Entdeckungen in Mexiko - Egon Erwin Kisch - E-Book

Entdeckungen in Mexiko E-Book

Egon Erwin Kisch

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Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Lesen Sie hier 48 seiner gelungensten Reportagen und Essays aus Mexiko. Kisch, der 1939 nach Mexiko ins Exil floh, berichtet anschaulich und unterhaltsam, wie nur er es konnte, über Land und Leute. Seiner Zeit und seinen persönlichen Erfahrungen geschuldet, hat er dabei immer ein Auge auf die Ausgebeuteten und Verlorenen, derer es auch in Mexiko nicht mangelt. Er schreibt über Entwicklungen im Gesundheitswesen genauso wie über Reformen in der Landwirtschaft, aber auch über Vulkane, Kakteen und Erdbeben. Kurz: Der "rasende Reporter" ist wieder einmal in seinem Element. "Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer." [Kurt Tucholsky] Mit 107 Fußnoten Null Papier Verlag

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Egon Erwin Kisch

Entdeckungen in Mexiko

Egon Erwin Kisch

Entdeckungen in Mexiko

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Aufbau Verlag, Berlin, 1947, 1974 3. Auflage, ISBN 978-3-962817-05-3

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Inhaltsverzeichnis

Ge­schich­ten mit dem Mais

Ein Vul­kan bricht aus

Kol­leg: Kul­tur­ge­schich­te des Kak­tus

I. He­ral­dik

II. Bil­den­de Kunst

III. Li­te­ra­tur

IV. Ge­schich­te

V. Ma­nu­fak­tur­we­sen

VI. Re­vo­lu­ti­ons­ge­schich­te

VII. In­dus­trie

VIII. Phar­ma­ko­lo­gie

IX. Eth­no­gra­fie

X. Ga­stro­no­mie

XI. Hy­dro­lo­gie

XII. Dia­lek­tik

Der Ni­be­lun­gen­hort von Me­xi­ko

I. Wie man den Schatz fand

II. Das Gold flüch­tet

III. Das große Su­chen

In­ter­view mit den Py­ra­mi­den

I

II

III

IV

V

VI

VII

»Nicht je­dem Vol­ke ward sol­ches ge­tan …«

Das ver­teil­te Baum­wol­land

Ma­xi­mi­li­an von Habs­burg und Karl Marx

Land­schaft, ge­schaf­fen um des Sil­bers wil­len

Lie­be und Le­pra

Mi­ne­ral der mo­to­ri­sier­ten Mensch­heit

Aga­ven­hain in der Ka­schem­me

I

II

Fra­gen, nichts als Fra­gen auf dem Mon­te Albán

An der Kräu­ter­bu­de

Der Mensch im Kampf der Häh­ne

Ge­schäfts­rei­se

In­di­odorf un­ter dem Da­vid­s­tern

Me­xi­ko­for­schung bei den Na­zis

Ver­wir­rung ei­ner Kai­se­rin

Zum Ge­burts­tag des feu­er­spei­en­den Bergs

Bo­nan­za oder die Prin­zen der glück­li­chen Sträh­ne

Wirt­schaft­li­ches Feuil­le­ton über Tor­reón

Was im­mer der Peyo­te sei …

Der Ha­fen der See­räu­ber

Der Kau­gum­mi, er­zählt vom Ende bis zum An­fang

Die fet­ten und die ma­ge­ren Jah­re der Stri­cke

Die Va­nil­le-In­dia­ner

Die Pe­tro­le­um­lei­tung

I

II

Der Kas­par Hau­ser un­ter den Na­tio­nen

Ver­such ei­ner Be­schrei­bung von Chi­chen Itza

Sport­be­trieb bei den al­ten Ma­yas

Teo­ber­to Ma­ler, ein Mann in ver­zau­ber­ter Stadt

Markt­no­tie­run­gen

Er­leb­nis­se beim Erd­be­ben

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Kisch bei Null Pa­pier

Pa­ra­dies Ame­ri­ka

Der Mäd­chen­hirt

Schreib das auf, Kisch!

Ge­schich­ten aus sie­ben Ghet­tos

Der ra­sen­de Re­por­ter

Ent­de­ckun­gen in Me­xi­ko

Markt­platz der Sen­sa­tio­nen

Hetz­jagd durch die Zeit

Wa­g­nis­se in al­ler Welt

Geschichten mit dem Mais

Der me­xi­ka­ni­schen Erde ver­dankt die Welt den Mais, ih­ren großen Er­näh­rer. (Nur der Reis ist ein noch grö­ße­rer.)

Der Mais ist ei­nes der Kron­in­si­gni­en von Me­xi­ko; Kro­ne ist die Aga­ve, Zep­ter ist der Or­gel­kak­tus, und der gol­den er­strah­len­de Reichs­ap­fel ist der Mais­kol­ben.

Nir­gends tritt eine Acker­frucht in Städ­ten so sicht­bar­lich in Er­schei­nung wie der Mais in Me­xi­ko. Das ers­te, was auf­fällt, sind die Tor­til­lerías, Bä­cke­rei­en und Bäcker­lä­den zu­gleich und doch auch kei­nes von bei­den. Schau­fens­ter und Tü­ren feh­len, so zwar, dass das Lo­kal zu ei­ner of­fe­nen Ni­sche der Stra­ße wird. Ein Teil der Ar­beit voll­zieht sich so­gar auf dem Bür­ger­steig: das Scheu­ern der stei­ner­nen Rei­be »Me­ta­te«, die Rei­ni­gung des ei­ser­nen Herds und am Abend das Kne­ten der aus­ge­brann­ten Holz­koh­le zu ei­ner Art Bri­ketts.

Das In­ne­re aber, wenn man bei ei­nem so weit ge­öff­ne­ten Raum von ei­nem In­nern spre­chen kann, ist kei­ne Bäcker­werk­statt mit Back­ofenglut und schwit­zen­den Ge­sel­len und schü­ren­den Lehr­lin­gen, mit lan­gen Feu­er­zan­gen, sar­g­ähn­li­chen Trö­gen und viel­stö­cki­gen Brot­re­ga­len.

In den Tor­til­lerías sind nur Frau­en am Werk. Vo­rerst kne­ten sie den aus Kalk und ge­mah­le­nem Mais be­ste­hen­den Teig, die Masa. Es ist der Kalk, der die Schmack­haf­tig­keit und die be­lieb­te Hel­le der Tor­til­la aus­macht und den Es­ser vor Ra­chi­tis schützt; auf Schritt und Tritt sieht man, dass die Tor­til­la den Zäh­nen gut tut, – selbst die äl­tes­ten Me­xi­ka­ner flet­schen ein lücken­lo­ses wei­ßes Ge­biss mit­samt ro­sa­ro­tem Zahn­fleisch, wie es bei Brot­fres­sern nur dann er­strahlt, wenn es vom Den­tis­ten stammt.

Ist der Teig durch­ge­k­ne­tet und ge­schmei­dig, dann nimmt die Tor­til­le­ra … Ehe wir weiter­schrei­ben, müs­sen wir den Le­ser war­nen, das Wort Tor­til­le­ra etwa in Spa­ni­en so ohne wei­te­res an­zu­wen­den. In Spa­ni­en macht und isst man kei­ne Tor­til­las, aber es gibt Tor­til­ler­as. So hei­ßen näm­lich dort die les­bi­schen Frau­en. (Als ein Schiff mit spa­ni­schen Flücht­lin­gen in Vera­cruz lan­de­te und me­xi­ka­ni­sche Zei­tun­gen an Bord ka­men, starr­ten die Pas­sa­gie­re ver­blüfft auf die Über­schrift »Streik der Tor­til­ler­as«. Welch selt­sa­mes Land, sag­ten die Neu­an­kömm­lin­ge, wo sol­che Frau­en strei­ken. Ver­lan­gen sie kür­ze­re Ar­beits­zeit, hö­he­re Löh­ne, Kol­lek­tiv­ver­trag?)

Aber wir sind bei den nor­ma­len me­xi­ka­ni­schen Tor­til­ler­as, wäh­rend sie von der Teig­mas­se einen klei­nen Klum­pen zwi­schen die Hand­flä­chen neh­men. Nun be­ginnt ein weit­hin hör­ba­rer Ar­beits­gang. Der Klum­pen wird zu ei­ner run­den und dün­nen Plat­te ge­patscht, die, um noch kreis­runder und noch dün­ner zu wer­den, un­zäh­li­ge Male und in ho­hem Bo­gen blitz­schnell aus der einen Hand­flä­che in die an­de­re fliegt. Die Tschi­nel­len­schlä­ger der se­li­gen Wie­ner Burg­mu­sik wer­den von den Tor­til­ler­as ge­ra­de­zu an die Wand ge­klatscht, – was Wun­der, jonglie­ren doch die Me­xi­ka­ne­rin­nen schon seit Ur­zei­ten ihr täg­li­ches Brot auf die­se Art und Wei­se, wie soll­ten sie’s da nicht bes­ser kön­nen als ein Sol­dat mit be­schränk­ter Dienst­zeit!

Kun­din­nen fül­len den La­den, be­glei­ten das Klat­schen mit ih­rem Klatsch, die­weil die Dis­ken die Luft durch­flie­gen. Von Zeit zu Zeit taucht die Tor­til­le­ra ihre Hän­de in war­mes Was­ser, um haf­ten­ge­blie­be­ne Teig­stück­chen ab­zu­spü­len. Schließ­lich hat der Fla­den eine fast arith­me­ti­sche Kreis­rund­heit er­reicht. Auf den Co­mal, die hei­ße Herd­plat­te, kommt nun ein we­nig Fett, da­mit die Tor­til­la nicht kle­ben blei­be, wenn sie dar­auf­ge­legt wird, und sie wird dar­auf­ge­legt. Leicht an­ge­ba­cken, mit ei­nem schwar­zen Fleck auf gel­bem Fond, frisch und warm, ist sie ein Eier­ku­chen ohne Ei, ohne Salz und ohne Zu­cker. Die Tor­til­la ist das Brot von Mil­lio­nen, und dient auch als Ga­bel, Löf­fel und Tel­ler für jene, die zu die­sem Brot noch et­was an­de­res zu es­sen ha­ben.

Der täg­li­che Markt­be­such wird mit dem Ein­kauf der Tor­til­las be­schlos­sen, und aus der Tor­til­lería läuft die Käu­fe­rin ge­ra­den­wegs nach Hau­se, um die Tor­til­las noch warm auf den Tisch zu brin­gen. Dort, wo das Ba­cken im Haus ge­schieht, ge­schieht es wäh­rend der Tisch­zeit, und un­un­ter­bro­chen wer­den aus der Kü­che neue Tor­til­las her­an­ge­tra­gen, auf dass sie so heiß ge­ges­sen wer­den, wie sie ge­kocht sind.

In den Dör­fern re­giert nicht die Tor­til­lería das Stra­ßen­bild, son­dern der Mo­li­no de Nix­ta­mal, die Mais­müh­le. Kein Dorf, das nicht min­des­tens einen La­den mit die­ser Auf­schrift und ei­ner klei­nen Müh­le mit Ga­so­lin­mo­tor hat. »Nix­ta­mal« ist ein in­dia­ni­sches Wort, das sich in die heu­ti­ge Zeit Me­xi­kos hin­über­ge­ret­tet hat. (Auch das Wort »Tla­pa­lería« stammt von ei­nem az­te­ki­schen Sub­stan­tiv, aber da es in der Az­te­ken­zeit kaum Farb­wa­ren­ge­schäf­te gab, muss es erst spä­ter in Ge­schäfts­ge­brauch ge­kom­men sein. Nix­ta­mal wur­de je­doch schon in der prä­hi­spa­ni­schen Zeit zer­mah­len.)

Die Frau­en der Pro­vinz brin­gen ih­ren ei­ge­nen Mais in den Mo­li­no de Nix­ta­mal. Et­was Mais hat auf dem Lan­de je­der­mann, zu­min­dest ein paar Stau­den, die rings um die Hüt­te auf­schie­ßen. In den Hö­fen steht – Wahr­zei­chen des me­xi­ka­ni­schen Dor­fes – ein vier­e­cki­ges, schlan­kes Türm­chen, aus Maiss­troh ge­floch­ten: der Cin­co­lo­te, Spei­cher für Mais­kol­ben. Ein Dach schützt ihn ge­gen Re­gen, und er steht hoch auf höl­zer­nen Fü­ßen, da­mit die Rat­ten nicht hin­auf­krie­chen kön­nen.

Dem Cin­co­lo­te ent­stam­men die Kör­ner, wel­che die Haus­frau im Mo­li­no de Nix­ta­mal mit Kalk zur Masa ver­mah­len lässt. Zu Hau­se – je­der Kü­chen­herd eine Tor­til­lería – bäckt sie die Tor­til­las für ihre Fa­mi­lie. Oder auch für den Ver­kauf. Die Tor­til­las auf den Markt zu tra­gen ist Al­ten­teil der Urah­ne. Bar­fü­ßig, auf den Ze­hen­spit­zen, mit ge­beug­ten Kni­en und schnel­len kur­z­en Schrit­ten, den Korb auf dem Kopf ba­lan­cie­rend, trabt sie seit tau­send Jah­ren ih­ren Markt­weg, oft mei­len­weit. Ein mit­lei­di­ges Auto will sie mit­neh­men. Ant­wort­los, ver­ständ­nis­los trabt sie wei­ter, dem Mark­te zu. Dort hockt sie seit dem ers­ten je­ner tau­send Jah­re un­be­weg­lich mit­ten im sto­ßen­den Ge­wühl vor dem glei­chen Korb mit den glei­chen Tor­til­las an der glei­chen Stel­le. Wenn das letz­te Stück sei­nen Käu­fer ge­fun­den hat, trabt sie nach Hau­se, wie sie ge­kom­men.

