Der Salon in der Neustadt - Caroline Jansen - E-Book

Der Salon in der Neustadt E-Book

Caroline Jansen

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Beschreibung

Alles neu machen die Siebziger: Marianne hat ihren eigenen Friseursalon eröffnet und bringt ordentlich Schwung in die Bremer Neustadt. Laute Disco-Musik mischt sich mit fröhlichem Geplauder, während Marianne in Mini-Rock und Plateauschuhen frisiert. Und sie hat Großes vor: Ab sofort ist auch männliche Kundschaft in ihrem Salon willkommen. Wenn die Herren nur nicht so zögerlich wären, sich von einer Frau bedienen zu lassen. Marianne merkt, dass ihr die Arbeit im Salon über den Kopf zu wachsen droht. Zum Glück ist da noch Felix, mit dem sie nach anfänglichen Schwierigkeiten auf Wolke sieben schwebt. Doch während die beiden ihre Liebe genießen, erhält Mutter Gisela eine niederschmetternde Diagnose vom Arzt und sie denkt nicht daran, ihrer Tochter davon zu erzählen …

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Der Salon in der Neustadt

Die Autorin

Caroline Jansen wurde Anfang der 1960er Jahre in Bad Oeynhausen geboren. Sie hat einige Jahre in Bremen gelebt und dort im Viertel gearbeitet. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in einem kleinen Ort südlich von Bremen.

Das Buch

Lockenwickler, Haarspray, Klatsch und Tratsch und große TräumeAlles neu machen die Siebziger: Marianne hat ihren eigenen Friseursalon eröffnet und bringt ordentlich Schwung in die Bremer Neustadt. Laute Disco-Musik mischt sich mit fröhlichem Geplauder, während Marianne in Mini-Rock und Plateauschuhen frisiert. Und sie hat Großes vor: Ab sofort ist auch männliche Kundschaft in ihrem Salon willkommen. Wenn die Herren nur nicht so zögerlich wären, sich von einer Frau bedienen zu lassen. Marianne merkt, dass ihr die Arbeit im Salon über den Kopf zu wachsen droht. Zum Glück ist da noch Felix, mit dem sie nach anfänglichen Schwierigkeiten auf Wolke sieben schwebt. Doch während die beiden ihre Liebe genießen, erhält Mutter Gisela eine niederschmetternde Diagnose vom Arzt, und sie denkt nicht daran, ihrer Tochter davon zu erzählen …

Caroline Jansen

Der Salon in der Neustadt

Frauen wie wir. Roman

Ullstein

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

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15.

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20.

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29.

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46.

47.

48.

49.

50.

Ein paar Worte zum Schluss

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

Anleitung

Sehnsucht ist der Wünsche Flug.

A. de Nora

1.

Bremen im Sommer 1975

Marianne

Der Fuß der Kundin wippte im Takt von ABBAs aktuellem Hit »SOS« mit, während Marianne Rundbürste und Haartrockner aus der Ablage neben dem Waschbecken nahm. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor dem Fernseher mitgefiebert hatte, als die schwedische Popgruppe im Jahr zuvor den Grand Prix Eurovision gewann. Endlich mal kein Schlager, sondern ein erfrischender Popsong, hatte sie gedacht.

Dorothea Bentheim, seit dem vergangenen Jahr Stammkundin in ihrem Salon, kannte das nun folgende Prozedere. Ohne Aufforderung beugte sie sich vor, und Marianne begann, ihr frisch blondiertes, schulterlanges Haar gegen den Strich zu föhnen. So erhielt es ordentlich Volumen und musste anschließend nur noch mit Haarspray fixiert werden. Mit sehr viel Haarspray.

Fertig war die Farah-Fawcett-Mähne. Sie und andere Schauspielerinnen wie Olivia Newton-John und Bo Derek gehörten zu den zurzeit sehr angesagten Stilikonen.

Auch der Afrolook der Disco-Queen Donna Summer war äußerst beliebt. Für die Kundinnen bedeutete das stundenlanges Stillsitzen, während Haarsträhne um Haarsträhne mit Festiger besprüht, wie eine Kordel eingedreht und auf Papilloten gewickelt wurde.

Marianne dagegen mochte es unkompliziert. Sie trug ihr langes blondes Haar glatt und bis zur Taille.

Sieben Jahre war es nun her, dass sie London den Rücken gekehrt hatte und nach Bremen zurückgekommen war. Über ein Jahr hatte sie gebraucht, um das Vergangene – die straff durchorganisierten Tage und die strenge Reglementierung als Mannequin – hinter sich zu lassen. Noch Wochen nach ihrer Rückkehr war sie morgens regelmäßig aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte panisch auf den Wecker geschaut. Oft war sie aus dem Bett gesprungen, und erst im Bad beim Blick in den Spiegel war ihr wieder eingefallen, dass sie nicht mehr in London war. Ihr Leben als Mannequin und Fotomodell war vorbei.

Wie alle junge Frauen, die es auf den Laufsteg zog, war Marianne durch eine harte Schule gegangen. Das jedoch hatte sie eiserne Selbstdisziplin, Pflichtbewusstsein, Fleiß und Durchhaltevermögen gelehrt; Eigenschaften, von denen sie auch heute noch profitierte.

Ihre Einstellung zu Beziehungen, Familie und Freundschaft hatte sich ebenfalls verändert. In London hatte sie schmerzhaft feststellen müssen, wie schnell die Welt sich dreht, wie schnell man ganz oben und auch wieder ganz unten sein konnte.

