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In diesen dreißig "unwahrscheinlichen Geschichten" erweist sich Karl-Ulrich Burgdorf als ein Autor, der in allen Spielarten der fantastischen Literatur zu Hause ist – von der klassischen Fantastik über Science-Fiction, Horror und Fantasy bis hin zu Tierfabeln und orientalischen Märchen im Stil von Tausendundeiner Nacht. Ein echtes Lesevergnügen für Menschen, die intelligente Kurzgeschichten lieben. "Der Schäms-Scheuß-Virus" ist amüsant, verblüffend und manchmal auch schockierend – immer aber: einfach fantastisch!
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2021
Karl-Ulrich Burgdorf
und andere unwahrscheinliche Geschichten
Außer der Reihe 54
Karl-Ulrich Burgdorf
DER SCHÄMS-SCHEUSS-VIRUS
und andere unwahrscheinliche Geschichten
Außer der Reihe 54
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: März 2021
p.machinery Michael Haitel
Neuausgabe in neuer Rechtschreibung des 2016 in der Westfälischen Reihe erschienenen Werkes.
Titelbild: Rainer Schorm
Autorenfoto: Matthias Holtz
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 226 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 869 2
Für Roswitha
Im Jahre 1817 formulierte der englische Poet, Literaturkritiker und Philosoph Samuel Taylor Coleridge seine damals vollkommen neuartige Theorie von der »willing suspension of disbelief« – neuartig deshalb, weil hier zum ersten Mal in der Literaturgeschichte die aktive Rolle des Lesers bei der Rezeption eines fiktionalen Werkes thematisiert wurde. Coleridge versuchte zu erklären, wieso es möglich sei, dass das Wissen eines Lesers um die fiktionale Natur des Erzählten sich nicht störend auf seinen durch die Lektüre erstrebten Kunstgenuss auswirke. Laut Coleridge ist dies darin begründet, weil der Leser sich dem Kunstwerk gegenüber nicht rein passiv verhält. Auch wenn es ihm vielleicht nicht bewusst ist, so willigt der Leser doch letztlich aktiv darin ein, seinen Unglauben wenigstens vorübergehend hintanzustellen und die vom Autor gemachten Vorgaben, mögen sie auch noch so unwahrscheinlich oder gar unmöglich sein, wenigstens für die Zeit der Lektüre für bare Münze zu nehmen. Tut er dies, so wird er gleichsam zum Komplizen des Autors und gewinnt dadurch die Möglichkeit, Vergnügen an der Lektüre zu empfinden – immer vorausgesetzt natürlich, dass das, was er da liest, ihm auch gefällt. Gefällt es ihm nicht, nützt auch die schönste »willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit« nichts.
Die Aufgabe (oder, wenn Sie so wollen: die Kunst) des Autors bestünde demzufolge darin, dem Leser diese erhoffte und erwünschte Eigenleistung durch die Art der Darstellung so weit wie möglich zu erleichtern.
Bei umfangreichen Romanen oder gar bei Romanserien ist dies vergleichsweise einfach. Hier hat der Autor die Möglichkeit, seine Prämissen über Hunderte, wenn nicht Tausende von Seiten durch immer neue Details anzureichern und sie dadurch in zunehmendem Maße plausibel zu machen. Zudem stellt sich beim Leser natürlich auch ein Gewöhnungseffekt ein – er erkennt die Personen und die Welt, in der sie agieren, bei jedem neuen Lektüreakt wieder und fühlt sich darum rasch in einem solchen Kosmos daheim. Bei Kurzgeschichten ist das anders. Man kann nicht einfach in die längst vertrauten Szenerien hineinschlüpfen wie in einen bequemen, über die Jahre hinweg immer mehr ausgelatschten Hausschuh. Denken Sie nur an die ewig gleichen Ermittlerteams in den heute so beliebten Fernsehkrimis und Kriminalromanen oder, um in der Fantastik zu bleiben, die liebevoll ausgestaltete Fantasy-Welt von Mittelerde beim Herrn der Ringe oder die fantastische Beinahe-Parallelwelt, in der Harry Potter seine magischen Abenteuer erlebt. Nimmt man solche Bücher zur Hand, setzt sofort nach den ersten Sätzen ein Wiedererkennungseffekt ein – und mit ihm ein wohliges Behagen am Altvertrauten. Ich habe das an mir schon oft beobachtet. Sie vielleicht ja auch an sich.
Bei Kurzgeschichten hingegen muss der Leser – also Sie – sich alle paar Seiten auf völlig neue Gegebenheiten, völlig neue Prämissen einstellen, die sich in der Regel sogar untereinander widersprechen. Das ist natürlich nicht bequem, denn es erfordert eine hohe Flexibilität und eine besondere Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die fantastische Kurzgeschichte nach einer Blütezeit, die viele Jahrzehnte währte und noch bis in die 1980er-Jahre andauerte, heute eher ein Schattendasein fristet. Manchen Autor mag das abschrecken; andere fordert es vielleicht heraus.
