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Die neue Taktikbibel: Tobias Escher erklärt, wie Fußball und Taktik heute funktionieren. Was eine Viererkette ist, weiß heute jedes Kind. Aber was macht eigentlich eine «falsche Neun» oder eine «abkippende Sechs»? Wie schafft es eine Mannschaft, kompakt zu stehen, mit welchen Mitteln erzeugt sie Dynamik, und was ist unter «Pass und Klatsch» zu verstehen? Anhand des 4-Phasen-Modells – eigener und gegnerischer Ballbesitz, offensives und defensives Umschaltspiel – erläutert Tobias Escher alle relevanten Details zu jeder Spielsituation und jeder taktischen Herausforderung. Anschauliche Beispiele aus dem Profifußball verdeutlichen die Schachzüge und Kniffe bekannter Mannschaften und Trainer. Unterhaltsam und fachkundig ermöglicht dieses Buch ambitionierten Spielern und Trainern ebenso wie allen Hobby-Klopps, ein Fußballspiel mit anderen Augen zu sehen und wirklich zu verstehen, was auf dem Platz passiert. Ein Buch mit Potenzial zum Standardwerk.
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Seitenzahl: 427
Tobias Escher
Wie moderner Fußball funktioniert
Was ist eigentlich eine «falsche Neun» oder eine «abkippende Sechs»? Und warum wird der Torwart plötzlich zum Abwehrspieler? Tobias Escher erklärt in seinem Buch die Grundlagen des modernen Fußballs. Anhand des 4-Phasen-Modells erläutert er alle relevanten Details zu jeder Spielposition, jeder Spielsituation und jeder taktischen Herausforderung. Damit ermöglicht der Autor Fans – Laien wie Profis, Spielern wie Trainern –, ein Fußballspiel mit anderen Augen zu sehen und wirklich zu verstehen, was auf dem Platz passiert.
Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs «Spielverlagerung.de», das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung «Bohndesliga», einer Produktion von Rocket Beans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher für die «WELT» sowie für das Fußball-Magazin «11 Freunde». Das Medium-Magazin wählte ihn 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten. Bei Rowohlt erschienen zuletzt seine Bücher «Vom Libero zur Doppelsechs» und «Die Zeit der Strategen» sowie «Der Abstieg», das er zusammen mit Daniel Jovanov schrieb.
«Männer, wenn ihr das einfache Spiel beherrscht, dann seid ihr Weltklasse. Aber das ist sehr schwer.»
Sepp Herberger
Fußball ist ein einfacher Sport. Das Runde muss ins Eckige. Dazu darf der Ball mit jedem Körperteil berührt werden, außer mit der Hand. Verkompliziert wird das Ganze durch einige weitere Bestimmungen wie dem Abseits. Im Grunde sind die Regeln aber leicht verständlich. Anders als beim American Football oder beim Baseball benötigt man keine lange Einweisung, wenn man den Sport zum ersten Mal in seinem Leben sieht oder spielt. Man kann einfach loslegen. Das reizt Milliarden Menschen auf der Welt am Fußball.
Die recht simplen Regeln des Fußballs verleiten zu der Annahme, dass auch das Spiel an sich simpel sei. «Geht’s raus und spielt’s Fußball!», sagte Bundestrainer Franz Beckenbauer 1990 zu seinem Weltmeister-Team. Warum sollte man etwas so Einfaches wie den Fußball verkomplizieren? Ja, wozu braucht es überhaupt Bücher wie dieses?
Das Problem: So simpel ist der Fußball nicht. Ironischerweise liegt in der Einfachheit des Spiels auch seine Komplexität. Es gibt kaum Restriktionen für die Spieler. Auf dem rund 7000 Quadratmeter großen Feld dürfen sie sich frei bewegen. Einschränkungen gibt es lediglich durch die Auslinien und die Abseitsregel. Man vergleiche das nur mit dem Handball mit seinem weitaus kleineren Feld, der geringeren Anzahl an Spielern und dem Verbot, den Strafraum zu betreten. Hier sorgen Regeln für Beschränkungen, was auf dem Feld passieren kann. Nicht so im Fußball.
Dementsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten für Fußballspieler. Sie können sich auf zig unterschiedliche Arten auf dem Feld aufstellen und bewegen. Sie sind frei in der Frage, wie sie ein Tor erzielen wollen. Sie können den Ball hoch, halbhoch oder flach spielen. Sie können aus dreißig Metern Entfernung auf das Tor schießen oder aus drei. Sie können Tore erzielen mit dem Fuß, mit dem Kopf oder sogar mit dem Po. Theoretisch könnten sämtliche Spieler einer Mannschaft auf der eigenen Torlinie verweilen und so das eigene Tor sichern. Sie könnten beschließen, den Ball in die Luft zu schießen und anschließend nur noch per Kopfball vor das Tor zu gelangen. Sie dürften sogar permanent im Abseits stehen, wenn sie das wollten.
Regeltechnisch mag es legal sein, sechs Angreifer im Abseits versauern zu lassen, genauso wie es legal wäre, an der Eckfahne einen Regentanz aufzuführen. Doch sonderlich erfolgversprechend ist es nicht. Genau um diese Frage geht es in diesem Buch: Wie nutzen Fußballspieler und -teams die Bedingungen des Fußballsports optimal, um ein Spiel zu gewinnen? Wie nutzen sie den vorhandenen Raum des Fußballfeldes, wie spielen sie den Ball, wie schießen sie Tore, wie verhindern sie gegnerische Tore? Seit der Erfindung des Fußballs machen sich kluge Leute über diese Fragen Gedanken. Die Antworten auf diese Fragen sind das, was den Fußballsport so komplex macht. Denn es gibt unzählige Möglichkeiten, Fußball zu spielen. Wer verstehen will, wie der Fußball von heute funktioniert, sollte diese Ideen, Strategien und Taktiken kennen.
Die Möglichkeiten auf dem Feld mögen nahezu unbegrenzt sein; in vielen Fällen hat sich aber gezeigt, dass bestimmte Vorgehensweisen erfolgversprechender sind als andere. Im Laufe der langen Geschichte des Fußballs haben sich Konventionen etabliert. Einige dieser Konventionen möchte ich Ihnen in diesem Buch vorstellen. Sie sollen helfen, die Taktik von Profiteams zu entschlüsseln.
Ein Beispiel: Im Verlaufe dieses Buchs werde ich beschreiben, wie Abwehrreihen im heutigen Fußball den eigenen Strafraum verteidigen. Allein in diesem 16,5 Meter mal 30,2 Meter großen Raum gäbe es unzählige Möglichkeiten, wie sich die Verteidiger aufstellen könnten. Doch wer Spiele der Fußball-Bundesliga oder bei der Weltmeisterschaft schaut, merkt schnell: Fast alle Teams nutzen ähnliche Varianten. Es gibt bestimmte Räume, die Spieler abdecken sollen, und bestimmte taktische Mittel, die sie dazu nutzen. Die meisten Trainer weisen ihre Spieler offenbar an, auf diese Art zu verteidigen. Deshalb erkläre ich in diesem Buch diese verbreiteten Varianten und nicht die Dutzend möglichen Alternativen.
Das ist aber keine in Stein gemeißelte Weisheit, kein «So und nicht anders darf es sein!». «Modern ist, wer Erfolg hat», sagte Otto Rehhagel einst – und ganz unrecht hat er damit nicht. Die Taktik eines Teams misst sich immer daran, wie gut die Spieler diese ausführen, ob diese sich darin wohlfühlen und ob man sich einen Vorteil gegen den jeweiligen Gegner erarbeiten kann. Kluge Köpfe haben im Laufe der Jahre neue taktische Mittel hinzugefügt, neue Formationen ersonnen, ihre Spieler auf ganz besondere Art eingesetzt. Taktische Mittel kommen und gehen; was vor fünfzig Jahren Sinn gemacht hat, muss heute nicht mehr funktionieren, und was heute richtig ist, kann morgen schon wieder falsch sein. Wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, könnte manche Erkenntnis bereits veraltet sein. Seien Sie also kritisch und schauen Sie genau hin. Wie schrieb der kicker bereits im Jahr 1923: «Liebe Leser, habt Misstrauen zu euren Sportkritikern! Seht euch die Spiele selbst an.»