Zurück in ihrer Heimatstadt, hatte sie viel über sich und ihre Zukunft nachgedacht, bis ihr klar geworden war, dass sie wieder als Friseuse arbeiten wollte. Ruths Mann Rainer hatte ihr eine Stelle in seinem Salon angeboten, doch sie hatte dankend abgelehnt. Auch wenn es sie gereizt hätte, wieder mit Ruth zusammenzuarbeiten.

Stattdessen hatte sie überlegt, ob sie den früheren Familiensalon wieder eröffnen sollte. Nach dem Brand damals hatte ihre Mutter ihn schließen müssen. Ein Grund: Er war unterversichert gewesen. Ein weiterer Grund – vielleicht sogar der ausschlaggebende: Ihre Mutter wollte ihn gar nicht weiterführen. Sie hatte sich all die Jahre vorgemacht, dass sie gern dort arbeitete und der Salon ihr Lebensinhalt war.

In Wahrheit hatte sie sich eingeengt und überfordert gefühlt.

Marianne war Tag für Tag durch die leeren Räume gegangen, hatte sich und Ruth an den Waschbecken gesehen, wie sie sich Blicke im Spiegel zuwarfen. Sie hatte wieder den Geruch von Dauerwellflüssigkeit und Haarspray in der Nase gehabt und das Geplauder der Kundschaft gehört – damals überwiegend ältere Damen aus der nahen Nachbarschaft.

Nach dem Brand hatte ihre Mutter die Räume zwischenzeitig verpachtet. Mal waren sie als Büro genutzt worden, mal als Ausstellungsfläche.

Marianne hatte in sich hineingehorcht: Wollte sie dem alten Salon neues Leben einhauchen? Sie hatte genug Geld verdient, um eine umfangreiche Sanierung und Renovierung durchführen zu lassen. Sie könnte Anzeigen schalten und auf neue Kundschaft setzen: junge, moderne Frauen. Innerhalb kurzer Zeit hätte sich herumgesprochen, dass das ehemalige Mannequin Ann in ihrer Heimatstadt den Familiensalon übernommen und aufgepeppt hatte. Aber wollte sie das alles? Wollte sie nicht vielmehr einen kompletten Neuanfang? In einem anderen, belebteren Stadtteil?

Und dann war ihr eine Zeitungsanzeige aufgefallen: In der Neustadt wurden helle und große Räume verpachtet. Einem Impuls folgend, hatte sie sich gleich auf den Weg gemacht, und schon beim Näherkommen hatte ihr Herz vor freudiger Erwartung und Aufregung geklopft. Das Haus war in einem hübschen Gelbton gestrichen, und es gab zwei riesige Schaufenster, die geradezu danach schrien, ansprechend und auffällig dekoriert zu werden. Sie hatte bereits das Schild über der Eingangstür vor Augen: Anns Salon. Bis dahin hatte sie nicht mal gewusst, dass sie ihn so nennen wollte. Das Schild würde weiß sein, die Buchstaben darauf in einem Sonnenblumengelb.

Als der Makler sie durch die Räume führte, die als Laden für Damen- und Herrenoberbekleidung gedient hatten, war sie im Geiste schon damit beschäftigt, alles umzugestalten und einzurichten. An einer der Wände runde Waschbecken mit Ablageflächen, davor bequeme weiche Sessel, damit die Kundinnen es gemütlich hatten. Über den Waschbecken große Spiegel mit kleinen Lämpchen. An der gegenüberliegenden Wand Regale mit Haarpflegeprodukten und Poster von bekannten Schauspielerinnen und Sängerinnen, an der Decke eine Discokugel, in der das Sonnenlicht funkelte, wenn es durchs Schaufenster fiel. Natürlich würde es eine moderne Stereoanlage und schicke Lautsprecher geben. Mitten im Raum sollten runde Clubsessel stehen, dazwischen kleine orangefarbene Lacktische mit Illustrierten, um den Kundinnen die Wartezeit zu versüßen.

Marianne hatte keine Bedenkzeit gebraucht und sofort zugesagt.

Die Umbauarbeiten hatten mehr als ein halbes Jahr gedauert und fast ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht.

Der Tag der Eröffnung war ein herrlicher Frühlingstag gewesen. Die Magnolien in den Vorgärten hatten geblüht, und die Straßen waren voller Radfahrer und Spaziergänger gewesen.

In der Anfangszeit hatten Marianne und Johanna, die Friseuse, die sie eingestellt hatte, keine Termine vergeben und nur auf Laufkundschaft gesetzt. Doch das funktionierte schon bald nicht mehr, und Marianne hatte eine weitere Friseuse einstellen und feste Termine vergeben müssen. Seitdem waren sie regelmäßig ausgebucht, oft über Wochen hinweg.

»Alles in Ordnung?« Frau Bentheim sah sie im Spiegel an. »Sie haben eben laut geseufzt.«

»Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Entschuldigung, ich war gerade in Gedanken. Sie können den Kopf jetzt wieder heben.«

Ihre Kundin kicherte beim Blick in den Spiegel. Ihr Haar war aufgeplustert wie das Gefieder eines Vogels, der ein Bad genommen hatte. »Was man nicht alles auf sich nimmt, um wenigstens für kurze Zeit wie jemand Berühmtes auszusehen.«

Auch Marianne war von vielen jungen Mädchen kopiert worden. Sie wollten das Haar genauso glatt und seidig tragen, die Augen mit Kajal umrandet, die Lippen mit hellem Lippenstift und die Wangen mit nur ein wenig Rouge betupft. Und was hätten sie für zwei Grübchen am Mundwinkel getan!

