Die Weltmeister von Bern - Tobias Escher - E-Book

Die Weltmeister von Bern E-Book

Tobias Escher

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Beschreibung

«Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Toooor!»  Jeder Fußball-Fan kennt diese Sätze. Der deutsche Triumph 1954 gilt bis heute als ein Wunder. Manche sehen in ihm sogar die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik. Tobias Escher gelingt es, anhand der legendären Weltmeisterschaft ein Stück deutscher Geschichte zu erzählen – schließlich waren fast alle deutschen Spieler noch als Soldaten im Krieg, fünf Jahre zuvor war Deutschland noch besetzt gewesen, von einer Bundesliga konnte man in den Fünfzigerjahren nur träumen. «Das Wunder von Bern» schildert auch das Leben nach dem Erfolg, das nicht selten wenig glamourös war, manchmal sogar in den Alkoholismus führte. Was waren das für Spieler, die aus einem zerstörten Land ohne Profi-Liga kamen und die als unschlagbar geltenden Ungarn besiegten? Und was wurde aus ihnen? Tobias Escher verknüpft ihre Lebenswege mit dem Fokus auf Rahn und den Walter-Brüdern zu einer großen Erzählung über das Deutschland jener Zeit und die Auswirkungen unverhofften Ruhms. 

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Tobias Escher

Die Weltmeister von Bern

Biographie einer Jahrhundertmannschaft

 

 

 

Über dieses Buch

«Aus, aus, aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!»

Jeder Fußball-Fan kennt diese Sätze. Der deutsche Triumph 1954 gilt als Wunder. Oft wird er gar als die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik bezeichnet. Doch für die Spieler wurde der «Geist von Spiez» nicht selten zu einem regelrechten Fluch.

Dieses Buch zeigt die Geschichte hinter dem Weltmeistertitel. Was waren das für Spieler, die aus einem zerstörten Land ohne Profi-Liga kamen und die als unschlagbar geltenden Ungarn besiegten? Und was wurde nach der WM aus ihnen? Tobias Escher erzählt die packende Geschichte der ersten Sternstunde der deutschen Nationalmannschaft im Spiegel der Gesellschaft der Nachkriegszeit.

Vita

Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs «Spielverlagerung.de», das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung «Bohndesliga», einer Produktion von Rocket Beans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher für die «WELT» sowie für das Fußball-Magazin «11 Freunde». Das «Medium Magazin» wählte Escher 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten. Bei Rowohlt erschienen zuletzt seine Bücher «Der Schlüssel zum Spiel. Wie moderner Fußball funktioniert» und «Was Teams erfolgreich macht».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung picture alliance/dpa

ISBN 978-3-644-01984-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Prolog

«Sechs Minuten noch im Wankdorfstadion in Bern. Keiner wankt. Der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. Es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus. Wie könnten sie auch? Eine Fußballweltmeisterschaft ist alle vier Jahre. Und wann sieht man solch ein Endspiel? So ausgeglichen, so packend!»

Alles fühlt sich schwer an. Die Füße. Das Knie. Der Kopf. 84 Minuten hat Ottmar Walter alles aus seinem Körper herausgepresst. Es regnet unaufhörlich. Seine Kleidung ist vollgesogen, der Ball scheint doppelt so viel zu wiegen wie beim Anpfiff. Ottmar war nach links ausgewichen, nach rechts, ließ sich fallen und sprintete wieder und wieder in den Strafraum.

Doch die meiste Zeit hatte er zugeschaut. All die Lücken, die er zulief, all die Kopfballduelle, in die er sich warf: allenfalls eine Fußnote gegen eine ungarische Mannschaft, die minutenlang das deutsche Tor belagert hatte.

2:0 hatten sie geführt, ehe Deutschland noch vor der Halbzeitpause zum 2:2 ausglich. Ottmar beobachtete, wie die Ungarn auf dem Weg zur Kabine miteinander schimpften. Doch er sah auch, wie sie aus der Kabine zurückkamen. Mit dem Willen, den Deutschen eine Lektion zu erteilen.