Hier also sind dreißig unwahrscheinliche Geschichten aus allen nur möglichen Bereichen der Fantastik – Science-Fiction, Fantasy, Weird Fiction (in Deutschland gerne auch »Horror« genannt), Märchen oder Fabeln – mit denen ich Ihre Flexibilität auf die Probe stellen und Ihre Imagination herausfordern möchte. Wenn Sie nicht bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie dieses Buch besser gleich wieder zuklappen und sich stattdessen lieber den nächsten Fünfhundert-Seiten-Fantasy-Schmöker aus der Buchhandlung Ihres Vertrauens besorgen. Ich würde es Ihnen nicht verübeln. Wenn Sie sich aber auf diese kurzen – und manchmal sehr kurzen – Geschichten einlassen und dem Unwahrscheinlichen durch Ihre Mitwirkung Wahrscheinlichkeit verleihen, werden Sie vielleicht ein ähnlich großes Vergnügen dabei empfinden wie ich, als ich diese Geschichten für Sie und für mich selber schrieb.
Karl-Ulrich Burgdorf
Noch zehn Minuten bis zum Auftritt.
Den Hut weit in den Nacken zurückgeschoben, saß Nick Corvin, Leadsänger der Band The Screaming Androids, in seiner Garderobe und dachte über die Widrigkeiten des Schicksals nach.
Diese Widrigkeiten bestanden vor allem darin, dass die Karriere der Band gerade einen gewaltigen Absturz erlebte. Was, zum Teufel, mochte die Ursache dafür sein?
Schließlich hatten sich ihre ersten beiden CDs verkauft wie guter Shit, und die Zahl ihrer Fans ging überall auf der Welt in die Millionen. Ihre dritte, unter größtem Aufwand produzierte CD hingegen lag wie Blei in den Regalen der Plattenläden. Die Klickzahlen für das neue YouTube-Video der Band bewegten sich nicht mehr im sechs-, sondern nur noch im vierstelligen Bereich, und auch die soeben begonnene Tournee hatte sich bereits nach den ersten Konzerten als Riesenflop erwiesen. Die vorab gebuchten Hallen und Arenen waren nicht einmal zur Hälfte gefüllt, das Publikum reagierte, wenn überhaupt, dann eher mit abfälligen Pfiffen auf die neuen und sogar auf viele der alten Stücke, obwohl die Band sie mit genau so viel Energie herunterschrammelte wie früher, und jetzt hatte auch noch ihr Manager angedeutet, dass sie die Tournee wohl entweder abbrechen oder aber die verbleibenden Auftritte wenigstens in kleinere Säle und Clubs verlegen mussten, um auf diese Weise doch noch zu retten, was vielleicht schon gar nicht mehr zu retten war.
Allein der Gedanke, sich in diesem Falle wieder eine gemeinsame Garderobe mit den anderen Musikern der Band teilen zu müssen, war für Nick Corvin unerträglich. Vor den Auftritten wollte er allein sein, um sich ohne unliebsame Zeugen jenen allabendlichen Schuß zu setzen, den er unbedingt brauchte, um dadurch in Höchstform für das anstehende Konzert zu kommen. Und nach dem Konzert benötigte er sie als Rückzugsraum, um mit seinen Groupies jene legendären – oder, wie manche Journalisten schrieben, berühmt-berüchtigten – Privatpartys feiern zu können, bei denen die anderen Bandmitglieder nur gestört hätten.
Aber so viele Groupies kamen seit Beginn dieser Tournee ja auch nicht mehr in seine Garderobe …
Von diesem Gedanken noch mehr deprimiert, griff Nick Corvin in die Schublade seines Frisiertisches und kramte mit zitternden Fingern das Spritzenbesteck heraus. Einen Augenblick später, als das Gift in seine Venen strömte, ließ das Zittern sofort wieder nach, seine Haut hörte auf zu jucken, und er fühlte er sich wieder stark und unbesiegbar. Jetzt konnte die Welt kommen! Denen da draußen, dem Pöbel im Zuschauerraum, würde er es heute Abend schon zeigen! Er würde singen wie Orpheus, oder wie Tom Waits oder doch wenigstens wie Bob Dylan, und dann würden sie ihm wieder zu Füßen liegen, die CD-Verkäufe würden von Neuem anziehen, und …
Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Garderobentür.
