Der Salon am Rosenplatz - Caroline Jansen - E-Book

Der Salon am Rosenplatz E-Book

Caroline Jansen

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Beschreibung

Unter der Trockenhaube bekommen die Träume Flügel Salon Fellbach, Bremen 1966: Die temperamentvolle Ruth und ihre verwitwete Schwester Gisela führen gemeinsam einen etwas in die Jahre gekommenen Frisiersalon. Zwar haben sie treue Kundinnen, die nicht nur für die Dauerwelle, sondern auch stets für einen Schnack kommen, aber Ruth ist klar, dass sie mit der alten Stammkundschaft allein nicht mehr lange überleben werden. Doch Gisela hält an alten Traditionen fest, und der Streit über die Zukunft des Salons spitzt sich zu. Als der Salon eines Tages in Brand gerät, treten seit Jahre ungelöste Schwierigkeiten zutage. Ruth ist zu einem Neuanfang bereit und lässt sich abwerben, während Gisela in Einsamkeit und Alkohol versinkt. Da taucht Giselas hippe Tochter aus London auf – und sprüht nur so vor neuen Ideen ...   Der zauberhafte Auftakt der Friseurinnenreihe

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Der Salon am Rosenplatz

Die Autorin

Caroline Jansen wurde Anfang der 1960er Jahre in Bad Oeynhausen geboren. Sie hat einige Jahre in Bremen gelebt und dort im Viertel gearbeitet. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in einem kleinen Ort südlich von Bremen.

Das Buch

Waschen, schneiden, lieben im schönsten Friseursalon der StadtBremen, Mitte der Sechzigerjahre: Die temperamentvolle Ruth und ihre Schwester Gisela führen gemeinsam den Salon Fellbach. Ihre treuen Kundinnen kommen nicht nur für die Dauerwelle, sondern auch stets für einen Schnack vorbei. Doch der Laden ist etwas in die Jahre gekommen, und die Konkurrenz schläft nicht. Der schicke Salon von Rainer Kronewinkel wirbt immer mehr ihrer Kundschaft ab. Ruth bereitet das schlaflose Nächte – auch weil sieRainers Lächeln nicht vergessen kann. Aber ihr ist klar: Der Friseursalon braucht einen neuen Anstrich. Gisela dagegen hält an alten Traditionen fest. Der Streit über die Zukunft des Salons spitzt sich zu – bis im Laden eine Tragödie passiert. Können sich Ruth und Gisela noch einmal zusammenraufen, oder wird es Zeit für einen Neuanfang?

Ruth, 26 Jahre alt, ist eine temperamentvolle, quirlige Frohnatur voller Herzenswärme. Sie ist mit Leib und Seele Friseuse und liebt den Schnack mit den Kundinnen genauso wie das Haareschneiden.

Gisela, seit zwei Jahren Witwe, ist die Chefin des Frisiersalons Fellbach und kümmert sich um die Finanzen und die Kundentermine. Das Verhältnis zu ihrer jüngeren Schwester ist angespannt, dabei wünscht sie sich von Herzen, sich wieder mit ihr zu vertragen.

Caroline Jansen

Der Salon am Rosenplatz

Frauen wie wir.

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Personen in diesem Roman sind frei erfunden,genau wie der Salon am Rosenplatzund Salon Kronewinkel am Wall.Sollte es Ähnlichkeiten mit real existierenden Friseursalons in Bremen geben, ist das nicht beabsichtigt.

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © www.buerosued.de (Häuser, Straße, Himmel);Allan Cash Picture Library / Alamy Stock Foto (Frauen)E-Book powerded by pepyrus.ISBN 978-3-8437-2917-8

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

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Nachwort

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

Widmung

Für meine Mutter

Anleitung

Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz.

William Faulkner

1.

Bremen im Winter 1966

Ruth

Es war kalt an diesem Morgen, und Ruth Fellbach war froh, unter dem Mantel noch eine Strickjacke zu tragen. Offenbar hatte es die ganze Nacht geschneit, und es sah aus, als würde es noch mehr Schnee geben. Der Himmel war dunkelgrau und voller tief hängender Wolken.

Sie schlitterte den Weg entlang und schob sich den letzten Bissen ihres Marmeladenbrots in den Mund. Für ein Frühstück in aller Ruhe hatte es nicht mehr gereicht, nur für einen schnellen Kaffee zwischen Anziehen und Frisieren. Wobei sich das Frisieren auf ein rasches Bürsten und Toupieren beschränkt hatte.

Ruth nahm die Handschuhe aus der Manteltasche, zog sie über und kuschelte sich in ihren Wollmantel.

Als sie die Ellhornstraße entlangkam, und der Rosenplatz in Sichtweite war, sah sie ihre Nichte Marianne in der Tür des Frisiersalons stehen und ihr zuwinken.

Ruth ging vorsichtig etwas schneller. Ob etwas passiert war?