Kein Spieler merkt so schnell, wenn ein Spiel gegen die eigene Mannschaft läuft, wie der Mittelstürmer. Er nimmt dann nicht mehr teil am Spiel. Dreißig Minuten lang war es Ottmar Walter jetzt schon so ergangen. Der Ball befand sich weit weg von ihm, im deutschen statt im ungarischen Strafraum. Keine Minute verging ohne ungarische Torchance. Ferenc Puskás schießt auf das deutsche Tor – Toni Turek pariert. Mihály Tóth dribbelt zwei Abwehrspieler aus – Werner Kohlmeyer wirft sich in den Schuss. Sándor Koscic köpft – die Latte rettet.

Doch nun spürt Ottmar, wie sich das Blatt wendet. Plötzlich fliegen wieder Bälle in seine Richtung. Lange Schläge, um die er sich mit den gegnerischen Verteidigern streitet. Flanken führen zu Kopfballduellen, und Kopfballduelle führen zu Eckbällen. Ottmar Walter ist wieder im Spiel – und damit auch die deutsche Nationalmannschaft.

«Jetzt Deutschland am linken Flügel, durch Schäfer. Schäfer spielt zu Morlock, wird von den Ungarn abgewehrt.»

Eigentlich könnte Helmut Rahn sich zurücklehnen. Den versprochenen Treffer hat er bereits geliefert, vor über einer Stunde, als er den Ball nach einer Ecke nur über die Linie drücken musste. Nur, so richtig rahnmäßig war das Tor nicht. Er wollte eine seiner berühmten Bomben zünden, für die ihn seine Mitspieler bewundern und die Gegner fürchten. In der 75. Minute hatte er die Möglichkeit dazu, als er einen Doppelpass spielte und das Leder aufs Tor jagte. Doch Torhüter Gyula Grosics fischte den Ball aus dem Winkel. Dieser verdammte Grosics!

Das darf es nicht gewesen sein, denkt Rahn. Ein Ding muss ihm noch gelingen. Nichts hält ihn mehr auf seiner Rechtsaußen-Position. Die zeichnet Sepp Herberger sowieso nur an die Tafel, weil er den Namen Rahn ja irgendwo hinschreiben muss. Rahn und sein Trainer wissen: Er wird sowieso überall auftauchen. Nun schleicht er sich ins Zentrum. Auch wenn die Flanke von Schäfer nicht ankommt: Rahn überkommt das Gefühl, dass dies nicht die letzte Hereingabe war.

«Bozsik. Immer wieder Bozsik. Er hat den Ball verloren. Diesmal gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt.»

Ottmar Walter hat wieder etwas zu tun. Schon bevor Schäfer den Ball erhält, sprintet er in den Strafraum. Er weiß genau, was kommen wird. Schäfers Flanken sind gut. Nicht so butterweich wie die gelöffelten Hereingaben seines Bruders. Aber sie sind gut genug, um die ungarischen Abwehrspieler zu beschäftigen.

Ottmar merkt früh, dass er den Ball nicht erreichen wird. Selbst wenn – die Flanke fliegt zu weit hinter ihn, um den Ball irgendwie Richtung Tor zu drücken. Aber er kann Mihály Lantos ärgern. Der ungarische Verteidiger soll den Ball nicht sauber köpfen können. Dafür will Ottmar sorgen.

«Kopfball. Abgewehrt.»

Lantos’ Kopfball landet direkt vor den Füßen von Helmut Rahn. Genau wie von ihm vorhergesehen. Er nimmt ihn an und hebt kurz den Kopf. Drei Gegenspieler, keiner in direkter Reichweite. Sehr gut. Genau so wollte er ihn haben.

Ottmar Walter läuft nach rechts. Er steht mutterseelenallein vor dem Tor. Ein Pass zu ihm, und er muss den Ball nur noch am Torhüter vorbeischieben. Ottmar schreit sich die Seele aus dem Leib. «Boss! Boss!» Doch eigentlich weiß er: Wenn Rahn den Ball in Schussposition erhält, gibt es für ihn keine Mitspieler mehr. Es gibt nur noch den Ball und das Tor.

Alle wissen das. Nur Lantos nicht. Der Manndecker zögert eine Sekunde. Kein Ungar steht näher zu Rahn. Lantos fürchtet, Rahn könnte zu Ottmar passen. Armer, unwissender Lantos. Ein Helmut Rahn spielt keine Pässe, sobald er in Schussposition steht.