Die Mo­li­nos de Nix­ta­mal in den großen Städ­ten sind Fa­bri­ken, elek­trisch be­trie­ben, Ak­ti­en- oder Kom­man­dit­ge­sell­schaf­ten ge­hö­rig. Ge­gen sie und ge­gen ihre Mais­lie­fe­ran­ten rich­ten sich die Vor­wür­fe der Be­völ­ke­rung, wenn der Preis der Tor­til­la steigt. Denn der Preis der Tor­til­la be­stimmt das Le­ben der Mas­sen.

Bei der De­mons­tra­ti­on am Ers­ten Mai in Me­xi­ko-Stadt fällt ei­nem, der die vo­ri­ge Mai­fei­er in New York er­lebt hat, zwei­er­lei auf: die agra­ri­sche Grund­hal­tung der me­xi­ka­ni­schen In­dus­trie­ar­bei­ter und die ge­rin­ge Be­to­nung des In­ter­es­ses am Geld­wert. Auf dem Weg zum Uni­on Squa­re hat­ten die New Yor­ker Ko­lon­nen ge­gen die Er­hö­hung des Un­ter­grund­bahn­ta­rifs pro­tes­tiert. »Five cents is fair enough«,1 sie zeig­ten Ta­bel­len mit un­zu­läng­li­chen Löh­nen, und den ge­mal­ten Lohn­tü­ten stan­den ge­mal­te Sä­cke mit den Mil­lio­nen­pro­fi­ten der Ver­wal­tungs­rä­te ge­gen­über. Der me­xi­ka­ni­sche Ar­bei­ter, weit schlech­ter be­zahlt, er­wähnt an sei­nem Fei­er­tag der­glei­chen nicht. Er lebt in ei­nem Lan­de, wo die Re­vo­lu­ti­on noch nichts Ver­jähr­tes, nichts my­thisch Ver­fälsch­tes ist, son­dern eine Ge­gen­wart, der al­les Er­sprieß­li­che oder halb­wegs Er­sprieß­li­che ent­stammt. In Me­xi­ko rüh­men sich selbst Re­ak­tio­näre in ras­seln­den Re­den mit rol­len­dem R der rie­si­gen Rol­le, die sie in der ruhm­rei­chen Re­vo­lu­ti­on ge­spielt ha­ben wol­len.

An der Sei­te der Land­ar­bei­ter ha­ben die Stadt­ar­bei­ter für Land­auf­tei­lung und ge­gen Leib­ei­gen­schaft ge­kämpft, und sie tra­gen noch im­mer die­se agra­ri­schen Idea­le vor sich her. Das Por­trät des Bau­ern­füh­rers Emi­lia­no Za­pa­ta rei­tet über den Be­am­ten der Pfand­leih­an­stalt, »Land und Frei­heit«, ver­lan­gen die Me­tall­ar­bei­ter. Und alle, ob sie Be­leg­schaf­ten der Pe­tro­le­um­zen­tra­le oder des Elek­tri­zi­täts­werks, ob sie Au­to­bus­schaff­ner, Leh­rer, Ei­sen­bah­ner, Buch­dru­cker, Rohr­le­ger, Tex­til­ar­bei­ter, An­ge­stell­te der Stier­kampf­are­na oder Ki­no­ope­ra­teu­re sind, alle ver­ei­ni­gen sich in Ban­ner und Ruf zum Pro­test ge­gen den ge­mein­sa­men Feind: »Con­tra los aca­pa­ra­do­res del maíz«, ge­gen die Maiss­pe­ku­lan­ten.

Üb­ri­gens be­wegt sich die Mai­de­mons­tra­ti­on mit­ten in ei­nem am­bu­lan­ten Markt von Nah­rungs­mit­teln, und auch auf dem do­mi­niert der Mais. In al­len For­men bie­ten ihn die Stra­ßen­händ­ler an.

»Elo­te« heißt in Me­xi­ko der pure Mais­kol­ben. Ge­sot­ten oder ge­rös­tet wird er von des Stra­ßen­kochs glim­men­den Holz­koh­len weg­ge­kauft und auf dem Marsch ge­knab­bert. Auch die vier Na­tio­nal­spei­sen, Ta­ma­les, En­chil­adas, Ta­cos oder Que­sa­dil­las, kauft und isst man un­ter­wegs. Die Un­ter­schie­de zwi­schen die­sen vier Ge­rich­ten muss man ler­nen, wenn man Me­xi­ko durch­wan­dert und un­ter dem wäh­len will, was Gar­kü­che und Markt feil­hal­ten.

1. Ta­ma­les: au­ßen Mais, in­nen Mais. Ein­ge­schla­gen in ein Mais­blatt liegt die mit­samt der Scha­le ge­schro­te­te Mais­mas­se; sie ist in Dampf ge­kocht, oft mit et­was Fleisch, und wenn man will – und man will im­mer – mit Chi­le­pfef­fer dar­in.

2. En­chil­adas: eine ge­roll­te Tor­til­la, ge­füllt mit et­was Trut­hahn- oder sons­ti­gem Fleisch, Ge­mü­se oder weißem Käse, ge­düns­tet in To­ma­ten­so­ße, ge­spickt mit Zwie­beln. Und wenn man will – und man will im­mer – mit Chi­le­pfef­fer.

3. Ta­cos: sie sind die me­xi­ka­ni­schen Sand­wichs, knusp­ri­ge Tor­til­las mit Fri­jo­les (Boh­nen) dar­in, Ge­mü­se oder Fleisch und wenn man will – und man will im­mer – mit Chi­le­pfef­fer.

4. Que­sa­dil­las: eine Tor­til­la mit Fleisch, Wurst, Käse oder Flor de Cala­ba­za (Kür­bis­blü­te) ge­füllt, in heißem Fett ge­sot­ten. Und, ob man will oder nicht, im­mer mit Chi­le­pfef­fer.

Je­doch nicht nur ge­ges­sen wird der Mais, son­dern auch ge­trun­ken. Der Ato­le ist ein Ge­tränk, wie­wohl er mehr an ver­dünn­ten Brei oder Grieß­sup­pe er­in­nert; er­zeugt wird er aus ge­quirl­tem Mais­mehl und manch­mal mit Frucht­saft ver­mischt. Oder Po­zo­le, eine Sup­pe aus ge­trock­ne­tem Mais, über ei­nem Schweins­kopf ge­kocht, mit ro­hen Zwie­beln und je­nen Gar­ban­zos2 reich ver­se­hen, ge­gen die Hei­nes Atta Troll so hef­tig los­zieht.

Auch zur Al­ko­ho­li­sie­rung des Vol­kes trägt der Mais das Sei­ne bei, in Me­xi­ko durch den Pul­que de Maíz, der dem ge­wöhn­li­chen Pul­que in nichts nach­steht, und in Bo­li­vi­en durch die Chicha, de­ren ab­son­der­li­che Tech­no­lo­gie ih­rer Be­liebt­heit kei­nen Ab­bruch tut. Den gan­zen Tag lang, wäh­rend al­ler ih­rer Be­schäf­ti­gun­gen, kau­en die bo­li­via­ni­schen Frau­en fri­sche Mais­kör­ner und spu­cken sie von Zeit zu Zeit in einen Bot­tich. Kraft des Spei­chels löst sich der Zucker­ge­halt und geht in Gä­rung über, und am Abend kön­nen sich die Ehe­män­ner das hin­ter die Bin­de gie­ßen, was die Ehe­frau­en im Lau­fe des Ta­ges für­sorg­lich zu­be­rei­tet ha­ben. So viel und noch mehr lässt sich aus dem Mais ma­chen, so man­nig­fal­tig lässt er sich ge­nie­ßen.

Der tol­te­ki­schen Re­li­gi­on zu­fol­ge war Mais der Stoff, aus dem der Mensch be­steht. Aus der Höh­le Cin­cal­li, dem Haus des Mais, wur­den die un­ge­bo­re­nen Kin­der auf die Mut­ter­lei­ber ver­teilt und konn­ten bloß durch Ge­nuss von Mais le­ben und wach­sen. Aber nur Zu­fall oder eine Gna­de der Göt­ter war es, wenn die In­di­os in ih­rer No­ma­den­zeit ei­ner Stau­de von wil­dem Mais be­geg­ne­ten. Meist muss­ten sie hun­gern, und auf ihre ban­ge Fra­ge: Wo liegt die Höh­le Cin­cal­li? gab es nur die Ant­wort: Das wis­sen die Göt­ter.

Je­doch nicht ein­mal die Göt­ter wuss­ten das, und ge­ra­de die hät­ten es be­son­ders gern ge­wusst. Denn auf Er­den wur­de der Mais »Gras der Göt­ter« ge­nannt, und wenn die Men­schen er­fah­ren wür­den, dass die All­wis­sen­den nicht wis­sen, wo ihr ei­ge­nes Gras wach­se, so wäre es mit re­li­gi­ösem Re­spekt und Op­fer­wil­lig­keit vor­bei.

Des­halb be­trau­ten die Göt­ter einen der Ihren mit der In­ves­ti­ga­ti­on. Die­ser brach­te ver­hält­nis­mä­ßig rasch her­aus, dass die schar­lach­ro­te Amei­se im Haus des Mais ver­keh­re, und zwar nur in der so­ge­nann­ten Zwin­kern­den Nacht. Die Adres­se die­ses Hau­ses konn­te der Göt­ter­de­tek­tiv lan­ge nicht eru­ie­ren. Erst nach zwei­und­fünf­zig Jah­ren der Beo­b­ach­tung ge­lang es ihm, in der Zwin­kern­den Nacht die schar­lach­ro­te Amei­se zu er­tap­pen, als sie aus ei­nem Berg­spalt kam mit ei­nem gan­zen Mais­korn auf der Schul­ter. Genau so wie es die ir­di­schen De­tek­ti­ve in sol­chen Fäl­len tun, ver­klei­de­te sich der gött­li­che, er ver­klei­de­te sich als schar­lach­ro­te Amei­se und schlüpf­te durch die Spal­te in die Höh­le Cin­cal­li, die von un­ten bis oben ge­füllt war mit gol­de­nen Kör­nern. So brach­ten die Göt­ter den Mais zu den Men­schen und be­wie­sen, dass sie wuss­ten, wo er zu ho­len sei.

Der Mensch wur­de nun ein gan­zer Mensch. Er brauch­te nicht mehr um­her­zuir­ren, um sein Es­sen zu fin­den, er ver­grub die Kör­ner in die Erde und war­te­te, bis sie auf­er­stan­den und ihm eine Mahl­zeit auf­tisch­ten. Sol­cher­art seß­haft ge­wor­den, bau­te er sein Dach, und aus Hüt­te und Hüt­te wur­de die Ge­mein­schaft.

Al­ler­dings, all­zu üp­pig lie­ßen die Göt­ter den Men­schen nicht wer­den, er soll­te ab­hän­gig blei­ben von den Göt­tern. Des­halb ver­knapp­ten sie den Mais, es gab Mis­sern­ten und Hun­ger. Die Men­schen, nicht ge­willt, Hun­ger­s­nö­te gott­er­ge­ben hin­zu­neh­men, wehr­ten sich. Sie leg­ten in den fet­ten Jah­ren Korn­kam­mern an für all­fäl­li­ge ma­ge­re Jah­re.

Nach­dem die Spa­nier ins Land ge­drun­gen wa­ren, dran­gen sie auch in die­se Spei­cher ein, und be­ka­men Erek­tio­nen von Hab­gier an­ge­sichts des bis zum Dach­bo­den auf­ge­schich­te­ten Gol­des. Umso hef­ti­ger war die Ent­täu­schung, als sie er­kann­ten, dass es nur Kör­ner ei­ner Acker­frucht wa­ren. Wohl sand­ten sie ei­ni­ge Pro­ben da­von nach Spa­ni­en, aber der Hof kann­te das Korn be­reits, denn Co­lum­bus hat­te es mit­ge­bracht, ohne In­ter­es­se da­für zu we­cken. Ei­ni­ge spa­ni­sche Gran­den, die es als ein ku­rio­ses Kraut in ih­ren Gar­ten pflanz­ten, ern­te­ten nur das Na­se­rümp­fen ih­rer Da­men.

Zwan­zig Jah­re nach der Cor­tez­schen Sen­dung schenk­ten die Grün­der der Stadt Val­la­do­lid in Yu­catán ih­rer Pa­ten­stadt in Spa­ni­en einen Sack mit Mais. Die Stadt­vä­ter des spa­ni­schen Val­la­do­lid wuss­ten die Gabe bes­ser ein­zu­schät­zen. Sie bau­ten den Mais an, ver­brei­te­ten ihn über ganz Eu­ro­pa und grün­de­ten eine Pro­duk­ten­bör­se, die jahr­hun­der­te­lang dem Mais­han­del der Welt die Kur­se dik­tier­te.

In man­chen Län­dern nann­te man den Mais »Ku­ku­ruz«, in man­chen »Corn«. Zu­meist aber hieß er »tür­ki­scher Wei­zen«, und zwar aus dem glei­chen Grun­de, aus dem man in Eng­land den Trut­hahn »Tur­key« nennt. Jene Tur­key, der wir bei­des ver­dan­ken, liegt in Me­xi­ko. Eu­ro­pa ver­moch­te da­mals nicht über den Kon­ti­nent hin­aus­zu­den­ken und iden­ti­fi­zier­te sich selbst mit dem Wel­tall. Fer­ne, exo­ti­sche Land­schaf­ten konn­ten nicht an­ders­wo ge­le­gen sein als in dem Grenzwin­kel Eu­ro­pas: der Tür­kei.