»Kannst du nach Onkel Kurt sehen?«, rief Marianne. »Er ist noch nicht da!«

Ruth nickte und hob die Hand. Sie überquerte die Straße und bog in die nächste Seitenstraße ein. Bis zur Wohnung ihres Bruders waren es nur ein paar Schritte.

Ihr Vater hatte Salon Fellbach nach dem Krieg eröffnet. Ruth und ihre beiden älteren Geschwister waren praktisch darin groß geworden. Während andere Mädchen ihre Puppen an- und auskleideten und im Puppenwagen umherkutschierten, hatte Ruth ihre frisiert. Etwas anderes als Friseuse zu werden war ihr nie in den Sinn gekommen. Kurt war ebenfalls Friseur geworden, wenn auch nicht unbedingt aus Leidenschaft. Ruth nahm an, dass er es einerseits dem Vater recht machen wollte und es ihm andererseits an Antrieb und eigenen Ideen gefehlt hatte. Kurt war ein Ausbund an Trägheit und stoischem Gleichmut.

Auch Gisela, die Älteste von ihnen, hatte eine Friseurlehre beim Vater gemacht, verstand sich aber mehr auf Zahlen. Sie hatte nie gern im Salon gestanden und frisiert, sondern lieber im Büro gesessen und sich um die Finanzen gekümmert.

Bevor ihr Vater gestorben war – er war lange krank gewesen und hatte genug Zeit gehabt, all die Dinge zu regeln, um die man nicht herumkam –, hatte er Gisela den Friseursalon überschrieben und dafür gesorgt, dass Ruth und Kurt nicht auf der Straße stehen würden.

Ruth war das Nesthäkchen der Familie, der Nachzögling, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Sie wurde in diesem Jahr sechsundzwanzig, Kurt war vierzehn und Gisela fünfzehn Jahre älter.

Sie blieb vor dem Altbremer Haus stehen, in dem sich die Wohnung ihres Bruders befand. In dem winzigen Vorgarten schoben sich wacker ein paar Schneeglöckchen aus der Erde, und in dem Vogelhäuschen, das jemand aufgestellt hatte, balgten sich Spatzen und Meisen um die Körner. Als Ruth kam, stoben sie zeternd auseinander.

Bevor Ruth auf die Messingklingel drückte, hob sie den Kopf und schaute nach oben, ob ihr Bruder am Fenster stand. Doch er war nicht zu sehen, also klingelte sie.

Ob Kurt verschlafen hatte? Das war in all den Jahren so selten vorgekommen, dass sie es an einer Hand abzählen konnte.

Im Haus blieb es still, und sie klingelte erneut.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und Kurt eilte ohne Gruß an ihr vorbei. »Schietwetter!«

»Dir auch einen guten Morgen, Kurt. Vorsicht, die Stufen sind glatt!«

Er schaffte sie ohne große Schwierigkeiten, dafür rutschte er auf dem Bürgersteig aus und landete auf seinem Hinterteil.

Ruth musste lachen und schlug hastig die Hand vor den Mund.

Ihr Bruder stand so schnell wieder, dass sie gar nicht dazu kam, ihn zu fragen, ob er sich wehgetan hatte. »Verflucht! Warum hat hier niemand gestreut!«

Ruth hakte ihn unter. »Falsche Frage, Kurt. Wieso hast du nicht gestreut?«

»Ist Gisela sauer?«, fragte er, ohne sich um ihre Bemerkung zu kümmern.

»Sie wird wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen haben, dass du zu spät bist.« Bestimmt saß sie wie jeden Morgen in ihrem verqualmten Büro. Man musste die Luft anhalten, wenn man es betrat. Gisela hatte zu rauchen begonnen, als sie und ihr Mann sich kennengelernt hatten. Dietmar war schon damals starker Raucher gewesen. Seit seinem Tod rauchte sie wie ein Schlot, man traf sie im Grunde nie ohne Zigarette an.

»Hoffen wir’s«, murmelte Kurt.

Ruth hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Meine Güte, wieso rennst du denn so? Auf die paar Minuten kommt es doch auch nicht mehr an.«

Er blieb kurz stehen und sah sie stirnrunzelnd an. Dann ging er zügig weiter in Richtung Rosenplatz.

»Hattest du Streit mit Heidelinde?«

Heidelinde war seine Verlobte. Ruth und Marianne hatten bereits Wetten abgeschlossen, wann oder ob die Hochzeit überhaupt stattfinden würde. Beide konnten sich Kurt nicht so recht als Ehemann vorstellen.

Erna Jansen, die schräg gegenüber wohnte, lehnte im offenen Fenster. »Moin, Frollein Fellbach, Herr Fellbach! Kalt heute, was?«

»Moin, Frau Jansen! Das können Sie laut sagen.« Ruth kannte jeden in der näheren Nachbarschaft, viele waren seit Jahren Stammkunden im Salon.