O verdammt! Sein Manager? Oder, was noch viel schlimmer wäre, die Polizei? Angesichts ihrer derzeitigen Pechsträhne ließ sich selbst das wohl nicht ausschließen. Mit einer fahrigen Bewegung löste Nick Corvin die Lederschlaufe von seinem Oberarm, warf die gebrauchte Spritze mitsamt Zubehör in die Schublade zurück und zog den Ärmel herunter. Dann schnauzte er ein mürrisches »Herein!«
Die Tür ging auf, und ein Mann trat ein, den Nick Corvin noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Wahrscheinlich jemand von der Hallenorganisation. Oder, im schlimmsten Falle, ein Reporter, der es irgendwie geschafft hatte, sich backstage Zutritt zu verschaffen. Für einen Fan sah der Kerl jedenfalls entschieden zu alt aus. Obwohl, wenn er es recht bedachte: Eigentlich konnte er gar nicht sagen, wie sein Besucher nun eigentlich genau aussah. Schaute man einen Augenblick lang weg und dann wieder hin, schienen sich seine Konturen jedes Mal ein wenig verändert zu haben … Vielleicht, dachte Nick, war der Stoff doch nicht so hundert Prozent rein gewesen, wie sein Dealer behauptet hatte? »Was gibt’s?«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte der Besucher freundlich. »Ich habe nämlich davon gehört, dass Sie im Moment gewisse … Schwierigkeiten haben, und da dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein.«
»Hä?«
»Es ist Ihr Hut«, sagte der Besucher und deutete mit einem ausgestreckten Finger darauf. »Ich fürchte, er hat seine Magie verloren, und darum benötigen Sie dringend einen neuen, damit Sie und Ihre Band wieder den Erfolg haben, der Ihnen zusteht.«
Unwillkürlich griff Nick Corvin nach dem Hut auf seinem Kopf und schob ihn ein wenig weiter nach vorne, Richtung Stirn. Sicher, den Hut trug er seit Beginn seiner Karriere bei all seinen Konzerten. Er hatte sich inzwischen tatsächlich zu so etwas wie seinem Markenzeichen entwickelt, vielleicht sogar zu so einer Art persönlichem Talisman, und deshalb hatte er ihn auch bei allen YouTube-Videos der Band getragen und natürlich auch auf den Booklet-Fotos ihrer drei CDs – von den Sexorgien mit den Groupies einmal ganz zu schweigen. Aber dass der Erfolg der Band allein davon abhing …? Von einem Hut? Nein, der Kerl da vor ihm war eindeutig ein Verrückter. Zum Glück schien er wenigstens nicht bewaffnet zu sein … aber vielleicht war es trotzdem besser, die Security zu rufen?
Ein breites Grinsen – jenes etwas diabolische Jack-Nicholson-Grinsen, das seine weiblichen Fans so liebten und das die Journalisten so gerne auf ihre Fotos bannten – erschien auf seinem Gesicht. Eigentlich war die ganze Sache doch ein total irrer Spaß, jedenfalls so lange, wie der Bursche nicht allzu lästig wurde.
»Und was für einen Hut sollte ich Ihrer Meinung nach tragen?«
»Probieren Sie es doch einmal mit diesem hier.« Erstaunlich fingerfertig zauberte der Besucher wie aus dem Nirgendwo einen Hut hervor und hielt ihn Nick Corvin hin. Also doch kein Irrer, sondern ein Hutverkäufer – oder vielleicht beides zugleich? I am the mad hatter, and I’m getting fatter, if you’d like to know … Tatsächlich schien der Besucher deutlich an Volumen zuzunehmen, als Nick diese uralte Songzeile in den Sinn kam. Was aber natürlich vollkommen unmöglich war … In Nicks Kopf begann mit einem Mal alles zu verschwimmen, und benommen beugte er sich vor, um den ihm angebotenen Hut näher in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich sah er im Grunde genau so aus wie der, den er jetzt trug, nur vielleicht ein wenig flotter, eine Spur … ansprechender. Vielleicht war es gar nicht schlecht, einen solchen Hut in Reserve zu haben? Immerhin konnte es ja passieren, dass ihm der andere, der alte Hut vom Kopf geweht wurde, und er auf Nimmerwiedersehen irgendwohin verschwand … und dann würde es gut sein, einen zweiten Hut zu besitzen, denn ohne Hut auf die Bühne zu gehen, war für ihn nach all den Jahren praktisch unvorstellbar.
»Schön, sehr schön«, stammelte er. »Was soll das Teil denn kosten?«
Der Besucher sagte es ihm.
Also doch ein Irrer. Aber selbst harmlosen Irren sollte man ja ihren Willen lassen, sonst wurden sie womöglich doch noch aggressiv; jedenfalls hatte er das einmal irgendwo gelesen. Und vielleicht ließ sich die Geschichte ja später sogar zu einem geilen Songtext verarbeiten?
»Dann muss ich also wohl einen … Vertrag unterschreiben?«
»O nein!« Der Besucher hob abwehrend die Hand. »Unter Ehrenmännern wie uns ist das wirklich nicht nötig. Es reicht, wenn Sie den Hut annehmen. Damit wäre die Vereinbarung verbindlich geschlossen.«
»Also gut«, sagte Nick Corvin. »Dann geben Sie ihn schon her.«
Im nächsten Augenblick hielt er den Hut in der Hand, der Besucher war verschwunden, und an der Garderobentür klopfte es erneut. Sie öffnete sich einen Spalt, und sein Manager lugte herein. »Du musst auf die Bühne, Nick. Alles okay so weit? Du siehst ein bisschen blass um die Kiemen aus.«
»Ist schon okay.« Mit einem Achselzucken warf Nick Corvin den eben erstandenen Hut auf den Frisiertisch und folgte seinem Manager in Richtung Bühne, wo die anderen Bandmitglieder schon mit voller Power losgelegt hatten. Natürlich trug er auch diesmal wieder seinen alten Hut. Den neuen, dachte er, werde ich in Reserve behalten, für den Fall, dass der alte mir einmal abhanden kommt.
Das erste Set war ein Fiasko.