Auch nach der Ver­trei­bung der Mais­göt­ter und der Ein­set­zung von Ka­len­der­hei­li­gen kam es in Me­xi­ko zu Mais­ver­knap­pung und Teue­rung, ja es kam zu Auf­stän­den ge­gen die »Aca­pa­ra­do­res del maíz«. Von ei­ner Mais­re­vol­te im Juni 1692 er­fährt man, wenn man sich für einen Re­por­ter je­ner Zeit in­ter­es­siert, für Car­los de Si­güen­za y Gón­go­ra, der sich und sei­ne Zeit­schrift »Mer­cu­rio Vo­lan­te« nann­te.

Günst­lin­ge des Vi­ze­kö­nigs hat­ten zu Spe­ku­la­ti­ons­zwe­cken Mais ge­hams­tert. Ver­geb­lich stand die Be­völ­ke­rung Schlan­ge vor den Mo­li­nos de Nix­ta­mal und vor den Tor­til­lerías. Es setz­te Zu­sam­men­stö­ße mit der Stadt­wa­che, und da­bei wur­de eine Frau von Hel­le­bar­den durch­bohrt. Er­bit­tert wälz­te sich die Men­ge zum Schloss, steck­te es in Brand, und Kol­le­ge Car­los de Si­güen­za y Gón­go­ra, der ra­sen­de Mer­kur, lässt durch­bli­cken, dass vie­le Tote und sons­ti­ges Un­heil zu be­kla­gen wa­ren.

Spe­ku­lie­ren­de Günst­lin­ge des Vi­ze­kö­nigs gibt es nicht mehr, seit es das Amt des Vi­ze­kö­nigs nicht mehr gibt, aber der Mais hat nicht auf­ge­hört, Ob­jekt der Spe­ku­la­ti­on zu sein. Kei­ne Re­gie­rung, die nicht ver­sucht hät­te, die­sem Kar­di­nal­pro­blem der In­nen­po­li­tik bei­zu­kom­men. Ma­xi­mal­prei­se für Mais und Tor­til­las wur­den fest­ge­setzt, An­bau­ge­set­ze er­las­sen, Zoll- und Trans­port­ta­ri­fe re­gu­liert; Vor­schüs­se auf Ern­ten ge­währt und ein Not­standsspei­cher für den Distri­to Fe­deral, das haupt­städ­ti­sche Ge­biet, ein­ge­rich­tet, worin min­des­tens 12 000 und höchs­tens 25 000 Ton­nen la­gern für eine drei­ßig­tä­gi­ge Ver­sor­gung.

Au­ßer­dem wird nach Me­xi­ko, das frü­her Mais ex­por­tier­te, Mais ein­ge­führt. We­gen der fracht­güns­ti­gen Nähe der nord­ame­ri­ka­ni­schen Mais­hä­fen am Golf von Me­xi­ko (Cor­pus Chris­ti, Hou­ston-Gal­ves­ton und New Or­leans) ver­schwand schon vor Kriegs­aus­bruch der gel­be, an Vit­amin B rei­che Pla­ta-Mais Ar­gen­ti­ni­ens fast ganz vom me­xi­ka­ni­schen Markt. – Statt sei­ner wird Whi­te­corn 2, ein wei­ßer, flach­kör­ni­ger Mais aus den Ve­rei­nig­ten Staa­ten, ge­han­delt, und das Wort »Whi­te­corn Num­ber Two« kehrt in Er­läs­sen und Pro­to­kol­len im­mer wie­der, ohne dass die Tor­til­le­ra oder gar der Tor­til­la-Es­ser eine Ah­nung hat, was das be­deu­tet.

Umso bes­ser weiß man in der Cal­le Me­so­nes, was Whi­te­corn Num­ber Two be­deu­tet. Cal­le Me­so­nes ist die Stra­ße der Pfef­fer­sä­cke, bild­lich und kon­kret. Sä­cke mit Chi­le­pfef­fer kom­men hier­her, lie­gen hier und ge­hen von hier ab, und Sä­cke mit an­de­ren Ge­wür­zen, mit Nah­rungs- und Fut­ter­mit­teln, vor al­lem mit Mais. Hin­ter Schal­tern und an Te­le­fo­nen spe­ku­lie­ren die Pfef­fer­sä­cke in Men­schen­ge­stalt.

Un­be­fahr­bar ist tags­über die Fahr­bahn der Stra­ße, weil Fracht­au­tos und Per­so­nen­au­tos sie ver­stop­fen; über kein Auto, ja nicht ein­mal über Schuh­werk ver­fü­gen die vom Lan­de her­an­ge­wan­der­ten Last­trä­ger, die hier lö­schen und la­den.

Was in die­ser Stra­ße nicht di­rekt dem Groß­han­del mit Nah­rungs­mit­teln dient, dient ihm in­di­rekt. Ge­schäf­te mit Sä­cken und Sei­len aus He­ne­quén, der Fa­ser von Yu­catán, Re­pa­ra­tur­werk­stät­ten mit rie­si­gen Rei­fen für rie­si­ge La­st­au­tos, Tisch­le­rei­en für Kis­ten und – eine Spe­zia­li­tät, die der sonst ähn­li­che Stra­ßen­zug an den Pa­ri­ser Markt­hal­len nicht kennt – Waf­fen­hand­lun­gen mit Re­vol­vern für Ein­käu­fer von Mais.

Die Cal­le Me­so­nes ist eine Bör­se, aber ihre Mit­glie­der sind im­mer­hin der Ware nah. An­ders als auf dem Chi­ca­go­er Board of Tra­de. Dort hört man zwar die Pfei­fe der Bör­sia­ner, sieht je­doch kei­nen Mais­kol­ben. Noch we­ni­ger sieht man, wie die Mais­kol­ben nach die­ser Pfei­fe tan­zen. (Fil­m­ope­ra­teur: Über­blen­den Sie von den Be­we­gun­gen der Chi­ca­go­er Kurs­ta­fel auf die von Hand zu Hand sprin­gen­den Tor­til­las in der Tor­til­lería!)

Zu vie­le Re­gis­seu­re und Cho­reo­gra­fen sind am Ar­ran­ge­ment die­ses Bal­letts be­tei­ligt, und der, für den der Mais kein Di­ver­tis­se­ment, son­dern Nah­rung be­deu­tet, kommt um den Ge­nuss. Aber die Bör­sen­spe­ku­la­ti­on trägt nicht die Al­lein­schuld dar­an, dass der Va­ter Un­ser das Ge­bet um das täg­li­che Mais­brot nicht er­hö­ren kann. Zu den vie­len Schwie­rig­kei­ten ist eine neue ge­tre­ten.

Die Ve­rei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka kau­fen die me­xi­ka­ni­schen Ar­beits­kräf­te auf. Sie bie­ten Ta­ges­löh­ne bis zu acht Dol­lar und Ver­trä­ge bis zu neun Mo­na­ten, also Ver­dienst­mög­lich­kei­ten, wie sie kei­nem Land­ar­bei­ter in Me­xi­ko lä­cheln. Eine Mas­sen­über­sied­lung über die Gren­ze hat ein­ge­setzt, eine wah­re Völ­ker­wan­de­rung. Gan­ze Distrik­te Me­xi­kos ste­hen ent­völ­kert da, weil ihre Be­woh­ner auf den To­ma­ten-, Spi­nat-, Broc­co­li- und Obst­plan­ta­gen und bei Re­pa­ra­tu­ren von Ei­sen­bahn­glei­sen in Ka­li­for­ni­en und Texas be­schäf­tigt sind.

Dem Bau­ern blei­ben kei­ne Ar­beits­kräf­te. So geht er ent­we­der als »Bra­ce­ro«3 nach USA, oder er baut statt Mais, der ihm nur 325 Pe­sos per Ton­ne bräch­te, zum Bei­spiel Se­sam an mit ei­nem Er­trags­preis von 1100 Pe­sos. Alle Nutz­pflan­zen ste­hen weit hö­her im Kurs als der Mais, ohne den das Volk ver­hun­gern müss­te.

(engl.) Fünf Cent ist (mehr als) ge­nug.  <<<

Ki­cher­erb­sen  <<<

(span.) Ta­ge­löh­ner.  <<<

Ein Vulkan bricht aus

Ich sit­ze auf dem Tritt­brett ei­nes Au­tos, um zu skiz­zie­ren, was sich vor mir be­gibt. Mit grel­lem Hohn be­leuch­tet das Mo­dell mein Pa­pier. Für die­ses Mo­dell gibt es kei­nen Be­griff. Es ist kein Le­be­we­sen und lebt den­noch in un­aus­ge­setz­ter Be­we­gung. Es ist ein geo­lo­gi­sches oder ein mi­ne­ra­lo­gi­sches Ding, je­den­falls an­or­ga­nisch, und den­noch tobt es und faucht es und grölt es und wirft Stei­ne und Spott auf mein Pa­pier.

Heu­te Nach­mit­tag kam ich zu die­sem We­sen, das sich vor zwei Wo­chen aus dem Bauch von Mut­ter Erde zu ge­bä­ren be­gon­nen hat und sich mit dem los­ge­lös­ten Teil des Kör­pers hoch­reck­te und im­mer hö­her, hun­dert Me­ter, zwei­hun­dert Me­ter. Das Neu­ge­bo­re­ne schrie zum Him­mel, sein Na­bel war ent­zün­det, es spritz­te Blut und Gal­le, es fauch­te die At­mo­sphä­re voll und schüt­te­te eine Rie­sen­men­ge Un­rat aus sich.

Die­ser Un­rat liegt um den ent­ste­hen­den Berg wie ein Mühl­stein oder wie die Krem­pe ei­nes Som­bre­r­os. Das Ma­te­ri­al ist Schla­cke. Ihre großen, scharf­za­cki­gen Stücke drücken sich an­ein­an­der, als wä­ren sie ge­webt und ge­plät­tet zu ei­nem über­di­men­sio­na­len Som­bre­ro, als wä­ren sie ge­mei­ßelt zum Mühl­stein für Got­tes Müh­len. Dick ist der Stoff der Krem­pe, dick der Mühl­stein, zwölf Me­ter dick.

Ich trat an die­se zwölf Me­ter hohe La­va­wand, aber ich konn­te sie nicht be­rüh­ren, sie er­griff mich mit ih­rer Glut. So ging ich denn die Glut ab, Ki­lo­me­ter im Krei­se. Es klirr­te im Ge­mäu­er, ras­sel­te wie Ei­sen­ket­ten, ei­ner oder der an­de­re der Mau­er­stei­ne lös­te sich und fiel her­ab. Nur als Gan­zes und nur all­mäh­lich er­wei­tert sich der Kreis der Lava, wie ein Wel­len­ring, zehn Me­ter per Tag rückt der Rand vor, im­mer senk­recht blei­bend. Was im Wege steht, wird mit­ge­nom­men, hohe Bäu­me ver­schwin­den ohne Spur.

Ich hat­te mir Lava als et­was Dick­flüs­si­ges, Gla­si­ges vor­ge­stellt, einen Strom. Das hier je­doch war plum­pes, za­cki­ges, dun­kel­grau­es Ge­röll. Nicht ein­mal ent­fernt ver­wandt ist es dem Ob­si­di­an, der wie ein düs­te­rer Halbe­del­stein dem Durch­wan­de­rer me­xi­ka­ni­scher Zo­nen oft ent­ge­gen­fun­kelt; aus der zu Ob­si­di­an er­kal­te­ten Lava er­zeug­ten die In­di­os Waf­fen und Werk­zeu­ge, Ido­los1 und Schmuck – aus den Be­stand­tei­len die­ser Mau­er lie­ße sich gar nichts ma­chen. Sie sind Stei­ne, aus dem ewi­gen Dun­kel des Er­den­scho­ßes dem ewi­gen Hell der Son­ne zu­ge­wor­fen. Steil fie­len sie nie­der, hart ne­ben dem Kra­ter, aus dem sie ka­men. Aber schon nach ei­ni­gen Se­kun­den, mit dem nächs­ten Aus­bruch, lang­ten neue Emi­gran­ten an, woll­ten der Hei­mat mög­lichst nahe blei­ben und dräng­ten die Er­stan­kömm­lin­ge zur Sei­te. Die rück­ten ab in kon­zen­tri­schem Kreis, Schritt für Schritt, zehn Me­ter in vier­und­zwan­zig Stun­den.

Das Vor­feld des Vul­kans und sei­nes La­va­krei­ses ist fla­ches Land, Mais­feld und Kuh­wei­de, hier und da ein mit Na­del­wald be­stan­de­ner Hü­gel, des­sen Fuß jetzt auf der dem Vul­kan zu­ge­kehr­ten Sei­te zwölf Me­ter hoch mit La­v­ablö­cken be­deckt ist.

Auf der an­de­ren Sei­te ei­nes sol­chen Hü­gels ver­such­te ich em­por­zu­klet­tern. Die Stei­gung war nicht groß, aber stau­bi­ge Asche be­deck­te den Hang, so­dass ich bis zu den Kni­en ein­sank. Leicht bud­del­te ich mich wie­der her­aus und kroch bäuch­lings wei­ter, wo­bei mir Äste halb­ver­schüt­te­ter Bäu­me hilfs­be­reit die Hand reich­ten.

Von der Höhe konn­te ich das La­va­feld über­se­hen. Block ne­ben Block, grau und rau­chend, be­weg­te sich mit un­heim­li­cher Lang­sam­keit, ein Ozean aus ge­schmol­ze­nem Ba­salt, eine Sa­ha­ra aus hal­b­er­starr­ten Schla­cken. Nichts, nichts, nichts Men­sch­li­ches, kei­ne Ver­bin­dung zu ir­gend­ei­nem Le­be­we­sen. Jene an­de­ren Wüs­ten, jene an­de­ren Mee­re, die bis­lang die­sem Ge­röll Hei­mat wa­ren, nie­mals wur­den sie von ei­ner Ka­ra­wa­ne durch­quert oder von ei­nem Schiff be­fah­ren, von je­ner Welt un­ter der Erd­krus­te be­rich­ten nur Theo­ri­en und Hy­po­the­sen.

