 Hektar gehört zum Werk. Die Belegschaft der Destillation ist in sieben Schichten geteilt, wer heute in der ersten Schicht steht, arbeitet morgen in der vorletzten. Es wird Tag und Nacht gearbeitet, viermal zu sechs Stunden.«
Bekommt die Belegschaft Milch während der Arbeitszeit?
Der Direktor schaut mich von der Seite an. »Sie meinen, wie in Rußland?«
Ja. Ich war im vorigen Jahr in der Sowjetunion, dort bekommen die Arbeiter der chemischen Betriebe alle zwei Stunden ein Glas Milch. Das soll das beste Gegengift sein.
»Der spanische Arbeiter ließe sich das nicht vorschreiben.«
Und Gasmasken?
»Ein Spanier würde nicht mit der Gasmaske arbeiten. Außerdem dringt ja, wie Sie wissen, der Giftdampf nicht nur durch die Atmungsorgane in den Körper ein. Da müßten die Arbeiter auch noch Handschuhe haben und hermetische Kleider. Das mag vielleicht in Rußland durchführbar sein, in Spanien sind die Leute zu individualistisch.«
Nun, so gehen wir denn in Freundschaft auseinander.
Im Patio, dem schönen Hof der Casa Grande, hängen Arbeitsschutzplakate, wie überall in Fabriken. Abschreckende Bilder mit den Texten: »Es ist ungesund, während der Arbeit zu rauchen.« – »Hütet euch vor dem Alkohol.« – Und so.
Der Bergmann von Almaden muß in der Höhle jener unsichtbaren, unterirdischen, verschlungenen Viper arbeiten, die mit unbemerktem Biß seine Knochen und Adern und Muskeln vergiftet. Überall lauert sie, doch Plakate, wohlmeinend, fürsorglich, warnen den Bedrohten vor anderen Gefahren. Wie, du rauchst? Wie, du trinkst?
Ich wollte mir Schwimmhose und Handtuch mitnehmen, als ich von zu Hause wegging. Es war richtig, daß ich es nicht getan.
Das heilige Bad ist gleich neben der Grotte Masabielle, in der im Jahre des Heils 1858 die Mutter Gottes einem vierzehnjährigen Mädchen, wie man aus dessen Munde weiß, achtzehnmal erschien.
Beim dritten Male hatte Maria verkündet: »Kommet zu diesem Brunnen, um zu trinken und euch hier zu waschen,« Dabei wies sie in eine Ecke, wo eine Quelle sprudelte. So steht es in den Legendenbüchern, und Millionen Gesunde und Kranke wallfahren seither nach Lourdes, dieses Wasser zu trinken und sich damit zu waschen.
Den schwersten Fällen genügt das nicht, sie wollen in dem heiligen Wasser auch baden. Für sie sind die Piscinen da, ein dreifältiger Pavillon, je eine Einfalt für die Frauen, eine für die Kinder und eine für die Männer bestimmt. Ich wollte mir Schwimmhose und Badetuch mitnehmen, als ich von zu Hause wegging. Es war richtig, daß ich es nicht getan. Denn keineswegs so spielt sich der Besuch dieser heiligen Badeanstalt ab wie der Besuch irgendeiner anderen Badeanstalt, man kann nicht einfach hineingehen, eine Karte lösen, eine Kabine zugewiesen bekommen, in eine frischgefüllte Wanne oder in ein Bassin steigen, sich massieren lassen, duschen, abtrocknen – nein, nichts von alledem.
Vorerst muß jeder, der da hofft, daß das heilige, heilende Wasser nun alle Gebrechen von und aus seinem Leibe spülen werde, zu warten verstehen. Oberste Badevorschrift hier ist das Sprichwort: Hoffen und harren macht …