Marianne hatte sich geschmeichelt gefühlt, auch wenn sie es nie hatte nachvollziehen können. Sie selbst hatte sich nie als hübsch oder gar aufregend schön gesehen. Als Anthony sie damals in der Lila Eule angesprochen hatte und mit nach London nehmen wollte, war sie vollkommen perplex gewesen. »Du bist was ganz Besonderes«, hatte er gemeint. »Ich kann dich groß rausbringen.« Als Fotograf für namhafte Illustrierte und Modemagazine war er in ganz Europa unterwegs gewesen, auf der Suche nach jungen Mädchen, die das Zeug zum Mannequin hatten. Marianne erinnerte sich noch gut an das entsetzte Gesicht ihrer Mutter, als sie ihr davon erzählt hatte. »Was, wenn er Nacktfotos von dir machen will? Wenn er ein Betrüger ist?«

Doch er hatte weder anzügliche Fotos gemacht noch in irgendeiner Weise übertrieben, als er gemeint hatte, sie groß rauszubringen. Ihm hatte sie zu verdanken, dass sie binnen kurzer Zeit auf den großen Laufstegen und den bekanntesten Zeitschriften zu sehen war.

Inzwischen war der Kontakt zu ihm abgebrochen. Nachdem sie nach Bremen zurückgekehrt war, hatte er hin und wieder angerufen, bis die Anrufe immer seltener geworden waren.

Aber Marianne hatte noch Kontakt zu Mary, mit der sie sich in London ein Apartment geteilt und die als Fotomodell gearbeitet hatte. Mary war mittlerweile verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Wann immer Fotos kamen, war Marianne ganz wehmütig geworden. Sie beneidete Mary.

Wurde sie gefragt, ob sie sich nach ihrem Leben als Mannequin zurücksehnte, lautete ihre Antwort: »Keinen einzigen Tag.« Und das war die Wahrheit. Doch sie wollte die Zeit und die Erfahrung auch nicht missen.

Marianne brachte Frau Bentheims Haar mit dem Stielkamm in Form, zupfte hier und da eine Strähne zurecht und fixierte es anschließend mit Haarspray.

Dann holte sie den Handspiegel und zeigte ihrer Kundin im großen Spiegel über dem Waschbecken Nacken und Seitenpartien. »Und? Sind Sie zufrieden?«

»Und ob.« Die junge Frau strahlte. »Es sieht spitze aus! Vielen Dank, Marianne.«

»Gern geschehen.« Marianne nahm den schwarzen Umhang ab, schüttelte ihn aus und legte ihn neben das Waschbecken.

Sie folgte ihrer Kundin nach vorn zum Glastresen, nahm das Geld entgegen und legte es in die Kasse. »Dann bis in vier Wochen, Frau Bentheim.«

Als die Tür hinter der Kundin mit einem leisen »Pling« zufiel, sah Marianne einen jungen Mann, der die Straße überquerte und vor dem Schaufenster stehen blieb. Die Hände in den Hosentaschen, schaute er sich das große Foto von Olivia Newton-John an. Er sah gut aus, sein Haar war dunkelblond und hätte einen Schnitt vertragen können. Nicht zum ersten Mal ging ihr durch den Kopf, wie gern sie auch männliche Kundschaft haben würde.

Er schlenderte weiter, und sie ging zum Schaufenster und blickte ihm geistesabwesend nach. Warum schaffte sie es eigentlich nicht, eine Beziehung zu führen? Bisher hatte sie regelmäßig nach wenigen Monaten, manchmal auch nur Wochen Reißaus genommen. Ihre letzte Beziehung lag mehr als zwei Jahre zurück und hatte ganze drei Monate gedauert.

War sie schlicht und ergreifend beziehungsunfähig? Oder hatte sie den Mann ihrer Träume nur noch nicht getroffen, wie Ruth meinte? Aber wie sollte sie ihn erkennen? Sie wusste ja nicht mal, wie ihr Traummann sein müsste. Sie wusste nur, dass sich jeder anfangs interessante Mann recht schnell als Langweiler oder Schaumschläger entpuppt hatte.

Marianne dehnte ihr Kreuz. Das lange Stehen und der ständige Frischluftmangel taten ihr nicht gut. Deshalb hatte sie sich ein Fahrrad angeschafft und radelte damit jeden Morgen zum Salon.

Die Tür ging auf, und Ruth kam mit ihrer kleinen Tochter Susanne herein.

»Das ist ja eine nette Überraschung.« Marianne hockte sich hin, um das Mädchen zu begrüßen. »Na, meine Süße, machst du einen Einkaufsbummel mit deiner Mama?«

Das vierjährige Mädchen warf sich in ihre Arme. »Nein, wir wollten dich besuchen.« Sie schnupperte an ihrem Haar und zog die Nase kraus. »Du riechst aber komisch.«

Marianne kitzelte sie. »Komisch? Du kleiner Frechdachs, das ist mein neues Parfüm.«

Ruth lachte. »So was weiß sie erst in ein paar Jahren zu schätzen. Stören wir gerade sehr?«

»Überhaupt nicht. Ich freue mich, dass ihr da seid. Lasst uns nach hinten in die Teeküche gehen.«

Marianne musste nicht erst in den Terminkalender schauen, sie wusste auch so, dass sie in einer Viertelstunde die nächste Kundin hatte. Zeit genug also für einen kleinen Plausch mit ihrer Tante, die immer mehr eine große Schwester gewesen war.