»Hab für nächste Woche einen Termin!« Wie üblich trug Erna Jansen eine dicke hellbraune Strickjacke mit Zopfmuster, darüber ein Schultertuch und auf dem grauen Haarschopf, der sich mehr wie die Mähne eines Pferdes anfühlte, eine Mütze in Erbsengrün.

»Fein, bis dann!«

»Als ob sie sonst nichts zu tun hat«, brummte Kurt, als sie vor dem Salon ankamen.

»Freu dich doch, dass sie regelmäßig herkommt«, raunte Ruth.

»Das meinte ich nicht. Ich meinte, sie sitzt da im Fenster und …« Er winkte ab. »Egal. Komm.« Er hielt ihr die Tür auf.

Die blieb stumm, kein »Klingeling«, und beide hoben den Kopf und sagten wie aus einem Mund: »Schon wieder kaputt.«

Gisela stand am Tresen, die Brille auf dem Nasenrücken, und blickte auf. »Wo kommt ihr denn her?« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie ein Vorwurf.

Seit Dietmars plötzlichem Tod hatte sie sich sehr verändert. Natürlich, niemand blieb derselbe Mensch, wenn er jemand Geliebtes, Vertrautes verlor. Noch dazu so unerwartet.

Aber Gisela ließ niemanden, nicht mal ihre einzige Tochter, in ihr Herz, ihre Seele blicken. Sie hatte sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen und sich allem und jedem verschlossen, um mit ihrer Trauer allein zu sein.

Ruth wollte improvisieren, vor allem wollte sie sich vor ihren Bruder stellen.

Doch er war schneller – und überraschend ehrlich. »Ich hab verschlafen. Ruth hat mich geholt.«

»Verschlafen, soso.« Giselas Blick war missbilligend.

Kurt hob die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, Gisela. Lass gut sein.«

»Woher willst du wissen, was ich sagen wollte?«

»Weil ich dich kenne.«

Bitte kein Streit am frühen Morgen, flehte Ruth.

»Die Klingel ist übrigens schon wieder kaputt.« Kurt hängte seinen Mantel an die Garderobe.

»Ich weiß, ich habe den Handwerker bereits angerufen.«

Er schlüpfte in seinen Kittel. »Das hätte ich doch tun können.«

»Was? Herrn Brandes anrufen oder die Klingel reparieren?«

»Ich bin nicht so ungeschickt, wie du vielleicht glaubst.«

»Darf ich dich an die Trockenhaube erinnern, an der du so lange rumgeschraubt hast?«

Er hob die Hand und verdrehte die Augen. »Das musste ja kommen. Konnte ich ahnen, dass es am Stecker lag?«

Gisela drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, der offenbar nicht ausgeleert worden war. Sie konnte unmöglich schon so viel geraucht haben.

Ruth verzog angewidert das Gesicht, hatte sich aber nicht rechtzeitig zur Seite gedreht.

»Was soll denn dieser Blick?«, fragte ihre Schwester.

»Schon gut«, murmelte sie, zog rasch Mantel und Strickjacke aus und den Kittel an. Dann nahm sie vorsichtig das Kopftuch ab und warf einen Blick in den Spiegel hinter Gisela.

»Ich weiß selbst, dass ich zu viel rauche. Nicht jeder kann so ein Ausbund an Tugend sein.«

Ruth schluckte eine Erwiderung herunter. Sie und ihre Schwester gerieten häufig aneinander, das war nichts Neues, es war aber nicht immer so gewesen. Ihre Mutter war gestorben, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Und weil ihr Vater hoffnungslos überfordert gewesen war, hatte Gisela sie bei sich und ihrer eigenen Familie aufgenommen und ihr wieder ein Zuhause gegeben.

»Menschenskinder, müsst ihr euch schon am Morgen angiften?«, knurrte Kurt kopfschüttelnd.

Gisela zupfte am Kragen ihrer weißen Bluse. Selbst das wirkte missbilligend. Mehr als ein Jahr hatte sie Schwarz getragen und Marianne erschüttert zurechtgewiesen, als die nach einem Dreivierteljahr ein helles Kleid angezogen hatte.

An diesem Tag trug Gisela ein graues Kostüm, dazu die weiße Bluse und Pumps mit Pfennigabsätzen. Man hörte sie immer schon von Weitem kommen. Das blondierte Haar – eigentlich war es dunkelblond – kämmte sie streng aus dem Gesicht und steckte es am Hinterkopf zu einer Art Rolle fest. Seit Neuestem benötigte sie eine Brille, was sie noch etwas strenger erscheinen ließ. Gisela wirkte immer unnahbar und kühl und ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Als wäre sie in den frühen Fünfzigern stecken geblieben, einer Zeit, die sie sehr geliebt hatte und von der sie stark geprägt worden war.

Ruth knöpfte ihren Kittel zu. Er kam frisch aus der Wäscherei und roch nach Sprühstärke.

Wie lange wohl noch, bis wir unsere Kittel selbst waschen müssen, dachte sie betrübt.