Natürlich kann dieses Buch nicht alle Facetten umfassen, die ein Fußballspiel ausmachen. Wenn ein Team etwa den eigenen Strafraum verteidigt, ist nicht nur entscheidend, wie die Spieler sich aufstellen. Ob sie eine Hereingabe verteidigen können oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab: Sind sie technisch in der Lage, den Ball zu klären? Sind sie schnell genug, um den Ball vor dem Gegner zu erreichen? Haben sie die nötige mentale Bereitschaft, sich in den Zweikampf zu werfen? All diese Faktoren sind wichtig – und all diese Faktoren spielen in die Taktik hinein. Ein Team, dessen Spieler allesamt zwei Meter groß sind, wird den Strafraum anders verteidigen als ein Team voller kleinwüchsiger Verteidiger.
Dass sich dieses Buch auf den Faktor Taktik beschränkt, hat gute Gründe. Zum einen ist dies der Teilbereich des Fußballs, in dem ich mich am besten auskenne. Seit Jürgen Klopp während der Weltmeisterschaft 2006 Fußballspiele im ZDF analysiert hat, fasziniert mich dieses Thema. Zum anderen ist die Taktik auch im Jahr 2019 noch immer ein Bereich, der in der Öffentlichkeit sträflich unterschätzt wird. Einen Fehlpass kann jeder als Fehlpass ausmachen. Bei taktischen Fehlern fällt dies schwerer. Da wird schnell dem Verteidiger die Schuld am Gegentor gegeben, der am nächsten am Torschützen dran war – er hätte ihn schließlich enger decken müssen! Zu häufig bleibt die Fehleranalyse im oberflächlichen Detail stecken. Ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre des Buchs verstehen, dass Fußball nicht immer ganz so einfach ist.
Wer den modernen Fußball verstehen will, muss also auch den Teilbereich Taktik verstehen. Immer mal wieder streift dieses Buch andere Teilbereiche, seien es mentale Prozesse, die zur Entscheidungsfindung beitragen, oder technische Themen. Um es in den Worten des früheren Bayern-Trainers Dettmar Cramer auszudrücken: «Es hängt alles irgendwie zusammen. Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt das Auge.» Im Kern soll dieses Buch sich aber um das Haar am Hintern drehen – das Thema Taktik.
Mir wurde in der Vergangenheit in Interviews immer wieder die Frage gestellt, welches denn meine Lieblingstaktik sei. Gäbe es eine Formation, die ich für die stärkste halte? Irgendein Spielsystem, das mich besonders beeindruckt? Nein. Denn Taktik hat keinen Wert an sich. Sie ist immer nur dann gut, wenn sie mit allen anderen Aspekten einer Mannschaft harmoniert.
Das Ziel einer guten Taktik ist es, den Spielern zu helfen. Die Optionen, die Spieler während eines Fußballspiels haben, sind vielfältig. Entsprechend schwer fällt es den Spielern, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie müssen die Situation zunächst beurteilen (Wahrnehmung), dann eine Handlungsoption auswählen (Entscheidung) und diese dann in die Tat umsetzen (Ausführung).
Eine gute Taktik schafft für die eigenen Spieler Handlungsoptionen. Sie hilft den Spielern, Situationen korrekt wahrzunehmen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie kann aber eben nur dann funktionieren, wenn sie auf die einzelnen Spieler abgestimmt ist. Einen Spieler wieder und wieder in Situationen zu bringen, die er nicht beherrscht, ist das Gegenteil von einer guten Taktik. So macht es etwa keinen Sinn, das eigene System auf lange Bälle auf den Stürmer auszurichten, wenn dieser die langen Bälle gar nicht verwerten kann. Das beste Pressing der Welt bleibt wirkungslos, wenn die Spieler nicht die konditionellen Voraussetzungen haben, es durchzuführen.
Die Taktik einer Mannschaft sollte sich entsprechend an einer einzigen Frage messen lassen: Holt sie das Optimum aus den eigenen Spielern raus? Folgerichtig gibt es auch nicht das eine «Wundersystem», das allen anderen überlegen ist. Taktik zwängt Spieler im Idealfall nicht in ein Korsett, im Gegenteil: Sie ermöglicht erst, die Stärken der Spieler zur Geltung zu bringen und ihre Schwächen zu kaschieren. Ein Trainer müsse, so Erfolgstrainer José Mourinho, die Stärken der eigenen Mannschaft kennen – und deren Schwächen. Nur so könne er die Schwächen vor dem Gegner kaschieren.
«Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft.» Dieser berühmte Satz des Autors Jean-Paul Sartre trifft natürlich auch auf das Thema Taktik zu. Selbst wenn die eigene Taktik perfekt abgestimmt ist auf die eigenen Spieler, selbst wenn die Spieler einen perfekten Tag erwischen und sämtliche ihrer Entscheidungen richtig sind: Sie hätten es schwer, wenn der Gegner die eigene Taktik perfekt kontern würde. Fußball ist immer ein Zusammenspiel zwischen eigener und gegnerischer Mannschaft.
So erinnern Profi-Spiele heutzutage manches Mal an Schachpartien: Wie zwei Meister am Brett belauern sich die Trainer, auf kleinste taktische Veränderungen des Gegners reagieren sie sofort. Spieler werden zur Trainerbank gewunken oder Zettel auf das Spielfeld gereicht, um die eigene Taktik anzupassen. So wollen die Trainer Einfluss nehmen auf das Spielgeschehen. Taktik wird manches Mal auch reduziert auf diese kleinen, aber feinen Veränderungen während des Spiels.
Diese Art des Taktierens ist aber nur ein Aspekt des weiten Themas Taktik. Viele Faktoren lassen sich vom Spielfeldrand nicht beeinflussen. Wenn alles nur darauf ankäme, die richtigen Worte auf das Feld zu brüllen, wären Training, Matchpläne und Talent gleichgültig. Es wäre eine unnötige Reduktion des Themas auf eine kleine Facette. Der taktierende Trainer am Spielfeldrand: Er kommt in diesem Buch eher selten vor.
Wie definiere ich den Begriff Taktik? Im Fußball wird der Begriff häufig mit Trainern in Verbindung gebracht. Sie bestimmen die Taktik eines Teams, so die häufig gehörte Weisheit. Tatsächlich ist die Wahl der Taktik einer Mannschaft eine wesentliche Aufgabe eines Trainers.
Meine Definition der Taktik geht jedoch weiter. Wenn der Trainer einem Spieler sagt, er solle heute auf der rechten Seite spielen, ist dies eine taktische Anweisung. Diese taktische Anweisung sagt zunächst wenig darüber aus, wie der Spieler auf dem Feld agiert. Der Trainer könnte nun weitere Anweisungen geben: «Passe den Ball nur flach. Laufe viel nach vorne. Bleibe nahe bei der Auslinie und gehe nicht ins Zentrum.» Diese Anweisungen werden das Verhalten des Spielers beeinflussen. Es ist aber nicht gesagt, dass der Spieler sie auf dem Feld auch umsetzt. Unter Taktik fällt also nicht nur das, was der Trainer sagt (Plan), sondern auch das, was der Spieler tut (Ausführung).
Der Fußball ist so komplex, dass der Trainer seinen elf Spielern unmöglich für jede Situation einen Plan mitgeben kann. Immer wieder werden Spieler mit Situationen konfrontiert, die man nicht einstudieren kann. Sollen sie den Gegenspieler, der auf sie zustürmt, umdribbeln? Oder lieber einen Pass zu einem Mitspieler wagen?
Genau aus diesem Grund sind die Konventionen, von denen ich eingangs geschrieben habe, so wichtig: Ein Profitrainer muss seine Spieler heutzutage nicht mehr darauf hinweisen, wie sie sich etwa im eigenen Strafraum zu verhalten haben. Die Spieler lernen das bereits im Jugendalter. Sie haben diese Verhaltensweisen also über Jahre hinweg erprobt – oder wie es im Fußballdeutsch so schön heißt: Die Verhaltensweisen sind zu Automatismen geworden.
Nicht immer sind diese Konventionen derart konkrete Handlungsanweisungen, wie dies beim Verteidigen des eigenen Strafraums der Fall ist. Wer Fußball spielt und von diesem Buch erhofft, exakte Anweisungen zu bekommen, was er in jeder Situation eines Spiels zu tun hat, wird enttäuscht werden. Es gibt schlicht keine Bauanleitung für den Fußball.