Sie waren zusammen aufgewachsen, es trennten sie nur fünf Jahre Altersunterschied. Ruth war die jüngere Schwester von Mariannes Mutter Gisela. Marianne ging voran in den kleinen Raum neben dem Frisierbereich, und Ruth nahm am Tisch Platz, ihre Tochter auf dem Schoß. Marianne öffnete die Schublade des Schränkchens und nahm einen roten Lutscher heraus. Bevor sie ihn dem Mädchen geben konnte, hatte Ruth ihn blitzschnell an sich genommen. »Nicht vor dem Essen.«

»Entschuldige«, sagte sie zerknirscht.

Es klopfte, und Johanna kam herein. »Frau Becker ist schon da. Ich sage ihr, dass du noch zu tun hast, in Ordnung?«

»Gib ihr einfach die neue Vogue. Ich bin in …« Sie warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr, ein Geschenk ihrer Mutter zur Eröffnung des Salons. » … zehn Minuten bei ihr.«

Johanna nickte und verschwand wieder.

Es war ein Segen, sie zu haben. Sie war zuverlässig und ausgesprochen kreativ, außerdem war sie inzwischen auch so etwas wie eine Freundin geworden. Was ebenfalls ein Segen war. Marianne tat sich schwer, neue Freundschaften zu schließen. Die alte Clique hatte sich in alle Himmelsrichtungen verstreut, doch sie weinte keinem von ihnen nach. Sie hatten sie bereits vergessen, als sie in London gewesen war. Wahrscheinlich waren alle inzwischen die verknöcherten Spießer und Langweiler geworden, über die sie damals hemmungslos hergezogen hatten.

»Warum hat Johanna so rote Haare?«, fragte Susanne und riss sie damit aus ihren Gedanken.

»Weil sie die von ihrer Mama geerbt hat.«

»Rote Haare sind doof.«

»Irrtum, meine Süße, rote Haare sind wunderschön.«

»Ich habe über Giselas Geburtstag nachgedacht«, sagte Ruth.

Marianne hob verwundert die Augenbrauen. Der Geburtstag ihrer Mutter war erst im Herbst. »Jetzt schon?«

»Sie wird fünfzig«, erwiderte Ruth mit bedeutungsvollem Blick.

»Und du findest, den Fünfzigsten sollte man schon weit vorher planen.« Marianne lachte.

»Ganz genau. Ich hab mir gedacht, dass wir ihr einen Urlaub schenken könnten. Ein paar Tage in einem hübschen kleinen Hotel im Schwarzwald. Was meinst du?«

»Das klingt gut. Tust du mir einen Gefallen?«

Ruth nickte. »Ich kümmere mich um alles.«

»Das meinte ich nicht.« Marianne sah sie eindringlich an. »Ich möchte keine große Feier zu meinem Dreißigsten.«

Ruth gab sich überrascht. »Richtig! Du wirst dieses Jahr ja dreißig!«

»Keine große Feier«, ermahnte Marianne sie erneut.

»Keine große oder gar keine?«

»Wenn es nach mir geht, dann gar keine.«

Ruth sah enttäuscht aus. »Wie du meinst.«

»Und ich mein’s ernst, Ruth.«

Die schwenkte rasch um. »Ich buche ein Hotel, und Gisela bekommt einen Gutschein.«

»Früher war sie oft mit meinem Vater im Schwarzwald.« Marianne lächelte traurig. Ihr Vater fehlte ihr noch immer, sie träumte auch noch manchmal von ihm. In jedem Traum war sie wieder ein kleines Mädchen.

Sie stand auf. »Ich muss weitermachen. War schön, dass ihr da wart.«

Als Ruth an ihr vorbeiging, raunte sie: »Darf ich ihr den Lutscher mitgeben? Für später?«

Ruth nickte. »Du darfst.«

Sie steckte dem Mädchen den Lolli in die Hosentasche und strich ihm übers Haar. Eine flüchtige Welle von Sehnsucht durchströmte sie, der sie jedoch keine große Beachtung schenkte.

2.

Ruth

Sie blieb vor der Tür stehen und zog ihrer Tochter die Strickjacke an. Von Sommer war heute nicht viel zu spüren. Ein kühler, recht ungemütlicher Wind wehte, und der Himmel war voller grauer, tief hängender Wolken.

Ruth taten die Füße vom Laufen weh, sie hätte bequemere Schuhe anziehen sollen. Sie warf einen raschen Blick ins Schaufenster und versuchte, ihr Haar zu glätten, das der Wind durcheinandergepustet hatte. Ihr Blick fiel auf die aufwendige Dekoration. Der Schaufenstergestalter hatte wieder ganze Arbeit geleistet, er war in der Tat »jeden Pfennig wert«, wie Marianne gemeint hatte. Sie betrachtete den großen Papp­aufsteller, auf dem Olivia Newton-John zu sehen war. Daneben stand eine orangefarbene Vase mit gelben und weißen Blumen – Ranunkeln? –, rechts davon ein Schild mit der Aufschrift »Der Sommer ist da – und die neuen Frisuren!«.

Als Marianne den Salon eröffnet hatte, waren die Reporter in Scharen gekommen.