Dem Friseursalon ging es nicht gut, seit es modernere, flottere gab, die sich mehr der jüngeren Kundschaft annahmen. Wenn Gisela sich nicht so sträuben würde, könnten sie auch ihren Salon ein bisschen aufmöbeln. Mit ein paar neuen Spiegeln und schicken Tapeten und vielleicht sogar neuen Waschbecken. Aber das Geld war knapp, sehr knapp.

Ruth hatte es zwei-, dreimal gewagt und war mit Vorschlägen vorgeprescht. Doch Gisela hatte alle mit einer einzigen Handbewegung abgeschmettert. »Und was heißt überhaupt, unser Salon sei altbacken?«, hatte sie gemeint. »Er ist nicht altbacken, sondern ein Traditionssalon.« Und sie hatte das Sagen. Immerhin war ihnen die Stammkundschaft geblieben, ohne sie gäbe es wohl Salon Fellbach längst nicht mehr.

Ruth richtete ihr Haar. Sie hatte nicht geschafft, es noch hier und da aufzudrehen, wie sie es normalerweise morgens machte. Das Kopftuch hatte ihrer Frisur den Rest gegeben.

»Gott noch mal«, fluchte sie leise und zupfte an ein paar Strähnen.

»Frau Berthold kommt heute zum Färben«, sagte Gisela.

»Ich weiß.« Ruth hatte den Termin selbst angenommen. »Ist Frau Zimmermann schon da?«, fragte sie.

Gisela schüttelte den Kopf und blätterte im Terminkalender, der auf dem Holztresen lag. Im Eingangsbereich gab es außer dem Tresen noch ein Regal mit Haarpflegeprodukten.

Ruth ging nach rechts in den Frisierbereich, einen etwa fünf mal fünf Meter großen Raum. An zwei gegenüberliegenden Wänden befanden sich drei beziehungsweise zwei eckige Waschbecken, darüber ovale, furchtbar unmoderne verschnörkelte Spiegel, die noch aus der Anfangszeit stammten. Was man ihnen ansah.

In der Ecke standen drei Trockenhauben, die einen Höllenlärm machten, auch sie gehörten seit einer halben Ewigkeit zum Inventar.

Es gab auch einen Kinderstuhl, der auf die Größe des jeweiligen Kindes eingestellt werden konnte; ein Relikt aus vergangenen, besseren Tagen. Inzwischen verirrten sich kaum noch junge Frauen mit Kindern hierher. Leider. Die Kinderhaarschnitte hatte Ruth immer ganz besonders gern übernommen. Auch wenn es oft eine Herausforderung gewesen war. Viele Kinder mussten überredet und sogar bestochen werden, wenigstens eine halbe Stunde halbwegs still zu sitzen.

An einer der Wände hingen Fotos von Senta Berger. Kurts Augen bekamen immer einen ganz besonderen Glanz, wenn er sie betrachtete. Er hatte eine Schwäche für die bildhübsche rothaarige Schauspielerin, die mit Heidelinde genauso wenig Ähnlichkeit hatte wie Ruth mit Claudia Cardinale.

Apropos Heidelinde, dachte Ruth. »Was ist denn nun mit Heidelinde?«, fragte sie ihren Bruder, der an ihr vorbei in den kleinen, abgetrennten Herrenbereich wollte.

»Was soll mit ihr sein?«

»Na, hattet ihr Streit?«

Er zuckte mit den Schultern und ging zu Herrn Sievers, der im Wartebereich saß und die Tageszeitung las. »Moin, Herr Sievers. Wie immer?«

Der alte Herr sah auf und legte die Zeitung weg. »Wie immer, Herr Fellbach.«

Und wie immer hatte er seine Anzugjacke ausgezogen und die Hemdsärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt.

»Es ist ein Wunder, dass er sich nicht auch noch die Schuhe auszieht«, hatte Kurt irgendwann gemeint.

2.

Pünktlich wie üblich kam Elfriede Zimmermann kurz darauf herein, eine mollige Frau Ende vierzig.

Ruth hatte den Stuhl bereits zurechtgerückt, und sie nahm am mittleren Waschbecken Platz. »Morgen, Ruth.« Manchmal sagte sie auch »Fräulein Ruth«.

Die beiden kannten sich seit vielen Jahren, und Ruth waren beide Anreden recht. »Morgen, Frau Zimmermann. Schneit’s noch immer?«

Das einzige Schaufenster war mit einer hässlichen eierschalenfarbenen Gardine verhängt. Auch das hatte Ruth bereits ein paarmal angemerkt. »Lass uns doch die olle, scheußliche Gardine rausnehmen, Gisela. Wir könnten stattdessen das Schaufenster hübsch gestalten. Ich würde das auch übernehmen.« Gerne sogar.