Was es aber sehr wohl gibt, sind taktische Prinzipien, die sich wiederholen. Prinzipien etwa, wie man die eigenen Erfolgschancen in einem Konter maximiert. Es gibt Prinzipien, die in solchen Situationen helfen: Welcher Spieler soll in welchen Raum laufen? Wohin soll der Ball ungefähr gespielt werden? Wie viel Risiko darf man eingehen? Diese Prinzipien sagen nicht, wie sich der einzelne Spieler konkret zu entscheiden hat in einer solchen Situation. Sie dienen aber als Hilfestellungen, damit die Spieler gute Entscheidungen treffen. Wie sie konkret diese Hilfestellungen umsetzen, bleibt ihnen überlassen.
Fußball ist kein Einzelsport. Wenn Spieler nur sich selbst im Kopf haben bei den Entscheidungen, die sie auf dem Feld treffen, wird ihre Mannschaft kaum Erfolg haben. «Elf Freunde sollt ihr sein!», hieß das bekannte Motto des 1954er-Weltmeister-Trainers Sepp Herberger. Die meisten taktischen Maßnahmen auf dem Feld betreffen nicht nur einen, sondern mehrere Spieler. Es erscheint daher sinnvoll, unterschiedliche Teilgebiete der Taktik voneinander abzugrenzen. Der DFB unterscheidet in seiner Ausbildung und in seinen Publikationen zwischen drei Teilbereichen:
Individualtaktik umfasst Entscheidungen, die Aktionen eines einzelnen Spielers betreffen. Steht ein Spieler beispielsweise vor der Wahl, ob er einen Pass spielen oder lieber ins Dribbling gehen möchte, steht er vor einer individualtaktischen Entscheidung. Seine Entscheidung beeinflusst wiederum das gesamte Spiel.
Gruppentaktik umfasst sämtliche Entscheidungen, die von mehr als einem Spieler, aber nicht von der gesamten Mannschaft ausgeführt werden. Das klassische Beispiel wäre ein Doppelpass: Zwei Spieler stimmen ihre Aktionen so miteinander ab, dass sie den Ball hin- und wieder zurückpassen können. Auch Ballstaffetten über mehrere Stationen können unter die Gruppentaktik fallen.
Mannschaftstaktik sind taktische Maßgaben, die sämtliche Spieler auf dem Feld betreffen. Der wohl bekannteste Teil der Mannschaftstaktik ist die Wahl der Formation. Beispiel: Ein Trainer stellt seine Mannschaft mit vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und zwei Stürmern auf. Im Sprachgebrauch würde man sagen, das Team spiele 4-4-2. Klugscheißerisch-korrekt heißt es: Die mannschaftstaktische Formation des Teams ist ein 4-4-2.
Die Formation bezeichnet die Aufstellung einer Mannschaft auf dem Feld. Eine Mannschaft mit vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und vier Stürmern spielt in einer 4-4-2-Formation.
Taktik-Nerds sind ein ebenso klugscheißerisches wie penibles Volk. Während in der Diskussion um Fußball-Taktik häufig Begriffe vertauscht oder vermengt werden, verlangen Taktik-Nerds voneinander, Begriffe exakt zu benutzen. Taktik, Strategie, Philosophie, System, Formation: Diese Begriffe sind keineswegs Synonyme. Sie haben allesamt eine eigene Bedeutung.
Eine Formation am Beispiel der 4-4-2-Formation: vier Verteidiger, vier Mittelfeldspieler, zwei Stürmer
Am deutlichsten wird dies bei der Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik. Wie so viele Fußballbegriffe stammen auch diese Vokabeln aus dem Militärischen. Carl von Clausewitz, ein einflussreicher Militärwissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert, definierte die Taktik als «die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht». Die Strategie hingegen sei «die Lehre vom Gebrauch der einzelnen Gefechte zum Zweck des Krieges».
Im Fußball ist das einzelne Gefecht ein Spiel, der Krieg hingegen streckt sich über eine ganze Saison. Taktische Fragen beziehen sich somit immer auf das einzelne Spiel. Mit welcher Formation läuft eine Mannschaft auf? Welcher Gegenspieler muss unbedingt aus dem Spiel genommen werden? Über welche Räume lässt sich ein Tor einleiten? Strategische Fragen beziehen sich auf das große Ganze: Möchte eine Mannschaft mehr Ballbesitz haben als der Gegner, oder will sie über Konter zum Erfolg kommen? Soll der Gegner überall auf dem Feld aggressiv gestört werden, oder möchte die Mannschaft eher tief verteidigen? Möchte sie lieber viele kurze Pässe spielen oder das Feld mit hohen, langen Pässen überbrücken?
Wie sich eine Mannschaft taktisch aufstellt, kann von Spiel zu Spiel wechseln. Die Strategie des Teams sollte dagegen über mehrere Spiele hinweg erkennbar sein. Gerade im hektischen Profifußball wird dieser Idealfall selten bis nie erreicht. Trainer kommen und gehen, damit einher geht meist ein Wechsel der Strategie. Dieses Buch fokussiert sich vor allem auf den Bereich der Taktik, also der konkreten Anwendung der taktischen Mittel in einem Fußballspiel.
Bei der Definition der Mannschaftstaktik trafen wir bereits auf den Begriff der Formation. Auch er stammt aus dem militärischen Sprachgebrauch und bezeichnet die Aufstellung einer Kriegsarmee auf dem Feld. Nichts anderes bezeichnet er auch im Fußball. Wenn ein Trainer also seine Mannschaft mit vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und zwei Stürmern auf das Feld schickt, spielt sie mit einer 4-4-2-Formation.
Kommentatoren sprechen in diesem Fall häufig von einem 4-4-2-System. Streng genommen bezeichnet der Begriff des Systems aber etwas anderes. Die Formation beschreibt, wie Spieler den Raum besetzen. Der Begriff System hingegen bezieht sich auf die Frage, wie die Spieler diese Formation ausführen. So können zwei Teams mit derselben Formation auflaufen, aber dennoch auf dem Rasen völlig unterschiedliche Systeme spielen.
Ein gutes Beispiel ist das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2010 zwischen Spanien und den Niederlanden. Beide Teams stellten sich in derselben Formation auf: In der Abwehr agierten jeweils vier Spieler, davor zwei defensive und drei offensive Mittelfeldspieler. Vorne lauerte ein einsamer Stürmer. Beide Teams nutzten also eine 4-2-3-1-Formation. Doch sie interpretierten die Formation völlig unterschiedlich: Während die Spanier den Ball lange in den eigenen Reihen laufen ließen, suchten die Niederländer den schnellsten Weg zum Tor. Und während die Spanier Zweikämpfen eher aus dem Weg gehen wollten, warfen sich die Niederländer in den Gegner – im wahrsten Sinne des Wortes, man denke nur an Nigel de Jongs Kung-Fu-Tritt gegen Xabi Alonso. Kurz gesagt: Außer der Formation hatten beide Teams nur wenige Gemeinsamkeiten. Die körperlich robusten Niederländer wählten eine andere Strategie und ganz andere taktische Mittel als die Spanier. Wie die Spieler ihre Formation auf dem Feld interpretieren, bezeichnet man als Spielsystem.
Unterschied zwischen Formation und System anhand des WM-Finals 2010
Bereits mehrfach habe ich angemerkt, dass Fußball ein komplexes Spiel ist. Wie also soll man nun die Taktik eines solch komplexen Sports in verdauliche Häppchen zerstückeln, damit am Ende ein halbwegs verständliches und dennoch fachlich korrektes Buch entsteht?
Zur Gliederung des Buchs habe ich ein Modell gewählt, das der niederländische Trainer Louis van Gaal entworfen hat. Laut ihm ist ein Fußballspiel eine stetige Abfolge von vier Phasen, die sich vom Anstoß bis zum Abpfiff immer wiederholen. Wenn der Gegner den Anstoß ausführt, befindet sich die eigene Mannschaft in der Defensivformation. Das ist die erste Phase: Der Gegner ist im Ballbesitz, die eigene Mannschaft versucht organisiert, ein Gegentor zu verhindern und den Ball zu erobern. Sobald ein Spieler den Ball erobert, beginnt die zweite Phase: das Umschalten auf eigenen Ballbesitz. Nun bietet sich die Chance, den Ballbesitz zu sichern oder mit einem Konter den Gegner zu überraschen. Sobald die Mannschaft den Ball gesichert hat, startet die dritte Phase: der eigene Ballbesitz. Ein defensiv organisierter Gegner soll nun ausgespielt und ein Tor erzielt werden. Verliert die Mannschaft den Ball, folgt die vierte Phase: das Umschalten von Offensive auf Defensive. Und dann geht das Spiel wieder von vorne los.