Das ehemalige erfolgreiche Mannequin Marianne König ist die neue Inhaberin von Anns Salon in der Kornstraße, hatte in einer Zeitung gestanden. Ihr Großvater Johann Fellbach hatte nach dem Krieg den Frisiersalon am Rosenplatz gegründet, der inzwischen leer steht. Schaut man seine junge Enkelin an, weiß man, was man von ihrem Salon, der nun ein reiner Damensalon ist, zu erwarten hat: moderne Frisuren für moderne Frauen.

»Komm, Mama, nicht träumen.« Ihre Tochter griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. »Darf ich ein Eis haben?«

»Bei dem Wetter?« Ruth musste lachen. »Natürlich darfst du. Komm.«

Die Eisdiele war nur ein paar Schritte entfernt.

Während sie dorthin schlenderten, schweiften Ruths Gedanken ab. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob Marianne glücklich war. Ihre Nichte hatte eine Menge erreicht, sie führte einen großen modernen Salon mit inzwischen drei Mitarbeiterinnen und lebte in einer gemütlichen Eigentumswohnung am Osterdeich. Aber privat hatte sie ihr Glück noch nicht gefunden.

»Träumst du, Mama?« Ihre Tochter sah sie an und zeigte auf das Eisschild an der Eisdiele. »Darf ich Schoko und Zitrone?«

»Ich dachte, Banane ist deine Lieblingssorte.«

»Heute nicht.«

Ruth lächelte kopfschüttelnd, bestellte zwei Eis bei dem freundlichen, stets lächelnden jungen Mann, der für den Straßenverkauf zuständig war, und reichte ihrer Tochter die Eiswaffel. »Pass auf, es tropft.«

Die Straßenbahn, die sie nach Findorff bringen würde, fuhr ratternd an ihr vorbei.

»Jetzt ist sie weg.« Ihre Tochter schaute ihr hinterher.

»Wir nehmen die nächste.« Ruth warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In einer Viertelstunde.«

Sie überquerten die Straße und setzten sich auf die Bank an der Haltestelle.

Nach der Geburt ihrer Tochter hatten sie und Rainer ein Altbremer Haus in Findorff gekauft. Es gab sogar einen Garten, den sie hingebungsvoll hegte und pflegte. Sie hatte nicht mal geahnt, wie viel Spaß es ihr machen würde. Sogar Blumenkästen für die Fenster hatte sie angeschafft, die im Frühjahr üppig bepflanzt wurden, und es kam nicht selten vor, dass jemand vor dem Haus stehen blieb und die bunte Blütenpracht bewunderte. Für ihre Tochter und Sohn Stefan war der Garten ein herrlicher Spielplatz, auch wenn er nicht sehr groß war.

Als sie in die Straßenbahn stiegen, war Ruth froh, sich endlich setzen zu können. Ihre Füße brannten.

Auf dem Platz neben ihnen blätterte eine ältere Dame in der Tageszeitung. Ruth erhaschte einen Blick auf eine der Schlagzeilen: Täter des Bombenattentats noch immer nicht gefasst.

Im Dezember letzten Jahres war im Hauptbahnhof eine Bombe hochgegangen, die in einem Feuerlöscher versteckt gewesen war. Sechs Menschen waren schwer verletzt worden.

Ruth war an dem Tag mit ihrer Freundin Rosemie in einem Kaufhaus in der Obernstraße gewesen, als ein ohrenbetäubender Knall alle in Angst und Schrecken versetzt hatte. Niemand wusste, was passiert war, vor allem wusste man nicht, wo. So hatte es ein furchtbares Durcheinander gegeben, alle hatten geschrien und waren zu den Ausgängen gelaufen. Worte wie »RAF« waren gefallen, und Ruth hatte Rosis Hand genommen und sie nach draußen gezogen. Weg, nur weg aus dem Kaufhaus, in dem sie möglicherweise in einer Falle saßen.

Erst später, als sie zum Domshof geeilt waren, um heimzufahren, hatten sie erfahren, was geschehen war. Dass es ein Bombenattentat am Hauptbahnhof gegeben hatte. Ob die Rote-Armee-Fraktion etwas damit zu tun hatte, wusste man nicht. Zuzutrauen wäre es ihr, immerhin gingen bereits mehrere Attentate auf ihr Konto. Doch bislang hatte sich niemand zu dem Anschlag auf den Hauptbahnhof bekannt.

»Sollen die doch alle verrecken.« Die Frau schnaubte angewidert. »Hungerstreik! Wieso lassen sie die nicht einfach verhungern?«

Ruth schaute rasch aus dem Fenster, ehe die Frau womöglich auf die Idee kam und sie in ein Gespräch über terroristische Machenschaften verwickelte.

»Mami? Schläft die Sonne, wenn es dunkel ist?«

Über das Gesicht ihrer Nachbarin huschte ein Lächeln. »Sind sie in diesem Alter nicht ganz entzückend?«

Vergessen waren der Bombenanschlag und die RAF.

3.

Marianne

Es war ein unerträglich schwüler Tag, und sie hatte ihren spontanen Einfall, an diesem Montagnachmittag einen Einkaufsbummel zu machen, schnell bereut. In den Kaufhäusern war es stickig und kaum auszuhalten. Lustlos war sie durch die Gänge geschlendert und hatte schließlich zwei Schlaghosen und eine helle Polo-Bluse gekauft. Eigentlich wollte sie nach einem Overall Ausschau halten, die in diesem Jahr ein modischer Renner waren. Doch ihr war die Lust vergangen, sie hatte nur noch an die frische Luft gewollt. Eine der Schlaghosen war ihr am Bund zu weit, ein Kauf, den sie sehr wahrscheinlich bald schon bereuen würde.