Es begann bereits damit, dass die Halle nicht einmal zur Hälfte – eigentlich höchstens zu einem Drittel – gefüllt war. Und obwohl Nick Corvin sich die Kehle heiser brüllte und die Band sich durch die Songs schrammelte wie arme Seelen in der Hölle, kam unter den spärlichen Zuhörern von Anfang an so gut wie keine Stimmung auf. Nach dem zweiten Song wanderten sogar schon die ersten ab; nach dem dritten noch mehr; und nach dem vierten Song war Nick Corvin klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Statt den fünften Song anzusagen, krächzte er bloß »Wir machen jetzt eine kleine Pause und sind dann gleich wieder für euch da« ins Mikrophon und verschwand backstage, verfolgt von den wütenden Mitgliedern der Band und den gellenden Pfiffen des Publikums. Sein Manager – der eigentlich der Manager der gesamten Band war, aber Nick dachte von ihm immer gern als »seinem« Manager – schien auch nicht sonderlich erfreut. Genauer gesagt, war er so mörderisch sauer, wie Nick es während ihrer gesamten Karriere noch nicht erlebt hatte
»Was bildest du Arschloch dir eigentlich ein?« brüllte er ihn im Gang zu den Garderoben an. »Du kannst doch nicht einfach …«
»Nur eine kleine Pause«, wiederholte Nick stur und warf die Tür seiner Garderobe hinter sich zu. Normalerweise hätte er sich jetzt einen zweiten Schuss gesetzt, um sich auf diese Weise über die schwarze Depression hinwegzuretten, die ihn angesichts ihres totalen Misserfolgs auf der Bühne überfallen hatte. Aber diesmal nicht. Stattdessen warf er seinen alten Hut achtlos in den nächsten Papierkorb und setzte sich das neue Exemplar auf, das immer noch auf dem Frisiertisch lag. Verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen. Noch einmal holte er tief Luft, dann trat er wieder aus der Garderobe und riss die Tür nebenan auf.
»So, Jungs, jetzt können wir weitermachen!«, rief er den verdutzten Mitgliedern seiner Band zu. Im nächsten Moment war er auch schon vor ihnen in Richtung Bühne gestürmt.
Bereits als er die Bühne betrat, sah er, dass die Situation sich grundlegend geändert hatte.
Offenbar war die Leere im Zuschauerraum zu Beginn des Konzerts nur darauf zurückzuführen gewesen, dass es irgendwo im Bereich der Halle einen Verkehrsstau gegeben hatte. Inzwischen hatten immer mehr Leute zu ihren Parkplätzen gefunden, und nun strömten sie in Massen durch die weit geöffneten Türen und quetschten sich in die Lücken zwischen den anderen Zuhörern. Ausverkauft mochte die Halle zwar immer noch nicht sein, aber gut gefüllt war sie jetzt allemal. Und auch die Stimmung änderte sich mit einem Schlag. Kaum hatte die Band auf ein von Nick Corvin ins Mikro gebrülltes »Now it’s showtime, folks!« die ersten Akkorde herausgehauen, als sich der Raum direkt vor der Bühne in einen Moshpit verwandelte, in dem die Leute pogten wie die Besessenen. Weiter hinten liefen La-Ola-Wellen durch den Saal, und jetzt schrien sich nicht nur Nick und der Leadgitarrist, der die zweite Stimme sang, sondern auch die begeisterten Fans drunten im Publikum vor Begeisterung die Kehle heiser.
Das Konzert war ein rasender Erfolg, und so blieb es auch auf dem Rest der Tournee. Die Hallen waren nicht einfach nur ausverkauft, sondern die Screaming Androids – die jetzt als Nick Corvin and the Screaming Androids angekündigt wurden – mussten regelmäßig Zusatzkonzerte geben, und selbst für die gingen die Preise der wenigen auf dem Schwarzmarkt erhältlichen Tickets sofort durch die Decke.
Die Zahl der Groupies nahm ebenfalls exponentiell zu.
Und die Qualität des Heroins auch.
Einen Wermutstropfen gab es allerdings: Die CDs der Bands lagen immer noch wie Blei in den Regalen, und auch die Download- und YouTube-Klickzahlen blieben mau.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager kopfschüttelnd. »Eigentlich müsste sich das alles bei den Konzerten und den Kritiken jetzt verkaufen wie geschnitten Brot. Aber das tut es nicht! Warum denn nicht, verdammt noch mal? Und vor allem: Was können wir dagegen unternehmen?«
»Ich glaube, ich weiß da was«, sagte Nick. Nachdem er seinem Manager seine Idee erklärt hatte, schüttelte dieser nur den Kopf. »Das wird die Plattenfirma niemals machen«, verkündete er. »Viel zu teuer. Und außerdem werden sie dich für total verrückt halten. Meinst du denn allen Ernstes, dass es an einem Hut liegen kann?«
»Dann bezahle ich es eben selbst«, beharrte Nick. »Und für verrückt hält mich sowieso schon jeder.«
»Nun, unter diesen Bedingungen könnte ich es vielleicht irgendwie hinkriegen … aber ein Hut?«
Tatsächlich spielte die Plattenfirma mit. Ein Grafiker wurde engagiert, der in den Druckvorlagen für die CDBooklets aller bisher erschienenen Platten der Screaming Androids Nicks alten Hut mithilfe eines superteuren Bildbearbeitungsprogramms durch ein Foto des neuen ersetzte. Dann lief die große Rückrufaktion an. Alle zuvor ausgelieferten CDs wurden wieder aus den Läden abgeholt und in großen Containern in diverse CD-Werke transportiert, wo flinke Hände die Zellophan-Umhüllungen der CDs aufrissen, die alten Booklets herausnahmen und sie durch die in riesigen Stückzahlen gedruckten neuen ersetzten. Danach wanderten die CDs auf die Laufbänder einer Produktionsstraße, die die so umgerüsteten CDs noch einmal neu einschweißte und an die Auslieferung weiterleitete. Wenige Tage später lagen sie schon wieder in den Regalen der Plattenläden – diesmal allerdings nicht lange, denn die Fans rissen sie den Verkäuferinnen und Verkäufern praktisch schon in dem Moment aus den Händen, an dem die Lieferung eintraf. Zugleich wurden auch die Download-Cover verändert und die bisherigen YouTube-Videos elektronisch nachbearbeitet. Der alte Hut verschwand, der neue nahm seinen Platz ein. Von Stund an schossen die Download- und Klickzahlen in astronomische Höhen, ebenso wie Nick Corvins Bankkonto, da sein Manager den Rückholvertrag mit der Plattenfirma außerordentlich geschickt ausgehandelt hatte.