Dieses Modell ist keineswegs optimal. Erneut spielt die Komplexität des Sports mit hinein: Kaum eine Situation im Fußball lässt sich beschreiben, ohne indirekt auf eine andere Situation einzugehen. Das Fußballspiel befindet sich ständig im Fluss: Die Spieler bewegen sich frei, es gibt außer bei Ausbällen, Freistößen oder Toren keine Pausen. Ein Ball, der sich in einem Moment im Strafraum von Team A befindet, kann zehn Sekunden später im Strafraum von Team B sein. Die Übergänge zwischen den vier Phasen sind fließend. Juanma Lillo, spanischer Trainer und ein Vorbild für Pep Guardiola, sagte einst: «Das Spiel ist eine unteilbare Einheit, es gibt keinen defensiven Moment ohne angreifenden Moment. Beide kreieren eine funktionale Einheit.»
Und doch macht es Sinn, diese Aufteilung als Grundlage zu wählen. Zum einen aus Gründen der Übersichtlichkeit: Gerade Fans, die bislang nicht mit Taktik in Berührung kamen, erleichtert dies den Einstieg. Wer die vier Phasen eines Fußballspiels zu erkennen vermag, hat einen großen Schritt getan, die Taktik einer Mannschaft zu analysieren. Zum anderen ist es in den meisten Fällen noch immer so, dass es für die einzelnen Phasen ganz bestimmte taktische Prinzipien gibt, die man wieder und wieder im Profifußball entdecken kann. Diese Prinzipien werden in diesem Buch vorgestellt.
Die vier Phasen nach Louis van Gaal
Zunächst werde ich die Phasen des geordneten Ballbesitzes erläutern. Wie verteidigen Teams den gegnerischen Ballbesitz? Welche Prinzipien gelten bei eigenem Ballbesitz? Es folgen die Phasen, die sich während des Umschaltmoments abspielen. Wie sollten Teams auf einen Ballgewinn reagieren, wie auf einen Ballverlust? Im abschließenden Kapitel geht es um Situationen im Fußball, die außerhalb des klassischen Phasenmodells stattfinden: die Standardsituationen.
Die einzelnen Kapitel in diesem Buch sind jeweils nach einem ähnlichen Muster strukturiert. An erster Stelle kommt die Theorie. Ich erkläre die wichtigsten Begriffe und beantworte die Grundfragen, die jede Phase betreffen. Eine wiederkehrende Grundfrage lautet, welche Ziele Teams in den einzelnen Phasen verfolgen. Was will ein Team erreichen, wenn es selbst den Ball hat, was sind seine Ziele, wenn der Gegner den Ball hat? (Spoiler-Alarm: Die Antwort ist komplexer, als es zunächst scheint.) Auf die abstrakte Theorie folgt in jedem Kapitel die konkrete Praxis. Die taktischen Prinzipien und Verhaltensweisen von Teams wie Spielern versuche ich so gut es geht an Beispielen aus dem Profi-Fußball zu erläutern. Dieses Buch soll also kein Lexikon voller Definitionen sein. Allseits bekannte Trainer wie Jürgen Klopp oder Pep Guardiola sowie Weltklasse-Fußballer wie Kevin De Bruyne oder Eden Hazard werden Ihnen mehr als einmal begegnen. Auch wenn Taktik aus viel grauer Theorie besteht, gilt im Fußball stets die alte Weisheit von Trainer Otto Rehhagel: «Die Wahrheit liegt auf dem Platz.»
Die Defensive ist wohl der Bereich, den die meisten Fans mit Taktik in Verbindung bringen. Wenn Defensivpapst José Mourinho, wie er so schön zu sagen pflegt, «den Bus parkt» und den Gegner mit einem grandiosen Verteidigungsplan schachmatt setzt, loben ihn die Journalisten am nächsten Tag als «taktisches Genie». Nicht umsonst lautet eine Weisheit des Fußballs: Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive gewinnt Meisterschaften.
Trainer profilieren sich gerne über ihre Defensivtaktik. Sie klingen klug, wenn sie in Pressekonferenzen über kompaktes Verschieben zum Ball und Pressingsignale referieren. In den vergangenen Jahren verkamen diese Aussagen jedoch immer stärker zur Phrasendrescherei. Kaum ein Reporter hinterfragt im Interview, wenn der Trainer seine «kompakt stehenden Abwehrketten» lobt. Was steckt hinter dieser Aussage? Verteidigt jedes Team, das kompakt steht, auch automatisch gut? Welche Abwehrketten sind gemeint? Was die Floskeln in der Praxis bedeuten, bleibt häufig offen. Taktik hat auch immer etwas von einer Geheimwissenschaft.
In diesem Kapitel wird die Geheimwissenschaft Defensivtaktik entschlüsselt: Was bedeuten all die hochtrabenden Begriffe? Wie verhalten sich Teams, wenn der Gegner den Ball hat? Welche Prinzipien beachten Verteidiger? Viele Begriffe mögen kompliziert klingen, die dahinterstehenden Konzepte sind jedoch meist gut verständlich.
Die Ausgangssituation dieser Phase ist simpel: Der Gegner hat den Ball. Was ist nun das Ziel des verteidigenden Teams? «Na klar!», würde man sagen. «Kein Gegentor kassieren!» Schalkes früherer Trainer Huub Stevens brachte es einst auf den Punkt: «Die Null muss stehen!»
In diesem Buch trenne ich über die Begriffe Verteidiger und Angreifer das Team, das den Ball hat, vom Team, das den Ball nicht hat. Ein Verteidiger ist folglich ein Spieler der Mannschaft, die den Ball nicht hat. Ein Angreifer gehört zum Team, das den Ball hält. Die verteidigende Mannschaft ist das Team, das den Ball nicht hat. Die angreifende Mannschaft hat den Ball.
Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die Phase des gegnerischen Ballbesitzes endet mit der Balleroberung. Ohne Ball kann ein Team kein Tor erzielen. Ohne Balleroberung erhält das verteidigende Team folglich nie die Chance, ein Tor zu schießen. Der Gegner könnte im schlimmsten Fall neunzig Minuten den Ball in den eigenen Reihen halten. Ein 0:0, das niemandem gefallen dürfte. Ist der Gegner im Ballbesitz, bewegt sich das verteidigende Team also in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite möchte man den Gegner davon abhalten, ein Tor zu erzielen. Auf der anderen Seite möchte man selbst den Ball erobern.
Der Begriff Pressing grenzt diese zwei Facetten des Defensivspiels voneinander ab. In der Öffentlichkeit wird der Begriff meist falsch oder zumindest verkürzt benutzt. Wenn ein Team den Gegner in dessen Hälfte jagt, rufen Kommentatoren entzückt: «Was für ein Pressing!» Meist wird der Begriff nur dann verwendet, wenn eine Mannschaft die Balleroberung weit in der gegnerischen Hälfte anstrebt. Das ist aber nur ein Teilaspekt des Pressings. Die eigentliche Definition, wie sie auch vom DFB gelehrt wird, greift weiter: Pressing bezeichnet jeden Versuch, dem Gegner über direkte Zweikämpfe den Ball wegzunehmen, egal wo und egal von wie vielen Spielern er ausgeübt wird. Selbst wenn eine Mannschaft den Gegner erst kurz vor dem eigenen Strafraum stört, betreibt sie Pressing – eben dann nur weit in der eigenen Hälfte.
Pressing bezeichnet den Versuch eines verteidigenden Teams, dem Gegner über einen oder mehrere direkte Zweikämpfe den Ball abzunehmen.
Stört eine Mannschaft den Gegner nicht, agiert sie passiv. In dem Fall versuchen die Spieler, die Chancen des Gegners zu minimieren, vor das eigene Tor zu gelangen. Dazu versucht die Mannschaft, möglichst viele Spieler zwischen den Ball und das eigene Tor zu bekommen. Der Gegner wird nicht attackiert, es wird kein Druck ausgeübt. Die Verteidiger stellen den Gegner nur. Hier steht nicht das Erobern des Balls im Fokus, sondern das Verhindern eines Gegentors.