Hier auf mei­nes Hü­gels Zin­nen stand ich in der Höhe des Kra­ters, dem Kra­ter ge­gen­über. Er er­glänz­te in über­ir­di­scher (oder soll ich sa­gen: un­ter­ir­di­scher?) Be­leuch­tung. Viel ging dar­in vor, je­doch es war, als blick­te ich statt in den mich blen­den­den Schein in eine schwar­ze Nacht, so we­nig konn­te ich er­ken­nen. Selbst wenn ich nur aus­sa­ge, dass der Kra­ter als Mul­de oben auf dem Berg ein­ge­bet­tet liegt, ist die­se Aus­sa­ge falsch. Die Öff­nung der Erde ist tiefer un­ten, auf dem ver­schüt­te­ten Mais­feld ei­nes Man­nes aus der na­hen Ort­schaft Pa­ri­cutín.

Die­ser Mann, der In­dio Dio­ni­sio Pu­li­do, kam vor vier­zehn Ta­gen, am Nach­mit­tag des 20. Fe­bru­ar 1943, hier­her und sah plötz­lich, wie sei­ne Acker­flä­che aus­ein­an­der­klaff­te, sich hoch­hob, zu qual­men und zu don­nern be­gann, und er nahm die Bei­ne in die Hän­de.

Von Dio­ni­si­os Mais­feld blieb nichts üb­rig, nie wie­der in al­ler Ewig­keit wird es ein Mais­feld sein. Denn der Kra­ter hat es voll­ge­spien und speit wei­ter, so­dass ein Berg ent­stand, der un­un­ter­bro­chen wächst, und auf des­sen Pla­teau nun der Kra­ter ein­ge­bet­tet scheint gleich ei­ner Mul­de.

Aus die­ser Mul­de schießt alle vier oder sechs Se­kun­den die Rauch- und Feu­er­säu­le ins Fir­ma­ment. Neun­mal nach­ein­an­der sind die Ex­plo­sio­nen ver­hält­nis­mä­ßig schwach, dann kom­men vier von mitt­le­rem Grad, dann zwei star­ke und schließ­lich die stärks­te, eine un­heim­li­che, ful­mi­nan­te Erup­ti­on. Die­se Rei­hen­fol­ge wird ein­ge­hal­ten, wenn auch nicht die In­ter­val­le. Manch­mal platzt eine star­ke De­to­na­ti­on rück­sichts­los in eine schwa­che hin­ein.

Schon heu­te Mor­gen und aus ei­ner Fer­ne von Mei­len hat­te ich, als ich durch den Staat Mi­choacán hier­her­fuhr, die Rauch- und Feu­er­säu­le ge­se­hen. Da war sie frei­lich nur eine Rauch­säu­le schlecht­hin ge­we­sen. Auch am Nach­mit­tag, als ich bei ihr an­kam, schi­en sie aus Qualm und Dampf zu be­ste­hen, ein enor­mer Blu­men­kohl aus Rauch, in des­sen Mit­te ein röt­li­cher Strunk schim­mer­te. Mit An­bruch der Dun­kel­heit wur­de es an­ders.

Mit An­bruch der Dun­kel­heit wur­de al­les hell. Vor al­lem die Rauch­säu­le. Die ist jetzt zur Feu­er­säu­le ge­wor­den. Rot springt sie auf, rot ragt sie hoch, rot ver­schwin­det sie. Die Flam­me, die nach­mit­tags kaum eine Un­ter­strö­mung des wal­len­den Rau­ches war, do­mi­niert ab­so­lut, und der graue Dampf darf nur mehr wie ein Schat­ten in ih­rem In­nern um­her­hu­schen.

In hei­ßen Far­ben voll­zieht sich ihr Auf­sprung, auf­re­gend und in wech­sel­vol­len For­men. Ein­mal ist es ein Ross, das aus dem Berg her­aus­sprengt, sich auf­bäumt, schnaubt und zu­sam­men­bricht. Ein­mal er­scheint eine al­le­go­ri­sche Sta­tue mit ei­ner Fa­ckel in der er­ho­be­nen Hand – Sym­bol, das im kos­mi­schen Nu zu ei­nem spur­lo­sen Nichts ver­geht. Ein­mal wächst aus dem Zau­ber­berg eine Pal­me auf mit brei­tem gol­de­nem Stamm, gol­de­nem Ast­werk und gol­de­nen Früch­ten; ach, der Stamm zer­split­tert, die Zwei­ge zer­bre­chen, und die Ko­kos­nüs­se fal­len zu Bo­den, be­vor ich mich des­sen ver­se­he. Ein­mal scheint die Feu­er­säu­le eine wirk­li­che Säu­le zu sein, eine ba­ro­cke Säu­le mit üp­pi­gen Aus­buch­tun­gen und Win­dun­gen, die wie Brüs­te, Hüf­ten und Be­cken sind, lo­ckend reckt sie sich bis zum Him­mel, um zu bers­ten, wenn sie ihr Ziel er­reicht. Ein­mal ist sie ein Feu­er­werk mit steil auf­zi­schen­den Ra­ke­ten und plat­zen­den Sprüh­re­gen­kör­per­chen, ein Feu­er­werk, wie es der ers­te Schloss­herr von Ver­sail­les nicht er­träum­te.

Un­un­ter­bro­chen keucht es aus dem Kra­ter stoß­ar­tig wie eine Lo­ko­mo­ti­ve, un­un­ter­bro­chen schießt eine Bat­te­rie, auch wäh­rend die Erup­ti­on hoch­geht, ab­sackt und er­lischt. Wenn eine See­schlacht tobt, wenn Che­mi­ka­li­en ex­plo­die­ren, wenn eine bom­bar­dier­te Stadt zum Flam­men­meer wird, wenn Hochö­fen lo­dern – ich weiß den Grund. Aber hier? Wes­halb faucht es und don­nert es, warum wer­den Fels und Brand und Asche zu­erst him­mel­an und dann erd­wärts ge­schleu­dert, wer und was schafft da in die­sem Sch­lund, wie lan­ge wird das dau­ern, noch einen Tag oder ein Jahr­tau­send?

Wäre es für die gä­ren­de Un­ter­welt nicht be­que­mer ge­we­sen, durch die un­er­gründ­lich tie­fen Schluch­ten der Ge­gend, die »Bar­ran­cas«, oder durch die Kanä­le und Trich­ter der schon vor­han­de­nen Vul­ka­ne auf­zu­sto­ßen als durch die­ses Tal? Wa­rum ward ge­ra­de das stil­le Pa­ri­cutín aus­er­ko­ren, und dar­in der Acker des In­di­os Dio­ni­sio Pu­li­do?

Am Nach­mit­tag sah ich Stei­ne aus dem Kra­ter flie­gen, die sich un­ter­wegs aus der Rauch­säu­le lös­ten und in alle Him­mels­rich­tun­gen ab­spran­gen. Vom Abend­däm­mer an aber sind es Feu­er­blö­cke. Sie fah­ren dem Stern­bild des Ori­on zu, und einen Au­gen­blick lang schei­nen sie ihm an­zu­ge­hö­ren. Ist die­ser Au­gen­blick ver­gan­gen, dann blit­zen sie stern­schnup­pen­ar­tig auf den Berg her­nie­der, den vor ih­nen an­de­re Feu­er­blö­cke ge­schaf­fen ha­ben. Vie­le der St­ern­stei­ne fal­len in den Kra­ter zu­rück, an­de­re auf den Gip­fel des Berg­ke­gels und kul­lern und pur­zeln von dort her­ab. Als wäre die Ba­sis des Berg­ke­gels in 360 Grad ein­ge­teilt, rollt zu je­dem Grad von der Spit­ze eine gol­de­ne Sträh­ne, drei­hun­dert­sech­zig La­wi­nen aus flüs­si­gem Gold. Der Berg wird durch­sich­tig.

Ich höre die Ka­no­na­de nicht mehr, ich spü­re den Brand­ge­ruch nicht mehr, ich füh­le die Hit­ze nicht mehr. Ich schaue nur und bin in Vi­sio­nen ver­strickt.

Tags­über war der La­va­rand eine Mau­er aus dun­kel­grau­en, blau­grau­en Ba­salt­schla­cken. Nachts­über aber ste­hen die Blö­cke in Brand. Ich könn­te be­ei­den, dass ich die Gran­de Cor­ni­che2 vor mir habe: Hell­be­leuch­tet schiebt sich das Ca­si­no de la Jetée3 ins Meer, es bren­nen in waag­rech­ter, re­gel­mä­ßi­ger Ket­te die Stra­ßen­lam­pen der Pro­me­na­de des Anglais, dann schwingt sich die Lich­ter­ket­te hü­gel­an und hü­gel­ab und mün­det in der il­lu­mi­nier­ten Kup­pel der Spie­ler­ka­the­dra­le von Mon­te Car­lo. Da­zwi­schen, von Licht­re­kla­men über­wölbt, Bars, Pa­vil­lons und Ge­schäf­te mit Ju­we­len und al­len er­denk­li­chen Ar­ten von Glanz. Der Glanz be­leuch­tet das Pa­pier, auf dem ich schrei­be.

Vor vier­zehn Ta­gen gab es auf dem Po­di­um die­ser Gau­kel­spie­le noch wirk­li­ches Le­ben. Das ist weg für im­mer­dar, weg ist das Gras mit Kä­fer und Wurm, weg das Mais­feld mit Feld­maus und Maul­wurf, weg der Baum mit Vo­gel und Schmet­ter­ling, weg die Wei­de mit Kuh und Esel. Im Um­kreis aber, hart am Rand des Aus­bruchs, setzt sich das Le­ben fort.

Vö­gel schwir­ren um­her, für die es doch eine Klei­nig­keit wäre, sich in eine küh­le, von Ge­dröhn und Ge­blitz nicht ge­stör­te Sphä­re zu er­he­ben. Ganz tief flie­gen die­se far­ben­rei­chen Vö­gel, nahe dem aschen­be­deck­ten Erd­bo­den, an mei­nen Kni­en vor­bei, wahr­schein­lich su­chen sie ihr Nest und ihre Fa­mi­lie und fin­den sich nicht zu­recht in der to­tal ver­än­der­ten Ge­gend.

Schüt­ter steht der Wald da. Den Bäu­men ist in Manns­hö­he ein Stück Rin­de aus­ge­schnit­ten, das nack­te Holz schaut her­aus, und wenn vom Vul­kan her Re­fle­xe auf die­ses gel­be Ge­sicht fal­len, schnei­det es Gri­mas­sen. Un­heim­lich ist es, den zu­cken­den Frat­zen aus­ge­setzt zu sein, ob­wohl man weiß, dass sie nur Schnit­te im Baum­stamm sind, aus de­nen das Harz in ein dar­un­ter an­ge­brach­tes Ge­fäß fließt.

Ich ken­ne die Psy­cho­lo­gie von Vul­ka­nen nicht. Ist der eben er­stan­de­ne ent­täuscht, weil er ein Ob­jekt der Neu­gier­de, des Geld­ver­die­nens und der Sen­sa­ti­on ge­wor­den ist? Seit Vul­kan­ge­den­ken ist es noch kei­nem er­gan­gen wie ihm. Man hängt ihm ein Mi­kro­phon vor die Nase, und er muss hin­ein­keu­chen, hin­ein­hus­ten oder hin­ein­don­nern für die Rund­funk­hö­rer der Kon­ti­nen­te. Man stellt ihm einen fo­to­gra­fi­schen Ap­pa­rat vor die Nase, und je­den An­blick, den er pro­fil oder en face4 bie­tet, bie­tet er den Abon­nen­ten der il­lus­trier­ten Welt­pres­se dar. Man streckt ihm eine Film­ka­me­ra vor die Nase, und wie er sich räus­pert und wie er spuckt, wie er sich be­wegt, er räus­pert und spuckt und be­wegt sich für das ge­sam­te Ki­no­pu­bli­kum ober­halb der von ihm mut­wil­lig durch­bro­che­nen Erdrin­de.

Au­ßer­dem sitzt ihm die Wis­sen­schaft auf der Pel­le, be­äugt ihn, be­horcht ihn, fühlt ihm den Puls und misst ihm die Tem­pe­ra­tur. Wie oft er vo­miert, wie oft er Stuhl­gang hat, kaum ge­tan, ist es schon in Ska­len und Ta­bel­len ein­ge­tra­gen – wie un­ge­stört hat­te sich das al­les im Schoß der Erde voll­zo­gen!

Auf dem Hü­gel, den ich, bis zu den Kni­en ein­sin­kend, er­klomm, ha­ben die Ge­lehr­ten ihre Zel­te auf­ge­schla­gen. Zwei der Stu­den­ten ken­ne ich, »vom Harz bis Hel­las nichts als Vet­tern«, wie Vet­ter Me­phi­sto­phe­les kon­sta­tiert.