Ich bitte Mama, mir den Bund etwas enger zu machen, dachte sie, als sie mit einem Eis am Stiel zu den Rathausarkaden ging. Dort war es einigermaßen kühl, und die Plätze waren heiß begehrt. Als sie näher kam, sah sie, dass ein älteres Ehepaar aufstand, und beschleunigte den Schritt. Erleichtert ließ sie sich auf die Bank fallen und streckte die Beine aus. Ihre Fußsohlen brannten in den Sandaletten, die Knöchel waren geschwollen.

Sie warf einen Blick in eine der Einkaufstüten. Die Bluse war hübsch und passte zu Röcken genauso wie zu Hosen. Sie mochte Kleidungsstücke, die sich gut kombinieren ließen. In dieser Hinsicht war sie praktisch und sparsam veranlagt.

Marianne schlug die Beine übereinander und bewegte die Zehen in ihren Sandaletten. Was für eine irrwitzige Idee, ausgerechnet heute Klamotten kaufen zu wollen. Sie hätte zum Werdersee fahren und sich in die Sonne legen sollen. Oder auf ihren Balkon, wo es bei jedem Wetter gut auszuhalten war.

Eine Frau ging an ihr vorbei, blieb stehen, drehte sich halb zu ihr um und schien zu überlegen.

Marianne blinzelte in die Sonne. Täuschte sie sich, oder kam die Frau ihr bekannt vor? Das Eis tropfte an ihrem Handgelenk herunter, und sie leckte es ab.

»Marianne?« Die Frau war näher gekommen und vor ihr stehen geblieben. »Bist du’s wirklich?«

»Ja«, sagte sie. »Aber wer bist du?«

»Menschenskind, du bist es wirklich!« Die Frau setzte sich ungefragt neben sie. »Ich bin Doris.«

»Doris? Meine Güte, ist das lange her!« Sie war froh, dass ihre frühere Freundin nicht auf eine Umarmung bestand. Es wäre ihr seltsam, irgendwie unpassend vorgekommen. Sie hatten sich in den ersten Monaten, nachdem Marianne nach London gegangen war, nur hin und wieder geschrieben, bis die Briefe schließlich ausgeblieben waren.

Doris schaute sie neugierig an. »Und? Erzähl, wie war’s in London?« Als hätten sie ein paar Wochen zuvor noch telefoniert.

»Ich bin schon seit über sieben Jahren wieder hier.«

»Im Ernst? So lange schon?« Doris stöhnte und fächelte sich Luft mit einer zusammengerollten Zeitung zu. »Mensch, ist das heiß!«

Da sehen wir uns Jahre nicht und schwatzen über das Wetter?

Aber worüber sollten sie auch sonst sprechen?

»Wohnst du noch hier in Bremen?« Marianne zerknüllte das Eispapier und warf es in den Mülleimer neben der Bank.

Doris nickte träge und nahm eine Sonnenbrille aus ihrer Handtasche. »Bin hiergeblieben, wie die meisten von uns. Ich wohne inzwischen in Oberneuland.«

Marianne hob die Augenbrauen. »Wie nobel.«

Oberneuland war eine feine Wohngegend mit schicken Einfamilienhäusern und Villen.

»Mein Freund kommt von dort.« Doris hatte sich zurückgelehnt. Sie trug eine weite Folklorebluse mit kurzen Ärmeln, die teuer gewesen sein musste. Dafür hatte Marianne inzwischen einen Blick. Auch der lange Rock war bestimmt kein Schnäppchen im Schlussverkauf gewesen. Früher hatte Doris sich nie besonders für Mode interessiert, Kleidung sollte vor allem bequem und praktisch sein.

»Wollt ihr heiraten?«, hörte Marianne sich fragen und wunderte sich. Es interessierte sie doch gar nicht. Sie hatte nur irgendetwas sagen wollen. Small Talk nannte man das in England. Gab es in Deutschland ein Wort dafür?

»Heiraten? Wieso fragst du mich das? Nein, ich will nicht heiraten. Kinder will ich auch nicht. In diese bekloppte Welt sollte man keine Kinder setzen. Und du? Kein Ring am Finger?«

»Nein.«

»Und Kinder?«

»Auch nicht.«

»Du hast einen Frisiersalon in der Kornstraße, hab ich gehört, besser gesagt gelesen. Stand ja in allen Zeitungen. Die berühmte Ann will den verstaubten Salon ihres Opas nicht wieder aufmachen und eröffnet einen todschicken Damensalon.«

So hatte das ganz bestimmt in keiner Zeitung gestanden.

»Und was machst du beruflich?«, fragte Marianne, dabei interessierte sie auch das nicht.

»Ich arbeite an der Uni. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin.«

Viel konnte sie sich darunter nicht vorstellen, aber sie hatte auch keine Lust nachzufragen. »Dann hast du doch noch studiert?« Damals hatte Doris sich vor allem fürs Tanzengehen interessiert.

»Ja, ich hatte keine Ahnung, was ich sonst tun sollte.«

Ein unangenehmes Schweigen entstand.

Schließlich stand Marianne auf und nahm ihre Einkaufstaschen.

»Ich muss weiter. Meine Bahn kommt gleich. Mach’s gut.«

Sie spürte Doris’ Blicke prickelnd in ihrem Rücken.

Sie hatte eine weitere Erkenntnis gewonnen: Nicht alle Menschen veränderten sich zu ihrem Vorteil.