Tragisch nur, dass der gefeierte Leadsänger der Screaming Androids nicht mehr sehr lange etwas von seinem Erfolg hatte. Wenige Monate später, genauer gesagt: einen Tag nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, starb er in den Armen einiger Groupies an Herzversagen – ausgelöst, wie die Obduktion ergab, durch eine Überdosis Heroin in Verbindung mit allzu reichlich genossenem Alkohol sowie vermutlich der körperlichen Überanstrengung, die Gruppensex so mit sich bringt.
Immerhin hatte Nick Corvin es so gerade eben noch geschafft, in den legendären Club 27 aufzusteigen und auf diese Weise zu einer noch größeren Legende zu werden, als er es bis dahin ohnehin schon war. »Wahrscheinlich«, schrieb die Rockmusikpresse am Tage nach seinem Tod, »singt und spielt er jetzt gerade da oben auf Wolke 9 ein Willkommenskonzert mit all jenen Giganten, die wie er im Alter von siebenundzwanzig Jahren von uns gegangen sind: Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain, Amy Winehouse und wie sie alle heißen mögen. Dem Himmel, Leute, steht also eine heiße Party bevor!«
Eine heiße Party war auch seine einem Staatsbegräbnis ähnliche Beisetzung, die sich nur dadurch von einem solchen unterschied, dass sowohl der Sarg als auch der Leichenwagen über und über mit psychedelischen Motiven bemalt waren, dröhnende Rockmusik (natürlich die der Screaming Androids) anstelle der sonst üblichen Kirchenlieder gespielt wurde und eine größere Anzahl von weiblichen Fans vor und während der Beerdigung auf verschiedenste Art und Weise Selbstmord beging. Diese Selbstmordwelle endete überraschenderweise in genau jenem Augenblick, als der Sarg in der Grube verschwunden war und trauernde Angehörige, Freunde und Bandmitglieder die ersten Schaufeln Erde auf den Ebenholzdeckel niederprasseln ließen, während ein Polizeikordon die heranwogenden Massen der an der Beisetzung teilnehmenden Fans notdürftig zurückzuhalten versuchte.
Seinen Hut hatte man Nick Corvin natürlich mit in den Sarg gegeben. Schließlich war er sein Markenzeichen gewesen und wohl auch so etwas wie sein Talisman. Womöglich würde er ihn in der anderen Welt ja noch brauchen, wenn er dort für andere abgeschiedene Seelen weiterhin Konzerte gab.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager wieder, diesmal aber nur zu sich selbst, als er ein paar Tage später die neuesten Verkaufszahlen der Screaming-Androids-CDs in Händen hielt. Eigentlich hätten sie, genau wie es bei Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Jim Morrison der Fall gewesen war, dank Nick Corvins Tod noch einmal in ungeahnte Multi-Platin-Bereiche explodieren müssen. Genau das aber war nicht der Fall. Vielmehr waren sie sogar eingebrochen, und zwar zu genau demselben Zeitpunkt, an dem auch die Selbstmordwelle unter jungen weiblichen Nick-Corvin-Fans ein Ende gefunden hatte.
Dem Zeitpunkt, als der Sarg mit Nick Corvin darin in der Grube verschwand.
Als die Verkaufszahlen sich auch in den nächsten Wochen nicht wieder erholten, geriet Nicks Manager ernsthaft ins Grübeln. Und dann wurde ihm auf einmal bewusst, dass nicht allein Nick Corvin unter der Erde verschwunden war.
Sondern auch sein Hut.
»Das ist unmöglich«, sagte Nicks Manager ein drittes Mal. »Aber trotzdem …«
Noch am selben Tag wechselten einige nicht unbeträchtliche Geldsummen ihre Besitzer. Als es Abend wurde, sperrte ein – diesmal eher unauffälliger – Polizeikordon erneut das Grab ab, in dem Nick Corvin seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Kurz darauf rückten ein paar Friedhofsgärtner an, räumten die Blumen und Kränze von der Grabstelle ab und stießen dann ihre Spaten tief in das noch lockere Erdreich. Nicks Manager stand dabei und schaute dem ganzen Vorgang mit wachsendem Entsetzen zu. Und ich habe Nick immer für verrückt gehalten, dachte er bei sich. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Und so nahm die Exhumierung ihren Lauf.