Doch Gisela hatte sie wie jedes Mal angesehen, als hätte sie den Vorschlag gemacht, Welpen darin auszustellen. »Die Gardine bleibt. Oder willst du, dass jeder, der vorbeikommt, hereinstarren kann?«

Dabei kamen nur die wenigen Anwohner des Rosenplatzes vorbei, alle anderen nahmen den Weg über die Ellhornstraße oder eine der Nebenstraßen. Aber hätte sich doch mal jemand hierher verirrt, würde er bestimmt gern einen Blick in den Salon werfen. Warum auch nicht? So hätten sie zeigen können, dass im Salon Fellbach noch frisiert wurde.

Elfriede Zimmermann deutete auf Ruths schwarze Steghose. »Sehr schick.« Sie musste es wissen, denn sie war Verkäuferin in einem Modegeschäft für Damenbekleidung im Viertel. »Ich wünschte, ich könnte so was auch tragen.« Mit einem Seufzen zwickte sie sich in die Taille. »Aber ich hab hier zu viel und da …«, sie zeigte auf ihre Beine, » … sowieso.«

»Es muss auch Frauen geben, die Röcke tragen, Frau Zimmermann.«

»Wie wahr, wie wahr. Ihre Frisur gefällt mir, Ruth. Ob mir das auch steht?«

Ruth drehte sich einmal um die eigene Achse und deutete auf ihren Hinterkopf. »Warum nicht? Aber sehen Sie, es ist hier hinten ziemlich kurz geschnitten. Ich dachte, Sie mögen es lieber etwas länger.«

Elfriede Zimmermann machte »Hmm« und dachte eine Weile nach.

Dann nickte sie. »Lassen Sie es uns ausprobieren. Was meinen Sie?«

»Ich finde, man sollte sich immer was trauen.« Das war Ruths Motto: Trau dich was, und du bist um eine Erfahrung reicher.

Sie band Frau Zimmermann den knisternden Polyesterumhang um und begann ihr Haar zu bürsten.

Am Nachbarwaschbecken stand Marianne und frisierte Frau Rollnick, auch sie eine Stammkundin. Marianne sah müde aus, übernächtigt, wie so oft an einem Dienstagmorgen. Vermutlich war sie am Wochenende aus gewesen und hatte sich am Tag zuvor noch mit ihrer Clique getroffen.

Ruth zwinkerte ihr im Spiegel zu, und sie zwinkerte zurück.

Sie verstanden sich glänzend. Ruth war nur fünf Jahre älter als Marianne; Tante und Nichte, die wie Schwestern aufgewachsen waren.

Ruth wusste, dass Gisela eifersüchtig war. Sie hatte häufig das Gefühl, sich zerreißen zu müssen, um uneingeschränkt das sein zu können, was sie gern wäre: für Gisela wieder die so viel jüngere, dankbare Schwester und für Marianne weiterhin Freundin und Tante.

»Ruthchen?« Marianne knuffte sie in die Seite und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Wo warst du gerade?«

Ruth lächelte anstatt einer Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Marianne wusste von ihrer inneren Zerrissenheit nichts, weil sie so früher oder später zwischen die Fronten geraten würde.

»Leihst du mir deinen Toupier-Kamm? Meiner ist … unauffindbar.« Marianne hatte eine für ihr Alter und ihre Statur ungewöhnlich dunkle Stimme.

»Hier.« Ruth griff in ihre Kitteltasche und nahm den Kamm heraus. »Wiedersehen macht Freude.«

Frau Zimmermann betrachtete sich derweil nachdenklich im Spiegel. »Meinen Sie, dass mir auch ein Pony steht?«

»Zur Not kämme ich Ihr Haar leicht aus der Stirn.«

»Wird es dann trotzdem so aussehen wie bei Ihnen?«

»Ganz bestimmt«, flunkerte Ruth.

Die meisten Kundinnen wollten angeschwindelt werden, wenn sie zum Beispiel mit ausgeschnittenen Fotos von berühmten Schauspielerinnen kamen und darum baten, auch so aussehen zu wollen. Sie darauf hinzuweisen, dass die Beschaffenheit des Haars eine nicht unerhebliche Rolle spielte, hatten Ruth und Marianne sich längst abgewöhnt. Wollte eine Kundin so aussehen wie Maria Schell oder Uschi Glas, tricksten sie so lange, bis die Frisur einigermaßen hielt. Sie schoben Clips ins Haar, drehten es auf verschieden große Wickler, toupierten und benutzten Unmengen von Haarspray. Die Kundin war zufrieden, verließ kerzengerade den Salon, um die Frisur nicht zu gefährden, und genoss es, wenigstens einen Tag lang wie Uschi Glas auszusehen. Meistens kam sie wenige Tage später wieder und jammerte: »Ich kriege es einfach nicht hin!« Das war dann meistens der Moment, an dem sie um eine Frisur bat, die zu ihrem Haar passte und einigermaßen pflegeleicht war.

Elfriede Zimmermann stieß ein wohliges Seufzen aus, als Ruth ihr einen Waschlappen für die Augen reichte und sie bat, den Kopf über das Waschbecken zu lehnen.