Sie freute sich auf eine erfrischende Dusche und etwas Eiskaltes zu trinken. Danach würde sie sich mit einem Salat vor den Fernseher setzen und ihre Lieblingsserie schauen, die lustigerweise Die schöne Marianne hieß.

4.

Gisela

Sie saß im Salon ihrer Tochter in ihrem Büro am Schreibtisch und war für einen Moment gedanklich abgeschweift. Als Marianne sie gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könnte, die Buchhaltung zu machen, wollte sie erst ablehnen.

Das Schneidern und Gärtnern gefiel ihr so gut, dass sie keine andere Beschäftigung brauchte. Der Garten hinter ihrem Haus war klein, sehr klein, aber er brauchte Hege und Pflege. All die Jahre hatte sie ihn vernachlässigt, wie so vieles andere, und seit sie damit begonnen hatte, war sie gar nicht mehr zu bremsen.

Mit den Sachen, die sie nähte, gestaltete sie regelmäßig die Wohnung um. Langeweile kannte Gisela nicht mehr, und ihr gefiel ihr Leben, das sie sich nach ihren Vorstellungen und Wünschen eingerichtet hatte. Hin und wieder ging sie mit Hannelore tanzen, manchmal ins Kino oder Theater.

Sie hatten auch schon Wochenendausflüge nach Hamburg oder Lübeck unternommen, waren dort in die Oper gegangen oder hatten eine Ausstellung besucht. »Für so was ist Wilfried nicht zu haben«, hatte ihre Freundin gemeint. »Außerdem macht es mit dir mehr Spaß.«

Gisela war auch mit Begeisterung Tante, sie hatte einen Narren an Ruths Kindern gefressen.

Sie lächelte in sich hinein und versuchte, sich wieder auf die Bilanz zu konzentrieren, die vor ihr lag. Früher hatte sie das aus dem Ärmel geschüttelt, inzwischen kostete es sie mitunter Anstrengung und eiserne Disziplin. Die Vorlieben hatten sich geändert, sie war jetzt viel lieber draußen oder in ihrem Nähzimmer, als im Büro über Zahlen zu brüten.

Jemand klopfte ans Fenster. »Juhu, Gisela, ich bin’s!« Hannelore.

Sie stand auf und öffnete die Eingangstür des Salons, der wie jeden Montag geschlossen war. »Hannelore! Was für eine schöne Überraschung.«

Sie küssten sich auf die Wange, und das teure Parfüm ihrer Freundin stieg Gisela in die Nase. Sie schloss die Tür wieder und ging voran.

»Ich war schon bei dir zu Hause. Ich hab vergessen, dass du montags hier im Büro bist. Und, schon fertig?« Hannelore deutete auf die beiden Aktenordner auf dem Schreibtisch.

»So gut wie.«

»Ich dachte, ich entführe dich zu einem kleinen Abendessen.«

»Das klingt fantastisch.« Wenn ihr Magen mitspielte. Seit Jahren hatte sie mit Magenproblemen zu kämpfen.

Sie konnte die Finger leider auch nach wie vor nicht von Zigaretten lassen, hatte es wieder und wieder versucht. Doch in dieser Hinsicht machte ihre Selbstdisziplin ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie war jedes Mal wieder schwach geworden.

»Du siehst ganz grau aus«, meinte Hannelore. »Warst du heute schon an der frischen Luft?«

»Nein, Mama.«

»Was hältst du von dem neuen Italiener im Ostertor?«

»Ich war noch nie dort. Aber du hast mich schon überzeugt.« Sie suchte ihre Sachen zusammen und ließ den Schreibtisch so, wie er war. Sie würde am nächsten Tag weitermachen. Das war das Schöne, wenn man keinerlei Verpflichtungen mehr hatte. Man konnte tun und lassen, was und wann man wollte. Marianne war es egal, ob die Buchhaltung einen Tag früher oder später fertig werden würde, wichtig war nur, dass sie pünktlich fertig wurde.

»Pizza?«, fragte Gisela verblüfft, als sie wenig später am Tisch saßen. Neuerdings war es schick und angesagt, in einer Pizzeria zu essen, wie die italienischen Lokale hießen, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.

»Ich hab noch nie Pizza gegessen«, gab sie zu.

»Dann wird’s Zeit. Ich nehme eine mit Artischocken«, sagte Hannelore, ohne einen Blick in die Speisekarte geworfen zu haben.

»Artischocken hab ich auch noch nie gegessen.« Gisela musste lachen. »Wonach schmecken sie?«

Hannelore überlegte. »Salzig.«

»Na schön, ich werde sie einfach probieren.«

Ein Mann mit dunklem Schnauzbart und geöltem Haar war an ihren Tisch getreten. »Was darf ich Ihnen bringen?«

»Zwei Pizza mit Artischocken, dazu eine kleine Karaffe von diesem leckeren süßlichen Weißwein, der so leicht prickelt.«

»Frizzantino.« Er lächelte.

»Und ich nehme bitte ein großes Glas Mineralwasser.« Gisela legte verstohlen die Hand auf ihren Magen.