Sie er­zäh­len mir von dem vul­ka­ni­schen Baby. So­gar die Tie­fe, der es ent­stammt, sei fest­ge­stellt, fest­ge­stellt ohne Lot: zwei­und­drei­ßig Ki­lo­me­ter. Das wis­se man, weil al­les em­por­kom­men­de Ma­te­ri­al dem Plio­zän an­ge­hört, der jüngs­ten in je­ner Tie­fe ge­le­ge­nen Ter­ti­är­schicht. Das Kli­ma dort un­ten sei mit 1100 Grad Hit­ze er­rech­net, denn bei die­ser Tem­pe­ra­tur schmel­ze der Ba­salt zu je­nen Schla­cken, die vor uns lie­gen. Die La­vat­rüm­mer am Ber­ges­fuß be­de­cken zwei Qua­drat­ki­lo­me­ter Bo­den und be­we­gen sich pro Tag zehn Me­ter zur Sei­te und neun­zig Zen­ti­me­ter in die Höhe. In den Blö­cken sei­en vier bis fünf Pro­zent Ei­sen ent­hal­ten.

Was den Berg­ke­gel­stumpf an­be­langt, so ent­wick­le er sich seit sei­ner Ge­burts­stun­de ge­ra­de­zu präch­tig. Seit ges­tern wuchs er um vier­ein­halb Me­ter, jetzt mes­se er schon zwei­hun­dertzwan­zig Me­ter. Sei­ne Ba­sis sei ein fast geo­me­trisch ge­nau­er Kreis von fünf­hun­dert Me­tern Durch­mes­ser, und der Durch­mes­ser des Gip­fel­pla­te­aus be­tra­ge ein­hun­dert­fünf­zig Me­ter. Die Hän­ge nei­gen sich im Win­kel von fünf­und­drei­ßig Grad.

»Und die Fah­ne, Ka­me­ra­den?«

»Die Fu­ma­ro­le? Sie ist nicht im­mer gleich hoch, aber durch­schnitt­lich tau­send Me­ter. Bis höchs­tens sechs­hun­dert Me­ter reißt sie Erup­ti­ons­ge­stein mit sich und Asche. Der größ­te der Blö­cke hat­te vier Ku­bik­me­ter.«

Dann er­zäh­len sie mir noch, dass es sich um einen wirk­li­chen Vul­kan han­delt, wor­an ich ei­gent­lich nie ge­zwei­felt hat­te. Ich möge nicht etwa glau­ben, es sei eine blo­ße Ex­tor­si­on, eine Auf­bäu­mung des Bo­dens, wie sie oft von tek­to­ni­schen Be­ben ver­ur­sacht wird und in vul­ka­ni­schen Ge­gen­den auch Feu­er und Rauch und Stein hoch­schla­gen kann. Das sei der ers­te Vul­kan, der seit dem Jorullo in Me­xi­ko ge­bo­ren wur­de …

Der Jorullo liegt kaum zwei Au­to­stun­den von sei­nem neu­en Brü­der­chen ent­fernt. Am 28. Sep­tem­ber 1759 wur­de der Jorullo ge­bo­ren, und ei­ner der Grün­de von Hum­boldts Me­xi­ko­rei­se war die Sehn­sucht ge­we­sen, die­sen jüngs­ten al­ler Ber­ge von An­ge­sicht zu An­ge­sicht zu schau­en. Er sah ihn, als der Vul­kan vierund­vier­zig Jah­re alt war. In der Zwi­schen­zeit war der Jorullo nicht mü­ßig ge­we­sen, die Lava war noch so heiß, dass Hum­boldt sei­ne Zi­gar­re an ei­nem der vul­ka­ni­schen Erd­ke­gel­chen, den Hor­ni­tos, an­zün­den konn­te. In der Ge­gend leb­ten noch Au­gen­zeu­gen, die ihm Ma­te­ri­al für sei­ne Be­schrei­bung der Vul­kan­ge­burt lie­fer­ten. Gern wäre er selbst da­bei­ge­we­sen, wie Pli­ni­us beim Aus­bruch des Ve­suvs, beim Un­ter­gang von Pom­pe­ji.

Heu­te hier zu ste­hen, böte Hum­boldt die Ge­nug­tu­ung, sei­ne Theo­rie vom Vor­han­den­sein ei­ner Vul­k­an­rei­he be­stä­tigt zu fin­den. Die­ser Theo­rie zu­fol­ge klafft »sehr tief im In­nern der Erde, zwi­schen 18 Grad 59’ und 19 Grad 12’ nörd­li­cher Brei­te, ein Riss, der sich neun­hun­dert Ki­lo­me­ter lang vom Os­ten nach Wes­ten hin­zieht, und durch wel­chen sich das vul­ka­ni­sche Feu­er zu ver­schie­de­nen Zei­ten von der Küs­te des me­xi­ka­ni­schen Golfs bis an die Süd­see Luft ge­macht hat«. Ganz nahe von Hum­boldts Grenz­li­nie, näm­lich 19 Grad 21’ nörd­li­cher Brei­te (und 102 Grad 19’ west­li­cher Län­ge), er­steht zur Stun­de der Vul­kan von Pa­ri­cutín.

Als sol­cher, als der »Vul­kan von Pa­ri­cutín« wird die Neu­schöp­fung in die Geo­gra­fie und in die Vul­ka­no­lo­gie ein­ge­hen, denn Pa­ri­cutín heißt das Dorf, das er sich als Ge­burts­stät­te und stän­di­gen Auf­ent­halt aus­ge­sucht hat. Ein­hun­dert­fünf­un­dacht­zig Be­woh­ner zählt es, durch­wegs In­di­os aus dem Stamm der Ta­ras­cos. Ei­ner von ih­nen ist je­ner Dio­ni­sio Pu­li­do, der sein al­tes, ge­dul­di­ges Feld so un­ver­mu­tet sich auf­bäu­men sah und den­noch über­zeugt ist, dass es ge­fal­len ist, ge­fal­len auf den Null­punkt des Werts.

»Zwei Fa­ne­gas Mais sind ver­lo­ren«, klagt er und er­zählt mir, wie sich der An­fang vom Ende vor sei­nen Au­gen voll­zog. Er selbst ver­moch­te sich zu ret­ten, und sei­ne bei­den Maulesel rann­ten hin­ter ihm her, aber was er mit Mühe an­ge­baut hat­te und eben ern­ten woll­te, die bei­den Fa­ne­gas, also hun­der­telf Li­ter Mais, lie­gen un­wi­der­ruf­lich im Ber­ge­sin­nern.

»Seit je­ner Stun­de habe ich kei­nen Bis­sen ge­ges­sen«, schwört er, und, so un­wahr­schein­lich das klingt, ich muss es ihm glau­ben. Schwört er doch beim Wun­der­tä­ti­gen Bild von Paran­ga­ricúti­ro, und er weiß die­ses Bild so nahe, dass es ihn hö­ren und gleich da sein könn­te, um ihn für die Lüge zu stra­fen. Aber wenn Dio­ni­sio Pu­li­do auch zehn­mal schwö­ren wür­de, dass er seit je­ner vul­ka­ni­schen Stun­de nichts ge­trun­ken habe, so wür­de ich ihm nicht glau­ben; sein Atem riecht deut­lich nach dem orts­üb­li­chen Zucker­rohr­schnaps.

»Zwei Fa­ne­gas Mais ver­lo­ren, und mein Feld für im­mer ver­nich­tet.«

»Da­für sind Sie Be­sit­zer ei­nes Vul­kans.«

»Ach, Señor, wem nützt schon ein Vul­kan?«

Ich könn­te Dio­ni­sio ant­wor­ten, dass ein Vul­kan nicht ganz ohne Wert sei. Vor Jahr­zehn­ten hat die me­xi­ka­ni­sche Re­pu­blik ei­nem Ge­ne­ral den Po­po­caté­petl zum Ge­schenk ge­macht, einen Vul­kan als Or­den! Nach dem Tode des Ge­ne­rals wur­de der Po­po­caté­petl mit dem Aus­ruf­preis von fünf­und­zwan­zig Mil­lio­nen Pe­sos zum öf­fent­li­chen Ver­kauf an­ge­bo­ten. Rocke­fel­ler be­ab­sich­tig­te, ihn zur Aus­beu­tung der Schwe­fel­wän­de zu kau­fen, be­kam ihn aber nicht.

Dio­ni­sio Pu­li­do könn­te sei­nen Vul­kan an Rocke­fel­lers Er­ben los­schla­gen, falls die ihn ha­ben woll­ten. Aber dass er auch dann kein Geld da­von hät­te, son­dern höchs­tens ein paar Fla­schen Zucker­rohr­schnaps, ist an­zu­neh­men. Er hat doch auch nichts da­von, dass sein Feld ein Ob­jekt der Frem­den­in­dus­trie zu wer­den an­fängt.

In Urua­pan, der nächs­ten großen Stadt, herrscht Kon­junk­tur in Miets­au­tos. Je­der, der einen Lie­fer­wa­gen hat, lässt alle Lie­fe­run­gen lie­gen und ver­mie­tet sich an Tou­ris­ten zur Fahrt an den Vul­kan; der Fahr­preis steigt schnel­ler als der Vul­kan. Etwa sechs­und­zwan­zig Ki­lo­me­ter ist die Ent­fer­nung von Urua­pan nach Pa­ri­cutín, der Weg führt durch den weg­lo­sen Ter­pen­tin­wald, man fährt sechs­ein­halb Stun­den und kommt zer­rüt­tet an.

Auf dem Vor­feld des Vul­kans er­stan­den Markt­bu­den aus Lat­ten und Rei­sig, wo Coca Cola aus­ge­schenkt wird, Ta­cos ver­kauft wer­den und das Frucht­brot Ate, eine Spe­zia­li­tät des Staa­tes Mi­choacán. Ver­käu­fer sind die Be­woh­ner des Fle­ckens San Juan de Paran­ga­ricúti­ro. Nicht un­vor­be­rei­tet kom­men sie in den Han­dels­be­trieb. Paran­ga­ricúti­ro ist ein Wall­fahrts­ziel, all­jähr­lich, am 19. Sep­tem­ber, pil­gern Hun­der­te von Gläu­bi­gen zum Fest des Chri­sto Mi­la­gro.5 Dem­ge­mäß sind alle Orts­be­woh­ner gläu­bi­ge Ka­tho­li­ken; in po­li­ti­scher Be­zie­hung ge­hö­ren sie den Sinar­qui­stas an, den Fa­schis­ten, die vor al­lem in den rück­stän­di­gen Ge­gen­den eine kost­spie­li­ge Agi­ta­ti­on ent­fal­ten. Üb­ri­gens hin­dert das die Be­völ­ke­rung nicht, auch be­geis­ter­te An­hän­ger ei­nes De­mo­kra­ten zu sein, des vo­ri­gen Prä­si­den­ten Lázaro Cár­den­as. Cár­den­as hat ih­nen Land ge­ge­ben, und die Fa­schis­ten ver­spre­chen ih­nen noch mehr.

»Wir sind arm«, sa­gen sie, »wir le­ben von dem, was wir selbst an­bau­en. Ba­res Geld ver­die­nen wir nur im Sep­tem­ber bei der Wall­fahrt.« Sie sind fromm und hal­ten den Vul­kan­aus­bruch für eine Stra­fe Got­tes. Eine lie­der­li­che Frau habe mit ver­hei­ra­te­ten Män­nern des Or­tes Sün­den be­gan­gen. Als die Erup­ti­on be­gann, ent­flo­hen die Be­woh­ner, und nur ein Schock Frei­wil­li­ger blieb zu­rück, um den Cri­sto Mi­la­gro zu be­wa­chen. Nach drei Ta­gen kehr­ten die Flücht­lin­ge heim in ihre Häu­ser und er­rich­te­ten hier oben ihre Stän­de. Die Frau­en be­sor­gen den Ver­kauf, die Män­ner be­glei­ten die Tou­ris­ten auf die Hü­gel rings um den Vul­kan und be­kom­men da­für Füh­rer­lohn. Mit Stan­gen he­ben sie La­va­stei­ne aus dem Wall, uri­nie­ren dar­auf, um die Glut aus­zu­lö­schen, und ver­kau­fen dann die sol­cher­art ab­ge­kühl­ten Stei­ne den Be­su­chern. Das Ge­schäft geht weit bes­ser als das am Wall­fahrts­tag.

»Nicht schlecht, so eine Stra­fe Got­tes«, sage ich.

Sie la­chen ver­le­gen, was of­fen­kun­dig eine Zu­stim­mung be­deu­tet, aber als sol­che nicht be­weis­bar ist.

(span.) Göt­zen­bil­der.  <<<

(franz.) all­ge­mei­ne Be­zeich­nung für eine Küs­ten-, Ufer- oder Klip­pen­stra­ße  <<<

(franz.) Spiel­ka­si­no.  <<<

in ge­ra­der An­sicht  <<<

(span.) Wun­der­tä­ti­ger Chris­tus.  <<<

Kolleg: Kulturgeschichte des Kaktus

Goe­the – Cor­tez – Spitz­weg Stif­ter – Na­po­le­on – Hum­boldt Karl May – Heb­bel – Hen­ri Rous­seau

I. Heraldik

Nicht des­halb, mei­ne Her­ren, nicht des­halb, weil der Kak­tus in Me­xi­ko zu Hau­se ist, hat ihn Me­xi­ko auf sein Wap­pen­schild ge­ho­ben. Das Em­blem war schon da, be­vor die Az­te­ken ihr Land ge­se­hen. Vom Nor­den her, so­zu­sa­gen aus den hy­per­bo­re­i­schen1 Wäl­dern Ame­ri­kas, ka­men sie ge­zo­gen, um die Hei­mat zu su­chen, die Hei­mat, die ein Ora­kel ih­nen ver­hei­ßen hat­te. Lan­ge wan­der­ten sie kämp­fend kreuz und quer, bis sie im Jah­re 1325 das ih­nen ge­lob­te Land fan­den. Kein Zwei­fel konn­te sich re­gen, das Ziel war ge­nau so mar­kiert, wie in der Pro­phe­zei­ung an­ge­ge­ben, eine drei­glied­ri­ge Opun­tie, von zwei ent­fal­te­ten Blü­ten ge­krönt, ent­spross dem von Was­ser um­spül­ten Fel­sen, und dar­auf hors­te­te ein Kö­nigs­ad­ler mit ei­ner Schlan­ge in den Fän­gen.