Baut sich ein Verteidiger nur vor dem ballführenden Spieler auf, geht aber nicht in den Zweikampf, stellt er ihn.
Die erste wichtige Lehre dieses Kapitels lautet: Eine gute Defensivtaktik hat nicht nur das Ziel, kein Gegentor zu kassieren. Der Fußball von Trainer Jürgen Klopp ist der beste Beweis: Er möchte, dass seine Mannschaft den Gegner jagt, unter Druck setzt, den Ball weit in der gegnerischen Hälfte erobert. Wenn möglich soll diese Balleroberung in einer Situation geschehen, welche die Chance auf einen schnellen Gegenangriff bietet. Je näher der Ball am gegnerischen Tor erobert wird, umso kürzer ist der Weg zum Tor – und umso leichter ist ein Konter möglich. Deshalb jagen Klopps Mannschaften den Gegner auf dem gesamten Feld. Auch das ist im Kern defensiver Fußball; wir befinden uns schließlich in der Phase, in der der Gegner den Ball hat. Der Unterschied liegt darin, dass bei Klopp die Eroberung des Balles im Vordergrund steht und nicht ausschließlich das Verteidigen des eigenen Tors.
In diesem Kapitel wird sich viel um die Frage drehen, wie man das Verteidigen des eigenen Tores und das Erobern des Balls in Einklang bringen kann. Wann macht es Sinn, sich zurückzuziehen und passiv zu verteidigen? Wann gehen Teams zu einem aktiven Pressing über? Kaum eine Mannschaft verfügt über die Kondition, den Gegner über neunzig Minuten durchgehend zu jagen und in Zweikämpfe zu verwickeln. Es gibt immer Phasen, in denen ein Team passiv agiert. Genauso muss selbst das defensivste Team zum Pressing übergehen, um den Ball zu erobern. Eine erfolgreiche Balleroberung trägt schließlich wesentlich bei zur Sicherung des eigenen Tors: Wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner keinen Treffer erzielen.
18. Dezember 2018. Nur noch eine Woche warten, dann ist Weihnachten – und damit auch Winterpause im Fußball. Zuvor muss die heimische Fortuna aber noch gegen den Tabellenführer antreten. Die Düsseldorfer Arena war vor dem Spiel gegen Borussia Dortmund bis auf den letzten Platz gefüllt – und bitterkalt. Das Thermometer zeigte knapp über null Grad an. Die Aussicht auf das Spiel wärmte die Herzen der Zuschauer nur bedingt: Der BVB hatte in dieser Saison noch keine einzige Partie verloren, 41 Tore waren ihm in 15 Spielen gelungen. Es gab keinen Grund zu glauben, dass die Borussia ausgerechnet gegen den Aufsteiger mit dem Toreschießen aufhören würde.
Es geschah das Unerwartete. Nach 22 Minuten ging Fortuna Düsseldorf in Führung. Nach 56 Minuten schossen sie das zweite Tor. Mit der Führung im Rücken zogen sie sich zurück. Weit zurück. Die Düsseldorfer formierten einen engen Block vor dem eigenen Strafraum. Zehn Spieler stellten sich zwischen das eigene Tor und Dortmunds Angreifer. Borussia Dortmund hatte fast 70 Prozent der Ballbesitzanteile, die Fortuna befand sich praktisch nur in der Verteidigung.
Doch die so torhungrige Offensive der Dortmunder fand einfach keinen Weg vorbei an den Abwehrketten. Immer wieder versuchte sie, eine Lösung zu finden gegen Düsseldorfs Defensive. Die Angreifer spielten den Ball nach links, zurück, nach rechts, wieder nach links. Doch egal, wie häufig sie den Ball von einer Seite zur anderen spielten: Nie öffnete sich eine Lücke im Düsseldorfer Defensivverbund. Der Gegner stand wie eine Mauer.
Fortuna-Trainer Friedhelm Funkel sagte nach dem Spiel: «Das Wichtigste war, den Dortmundern die Passwege zu schließen, damit sie ihren Hochgeschwindigkeits-Fußball nicht entwickeln konnten.» Dieses Zitat zeigt, wie mächtig eine gut funktionierende Defensive sein kann: Wer den Raum in der Defensive optimal besetzt, kann selbst den stärksten Gegner matt setzen. Genau das gelang den Düsseldorfern an diesem Winterabend. Es sollte die erste Niederlage der Dortmunder dieser Saison sein.
Was Düsseldorf in diesem Spiel optimal geschafft hat: Sie haben verhindert, dass der Gegner in Räume kommt, in denen er gefährlich werden kann. Gemeinschaftlich haben sie sich über den Platz bewegt, um die Passwege für den Gegner zu schließen. Dortmund durfte den Ball nie in gefährliche Zonen spielen.
Doch wie gelang ihnen das? Im ersten Teil des Kapitels werden die Grundlagen des modernen Verteidigens vorgestellt. Es dreht sich um die Frage, wie aus zehn Feldspielern und einem Torhütern eine Einheit entsteht, die optimal die Räume auf dem Feld besetzt. Dazu müssen wir zunächst tief in die Theorie eintauchen – und verstehen, wie Verteidiger ein Fußballspiel wahrnehmen.
Die Art, wie Profi-Teams heutzutage verteidigen, weckt Erinnerungen an das Synchronschwimmen. In beiden Sportarten sind die Bewegungen der Sportler derart synchronisiert, dass der Betrachter sie als Einheit wahrnimmt. Wenn Profi-Fußballer gemeinsam das eigene Tor verteidigen, weiß jeder Spieler genau, was zu tun ist. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt bewegen sie sich über den Platz. Rückt der Ball auf eine Seite, rücken sämtliche Spieler mit. Wie machen die Spieler das nur?
In der Taktikanalyse neigt man dazu, den Vogelblick einzunehmen. Teams werden als eine untrennbare Einheit betrachtet. Zehn Feldspieler und ein Torwart verteidigen gemeinsam das eigene Tor. Die Wahrheit liegt jedoch auf dem Platz, und hier sieht das Bild ganz anders aus: Elf individuelle Spieler müssen sich auf dem Feld zurechtfinden. Wo sollen sie stehen? Wie sollen sie verteidigen? Welche Räume sollen sie abdecken? Wann sollen sie zum Zweikampf übergehen?
Betrachten wir die Defensivarbeit aus den Augen eines Fußballers, gibt es für ihn auf dem Feld vier Referenzpunkte, an denen sich sein Verhalten ausrichtet. Diese vier Referenzpunkte sind:
Die eigene Position im Raum. Wo befindet sich der Spieler auf dem Feld? In der gegnerischen Hälfte? In der eigenen? Auf dem Flügel? Oder im Zentrum?
Die Position seiner Mitspieler. Wo stehen seine Kollegen? Wie groß ist der Abstand zu ihnen? Welche Mitspieler sind nahe bei ihm, welche weiter entfernt?
Die Position der Gegenspieler. Wo befinden sich die Gegenspieler? Welche Räume besetzen sie? Wie weit entfernt sind sie? Und wie weit entfernt sind sie vom eigenen Tor?
Die Position des Balls. Wo befindet sich der Ball? Ist er nahe oder weit entfernt? Ist er in der Luft oder am Boden? In welche Richtung bzw. zu welchem Gegenspieler könnte der Ball gespielt werden?
Die Entscheidungen, die ein Verteidiger trifft, finden immer im Zusammenspiel dieser Referenzpunkte statt. Ein Beispiel: Der Gegner möchte einen Pass von Spieler A zu Spieler B spielen. Der Verteidiger sieht eine Möglichkeit, den Pass abzufangen. Soll er das Risiko eingehen? Er muss sich orientieren. Wie ist seine Position im Raum? Wie weit ist er vom Ball entfernt? Wohin könnte der Ball rollen? Befindet sich ein Gegner in der Nähe, der früher als er am Ball sein kann? Es bestehen noch weitere Risiken. Was passiert, wenn er den Ball nicht erreicht? Wie groß wäre die Lücke, die er auf seiner aktuellen Position hinterlässt? Wäre ein Mitspieler in der Nähe, um für ihn abzusichern? Könnte ein Gegenspieler diese Lücke ausnutzen? Es gibt also ganz schön viel zu beachten! Solche Entscheidungen treffen Verteidiger ständig auf dem Feld. Ihnen mag nicht bewusst sein, dass ihre Entscheidung derart komplex ist und von den vier Referenzpunkten beeinflusst wird; es ist aber so.