Als der Sarg freigelegt war, sprang einer der Friedhofsgärtner in das Grab hinunter und begann, die Verschraubungen des Sargdeckels zu lösen. Kaum war er damit fertig, folgte Nicks Manager ihm in die Grube.
»Bitte, Sir«, sagte der Gärtner und wuchtete den Deckel ein Stückchen zur Seite.
Der Hut hatte sich nicht verändert. Nick Corvin hingegen schon. Sein Gesicht war zwar noch einigermaßen gut erhalten, aber den Mund hatte er zu einem stummen Schrei aufgerissen, der sehr an ein gewisses Gemälde von Edvard Munch erinnerte, und seine ebenfalls weit aufgerissenen Augen schienen in ein Jenseits hinüberzustarren, das offenbar alle Schrecken der Hölle für ihn bereitzuhalten schien. Und vielleicht noch ein paar mehr, die sich Hieronymus Bosch und all die anderen großartigen Künstler des christlichen Abendlandes bisher nicht auszumalen gewagt hatten.
Grün im Gesicht und mit zitternden Händen nahm der Manager Nick den Hut ab und kletterte mühsam wieder aus der Grube heraus. Dann bedeutete er dem Friedhofsgärtner, den Sarg wieder zu schließen, und übergab sich in das nächste Gebüsch.
Kurz darauf – die Verkaufszahlen der CDs waren inzwischen wieder in astronomische Höhen emporgeschnellt – kündigten die Screaming Androids eine Nick-Corvin-Gedächtnis-Tournee an – natürlich mit einem neuen Sänger, aber in ansonsten unveränderter Besetzung und mit den alten Stücken. Auf dem Werbeplakat waren allerdings weder die Band noch der neue Sänger abgebildet, sondern nur Nick Corvin mit seinem nun schon legendären Hut. Der Ticketverkauf erfolgte ausschließlich über das Internet, und er wäre wahrscheinlich schon nach zehn Sekunden beendet gewesen, wenn der überwältigende Ansturm nicht alle Netze zum Erliegen gebracht hätte. So dauerte es etwas länger, bis die weltweite Tournee restlos ausverkauft war.
Vor dem ersten Konzert machte der Manager ein Experiment. Er ließ die Musiker allein auf die Bühne gehen und mit dem ersten Song beginnen, ohne dass der Hut dabei war. Sofort breitete sich Unruhe im Publikum aus, einzelne Zuhörer drängten zu den Ausgängen, und hier und da waren laute Pfiffe zu vernehmen. Der Manager zuckte mit den Achseln – immerhin hatte er es ja versucht! –, nahm den Hut in die Hand und trug ihn hinaus auf die Bühne, wo er ihn zu den Klängen der Band auf einen bereitgestellten Mikroständer hängte. Dann sprach er mit gefalteten Händen ein Gebet für Nick Corvin, auch wenn er wusste, wie sinnlos das war. Im selben Augenblick begann die Menge auszurasten, der Raum vor der Bühne verwandelte sich in einen tobenden Moshpit, und von da an verlief das Konzert ohne weitere Probleme und wurde zu einem rasenden Erfolg, genau wie später alle anderen Konzerte der Tournee.
Eine Geschichte, die in zwei Teile zerfällt
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In einem fernen Land – denn in einem Land, welches uns näher liegt, hätte sich eine solche Geschichte wie die, die wir nun erzählen wollen, gar nicht ereignen können, sind die Herrscher dort doch aufgeklärt und weniger leicht mit lebenserhöhendem Lohn oder lebensverdammender Strafe bei der Hand – in einem fernen Land also rief eines Tages der herrschende Sultan die beiden berühmtesten Waffenschmiede seines Reiches, zwischen denen seit jeher eine tief eingewurzelte Rivalität herrschte, zu sich.
»Schmiedet mir«, so sprach er, »den Krummsäbel mit der feinsten Klinge und der schärfsten Schneide, der je von Menschenhand geschmiedet worden ist! Sechs Monde gebe ich euch dafür Zeit, dann werdet ihr wieder vor mich treten, um mir euer Werk zu präsentieren. Demjenigen aber, der die perfekte Klinge schmiedet, will ich sein Gewicht in Diamanten und anderen Edelsteinen aufwiegen!«
»Wir hören und gehorchen!«, sprachen die beiden Waffenschmiede wie aus einem Mund, und sogleich zogen sie sich in ihre Werkstätten zurück, ein jeder in die seine, wo sie drei Monde lang, ängstlich auf Geheimhaltung bedacht, die kostbarsten Metalle legierten, sie anschließend glühten, hämmerten, fältelten und erneut glühten, wiederum hämmerten und auf ein neues fältelten, bis sie diesen Prozess (vom Abkühlen im Eiswasser sei hier gar nicht die Rede) so oft wiederholt hatten, dass eine vollständige Beschreibung nicht nur den Umfang dieser Geschichte, sondern auch die Geduld eines jeden, ja selbst des geneigtesten Lesers aufs Äußerste strapazieren würde, weshalb wir an dieser Stelle tunlichst auch darauf verzichten werden.