Hier am See, auf La­gu­nen, Land­zun­gen, Ufern und In­seln, lie­ßen sich die Wan­der­mü­den nie­der und nann­ten den Stand­platz, wie sie ihn schon in den Träu­men ih­rer Wan­de­rung ge­nannt hat­ten: »Te­noch­tit­lán«, Kak­tus auf ei­nem Stein. Heu­te heißt die Stadt »Me­xi­ko«. Ad­ler und Schlan­ge sind aus der Bann­mei­le ge­schwun­den, aber der Kak­tus be­herrscht nach wie vor das Land­schafts­bild.

Me­xi­ko trug den Kak­tus auf Fah­nen, auf Sie­geln und auf Mün­zen, und man­che in­dia­ni­sche Fa­mi­lie ließ, um vor dem Vi­ze­kö­nig den Adels­an­spruch zu be­grün­den, ih­ren Stamm­baum ma­len, aber nicht als Baum, son­dern als Opun­tie. Wenn Sie das Na­tio­nal­mu­se­um be­su­chen, wer­den Sie im Saal der Ko­di­zes se­hen, dass die Glie­der der Opun­tie, von Na­tur aus wie Ve­du­ten oder Schil­der ge­formt, sich weit lo­gi­scher zur Auf­nah­me von Na­men und Jah­res­zah­len eig­nen, als die auf eu­ro­päi­schen Stamm­bäu­men wach­sen­den Lin­den- oder Ei­chen­blät­ter.

Bo­re­isch (von Boréas, der Per­so­ni­fi­ka­ti­on des win­ter­li­chen Nord­winds in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie) ist ein ver­al­te­ter Be­griff für nörd­lich. Hy­per­bo­re­isch be­deu­tet dem­nach: über/jen­seits/nörd­lich des Nor­dens/des Po­lar­krei­ses, rund um den Nord­pol.  <<<

II. Bildende Kunst

An­ge­sichts die­ser Tat­sa­chen be­rührt es fast ko­misch, dass die Ma­ler der Neu­en Sach­lich­keit, ei­ner Kun­strich­tung von 1920, das Neue ih­rer Sach­lich­keit durch einen Kak­tus aus­drück­ten, der in je­dem ih­rer In­te­rieurs und Ex­te­rieurs vor­kommt. Fast hun­dert Jah­re vor der Neu­en Sach­lich­keit hielt Spitz­weg, der alt­mo­disch Ver­schrull­te, den Kak­teen­lieb­ha­ber für das alt­mo­disch Ver­schrull­tes­te sei­ner Su­jets. Des­halb wohl wag­te der Kunst­his­to­ri­ker Wil­helm Uhde die Hy­po­the­se, Spitz­weg habe, eben von sei­ner Pa­ri­ser Rei­se zu­rück, in sei­nen bei­den Kak­tus­bil­dern Deutsch­land kon­ter­fei­en wol­len: drau­ßen leuch­tet die Son­ne, grünt das Blatt­werk und zwit­schern die Vö­gel, wäh­rend sich der alte Ma­gis­trats­ak­tua­ri­us dem stau­bi­gen Kak­tus ent­ge­gen­neigt, der sich sei­ner­seits sym­me­trisch vor ihm ver­beugt.

»Tu te ra­pel­les, Rous­seau, du pay­sa­ge az­tèque …?«1 ruft ein Ge­dicht von Guil­lau­me Apol­linaire sei­nem Ma­ler­freun­de zu. Die­ser Satz Apol­linai­res wur­de als Be­weis da­für ver­wen­det, dass des Zöll­ners Rous­seau fan­tas­ti­sche und er­fun­de­ne Land­schaf­ten we­der fan­tas­tisch noch er­fun­den sei­en, son­dern Mo­dell­ma­le­rei aus dem pay­sa­ge az­tèque. Wahr ist, dass Hen­ri Rous­seau als jun­ger Mi­li­tär­mu­si­ker mit der In­ter­ven­ti­ons­ar­mee des Mar­schalls Ba­zai­ne nach Me­xi­ko ge­kom­men war, und dort mag er die Az­te­ken­land­schaft mit ih­ren acht­hun­dert­fünf­zig Kak­teen­sor­ten so ge­se­hen ha­ben, wie ein zu­künf­ti­ger Ma­ler sie sieht. Was der när­ri­sche Doua­nier je­doch spä­ter mal­te, hat da­mit nicht mehr zu tun, als etwa sein Fuß­ball­bild mit ei­nem Fuß­ball­spiel. Die Pa­ri­ser Bo­ta­ni­ker, von den rat­lo­sen Kunst­his­to­ri­kern zu Hil­fe ge­ru­fen, konn­ten nur fest­stel­len, dass au­ßer den Aga­ven kei­ne der Rous­se­au­schen Pflan­zen in Me­xi­ko wach­sen.

(franz.) Erin­nerst du dich an die az­te­ki­sche Land­schaft, Rous­seau?  <<<

III. Literatur

Für Adal­bert Stif­ter ist »der Kak­tus nicht das letz­te ge­we­sen, dem ich mei­ne Auf­merk­sam­keit ge­schenkt habe«. Er fin­det zwar die Blü­ten »ver­wun­der­lich wie Mär­chen«, aber nicht bi­zarr, for­men­spren­gend oder gar un­ge­stal­tig. Im Ge­gen­teil: Sein Gärt­ner Si­mon im Kak­tus­haus schließt das Lob­lied auf den Kak­tus und sei­ne Blü­ten mit dem po­le­mi­schen Ak­kord:

»Es kön­ne nur Un­ver­stand oder Ober­fläch­lich­keit oder Kurz­sich­tig­keit die­se Pflan­zen­gat­tung un­ge­stal­tig nen­nen, da doch nichts re­gel­mä­ßi­ger und man­nig­fal­ti­ger und da­bei rei­zen­der sei als eben sie.«

In Me­xi­ko be­dür­fen die Kak­teen kei­nes Stif­ter­schen Gärt­ners, kei­nes Spitz­weg­schen Ak­tua­ri­us, kei­ner Ge­wächs­häu­ser und kei­ner zier­li­chen Blu­men­töp­fe. Al­ler­or­ten im Land wächst der Kak­tus und treibt Blü­ten, die oft­mals ver­wel­ken, ohne ein mensch­li­ches Auge ent­zückt zu ha­ben. Dass und in wel­chen Ge­stal­ten er das mitt­le­re und süd­li­che Ame­ri­ka be­wächst, hat schon Goe­the ver­zeich­net. Sei­ne Kennt­nis stammt aus Hum­boldts »Ide­en zu ei­ner Phy­sio­gno­mik1 der Ge­wäch­se«, des­sen For­mu­lie­run­gen Goe­the nur sti­lis­tisch ver­än­dert:

»Dem neu­en Kon­ti­nent ist ei­gen­tüm­lich die Kak­tus­form, bald ku­gel­för­mig, bald ge­glie­dert, bald in ho­hen viel­e­cki­gen Säu­len wie Or­gel­pfei­fen auf­recht ste­hend. Die­se Grup­pen bil­den den höchs­ten (bei Hum­boldt: »den auf­fallends­ten«) Kon­trast mit der Ge­stalt der Li­li­en­ge­wäch­se und der Bana­nen­bäu­me.« (Bei Hum­boldt nur: »Bana­nen«.)

Nicht nur Goe­the, son­dern auch Karl May und so­gar sein Pferd ha­ben Hum­boldts »An­sich­ten der Na­tur« ge­le­sen und dar­in die kom­pli­zier­te Metho­de, mit der durs­ti­ge Huf­tie­re in den Wüs­ten­ge­gen­den Ame­ri­kas sich »be­däch­tig und ver­schla­gen« das was­ser­rei­che Mark des Me­lo­kak­tus zu­nut­ze ma­chen:

»Mit dem Vor­der­fuß schlägt das Maul­tier die Sta­cheln der Me­lo­kak­teen seit­wärts und wagt es dann erst, den küh­len Dis­tel­saft zu trin­ken. Aber das Schöp­fen aus die­ser Quel­le ist nicht im­mer ge­fahr­los; oft sieht man Tie­re, wel­che von Kak­tus­sta­cheln am Hufe ge­lähmt sind.«

Wen kann es wun­der­neh­men, dass Karl Mays un­ge­bär­di­ger Hengst den Trick bes­ser be­herrscht als alle be­däch­ti­gen und ver­schla­ge­nen Maul­tie­re, und ihn gleich am An­fang des Ro­mans »Old Su­re­hand« dem Le­ser vor­führt?

»Hier­auf sat­tel­te ich ab und ließ den Hengst frei. Gras gab es hier frei­lich nicht; da­für aber stan­den zwi­schen den Rie­sen­kak­teen Me­lo­kak­teen ge­nug, die Fut­ter und Saft in Fül­le lie­fer­ten. Mein Rap­pe ver­stand es, die­se Pflan­zen zu ent­sta­cheln, ohne sich zu ver­let­zen …«

Die »Kunst«, aus dem un­ver­än­der­li­chen phy­sio­lo­gi­schen Äu­ße­ren des Kör­pers, be­son­ders des Ge­sichts, auf die see­li­schen Ei­gen­schaf­ten ei­nes Men­schen – also ins­be­son­de­re des­sen Cha­rak­ter­zü­ge und/oder Tem­pe­ra­ment – zu schlie­ßen.  <<<

IV. Geschichte

Die Pflan­ze, die Sie hier se­hen, mei­ne Her­ren, eine Opun­tia co­chi­nel­li­fe­ra, habe ich an der Schlan­gen­py­ra­mi­de am Nord­westrand von Me­xi­ko-Stadt aus­ge­gra­ben. Ein In­dio­kna­be, der dort Ido­los an­bot, griff die­sem Kak­tus in die Ach­sel­höh­le und streck­te mir et­was Win­zi­ges, Röt­li­ches, wie mit Mehl Be­stäub­tes ent­ge­gen und sag­te: »Co­che­nil­la.« Als er es über der Pflan­ze zer­quetsch­te, floss Blut, so viel, dass die­ses eine Opun­ti­en­glied aus­sieht wie ro­hes Fleisch. Von dem Tier­chen, dem das Rot ent­stammt, blieb nichts üb­rig.

Um der Co­che­nil­le wil­len hat man einst das Ge­wächs ge­pflegt, das ihre Woh­nung war. In der Az­te­ken­zeit muss­te al­les Blut die­ser Läu­se ge­sam­melt und an die kai­ser­li­che Haus­ver­wal­tung ab­ge­lie­fert wer­den; Stam­mes­fürs­ten und Kriegs­hel­den wur­den mit Töp­fen die­ses Kar­mins be­lohnt. Je­doch die edels­te Sor­te, jene, die von jung­fräu­li­chen oder we­nigs­tens un­ge­schwän­ger­ten Laus­weib­chen stamm­te, durf­te kei­nes an­de­ren Man­tel fär­ben als den des Herr­schers selbst und die kur­ze Ja­cke des höchs­ten Ho­hen­pries­ters. Wie im Hei­li­gen Rö­mi­schen Reich Deut­scher Na­ti­on tru­gen im da­mals noch un­ent­deck­ten Me­xi­ko der Kai­ser und der Hen­ker ein Ge­wand vom glei­chen Rot. In der Tat, in Me­xi­ko war der höchs­te Pries­ter zu­gleich der höchs­te Hen­ker und thron­te auf dem Scha­fott, wie in Hei­nes »Vitz­li­putz­li« zu le­sen:

Auf des Al­tars Mar­mor­stu­fen Hockt ein hun­dert­jäh­rig Männ­lein Ohne Haar an Kinn und Schä­del, Trägt ein schar­lach Ka­mi­söl­chen. Die­ser ist der Ho­he­pries­ter Und er wet­zet sei­ne Mes­ser …

Ver­geb­lich war das Mes­ser­wet­zen, ver­geb­lich die Men­schen­op­fer. Der wei­ße Feind mar­schier­te her­an, um dem Kai­ser den Pur­pur­man­tel vom Leib zu rei­ßen und dem Hen­ker­pries­ter das schar­lach Ka­mi­söl­chen. Und die Göt­ter ver­hin­der­ten es nicht.

Aber ein schlich­ter Kak­tus, ein No­pal1 aus der Ge­gend von Cho­lu­la, hät­te es bei­na­he ver­hin­dert. In Cho­lu­la hat­te Cor­tez die Be­woh­ner­schaft massa­krie­ren las­sen, sechs­tau­send Tote bin­nen drei Stun­den – ein Ge­met­zel, wie es bis da­hin die Neue Welt nie­mals er­lit­ten. Nach voll­brach­ter Tat wand­ten sich die Spa­nier der Haupt­stadt zu, vor­an das Rei­ter­fähn­lein. Es war ein sen­gen­der Tag, gie­rig schlürf­ten die Ka­val­le­ris­ten die röt­li­chen Früch­te des No­pals von Cho­lu­la.

Un­ter­wegs wird Halt be­foh­len: »Ab­sit­zen! Austre­ten!« Aber, Herr des Him­mels, was ist das? Es ist Blut, das die Rei­ter uri­nie­ren! Tiefro­tes Blut! Kein Zwei­fel, ihre Ve­nen sind ge­ris­sen – Got­tes Straf­ge­richt für die am In­dio­volk be­gan­ge­nen Gräu­el und Scheu­el.2 Alle sind blass und zit­tern vor To­des­angst. Sie rot­ten sich zu­sam­men, kni­en ge­mein­sam nie­der, be­ten zu San Jago de Com­postel­la, leis­ten ein Ge­lüb­de, wei­gern sich, wei­ter Dienst zu tun.