Wie der Spieler diese Referenzpunkte gewichtet, entscheidet er nicht allein. Hier kommt die taktische Ausrichtung ins Spiel: Der Trainer bestimmt, wie sich die Mannschaft in der Defensive zu verhalten hat. Er gibt vor, ob sich die Verteidiger eher am Gegenspieler oder am Mitspieler orientieren sollen, wie weit die Verteidiger von ihren Mitspielern entfernt sein und wann sie den Ball erobern sollen. Über das Training verinnerlichen die Spieler die taktischen Vorgaben des Trainers, und im Idealfall erfüllen sie sie später auf dem Feld.
Die vier Referenzpunkte eines Verteidigers sind seine eigene Position im Raum, die Position seiner Mitspieler, die Position der Gegenspieler sowie die Position des Balls.
Früher unterschied man in der Defensive zwei Arten der Verteidigung: Mann- und Raumdeckung. Die erwähnten Referenzpunkte verraten die Unterschiede: Bei der Manndeckung ist der wichtigste Referenzpunkt für die Verteidiger der Mann, sprich: der Gegenspieler. Im Idealfall deckt jeder Verteidiger einen gegnerischen Angreifer. Bei der Raumdeckung hingegen ist die eigene Position im Raum der wichtigste Referenzpunkt, gerade in Bezug auf die Position der Mitspieler und des Balls. Das Ziel ist es, die Räume auf dem Feld abzudecken und dem Gegner Optionen zu versperren, vor das Tor zu gelangen.
Bei einer Mannorientierung orientiert sich ein Verteidiger in erster Linie an einem Gegenspieler. Bei der Raumorientierung ist seine Position im Raum im Verhältnis zu seinen Mitspielern und dem Ball entscheidend.
Sie werden schnell feststellen, dass ich die Begriffe Manndeckung und Raumdeckung nicht benutze. Der Grund ist simpel: Die Idee, dass eine Mannschaft ausschließlich den Mann oder ausschließlich den Raum deckt, ist in der Praxis nie gegeben. Stellen Sie sich eine reine Manndeckung vor: Würde jeder Verteidiger stur seinem Gegenspieler folgen, könnte der Gegner einfach mit sämtlichen Spielern an die Eckfahne rennen. Der Weg wäre frei für ein Dribbling des Torhüters. Das klingt wie eine absurde Idee – wäre aber genau der Fall, wenn jeder Verteidiger einzig den Gegenspieler als Referenzpunkt hätte. In der Praxis lassen die Verteidiger ihren Gegenspieler ziehen und orientieren sich an anderen Referenzpunkten, sobald sich ihr Gegenspieler zu weit von ihnen wegbewegt.
Mannorientierung
Raumorientierung
Ähnlich kann man gegen den Begriff der Raumdeckung argumentieren. In einer reinen Raumdeckung wäre der Referenzpunkt Gegner unbedeutend. Ein Verteidiger bekommt einen Raum zugeteilt. Er verteidigt diesen Raum, passiere, was wolle. Wie soll er reagieren auf das, was der Gegner tut? Wie soll er je in einen Zweikampf mit einem Gegenspieler gelangen, wenn er sich ausschließlich am Raum und nicht zumindest ein bisschen am Gegenspieler orientiert?
Sie merken: Es braucht immer eine Mischung aus allen Referenzpunkten. Deshalb spricht man heutzutage nicht mehr von Mann- oder Raumdeckung, sondern von Mann- oder Raumorientierung. Damit trägt man der Tatsache Rechnung, dass die Referenzpunkte relative Begriffe sind. Beispiel Mannorientierung: Je höher ein Spieler den Referenzpunkt Gegenspieler gewichtet, desto mannorientierter agiert er. An der «Je … desto»-Konstruktion erkennt man: Mannorientierung ist kein absoluter Zustand. Man kann mehr oder weniger mannorientiert agieren. Dieses Spielchen lässt sich ebenfalls betreiben mit der Raumorientierung, der Ballorientierung und der Mitspielerorientierung.
Gerade in Deutschland wird der Fußball häufig als Duell Mann-gegen-Mann gesehen. Fehleranalysen nach Gegentoren beschränken sich auf die Floskel: «Der Verteidiger stand nicht nah genug an seinem Gegenspieler!» Solche Analysen wären korrekt – wenn jede Mannschaft vorwiegend mannorientiert verteidigen würde. Das war tatsächlich bis vor rund dreißig Jahren der Fall. Der wichtigste Referenzpunkt war der nächste Gegenspieler. Jeder Verteidiger bekam einen gegnerischen Stürmer zugeteilt, an dem er sich orientieren sollte. Nur wenn der Gegenspieler sich allzu weit wegbewegte, beispielsweise in die eigene Hälfte oder auf die Flügel, ließ man ihn ziehen und orientierte sich am Raum. Diese Spielweise erscheint intuitiv: Deckt jeder Verteidiger einen Gegenspieler, steht kein Gegenspieler frei. Der Verteidiger kann sofort zum Pressing übergehen, sobald sein Gegenspieler den Ball erhält. Tatsächlich strukturieren auch heute noch manche Teams ihre Defensive auf diese Art. Aber nicht mehr die Mehrheit.
Wieso ist das so? In den vergangenen Jahrzehnten setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Orientierung am Raum ebenfalls Vorteile hat. Bei einer rein mannorientierten Spielweise reagiert eine Mannschaft ausschließlich auf das, was der Gegner tut. Sie bestimmt nicht selbst, wie sie aufgestellt ist und welche Räume verteidigt werden sollen.
Bei der Mannorientierung kann man Zugriff auf Gegenspieler herstellen; bei der Raumorientierung Zugriff auf Räume. Ziel der Raumorientierung ist es, die wichtigsten Räume zu kontrollieren. Was bedeutet Kontrolle? Zunächst einmal nichts anderes, als dass die Verteidiger in einem Raum den Ball früher erreichen können als die gegnerischen Angreifer. In diesem Fall kann der Gegner den Ball nicht in diesen Raum spielen. Der Verteidiger kann den Ball hier schließlich zuerst erreichen und damit erobern.
Eine Methode, Raumkontrolle zu visualisieren, sind sogenannte Voronoi-Diagramme. Man legt hierbei ein Gitter über das Feld. Die einzelnen Linien trennen die Räume ab, welche die Verteidiger und welche die Angreifer zuerst erreichen können. So zeigt sich, welche Räume die angreifende Mannschaft kontrolliert und welche Räume die verteidigende Mannschaft kontrolliert.
Der Vorteil einer raumorientierteren Spielweise: Man selbst bestimmt, wie man das Feld besetzt. Die verteidigende Mannschaft kann exakt die Räume absichern, die sie absichern will. Wichtige Räume können von mehreren Spielern gemeinsam verteidigt werden. So kann man, sollte der Ball in diesen Raum gelangen, den Zweikampf mit mehr als einem Verteidiger führen. Überzahlbildung, Absicherung, Unterstützung: Das sind die Eckpfeiler einer Raumorientierung. Wichtiger Referenzpunkt sind die eigenen Mitspieler: Nur wenn die Abstände zwischen den einzelnen Spielern passend sind, können sie sich gegenseitig unterstützen. Nur so lassen sich die Räume auf dem Feld effektiv abdecken.
Voronoi-Diagramm
Ziel einer guten Raumaufteilung in der Defensive lautet, die größten Gefahrenherde des Gegners zu neutralisieren. Dem Gegner soll es erschwert werden, das eigene Tor zu erreichen. Aus manchen Räumen auf dem Feld droht mehr Gefahr, in anderen weniger. Was sind die wichtigsten Räume, die man absichern muss, wenn man dem Gegner das Toreschießen erschweren will?
Der Begriff Breite beschreibt die horizontale Ausdehnung eines Fußballfeldes. Die Breite eines Fußballfeldes erstreckt sich von einer Einwurflinie zur anderen. Der Begriff Tiefe bezieht sich auf die Länge eines Fußballfeldes. Er beschreibt den vertikalen Weg zum Tor. Ein Pass in die Tiefe ist demnach ein Pass der angreifenden Mannschaft, der in Richtung des gegnerischen Tors gespielt wird.