Drei weitere Monde brachten sie sodann mit dem immer feineren Schleifen der Schneide zu, spalteten zunächst nur Tier- und Menschenhaare, um die Feinheit des Schliffs je wieder aufs Neue zu erproben, dann Fäden aus Spinnenseide und endlich sogar Staubkörner, die in der Luft ihrer rußigen Schmieden ja zur Genüge herumflogen; und dann gingen sie, immer noch unzufrieden, wieder an ihre Schleifbänke zurück und schliffen die Schneiden mit höchster Kunstfertigkeit noch feiner … und feiner … und immer noch feiner …
Wie fein, davon werden wir an angemessener Stelle dieser Geschichte Kunde erhalten, und zwar gemeinsam mit dem Sultan und seinem Hofstaat, denn schließlich würde es sich für uns als Erzähler und als Leser wohl kaum schicken, das Ergebnis dieses Wettstreits noch vor dessen Auftraggeber zu erfahren.
Nebenbei aß jeder der beide Waffenschmiede in dieser Zeit so üppig, wie er es eben vermochte, ohne seinen Magen zu ruinieren, auf dass es sich auch wirklich lohne, wenn er am Ende der Frist von sechs Monden sein Gewicht in Edelsteinen aufgewogen bekommen würde – denn dass er es wäre, dem diese Belohnung zuteilwerden würde, davon war ein jeder der beiden selbstverständlich mit äußerster Selbstgewissheit überzeugt.
Und so kam es, dass sie beide sehr schwer und kurzatmig waren, als sie nach Ablauf der sechs Monde wieder vor den Sultan zitiert wurden, um ihm und dem versammelten Hofstaat ihre Meisterwerke vorzuführen. Die in der langen Abgeschiedenheit geschmiedeten Krummsäbel aber trugen sie in kostbaren, mit Silber- und Goldornamenten verzierten Scheiden an ihren nun um einiges lockerer geschnürten Gürteln.
»So tritt denn vor«, sprach der Sultan zum ersten der beiden Waffenschmiede, »und zeige mir, was deine Kunst zuwege gebracht hat!«
Etwas kurzatmig ob seines Körpergewichts und mit demütig niedergeschlagenem Blick folgte der erste Waffenschmied diesem Befehl. In geziemlichem Abstand blieb er sodann vor dem Pfauenthron des Sultans stehen und zog sehr langsam, damit in den schwerbewaffneten Leibwächtern zur Rechten und zur Linken des Herrschers nicht der Verdacht aufkeime, er plane unter der Hand womöglich einen mörderischen Anschlag auf den Sultan, den so kunstreich geschmiedeten Krummsäbel aus der Scheide. Das Geräusch, das die Klinge dabei machte, war so fein wie der Klang der Sphären hoch über den Himmeln dieser Erde, und als das Licht der tausend Kandelaber im Thronsaal sich auf ihr in tausendfältigem Glitzern brach, als sei sie gar nicht aus legierten Metallen, sondern womöglich gar aus den Diamanten geschmiedet, mit denen ihr Schöpfer vor dem Ende dieser Audienz aufgewogen zu werden hoffte, ja, wessen er sich im Stillen sogar sicher war – als dieses Licht, so sage ich, sich auf dieser überirdisch vollkommenen Klinge brach, da ließen die umstehenden Höflinge, vom Großwesir und den anderen verbeamteten Speichelleckern bis hinunter zu den Leibwächtern, den Luftzufächlern und dem nubischen Fußbänkchen (letzteres aber nur ganz leise, so leise nämlich, dass es für die erlauchten Ohren des Sultans unhörbar blieb und er nicht einmal ein winziges Zittern unter seinen Fußsohlen und den goldbestickten Pantoffeln verspürte) wie aus einer Kehle ein ungläubig bewunderndes »Ooohhh!« ertönen, denn einen so herrlich gearbeiteten Krummsäbel hatte noch keiner von ihnen je gesehen.
Selbst der Sultan konnte sich ein anerkennendes Nicken nicht verkneifen. »Das ist ein wirklich köstliches Stück Waffenschmiedekunst«, sprach er nachdenklich. »Aber nun zeige Uns, ob diese Waffe nur zum Anschauen taugt … oder noch zu etwas anderem.«
»Zu diesem Zweck«, erwiderte der erste Waffenschmied demütig, »möchte ich Euch, o Sultan, bitten, einen Sklaven vortreten zu lassen, und zwar einen, den Ihr, wenn’s möglich ist, recht leicht entbehren könnt.«
Wortlos wies der Sultan auf einen der diensteifrig in einigem Abstand vom Pfauenthron eben zu diesem Zwecke aufgereihten Sklaven. Jener trat vor, sichtlich bemüht, nicht am ganzen Leibe, sondern nur ein bisschen an dem oder jenem Körperteil zu zittern; das Klappern seiner Zähne hingegen konnte er nicht ganz unterdrücken, was aber nicht weiter von Bedeutung war, da er, Zähneklappern oder nicht, ohnehin nicht mehr gewärtigen musste, für unziemliches Benehmen vom Sklavenmeister einer schmerzhaften Strafe zugeführt zu werden.
Als der Sklave nun vor ihm stehen geblieben war, vollführte der erste Waffenschmied eine ganz nachlässige Handbewegung. Gedankenschnell flirrte die Klinge des Krummsäbels durch die Luft.