Da kommt zu Fuß der in­dia­ni­sche Hilf­s­trupp her­an und lässt gleich­falls, je­doch ohne sich dar­über zu be­un­ru­hi­gen, ro­tes Was­ser. Nun er­fah­ren die reui­gen Sün­der, sol­ches sei die Wir­kung der Tuna von Cho­lu­la, der Frucht, die sie ge­ges­sen. Kei­ne Stra­fe Got­tes also! Kein Grund zur Reue! Er­löst von Skru­peln, set­zen die Got­tess­trei­ter ihre grau­sen Kriegs­taten fort.

Fei­gen­kak­tus  <<<

Ekel  <<<

V. Manufakturwesen

Und neh­men das Land mit al­lem, was da kreucht und fleucht. Un­ter dem, was da kreucht, kreucht die Co­che­nil­le bald zu ho­her Be­deu­tung hin­an. Cor­tez hat­te sie übers Meer nach der hei­mat­li­chen Halb­in­sel ge­schickt, »nur um der Wis­sen­schaft wil­len«, wie er zur Ent­schul­di­gung be­ton­te. Aber wäh­rend man in Spa­ni­en die Kör­ner von Mais und Ka­kao, die To­ma­te und die Va­nil­le und die Stücke edels­ter Jade als wert­los ab­ge­tan hat­te, er­fass­te man so­gleich den po­ten­ti­el­len Wert die­ses Farb­stoffs für die Woll­we­be­rei von Bar­ce­lo­na und die Sei­den­we­be­rei von Va­len­cia.

Eilends pflanz­te man die ver­meint­li­chen Sa­men in den Bo­den und wun­der­te sich, dass ih­nen kein Ge­wächs ent­spross. Nun heisch­te man aus Neu-Spa­ni­en Spröß­lin­ge. Frucht­knol­len oder Wur­zeln, und sol­che der Opun­tia co­chi­nel­li­fe­ra tra­fen ein. Aus de­nen wuch­sen in den hei­ße­ren Ter­ri­to­ri­en der spa­ni­schen Kro­ne, in Al­gier und auf den Ka­na­ri­schen In­seln, die Kak­teen, und auf den Blät­tern fan­den sich die win­zi­gen Tu­ben, prall ge­füllt mit dem er­sehn­ten Farb­stoff.

Gro­ße Plan­ta­gen wur­den an­ge­legt, sie brach­ten rei­chen Nut­zen, aber im­mer noch be­griff man nicht, dass die Pflan­zen­sa­men kei­nes­wegs Pflan­zen­sa­men sei­en. Als 1703 Mi­jn­heer Ruysch un­ter dem ge­ra­de er­fun­de­nen Mi­kro­skop Leeu­wen­hoeks die Co­che­nil­le le­ben und sich be­we­gen sah, ge­sch­ah all­ge­mei­nes Schüt­teln des Kop­fes. Eine Laus? Wie kann eine Laus so ed­len Farb­stoff lie­fern?

Als ich zu Hau­se mei­ne heu­ti­ge Vor­le­sung vor­be­rei­te­te, ließ mir ein in Schweins­le­der ge­bun­de­ner Rie­sen­fo­li­ant kaum ein Eck­chen mei­nes Ti­sches zum Schrei­ben frei. Auf ir­di­sche Maße re­du­ziert, lau­tet der Ti­tel des Buchs »Mu­se­um Mu­seorum oder Schau­büh­ne al­ler Ma­te­ria­li­en und Spe­ce­reyen … Un­ter Au­gen ge­le­get von Doc­tor Mi­cha­el B. Va­len­ti­ni, Fran­ck­furt am Mayn, im Jah­re Chris­ti MDCCXIV.« (Die­ses deut­sche Werk, das ne­ben vie­lem an­de­ren eine kom­plet­te Tech­no­lo­gie der Ma­nu­fak­tur­zeit dar­stellt, habe ich in Eu­ro­pa jah­re­lang ge­sucht und fand es – o Wit­ze, die die Emi­gra­ti­on mit uns macht – in Me­xi­ko.) Noch 1714 ließ sich der Ver­fas­ser des ge­lehr­ten Wäl­zers nicht ganz durch das Mi­kro­skop über­zeu­gen:

»Ob nun die Kut­ze­nel­len vor einen Saa­men oder sons­ten et­was zu hal­ten seyen? da­von sind biss auff den heu­ti­gen Tag noch ver­schie­de­ne Mey­nun­gen. Ei­ni­ge hal­ten es vor einen Saa­men, da­her es auch die meis­ten Apo­the­cker un­ter die an­de­ren Saa­men ste­cken und in ih­ren Ca­ta­lo­gis als ein Sem. Coc­ci­nil­lae set­zen; – teils wei­len Coc­cio­nel­la von Coc­co her­käme und bey den Spa­ni­ern ein klei­nes Korn hei­ße, teils wei­len Wil­hel­mus Piso in sei­ner ›His­to­rie der Bra­si­lia­ni­schen Ge­wäch­sen‹ eine Art in­dia­ni­scher Fei­gen weit­läuf­fig be­schrei­bet, an wel­chen die Coc­cio­nel­len wach­sen sol­len …«

Va­len­ti­ni zählt die vie­len Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten die­ser frag­wür­di­gen Mi­nia­tur­kör­per auf, be­son­ders die Tat­sa­che, dass Ita­li­en den neu­spa­ni­schen Kut­ze­nel­len die Rot­fär­bung des Gla­ses ver­dankt.

VI. Revolutionsgeschichte

Zwei­ein­halb Jahr­hun­der­te wahr­te Spa­ni­en sein Co­che­nil­le-Mo­no­pol und über­wach­te je­des Schiff, das von den me­xi­ka­ni­schen Küs­ten aus­lief. Auf den blo­ßen Ver­such, die rö­ten­den Läu­se aus­zu­füh­ren, stand To­dess­tra­fe. Ein Fran­zo­se, Thier­ry de Me­non­ville, woll­te es den­noch wa­gen, um sei­nem eben zur Re­pu­blik ge­wor­de­nen Va­ter­land das kost­ba­re Fär­be­mit­tel zu ver­schaf­fen. Im Staa­te Oa­xa­ca (er schreibt »Jua­xa­ca«) grub er nächt­li­cher­wei­le et­li­che der bes­ten Zucht­pflan­zen aus und ver­schaff­te sich ei­ni­ge Paa­re der Läu­se. Die­se Beu­te brach­te er glück­lich nach San­to Do­min­go, wo sie ge­dieh und sich ver­mehr­te, so­dass er bald ein Fass Co­che­nil­le nach Pa­ris sen­den konn­te.

Und nun er­leb­te er den Hö­he­punkt sei­nes Le­bens. Die Gabe wur­de dazu ver­wen­det, der Fah­ne der fran­zö­si­schen Re­pu­blik, der Tri­ko­lo­re, die dem Na­tio­nal­kon­vent 1793 über­reicht wur­de, das Rot der Frei­heit zu ge­ben. Sei­ne Tier­chen wa­ren es, die das neue Ban­ner salb­ten!

Aber ach, auch der Ver­nich­ter der Re­pu­blik schmück­te sich mit dem Blut der Co­che­nil­le: Es muss­te dazu die­nen, den ro­ten Frack des Ers­ten Kon­suls zu fär­ben. Spä­ter ver­knüpf­te sich, wenn­gleich nur an­ek­do­tisch, ein me­xi­ka­ni­scher Kak­tus noch ein­mal mit dem Na­men Na­po­le­ons.

Zu Be­ginn des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ver­pflanz­te ein bri­ti­scher Ka­pi­tän, Sid­ney Long­wood, die großen Kan­de­la­b­er­kak­teen aus Me­xi­ko auf die da­mals ge­schichts­lo­se In­sel Sankt He­le­na. Ihn hin­der­te kein spa­ni­sches Ge­setz an die­sem Ex­port, denn Zier­pflan­zen wa­ren für In­dus­trie und Han­del wert­los. Auf Sankt He­le­na schos­sen sie hoch, ver­zweig­ten sich von den lot­rech­ten Säu­len des Stam­mes in vie­l­ar­mi­ge Leuch­ter, ganz so, wie sie sich da­heim in Me­xi­ko ver­zweigt hät­ten, nur mit dem Un­ter­schied, dass sie auf Sankt He­le­na nicht blüh­ten. Erst an dem Mai­en­abend, an dem Na­po­le­on starb, ent­zün­de­ten sich Hun­der­te von Trau­er­leuch­tern, und ihre Flam­men wa­ren gelb­grü­ne Blü­ten mit ro­ten Spit­zen. Es war, als hät­ten Be­leuch­ter, hin­ter den Fel­sen ver­steckt, auf die­se Stun­de ge­war­tet. An­ge­sichts der un­ver­mu­tet bren­nen­den Am­peln flüs­ter­ten die vor­bei­fah­ren­den Schif­fe: »Er ist tot.«

VII. Industrie

Die Ma­nu­fak­tur­zeit en­de­te, die in­dus­tri­el­le Re­vo­lu­ti­on brach aus, das Ma­schi­nen­zeit­al­ter und die Mas­sen­pro­duk­ti­on setz­ten ein und mit ihr stieg der Preis der me­xi­ka­ni­schen Co­che­nil­le. Und gleich­zei­tig stie­gen Aus­beu­tung, Spe­ku­la­ti­on und Kon­kur­renz­kampf. Alex­an­der von Hum­boldt be­rich­tet dar­über:

»Auf der Halb­in­sel Yu­catán wur­den al­lein in ei­ner Nacht alle No­pa­le, auf de­nen die Co­che­nil­len le­ben, ab­ge­schnit­ten. Die In­dia­ner be­haup­ten, dass die Re­gie­rung die­se ge­walt­sa­me Maß­re­gel dar­um er­grif­fen habe, um den Preis ei­ner Ware hin­auf­zu­trei­ben, de­ren Ei­gen­tum man den Be­woh­nern der Mix­te­ca aus­schließ­lich zu­wen­den woll­te; die Wei­ßen hin­ge­gen ver­si­chern, dass die Ein­ge­bo­re­nen aus Un­zu­frie­den­heit mit dem Preis, den die Kauf­leu­te für die Co­che­nil­le fest­setz­ten, ein­mü­tig das In­sekt und die Opun­ti­en zer­stört ha­ben.«

Mit sol­chen Mit­teln der Pro­duk­ti­ons­be­schrän­kung be­gann das neun­zehn­te Jahr­hun­dert. Ehe es zu Ende ging, wa­ren die­se Mit­tel, we­nigs­tens so­weit sie die Co­che­nil­le be­tra­fen, nicht mehr nö­tig. Denn das Ali­za­rin – aber das ist eine ei­ge­ne Ge­schich­te, und die­se ei­ge­ne Ge­schich­te er­zähl­te mir eine Dame, die einen ur­spa­ni­schen Tauf­na­men so­wie einen ur­spa­ni­schen Fa­mi­li­enna­men trägt und da­hin­ter einen ur­deut­schen Va­ters­na­men. Da­durch ge­riet das Ge­spräch auf ih­ren Groß­va­ter.

Der kam als jun­ger Mann mit Ma­xi­mi­li­an von Habs­burg nach Me­xi­ko und schick­te sei­nem da­heim ge­blie­be­nen Freund, dem Ber­li­ner Fa­brik­che­mi­ker Karl Lie­ber­mann, eine klei­ne Schach­tel mit Co­che­nil­le-Läu­sen, da­mit er sie ana­ly­sie­re. Er konn­te sie per Post als Mus­ter ohne Wert sen­den, zehn Cen­ta­vos Por­to, die Zei­ten, da Thier­ry de Me­non­ville beim Schmug­gel Kopf und Hals ris­kiert hat­te, wa­ren längst vor­über. Drü­ben ver­fass­te Lie­ber­mann eine Ab­hand­lung über die Co­che­nil­le und schick­te sie dem Freund in Me­xi­ko mit ei­ner Wid­mung, dem Dank für das Pa­ket­chen, das den An­lass zu der Ar­beit ge­ge­ben. Bald dar­auf ver­nahm man, ein Karl Lie­ber­mann in Ber­lin habe die künst­li­che Co­che­nil­le er­fun­den, die syn­the­ti­sche Her­stel­lung des Ali­za­rins.

Bei die­sem Punkt äu­ßer­te ich zu der Er­zäh­le­rin, ihr Groß­va­ter müs­se wohl sehr stolz dar­auf ge­we­sen sein, eine sol­che Er­fin­dung an­ge­regt zu ha­ben.

Stolz? Sein Le­ben lang wur­de er die Angst nicht los, je­mand könn­te er­fah­ren, dass durch sei­ne Schuld Me­xi­ko eine Wirt­schafts­ka­ta­stro­phe von un­vor­stell­ba­rem Aus­maß er­litt.

Der be­deu­tends­te Aus­fuhr­ar­ti­kel war plötz­lich au­ßer Kurs ge­setzt. Wäh­rend Deutsch­land mit dem Ali­za­rin Mil­lio­nen und aber Mil­lio­nen ern­te­te und die un­be­schränk­te Herr­schaft auf dem Far­ben­welt­markt er­rang, ver­fie­len in Me­xi­ko die No­pa­le­ri­as; die Co­che­nil­le-Flot­te, die den Trans­port nach Eu­ro­pa be­sorgt hat­te, wur­de ab­ge­wrackt; an­ge­se­he­ne Ex­port­häu­ser bank­rot­tier­ten. Wie hät­te ein Me­xi­ka­ner – und das war der Groß­va­ter der Er­zäh­le­rin in­zwi­schen ge­wor­den – wie hät­te ein Me­xi­ka­ner nicht ent­setzt sein sol­len, die­ses na­tio­na­le Un­glück her­bei­ge­führt oder zu­min­dest be­schleu­nigt zu ha­ben! Noch sei­ne En­ke­lin bat mich, sei­nen Na­men nicht zu nen­nen.