Der Albtraum einer jeden Verteidigung ist der Pass in die Tiefe. Gemeint ist ein Pass hinter die letzte Linie, also hinter die Abwehrkette. Es gibt kaum eine bessere Torgelegenheit, als wenn der gegnerische Stürmer hinter die Abwehrkette gelangen und allein auf den Torhüter zulaufen kann. Deshalb gilt: Die verteidigende Mannschaft muss die Tiefe absichern.
Das Verteidigen des Zentrums hat Vorrang. Hier steht das Tor, und von hier aus hat der Gegner die beste Möglichkeit, ein Tor zu erzielen. Ein Torschuss aus sechzehn Metern ist gefährlicher, wenn er aus zentraler Position kommt, als wenn er von der Torauslinie abgegeben wird. Je stärker sich der Gegner dem eigenen Strafraum nähert, umso wichtiger ist es, das eigene Zentrum zu sichern.
Das Verteidigen der Flügel ist hingegen eher sekundäres Ziel. Auf dem Flügel ist der Gegner vom Tor entfernt: Er muss den Ball zunächst ins Zentrum bringen, um zum Torerfolg zu gelangen. Zudem sind seine Optionen hier beschränkt: Während im Zentrum das Spiel in alle Richtungen fortgeführt werden kann, beschränkt auf den Flügeln die Auslinie die Handlungsoptionen des Gegners. Von hier droht also selten eine direkte, sondern meist höchstens eine indirekte Gefahr für das Tor.
Aus diesen drei Punkten lässt sich ein goldenes Prinzip ableiten: Das Zentrum und die Tiefe müssen so gut wie möglich abgesichert werden, die Breite so gut wie nötig.
Voronoi-Diagramme haben in dieser Form eine große Schwachstelle. Es fehlt ein gewichtiger Referenzpunkt: der Ball. Nehmen wir einmal an, der Torhüter hat in Bild 6 den Ball. Er kann gar nicht sämtliche Mitspieler direkt anspielen. Gegenspieler befinden sich zwischen ihm und den eigenen Mitspielern. Die Verteidiger kontrollieren damit mehr Raum, als das Voronoi-Diagramm zeigt.
Das dahinterliegende Konzept ist das vielleicht wichtigste bei der Raumorientierung. Bild 7 erläutert das Konzept: In diesem Fall stehen sich der ballführende Angreifer und ein Verteidiger gegenüber. Der Angreifer hat nun zig Möglichkeiten, einen Pass zu spielen: nach links, nach rechts, neben den Verteidiger, über den Verteidiger. Nur durch den Verteidiger hindurch kann er keinen Pass spielen. Die Gesetze der Physik sind da recht eindeutig. Der Raum, der sich hinter dem Verteidiger befindet, ist für den Gegenspieler durch einen direkten Pass nicht zugänglich. (Es sei denn natürlich, er spielt den Pass durch die Beine des Verteidigers. Aber wir gehen einfach mal davon aus, dass der Verteidiger sich nicht so einfach blamieren lässt.)
Den Raum hinter dem Verteidiger bezeichnet man als Deckungsschatten. Bildlich gesprochen wirft er einen Schatten nach hinten, der den Raum hinter ihm abdeckt. Das Konzept des Deckungsschattens ist entscheidend bei der Raumorientierung. Auf diese Art kann eine Mannschaft den Raum des Feldes bestmöglich kontrollieren; sie kombiniert den Deckungsschatten ihrer einzelnen Spieler. Spieler, die nebeneinanderstehen, können weite Teile des Feldes mit Hilfe ihrer Deckungsschatten abdecken. Damit verhindern sie mögliche Pässe des Gegners.
Der Deckungsschatten
Der Deckungsschatten bezeichnet den Raum hinter einem Verteidiger, der nicht über einen direkten Pass zu erreichen ist. Jeder Verteidiger wirft einen solchen trichterförmigen Schatten nach hinten.
Fußball ist kein statischer Sport. So ist der Raum, der kontrolliert wird, immer nur eine Momentaufnahme. Drei der vier Referenzpunkte bewegen sich ständig: Ball, Gegenspieler, Mitspieler. Es würde also wenig bringen, sich einfach in einer Defensivformation aufzustellen, die entscheidenden Räume über eine raumorientierte Besetzung zu kontrollieren und auf die eigenen Deckungsschatten zu vertrauen. Man muss auf die Aktionen des Gegners reagieren.
Zurück zu unserem theoretischen Beispiel: Der Angreifer möchte einen Mitspieler anspielen, der sich hinter einem Verteidiger im Deckungsschatten befindet. Die Lösung ist simpel: Er bewegt sich mit dem Ball am Fuß einfach fünf Meter nach links. Der ballführende Spieler verschiebt damit den Deckungsschatten, den der Verteidiger wirft. Der Gegenspieler, der zuvor hinter dem Verteidiger im Deckungsschatten verschwand, ist nun anspielbar. So einfach macht es der Verteidiger dem Gegner aber nicht. Bewegt der Gegner sich nach links, folgt er ihm ebenfalls auf diese Seite – siehe Bild 8. Somit bleibt der Raum hinter ihm versperrt. Der Gegenspieler hinter ihm steht wieder in seinem Deckungsschatten.
Der Verteidiger verschiebt, um den Gegner im Deckungsschatten zu behalten
Dies ist das vielleicht wichtigste Defensivkonzept im modernen Fußball: das Verschieben. Wenn der Gegner fünf Meter nach links geht, geht der Verteidiger mit – und sein Deckungsschatten damit auch. Ein Verteidiger orientiert sich also nicht nur an den Referenzpunkten Raum und Mitspieler, sondern ebenso am Referenzpunkt Ball. Wenn der Ball nach links gespielt wird, bewegt sich der Spieler auf diese Seite. Er versperrt damit den Passweg.
Als Verschieben bezeichnet man die raumorientierte Bewegung über den Platz. Die Verteidiger verändern ihre Position, um den Raum auf dem Feld mit ihren Deckungsschatten optimal abzudecken.
In dieser Situation verändern sich wiederum die Referenzpunkte für seine Mitspieler: Ein Mitspieler befindet sich an einem anderen Ort, der Ball und die Gegenspieler ebenfalls. Sie müssen nun also auf die neue Situation reagieren. Alle Spieler müssen verschieben, damit sich keine Räume öffnen. Aus einer individualtaktischen Aktion – das Verschieben zum Ball – wird somit eine mannschaftstaktische Maßnahme: Alle Spieler bewegen sich synchron über den Platz – siehe Bild 9.
Früher nannte man diese Art des Verteidigens ballorientierte Raumdeckung. Da ich aber den Begriff Raumdeckung wie beschrieben nicht nutze, nenne ich diese taktische Maßnahme schlicht Verschieben. Je nach Situation kann ein Spieler horizontal verschieben (von einer Seite zur anderen) oder vertikal (von vorne nach hinten).
Das verteidigende Team verschiebt zum Ball
1998 sorgte Ralf Rangnick mit einem Auftritt im ZDF Sportstudio für Aufsehen. Moderator Michael Steinbrecher bat ihn, an einer Taktiktafel die Viererkette zu erklären. Der damalige Zweitliga-Trainer Rangnick machte sich daran, das in Deutschland unbekannte Phänomen Viererkette zu erläutern. Dieser Auftritt wurde zum Inbegriff der Taktik-Erklärungen im deutschen Fernsehen. Noch heute verbinden viele Fans den Begriff «Viererkette» mit moderner Taktik, auch wenn Rangnicks Auftritt mittlerweile mehr als zwanzig Jahre her ist.
Was bedeutet also der Begriff der Viererkette? Zunächst einmal nicht mehr, als dass vier Verteidiger auf einer Höhe stehen und eine Linie bilden, die parallel zur Mittellinie verläuft. Die Abstände zwischen den Verteidigern sind in etwa gleich groß. Sie versuchen, diese Abstände gleichmäßig zu halten. Hier kommt das Verschieben zum Einsatz: Geht der Ball nach links, verschieben alle Verteidiger einer Kette zusammen auf diese Seite. Geht der Ball auf die andere Seite, müssen sie wieder gemeinsam verschieben. Gleiche Abstände lautet das Zauberwort.