Und es geschah – gar nichts.
»Du hast ihn verfehlt, erster Waffenschmied«, sprach der Sultan in das atemlos erstaunte Schweigen seiner Höflinge hinein, und ein ungnädiges Glitzern zeigte sich in der Tiefe seiner schwarzen Herrscheraugen, da er diese Art von Ungeschicklichkeit in der Ausübung des edlen Waffenhandwerks so ganz und gar nicht liebte.
»Um Vergebung, o erhabener Sultan«, sprach der erste Waffenschmied und schlug demütig die Augen nieder, »aber ich habe ihn nicht verfehlt.«
»Das werden wir sehen«, sagte der Sultan und wandte sich an den Sklaven. »Sprich, Sklave: Hast du die Klinge irgendwo an deinem Leib gespürt?«
»Ich ha… habe ga… ga… gar ni… nichts gespürt«, stotterte der Sklave, sichtlich erleichtert über diesen – wenngleich gewiss nur kurzen – Aufschub, den ihm das Schicksal in Gestalt der ungeschickten Hand des Waffenschmieds gewährte. »N… n… nur einen l… l… leichten Windhauch.«
»Nun, Waffenschmied?«, fragte der Sultan drohend.
»Befehlt ihm zu nicken, und Ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit spreche.«
Der Sultan hob bedrohlich eine Augenbraue, kam der demütig vorgetragenen Bitte aber nach.
»Nicke!«
Und der Sklave nickte, woraufhin sein Kopf sich vom Körper löste und vor seinen Füßen zu Boden fiel.
Und wieder ließen die umstehenden Höflinge, vom Großwesir und den anderen verbeamteten Speichelleckern bis hinunter zu den Leibwächtern, den Luftzufächlern und dem nubischen Fußbänkchen wie aus einer Kehle ein ungläubig bewunderndes »Ooohhh!« ertönen, das diesmal indes nicht dem Anblick, sondern ebenso der wundersamen Funktionstüchtigkeit dieses Krummsäbels wie der schwertmeisterlichen Geschicklichkeit ihres Schmiedes und Trägers galt.
»Dies«, sprach der Sultan mit einem anerkennenden Nicken, bei dem sich sein Kopf jedoch im Gegensatz zu dem des Sklaven in keinem Augenblick in der Gefahr befand herunterzufallen, »dies ist gewiss die kunstreichste Klinge, die ich je erblickt habe, ja womöglich die kunstreichste, die die Welt jemals erblicken mag. Und ist sie es allemal wert, dass das Gewicht ihres Schöpfers in Diamanten aufgewogen wird.«
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Doch seien wir nicht voreilig, denn diese Geschichte zerfällt ja, genau wie der bedauernswerte Sklave, in zwei Teile. Den ersten Teil, der weithin bekannt ist, haben wir nun bereits erzählt, wenngleich im Grunde einzig der Vollständigkeit halber. Nicht so bekannt – es mag sein: sogar gänzlich unbekannt – ist hingegen der zweite Teil, welcher nun folgen soll.
»Nun tritt vor, zweiter Waffenschmied, und zeige Uns, was deine Klinge wert ist«, befahl der Sultan, nachdem der Leichnam des Sklaven fortgeschafft und das reichlich vergossene Blut vom Boden aufgewischt worden war.
»Allemal mehr als die meines verehrten Zunftgenossen«, sagte der zweite Waffenschmied recht selbstgefällig und trat vor an die Stelle, an der jener »verehrte« – in Wirklichkeit aber zutiefst verachtete – Zunftgenosse, welcher nun jedoch ins zweite Glied zurückgetreten war, eben noch gestanden hatte. »Ich bitte Euch, o Sultan: Schaut aufmerksam her.«
Mit einer eleganten Bewegung zog er den von ihm geschmiedeten Krummsäbel aus der Scheide, die womöglich noch kostbarer verziert war als die der anderen Waffe. Doch als er den Säbel nun in der Hand hielt, war nichts anderes sichtbar als das Heft; eine Klinge aber konnte der Sultan selbst beim genauesten Hinschauen nicht entdecken.
»Was ist denn das für ein Gaukelspiel?« sprach er stirnrunzelnd. »Nur ein Heft und keine Klinge? Wollt ihr mich zum Narren halten, Waffenschmied?«
Dieser lächelte nur, ein wenig eitel, wie es den Umstehenden schien, und drehte sein Handgelenk. Da erschien wie aus dem Nichts die Klinge, die zu dem Heft gehörte, und sie war so über alle Maßen prächtig, dass sie, wie aus sich selbst leuchtend, das Licht der tausend Kandelaber im Thronsaal zu überstrahlen schien. Diesmal ließen die umstehenden Höflinge, vom Großwesir und den anderen verbeamteten Speichelleckern bis hinunter zu den Leibwächtern, den Luftzufächlern und dem nubischen Fußbänkchen (Letztere sogar so laut, dass es bis an die erlauchten Ohren des Sultans gedrungen wäre, wäre dieser nicht vom überirdischen Anblick der Klinge wie betäubt gewesen) wie aus einer Kehle ein »OOOOHHHH!« ertönen, wie sie es in diesem Thronsaal in Anwesenheit des Sultans noch nie gewagt hatten ertönen zu lassen.