Ei­nen von den Er­ben je­nes Krachs, einen Nach­kom­men des größ­ten Ex­port­hau­ses für Co­che­nil­le, habe ich in der Stadt Oa­xa­ca als Be­am­ten des Frem­den­ver­kehrs­bü­ros ge­trof­fen. Im Ver­lauf un­se­rer Be­kannt­schaft er­zähl­te mir Señor Cor­res von sei­nem Va­ter, der in Eng­land stu­dier­te, dort sei­ne ei­ge­nen Pfer­de ritt und als Sohn des Co­che­nil­le-Kö­nigs von Me­xi­ko An­se­hen ge­noss. Bis er ei­nes Ta­ges nach Hau­se fah­ren muss­te – im Zwi­schen­deck.

Señor Cor­res, durch Her­kunft und Amt dazu be­ru­fen, in­for­miert zu sein, konn­te mei­ne Fra­ge, ob sich ir­gend­wo der Rest ei­ner Co­che­nil­le-Plan­ta­ge fin­den lie­ße, nicht be­ant­wor­ten. Da­durch nicht ab­ge­schreckt, such­te ich das Dorf Cuila­pan de Díaz auf, das einst ein Zen­trum der Co­che­nil­le-Zucht war und heu­te ein We­ber­ort ist, des­sen Sa­ra­pes1 man nach­sagt, sie sei­en noch im­mer mit Co­che­nil­le ge­färbt. Aber ich fand in den Werk­stät­ten nur die Ori­gi­nal­tie­gel ei­ner nord­ame­ri­ka­ni­schen Far­ben­fa­brik.

(span.) Me­xi­ka­ni­scher Kit­tel.  <<<

VIII. Pharmakologie

Für im­mer ist die Co­che­nil­le aus dem Ex­port­ge­schäft aus­ge­schie­den, selbst als Heil­mit­tel ge­gen Fleck­fie­ber und Beu­len­pest kam sie aus der Mode.

Auf dem in­ter­na­tio­na­len Me­di­ka­men­ten­markt wird nur noch der Peyo­te-Kak­tus ge­han­delt, die »Mez­cal But­tons«, der Zau­ber­kak­tus, über den ich Ih­nen ein ei­ge­nes Kol­leg le­sen will. Eine über­ir­di­sche Funk­ti­on wird auch man­chen an­de­ren Kak­teen zu­ge­schrie­ben, auf wel­che Sie bei un­se­rer Ex­kur­si­on in den Bo­ta­ni­schen Gar­ten von Cha­pul­te­pec der Flo­ri­cul­tur Sán­chez de la Vega auf­merk­sam mach­te.

Die »Car­don«, das heißt Dis­tel, ge­nann­te Opun­tie hängt man in den Dör­fern über Tür und Fens­ter auf, um zu ver­hin­dern, dass die Dä­mo­nen ein­drin­gen und den Kin­dern das Blut aus­sau­gen. In den Hand­ta­schen städ­ti­scher Jung­frau­en fin­den Sie oft die leicht­ge­wölb­te Spit­ze des Kak­tus Le­maire ce­reus – ein un­fehl­ba­res Amu­lett ge­gen das Kin­der­krie­gen. Das To­tem des Jagd­got­tes Mix­coatl war ein topf­för­mi­ger, rie­si­ger Igel­kak­tus, auf den, wie die Ko­di­zes zei­gen, die Men­schen­op­fer ge­legt wur­den, da­mit sich ihr ver­strö­men­des Blut in die Gott­heit er­gie­ße; heu­te legt man in den Küs­ten­ge­gen­den die­sen Kak­tus auf Wun­den, die, so klaf­fend sie auch sein mö­gen, im Nu ver­nar­ben.

Auch in Eu­ro­pa glaub­te man an die Heil­wir­kung der Kak­teen. Zum Be­weis sei eine Stel­le aus Fried­rich Heb­bel hier an­ge­führt, ob­wohl ich sie viel­leicht hät­te dort er­wäh­nen sol­len, wo ich von den li­te­ra­tur­ge­schicht­li­chen Be­zie­hun­gen des Kak­tus sprach. In sei­nen Ta­ge­bü­chern er­zählt Heb­bel:

»In Ham­burg auf dem Stadt­deich kommt ei­nes Mor­gens zu mei­nen Wirts­leu­ten, den al­ten Zie­ses, ein Bau­ern­weib mit Ge­mü­se. Sie er­blickt auf dem Fens­ter­sims eine Pflan­ze, eine Art Kak­tus, setzt ih­ren Korb bei­sei­te und kniet nie­der. Dann sagt sie: ›Das tu’ ich je­des Mal, so­bald ich die­sen Baum sehe, denn ihm ver­dank’ ich’s, dass ich wie­der ge­hen und ste­hen kann; ich war gicht­brü­chig wie La­za­rus, da riet man mir, den Saft sei­ner Blät­ter aus­zu­pres­sen und zu trin­ken, und da­von wur­de ich wie­der ge­sund.‹«

IX. Ethnografie

Längst le­ben die Kak­teen in der Dias­po­ra, fast alle auf al­len Kon­ti­nen­ten, je­doch kei­nes­wegs all­über­all zu der Men­schen Freu­de. In Aus­tra­li­en zum Bei­spiel, wo man die Wäl­der ver­brennt, um den Scha­fen Wei­de­land zu schaf­fen, hat sich ein Kak­tus ein­ge­nis­tet, der auf deutsch »Fei­gen­dis­tel« und auf eng­lisch »prick­ly pear« heißt, ob­zwar er we­der mit ei­ner Fei­ge noch mit ei­ner Bir­ne nen­nens­wer­te Ähn­lich­keit hat. Kaum einen Schaf­züch­ter habe ich dort ge­spro­chen, der die­se Pflan­ze nicht mit aus­tra­li­schen Flü­chen be­dacht hät­te, weil sie dem Bo­den das Gras ent­zieht und mit ih­ren Dor­nen die Her­den ver­letzt. »Aber, nur Ge­duld! Schon ha­ben wir ei­nem eng­li­schen En­to­mo­lo­gen den Auf­trag ge­ge­ben, einen Wurm zu züch­ten, der den bloo­dy Kak­tus auf­fres­sen wird mit bloo­dy Stumpf und Stiel, mit bloo­dy Haut und Haar.«

In Me­xi­ko hat der Kak­tus kei­ne sol­chen meu­chel­mör­de­ri­schen Fein­de, wenn­gleich er auch hier nur ein Un­kraut ist, in­so­fern ihn nie­mand an­baut, und er auch hier den Tie­ren Harm tut, die ihm zu Lei­be rücken. Ne­ben Orchi­dee und Bou­gain­vil­lea und Rose steht er als Zier­pflan­ze in Ehren und ist als Nutz­pflan­ze un­ent­behr­lich.

Wie sehr sich des Kak­tus und des Men­schen Le­ben wech­sel­sei­tig be­din­gen, kön­nen Sie auf dem Land be­ob­ach­ten. Sie ste­hen vor ei­ner Hüt­te, ei­ner wie Hun­dert­tau­sen­de, arm­se­lig mit arm­se­li­gem Hof. Der Zaun aber ist präch­ti­ger und si­chern­der als das Git­ter­werk ei­ner Vil­la. Grün ge­ripp­te, me­ter­ho­he Or­gel­kak­teen sind an­ein­an­der­ge­schlos­sen zu ei­ner Pha­lanx, durch die kein feind­li­cher Mensch und kein feind­li­ches Tier zu drin­gen ver­mag, selbst eine Schlan­ge nicht. Woll­te je­mand hin­über­klim­men, flugs be­käme er Sta­cheldräh­te zu spü­ren, die aus der Pflan­ze wach­sen­den Wi­der­ha­ken.

Die Hüt­te hin­ter dem Zaun ist eben­falls dem Kak­tus ent­bo­ren, wenn auch nicht dem glei­chen, der den Hof um­schließt. Als Zie­gel­stei­ne und als Schin­deln sind die fla­chen ova­len Glie­der der Opun­tia ro­bus­ta ver­wen­det, die auch al­les »höl­zer­ne« Ma­te­ri­al für den Haus­halt bei­steu­ert, denn sie wird so hart und un­ver­wes­lich wie Ma­ha­go­ni.

Bei iso­lier­ten In­dio­stäm­men tut der Kak­tus alle Ar­ten von Diens­ten. Im öst­li­chen Chia­pas stri­cken die Frau­en mit Hil­fe lan­ger wei­ßer Kak­tus­sta­cheln, und auf den Berg­hän­gen bei Gua­y­mas dient ein Kak­tus­glied als Kamm und Bürs­te zu­gleich. Weil wir ge­ra­de von Haar­pfle­ge spre­chen, möch­te ich Sie dar­auf auf­merk­sam ma­chen, dass auf al­len Märk­ten Opun­ti­en als Haar­wasch­mit­tel ver­kauft wer­den. Sie schüt­zen ge­gen das Er­grau­en, und mag das Ge­sicht der In­dio­grei­sin noch so fahl sein, ihr glat­tes und in Zöp­fe ge­floch­te­nes Haar glänzt schwarz wie in ih­rem ers­ten Le­bens­jahr.

Lieb­lings­spiel me­xi­ka­ni­scher Kin­der ist der Stier­kampf. Über Bür­ger­steig, Fahr­bahn oder Spiel­platz tobt ein höl­zer­nes Ge­stell auf Rä­dern, der Stier. Zwei ech­te Hör­ner sind sei­ne Waf­fe, aber zwi­schen ih­nen und an den Flan­ken des Ste­ckens­tiers sind Kak­tus­glie­der be­fes­tigt, in die der klei­ne Pi­ca­dor die höl­zer­nen Lan­zen stößt und schließ­lich der klei­ne To­re­ro sein höl­zer­nes Schwert.

X. Gastronomie

Alle Gän­ge ei­nes Mit­ta­ges­sens kön­nen aus Kak­tus be­rei­tet wer­den. So­gar das Fleisch wird von ei­ner saf­ti­gen Schei­be der Opun­tie täu­schend ver­tre­ten, ei­ner glei­chen, wie man sie als Salat an­rich­tet. Die­ses Menü aus Kak­tus wird auf ei­nem Herd ge­kocht, der mit Kak­tus ge­heizt ist.

Kak­tus­früch­te wie Pi­ta­ya und Tuna sind das bil­ligs­te Obst, man kann es auf al­len We­gen pflücken. An Stän­den auf der Stra­ße und in Kon­fi­tü­ren­ge­schäf­ten kauft man es kan­diert, als Ge­fro­re­nes, als Kom­pott, als Frucht­saft, als Dul­ce de Bis­na­ga.

In die­sem Zu­sam­men­hang muss ich wohl oder übel ei­ner Sa­che Er­wäh­nung tun, die nicht eben ins Ge­biet der Ga­stro­no­mie ge­hört, je­doch die Un­ver­wüst­lich­keit der Kak­teen deut­li­cher dar­tut als al­les an­de­re. Auf der Ti­burón-In­sel im Ka­li­for­ni­schen Meer­bu­sen (zum Staat So­no­ra ge­hö­rig) näh­ren sich die wil­den, star­ken Seri-In­dia­ner fast aus­schließ­lich vom Fei­gen­kak­tus, Opun­tia fi­cus in­di­ca, des­sen Früch­te sie in der Rei­fe­zeit heiß­hung­rig in Un­men­gen ver­schlin­gen. Mit die­ser Hem­mungs­lo­sig­keit kon­tras­tiert die für­sorg­li­che Maß­nah­me, die Re­sul­ta­te ih­rer Ver­dau­ung gut auf­zu­he­ben. Das ret­tet sie, wenn die Sai­son des Man­gels her­an­bricht, vor dem Hun­ger­tod. Denn dann su­chen sie aus den in­zwi­schen hart ge­wor­de­nen Fae­ces die un­ver­dau­ten Tei­le her­aus, es­sen, ver­dau­en und be­wah­ren sie von Neu­em, um sie in der nächs­ten Hun­ger­zeit wie­der her­aus­zu­ho­len, zu es­sen und so ad in­fi­ni­tum.

XI. Hydrologie

Sie wis­sen, mei­ne Her­ren, dass ich ge­gen­wär­tig ein Lehr­buch über Me­xi­ko schrei­be, und ich habe es mit ei­ner Ab­hand­lung über den Mais be­gon­nen. Denn so wie die Kul­tur Eu­ro­pas mit dem An­bau von Korn und wie die Kul­tur Asi­ens mit dem An­bau von Reis zur Welt kam, fängt die­je­ni­ge Ame­ri­kas mit dem Zeit­punkt an, da der in­dia­ni­sche Mensch Mais züch­tet und zu die­sem Be­hu­fe seß­haft wird.

Vor­her muss je­doch die­ser Mensch da­ge­we­sen sein, wenn auch nur als No­ma­de.

Wie war er ins Land ein­ge­drun­gen, ohne zu ver­durs­ten; wer wies ihm die Rich­tung durch die Wüs­te­nei zum wil­den Mais, zum künf­ti­gen Bau­platz für Hüt­te und Dorf? Nie­mand an­de­rer als der Kak­tus. Er war’s, der den Men­schen her­ein­führ­te und eine bra­che Unend­lich­keit zum blü­hen­den Lan­de mach­te, und ich fra­ge mich, ob ich ihn nicht doch dem Mais vor­an­stel­len soll­te.