»Gut so?« Bis die richtige Wassertemperatur eingestellt war, dauerte es für gewöhnlich eine ganze Weile.

»Alles bestens, Ruth. Huch!«

»Stimmt was nicht?« Ruth hielt in der Bewegung inne, die Hand unter dem Wasserhahn.

»Mir ist Wasser ins Ohr gelaufen.«

»Verzeihung.«

»Ist nicht weiter schlimm. Vielleicht ist es ganz gut, wenn meine Ohren mal ordentlich durchgespült werden.«

Ruth nahm einen neuen Waschlappen und reichte ihn ihr.

Während sie Frau Zimmermanns blondiertes, stumpf gewordenes Haar shampoonierte, hing sie ihren Gedanken nach. Sie überlegte, ob sie dieses Jahr ihren Geburtstag feiern wollte. Den letzten hatte sie mit vielen Gästen gefeiert, und es war hoch hergegangen. Nein, diesen werde ich allein auf der Couch verbringen – oder mit Rosemie ins Kino gehen.

»Kannst du nachher Frau Weber übernehmen?«, unterbrach Marianne ihre Überlegungen.

»Sicher. Wann hat sie einen Termin?«

»Um halb fünf. Ich habe Frau Schuster dazwischengenommen.« Marianne verdrehte flüchtig die Augen. »Sie hat furchtbar geheult am Telefon. Es geht bestimmt wieder um ihren Mann.«

»Ach herrje.«

»Immer nur Ärger mit den Männern, ich sag’s dir.« Marianne toupierte weiter.

Ruth spülte Frau Zimmermanns Haar ein letztes Mal gründlich aus, griff mit einer Hand nach einem frischen Handtuch und wickelte es ihr um den Kopf. »So, das hätten wir.«

Ihre Kundin kam hoch, das Gesicht ganz rot. Während Ruth ihr die Kopfhaut sacht massierte, seufzte sie wieder genüsslich. »Herrlich, das könnten Sie den ganzen Tag tun.«

Ruth nahm das Handtuch ab und begann, das feuchte Haar vorsichtig Strähne für Strähne zu entwirren und auszukämmen.

Danach trocknete sie sich die Hände ab und holte das Körbchen mit den Haarclips. Sie teilte das Haar, steckte es fest und zog die Schere aus ihrer weißen Kitteltasche.

»Den Kopf bitte etwas vorbeugen.« Sie schnitt die erste Strähne im Nacken und machte zügig weiter.

Sie liebte ihren Beruf, hatte es noch keinen Tag bereut, nicht Verkäuferin oder Sekretärin geworden zu sein.

»Haben Sie schon das Neueste gehört, Ruth?«

»Nein, was denn?«

»Da haben Sie neulich einen Mann aus einer Wohnung in Woltmershausen geholt. Tot, mausetot.« Elfriede Zimmermann schnalzte mit der Zunge. »Stellen Sie sich das mal vor, der hat mehr als zwei Jahrzehnte im Bett gelegen. Ist nur aufgestanden, wenn er aufs Klo musste.«

Ruth hörte auf zu schneiden und warf ihr einen ungläubigen Blick im Spiegel zu. »Wirklich?«

»Genauso soll’s gewesen sein. Der arme Kerl hat bei seiner älteren Schwester gewohnt, die hat alles für ihn getan. Na ja, auf jeden Fall soll er fürchterlichen Liebeskummer gehabt haben, hat sich ins Bett gelegt und ist nicht mehr aufgestanden.«

Erneut ein kurzer Blickaustausch im Spiegel.

»Der Bart soll ihm bis zum Knie gewachsen sein. Und das Haar … Na, das können Sie sich ja vorstellen. Vielleicht hat’s ihm seine Schwester dann und wann gewaschen. Geschnitten hat sie’s jedenfalls nicht.« Sie runzelte die Stirn. Für einen Moment war sie abwesend, vielleicht versuchte sie sich vorzustellen, wie der Mann wohl ausgesehen haben mochte. »Na ja, auf jeden Fall ist er dann gestorben, und seine Schwester musste dafür sorgen, dass er … Na, Sie wissen schon. Er konnte ja schlecht im Bett bleiben.«

»Du lieber Himmel.«

»Das können Sie laut sagen. Hatten Sie je solchen Liebeskummer, dass Sie nicht mehr aufstehen wollten?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Mit meinem Mann ist’s ja auch nicht immer leicht, das sag ich Ihnen. Wie ein Waldschrat soll er ausgesehen haben.«

»Wer? Ihr Mann?« Ruth musste lachen, nickte dann aber. »Nein, ich versteh schon.«

»Hat in allen Zeitungen gestanden. Ich bin baff, dass Sie das nicht gelesen haben.«

Wozu?, dachte Ruth. Ich habe doch Sie.

Frau Zimmermann kam regelmäßig zum Nachschneiden, Waschen und Legen und jedes Vierteljahr zum Nachblondieren. Durch ihren Beruf und sicher auch durch eine angeborene Neugier war sie über alles, was sich in der Gegend tat, auf dem Laufenden.