Eine Abwehrkette, in diesem Fall eine Viererkette
In einer Abwehrkette agieren mehrere Verteidiger auf einer Höhe. Sie verschieben gemeinsam von einer Seite zur anderen, je nachdem, wo sich der Ball befindet. Die Bezeichnung variiert, je nachdem, wie viele Verteidiger in einer Kette spielen. So gibt es Dreier-, Vierer-, Fünfer- oder gar Sechserketten.
Warum aber verteidigen Teams überhaupt in Ketten? Was ist der Vorteil? Ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, alle Spieler einer Mannschaft würden sich auf einer vertikalen Linie postieren, vom eigenen bis zum gegnerischen Strafraum. Das wäre eine ziemlich dumme Art, den Raum zu verteidigen. Auf den Flügeln wären riesige Freiräume. Der Gegner könnte einfach außen an der Verteidigung vorbeirennen.
Nun stellen Sie sich vor, alle zehn Verteidiger postieren sich nebeneinander auf der Mittellinie. Das ist schon intelligenter: Wenn sich die Verteidiger auf einer Höhe befinden, steht jeder Gegner hinter ihnen automatisch im Abseits. Damit würde man den Raum verkleinern, auf dem der Gegner spielen kann, schließlich müsste sich nun auch jeder gegnerische Spieler in der eigenen Hälfte positionieren, sonst stünde er im Abseits. Wenn alle Verteidiger sich auf der Mittellinie aufreihen, hätte man jedoch ein anderes Problem: Verliert man einen Zweikampf an der Mittellinie, könnte der Gegner einfach auf das Tor zumarschieren. Es steht ja kein Verteidiger mehr dahinter, der den ballführenden Stürmer aufhalten kann. Die Tiefe des Raums wäre also schlecht verteidigt. Man erzeugt in diesem Fall keine Kontrolle über die entscheidenden Räume.
Warum nun also Ketten? Es gilt, Breite und Tiefe des Raums zu verteidigen. Es ist quasi ein Kompromiss aus den beiden oben beschriebenen Varianten. Die Idee dahinter lautet: Der Gegner soll möglichst wenig Raum bekommen, auf dem er spielen kann – und der Raum, den er bespielen kann, soll möglichst gut abgedeckt werden. Die Spieler wiederum bekommen klare Referenzpunkte an die Hand: Sie wissen, welcher Spieler sich neben ihnen befinden soll. Sie kennen die Abstände, die zwischen den Spielern sein sollen. Das erleichtert die Verteidigungsarbeit in der Praxis ungemein.
Das verteidigende Team kann dabei selbst bestimmen, wie die eigene Formation aussehen soll. Sollen drei, vier, fünf oder gar sechs Spieler die Breite des Feldes abdecken? Wie viele Ketten sollen verteidigen? Wie groß sollen die Abstände zwischen den Spielern sein? Das bleibt dem Team überlassen. Wie die Teams den Raum in der Verteidigung besetzen, sagt wiederum manches aus über ihre Taktik. Die Formation einer Mannschaft bestimmt, in welchen Räumen sie wie viel Präsenz zeigt. (Dieses Thema wird behandelt im Abschnitt zu den defensiven Formationen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist zunächst nur wichtig zu verstehen, warum Teams überhaupt in Ketten verteidigen.)
Verteidigung in Ketten in einer 4-4-2-Formation
Marcelo Bielsa, früher Trainer der argentinischen Nationalmannschaft, sagte vor einigen Jahren, der bespielbare Raum im Fußball werde immer kleiner. «Der einzige Raum im Fußball, der größer wird, ist der Raum zwischen Verteidiger und Torhüter.» In der Tat: In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Abwehrketten weiter nach vorne verschoben. Teilweise verteidigt die hinterste Verteidigungslinie an der Mittellinie.
Hier kommt ein Vorteil der Verteidigung in Ketten zum Tragen: Eine Mannschaft kann auf Abseits spielen. Agieren die Verteidiger auf einer Höhe, befinden sich alle Spieler hinter ihnen im Abseits. Der Raum hinter den Verteidigern ist somit nicht direkt nutzbar für den Gegner. Je höher eine Abwehrkette steht, umso kleiner wird der Raum, der für den Gegner bespielbar ist. Rückt eine Abwehrkette also bis an die Mittellinie, kann sich kein Gegner in der Hälfte der Verteidigung positionieren, ohne im Abseits zu stehen. Der Raum für den Gegner wird verknappt: Ein riesiger Bereich des Feldes wird somit kontrolliert.
Die Raumverknappung hat das Ziel, den Raum möglichst klein zu halten, den der Gegner bespielen kann. Es ist ein wichtiges Ziel für die Defensive, erschwert es doch dem Gegner das Offensivspiel. Je weniger Raum dieser zur Verfügung hat, umso schwerer ist es, Aktionen wie Pässe oder Dribblings auszuführen.
Tatsächlich ist dieses Konzept der Raumverknappung entscheidend für die Defensivreihen: Der Raum, auf dem der Gegner spielen kann, soll möglichst klein gehalten werden. Je weniger Raum der Gegner zur Verfügung hat, umso schwieriger wird es, eine gute Lösung für das Offensivspiel zu finden.
Wie gelingt diese Raumverknappung? Ein Begriff, den man im Zusammenhang mit Abwehrketten häufig hört, ist der Begriff der Kompaktheit. Oder besser gesagt: Man hört den Begriff mittlerweile in jedem Zusammenhang des Fußballs. Wenn ein Kommentator, Experte oder Trainer die Defensivleistung einer Mannschaft loben will, hebt er stets die «Kompaktheit» eines Teams hervor, als gäbe es im Fußball nichts Heiligeres, als kompakt zu stehen. «Eine kompakte Defensive» ist zum Synonym verkommen für eine starke Defensive.
In der Theorie hat der Begriff Kompaktheit eine gänzlich andere Bedeutung. Kompaktheit misst per Definition den Abstand zwischen den einzelnen Spielern einer Mannschaft. Je näher aneinander die Spieler einer Mannschaft stehen, umso kompakter agiert das Team – siehe Bild 12.
Kompaktheit beschreibt die Abstände der Spieler einer Mannschaft. Je geringer die Abstände zwischen den Spielern sind, umso kompakter steht ein Team.
Kompaktheit funktioniert in zwei Richtungen:
Die vertikale Kompaktheit beschreibt den Abstand zwischen dem am tiefsten postierten Abwehrspieler und dem am weitesten vorne postierten Stürmer. Je geringer dieser Abstand, desto höher die vertikale Kompaktheit.
Die horizontale Kompaktheit beschreibt den Abstand zwischen den beiden äußersten Spielern eines Teams. Stehen die beiden äußersten Spieler jeweils an der Einwurflinie, nutzt die Mannschaft die gesamte Breite des Feldes. Damit steht sie horizontal nicht kompakt. Je näher die beiden äußeren Spieler aneinander agieren, desto kompakter steht die Mannschaft.
Kompaktheit. Das schwarze Team steht kompakter als das weiße
Der Begriff Kompaktheit beschreibt also Abstände. Er bewertet sie nicht. Es kann, muss aber nicht erstrebenswert sein, besonders kompakt zu verteidigen. Ich kann es nicht oft genug betonen: Es ist kein automatisches Lob für eine Mannschaft, kompakt zu stehen. Die kompakteste Defensive nützt wenig, wenn über die entscheidenden Räume auf dem Feld keine Kontrolle erzeugt werden kann. Die Prinzipien eines guten Defensivspiels sind vorrangig vor der Kompaktheit. Tiefe und Zentrum sollen so gut wie möglich, Breite so gut wie nötig verteidigt werden.
Im Zuge der Raumverknappung wiederum ist Kompaktheit ein hohes Gut. Wenn eine Abwehrkette weit vorrückt, hat sie das Ziel, den Abstand zu den Mitspielern kompakt zu halten. Das wiederum sorgt dafür, dass gegnerische Stürmer ins Abseits gestellt werden. Der bespielbare Raum für den Gegner wird damit minimiert.
Obwohl man mit einer Abwehrkette den Raum in der Breite ganz gut abdecken kann, wird es immer offene Lücken geben. Selbst wenn eine Abwehrkette mit sechs Mann verteidigt, gibt es Räume zwischen den Spielern, die offen stehen; Räume, in die der Gegner einen Pass spielen kann. Diese Räume nennt man Schnittstellen.
Die Räume zwischen den Verteidigern einer Kette nennt man Schnittstellen