Hannelore hatte es trotzdem gesehen. »Schon wieder dein Magen? Warum versuchst du nicht auch mal diese Tabletten … Warte, wie heißen sie noch? Wilfrieds Arzt hat sie ihm aufgeschrieben. Sie sind gegen Übersäuerung. Vielleicht ist dein Magen auch übersäuert. Am besten, du gehst mal zum Arzt, Gisela.«

Sie winkte ab. »Ach, warum denn? Mein Magen hat schon immer rumort, ich kenne das gar nicht anders. Der eine hat ständig Husten, der andere Heuschnupfen und ich eben Magengrummeln.«

Hannelore legte sich die Serviette in den Schoß und seufzte wohlig, als ihr Wein gebracht wurde. Sie schenkte sich ein, wartete, bis Giselas Wasser ebenfalls auf dem Tisch stand, und hob ihr Glas. »Auf uns.«

»Auf uns, Hannelore. Auf unsere Freundschaft, die jetzt schon seit … Du meine Güte, wie lange eigentlich?«

»Seit unserer Schulzeit. Eine Ewigkeit also. Wie geht es im Übrigen deinem Bruder?«

Gisela trank einen Schluck. Kurt meldete sich unregelmäßig, manchmal vergingen Monate, bis sie wieder etwas von ihm hörte. Für sie jedoch ein Zeichen, dass es ihm gut ging. Er und Beatrix waren inzwischen verheiratet und schienen glücklich zu sein. »Ich habe eine Weile nichts mehr von ihm gehört, aber das kenne ich ja. Ich nehme an, dass es ihm gut geht.«

»Und Ruth? Und ihren Kleinen?«

»Kleinen?« Sie lachte. »Das lass Stefan lieber nicht hören. Er ist ein großer Junge, pfiffig und frech. Und Susanne ist ein aufgewecktes, niedliches Mädchen. Sie will Friseuse werden wie Ruth.«

»Du vergötterst die beiden.«

»Und ob.« Wenn sie ihren Neffen vor sich sah, hatte sie oft den Sohn vor sich, den sie und Dietmar nicht haben durften. Eine Wunde, die vielleicht nie so ganz heilen würde. Aber sie hatte gelernt, damit zu leben. Wie mit so vielem anderen.

»Bist du noch immer fest entschlossen, dich scheiden zu lassen?«, fragte sie Hannelore.

»Entschlossener denn je.« Nach all den Jahren, in denen ihr Mann sich etliche Eskapaden geleistet hatte, war sie endlich dazu bereit. »Und weißt du, was Wilfried gestern gesagt hat?« Sie schnaubte. »›Du kannst doch nicht alles wegwerfen, Lörchen.‹ Lörchen.« Sie schnaubte erneut. »Wenn er mich schon so nennt.«

»Du wirfst nicht alles weg, lass dir das bloß nicht einreden. Du hast nur sein ständiges Fremdgehen satt.«

»Aber er kann auch sehr lieb sein.«

Gisela verdrehte die Augen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Wir sind so lange verheiratet, Gisela …«

»Sag jetzt bitte nicht, dass du doch wieder einknickst?«

Es dauerte einen Moment, bis Hannelore den Kopf schüttelte. »Nein, du hast ja recht. Ich hab mir das lange genug angesehen.«

Das Essen wurde gebracht, und Gisela betrachtete ein wenig skeptisch die Pizza vor sich. Aber auch das hatte sie gelernt: Stell dich dem Neuen, und du kannst positiv überrascht werden.

Als sie nach dem Essen nach Hause schlenderte und in die Ellhornstraße einbog, entdeckte sie Hermann Plön vor dem Haus.

»’n Abend, Frau König!«, rief er ihr zu, und sie befürchtete, dass er auf einen kleinen Plausch aus war. Es kam in der letzten Zeit vermehrt vor, dass er auf ein Schwätzchen aus dem Haus kam, wenn man sich gerade davonstehlen wollte.

»Wissen Sie, was ich gerade in den Nachrichten gesehen habe? Die Ozonschicht der Erde ist in Gefahr. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass …« Ein Monolog folgte, bei dem sie bereits nach den ersten Worten die Ohren auf Durchzug stellte. »Unglaublich, oder?«, beendete er seinen Vortrag. »Oder haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass die Ozonschicht unserer Erde gefährdet sein könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie, ich auch nicht. Aber wenn die Wissenschaftler das sagen, wird’s wohl stimmen.« Er murmelte noch etwas, das sie nicht verstand, und blickte umher. »Und ähm … Ich sprech’s ja nicht gern an, Frau König, aber die Zigarettenstummel hier …« Er deutete auf den Gehweg. »Schön ist das nicht, wenn die hier rumliegen.«

»Glauben Sie wirklich, ich würde meine Zigarettenstummel auf den Gehweg werfen?« Sie deutete zu ihrem Haus. »Aus dem Fenster vielleicht?«

»Das, ähm, wollte ich natürlich nicht damit sagen.« Er nickte ihr zu und schlenderte zum Haus zurück.

Wenn man sonst nichts zu tun hat, geht man den Nachbarn auf die Nerven.

Gisela schloss die Nebentür auf. In dem früheren Schaufenster hingen inzwischen luftige, dezent geblümte Gardinen, die sie genäht hatte. Bis vor Kurzem hatte ein Architekt hier sein Büro gehabt, doch er hatte gekündigt, weil er nach Hamburg umziehen wollte.

Nun würde sie wieder ein Schild aufhängen müssen und hoffen, dass sich ein neuer Pächter fand.

Ihre Tochter war überrascht, als sie am nächsten Vormittag in den Salon kam. »Was machst du denn hier, Mama?«

»Ich hab noch zu tun, ich bin gestern nicht fertig geworden. Hannelore kam überraschend und hat mich zum Essen eingeladen.«

»Wo wart ihr?«

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