Vor einiger Zeit hatte sie erzählt, sie hätte von einem Bekannten eines Bekannten gehört, dass Uschi Nerke, die junge Moderatorin des »Beat-Clubs«, auf der Helenenstraße gesehen worden war. Und nicht als Spaziergängerin. In einem durchsichtigen Negligé hätte sie in einem der Schaufenster gesessen.

Elfriede Zimmermann hatte so laut gesprochen, dass es mucksmäuschenstill im Salon geworden war.

Kurt hatte zu schneiden aufgehört, und er und sein Kunde fragten gleichzeitig: »Im Schaufenster?«

»Im Schaufenster.« Sie nickte, sichtlich erfreut über das Interesse, das man ihr und ihrer unglaublichen Geschichte entgegenbrachte. »Saß dort und hat auf Kundschaft gewartet.«

»Uschi Nerke?«, fragte Marianne fassungslos. »Das kann nicht sein, sie studiert doch Architektur.«

»Vielleicht studiert sie die besondere Architektur in der Helenenstraße«, hatte Kurt trocken gemeint und damit für große Heiterkeit gesorgt.

Auch Ruth hatte damals mitgelacht, aus Getratsche hielt sie sich ansonsten aber lieber heraus. Gerüchte machten schnell die Runde, und jeder dichtete etwas hinzu, sodass am Ende niemand mehr wusste, wer was wann behauptet hatte.

Wenig später hatte sich dann auch herausgestellt, dass der Bekannte des Bekannten von Elfriede Zimmermann sich schlicht und einfach getäuscht hatte. Was sie lapidar mit »Kann ja mal vorgekommen, die Frau im Schaufenster hatte auch so lange, glatte dunkle Haare« kommentiert hatte.

Da war das Gerücht, Uschi Nerke arbeite tagsüber als Prostituierte, bereits durch halb Bremen geschwappt und möglicherweise sogar der Moderatorin selbst zu Ohren gekommen.

»Sachen gibt’s«, sagte Ruth nun und schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben.«

»Ich hab’s von einer Nachbarin gehört und die hat’s von einer früheren Bekannten.«

Ruth grinste in sich hinein. Von der Bekannten einer Nachbarin, soso.

Frau Zimmermann nahm die Illustrierte und begann zu blättern.

Das war für Ruth das Zeichen, still weiterzufrisieren und erneut ihren Gedanken freien Lauf lassen zu können.

Sie stellte sich vor, wie sie im Sommer in einem Auto durch Bremen brausen würde. Sie hatte Ende letzten Jahres mit dem Führerschein begonnen, und vielleicht würde sie sich irgendwann einen schicken kleinen Gebrauchtwagen leisten können.

3.

Marianne

Während Frau Zimmermann die verrückte Geschichte von dem unglücklich verliebten Mann erzählte, hatte Marianne am Nebenwaschbecken gestanden und zugehört. Ein Mann, der sich aus lauter Liebeskummer ins Bett legt und jahrzehntelang nicht mehr aufsteht? Im Leben nicht!

Sie teilte einzelne Strähnen ab und toupierte weiter.

»Ich schlafe neuerdings auf Wicklern«, erzählte ihre Kundin mit einem Seufzen. »Mein Mann sagt, es käme ihm manchmal vor, als läge ein Marsmensch neben ihm.«

Marianne lachte, trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schief, um den Hinterkopf der Kundin zu betrachten.

Sie nahm die Schere aus der Kitteltasche, schnitt am Nacken etwas nach und reichte Frau Rollnick eine Illustrierte, ehe sie ihr Haar mit reichlich Haarspray fixierte. Anschließend nahm sie ihr den Umhang ab und war beim Aufstehen behilflich.

Sie bedankte sich für die Münze, die Frau Rollnick ihr in die Kitteltasche steckte.

»Dann bis in vier Wochen, Marianne.«

Sie begleitete sie zum Tresen und wartete, bis ihre Mutter die Kasse geschlossen hatte und Frau Rollnick gegangen war. »Ich habe Frau Schuster dazwischengenommen und vergessen, sie einzutragen.«

Ihre Mutter schaute in den Terminkalender. »Richtig, du hast es wieder vergessen.«

Wieder. Das war typisch, ständig musste sie übertreiben.

»Wie viel Trinkgeld hast du bekommen?«

Marianne biss sich auf die Unterlippe. Diesmal gar nichts, könnte sie sagen, stattdessen nahm sie das Geldstück und ließ es demonstrativ auf den Tresen fallen. Es waren zwanzig Pfennig.

Ihre Mutter nahm es und steckte es in das Porzellansparschwein, das im Regal hinter ihr stand. »Bist du heute Abend zum Essen da? Ich wollte mal wieder Toast Hawaii machen.«

»Nein, ich bin verabredet.« Sie hatte weder Lust auf Toast Hawaii noch auf das miesepetrige Gesicht ihrer Mutter.

Dabei verstand Marianne sie ja. Sie selbst hatte der Tod des Vaters auch furchtbar getroffen, und sie vermisste ihn jeden Tag. Wenn sie wenigstens mit ihrer Mutter darüber sprechen könnte. Sie sollten sich gegenseitig trösten, sich zuhören. Doch sobald ihre Mutter nur die Worte »Papa« und »Tod« hörte, blockte sie ab. Sie schottete sich regelrecht ab, gegen alles und jeden.

Sagte man nicht: Geteiltes Leid ist halbes Leid?

Von wegen. Marianne hatte den Eindruck, als beanspruche ihre Mutter das Leid ganz allein für sich, und schloss sie damit aus.

Die Tür ging auf, und Michael Brandes, der Handwerker, kam herein. Ein junger, gut aussehender Bursche mit langen Koteletten und dunklem Haar, in das sie liebend gern gegriffen hätte. Sie musste sich jedes Mal beherrschen.

»Tag, die Damen.« Er lupfte seine Schiebermütze und zwinkerte ihr flüchtig zu.

»Die Klingel ist schon wieder kaputt«, begrüßte ihre Mutter ihn mit vorwurfsvollem Unterton. »Marianne? Kümmere dich um die Kunden, ja?«

»Es sind gerade keine da.« Und sag mir nicht dauernd, was ich tun oder lassen soll!

Ihre Mutter verzog den Mund, wie sie es gern tat, wenn sie ärgerlich oder verdrossen war. Und eins von beidem war sie leider viel zu oft.

Brandes brachte sich mit einem vernehmlichen Räuspern wieder in Erinnerung. »Dann will ich mal.« Er stellte die Trittleiter auf, die er mitgebracht hatte, und stieg die drei Sprossen hoch.

Während er an der Türglocke hantierte, die weiterhin keinen Mucks von sich gab, sah Marianne ihm zu. Ein bisschen erinnerte er sie an den Schauspieler Thomas Fritsch, beide hatten dieses jungenhafte, freche und unbekümmerte Lächeln.

»Reichen Sie mir mal den kleinen Hammer?«, bat er.

»Meine Tochter ist nicht Ihr Handlanger, Herr Brandes«, wies ihre Mutter ihn zurecht.

Da hatte Marianne sich bereits gebückt und einen Hammer aus dem Werkzeugkoffer genommen.

»Nicht den, den anderen gleich daneben.«

Ohne von ihrer Mutter Notiz zu nehmen, reichte sie ihm den anderen Hammer.

»Besten Dank auch.«

»Gern geschehen.«

Der Blick, den sie sich zuwarfen, war elektrisierend, und Marianne spürte, wie ihr Gänsehaut die Wirbelsäule hochkroch. Sie flirteten gern miteinander, wenn er hier war, und seit die Klingel so störrisch war, kam er regelmäßig. Es machte ihr Spaß, so ungeniert zu flirten, weil es unverbindlich war. Aus ihr und Michael Brandes würde in hundert Jahren kein Paar werden. Sie war auch gar nicht auf einen festen Freund aus, sie genoss ihre Freiheit und das fröhliche, unbeschwerte Leben inmitten ihrer Clique.

Ihre Mutter schnaubte und verschwand im Büro, das links vom Frisierbereich lag. Von dort ging es in eine Art Nebentrakt mit einer Treppe, die in die obere Wohnung führte, in der sie und ihre Mutter wohnten.

Marianne wünschte, sie könnte endlich ausziehen, ein eigenes Leben führen, selbst bestimmen. Doch erstens fehlte ihr dazu das Geld und zweitens leider auch der Antrieb. Seit dem Tod ihres Vaters konnte sie sich oft kaum aufraffen, morgens aufzustehen und hinunter in den Salon zu gehen. Sie war ein Papa-Kind gewesen, und es kam ihr vor, als hätte sein Tod sie in zwei ungleiche Teile zerrissen, die nicht mehr zusammenpassen wollten. An den Wochenenden musste sie oft von ihrer Freundin überredet werden, mit in den Club oder in eine Kneipe zu kommen. Wenn sie dann erst mal dort war, konnte sie sich sogar amüsieren, tanzte ausgelassen und hatte Spaß. Sobald sie aber wieder heimkam und ihr allein beim Blick auf die Schuhe im Flur wieder bewusst wurde, dass ihr Vater nicht mehr da war, sackte sie in sich zusammen. Als entweiche auf einen Schlag alles Leben aus ihr. Sie brauchte jedes Mal eine Weile, um wieder aus diesem Tal herauszufinden.

Ihrer Mutter schien das nach wie vor nicht zu gelingen.

Ruth kam um die Ecke und bremste mit einem »Huch!« abrupt ab. Um ein Haar hätte sie die Trittleiter samt Brandes umgelaufen.

»Herr Brandes. Sie schon wieder.« Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln.

»Ja, ich schon wieder.« Er lächelte zurück.