Rahn sieht, wie Lantos zögert. Er bestärkt dessen Zweifel. Mit einem kurzen Kontakt mit dem rechten Bein täuscht er einen Pass an. Im letzten Moment zieht er den Ball mit der Innenseite nach links. Lantos merkt, dass er hereingelegt wurde. Mit einem Spagatschritt hechtet er zum Ball. Zu spät.

«Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen.»

Rahn hat sich mit seinem Haken Zeit verschafft. Eine Gasse öffnet sich zwischen den Verteidigern. Ein direkter Weg zum Tor. Helmut Rahn bemerkt sie als Erster. Dann sehen Lantos und seine Mitspieler die Lücke. Zu dritt stürzen sie auf Rahn.

«Rahn schießt.»

Die Ungarn reißen Rahn zu Boden, aber erst, nachdem er mit dem linken Fuß einen Schuss abgelassen hat. Rahn sieht den Ball nicht. Aber das muss er auch nicht. Schon als er die Kugel getroffen hatte, wusste er, wo sie landen wird.

«Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!»

Teil 1 Vor Spiez

OW: Ein Traum und ein Krieg

Ottmar Walter kann die Wut nicht mehr verdrängen. Den ganzen Tag hatte er sich den Schwachsinn anhören müssen. «Lass es doch einfach sein, Ottmar! Du wirst nie so gut wie dein Bruder! Siehst du nicht, was der Fritz alles kann?» Besonders sein Vater schien stets zu wissen, was Ottmar alles nicht schaffen wird. Eins betont er immer wieder: So gut kicken wie der Fritz wird Ottmar nie.

Ottmar kennt die Sprüche; nicht nur von seinem Vater, sondern auch von den Mitschülern, von seinen Mitspielern, von den Zuschauern. Tief im Inneren weiß er, dass sie recht haben. Niemand auf der Welt bewundert Fritz Walter so sehr wie sein kleiner Bruder. Er wird den Ball nie so elegant streicheln, nie solch ein Gefühl entwickeln für das Geschehen auf dem Platz. Aber es deshalb nicht versuchen? Ottmar hat die Hänseleien ertragen. Nicht immer still und klaglos – dafür war er zu wild und sein Mundwerk nicht zahm genug. Aber er hat sich nie so aufgelehnt wie an diesem 14. Juli 1940.

Eigentlich hätte es ein Freudentag sein sollen. Sein 19 Jahre alter Bruder Fritz trägt zum ersten Mal das Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Deutschland gegen Rumänien. Der 16 Jahre alte Ottmar und sein Vater sitzen im Stadion, als Fritz mit Adler und Hakenkreuz auf der Brust den Rasen des Frankfurter Waldstadions betritt. Die 40000 Zuschauer jubeln, als der älteste Walter-Spross die ersten drei Treffer vorbereitet. Sie sind völlig aus dem Häuschen, als der Debütant in der zweiten Halbzeit selbst drei Tore erzielt. 9:3 lautet der Endstand. Zu Hause erwartet die gesamte Familie den frisch gebackenen Nationalspieler. Ottmar, sein Bruder Ludwig und seine Schwestern Sonja und Gisela überreichen Fritz einen Blumenstrauß. In der Gaststätte der Familie wird gefeiert bis zum Morgengrauen.

Dieser Tag weckt in Ottmar einen sehnlichen Wunsch. Er will auch das schwarz-weiße Trikot der Nationalmannschaft tragen. Die deutsche Nationalhymne hören. Von Zehntausenden von Zuschauern angefeuert werden und nicht, wie am heimischen Betzenberg, nur von ein paar Tausenden. Noch am selben Tag fasst er einen Entschluss: Er will Nationalspieler werden, genau wie sein Bruder.

Ottmar erzählt seiner Familie von diesem Wunsch. Sein Vater lacht nur. «Du steifer Jockel wirst niemals so gelenkig wie der Fritz!» Da platzt Ottmar der Kragen. Mit blanker Faust schlägt er auf ein Bierfass. «Ich wette um ein Fass Bier, dass ich es schaffe!» Das gigantische Fünfzig-Liter-Fass zeigt sich von Ottmars Schlägen unbeeindruckt. Sein Vater auch. «Leicht verdientes Bier», murmelt er und schlägt ein. Ottmar hat nun einen weiteren Grund, allen zu beweisen, was in ihm steckt.[1]

Ottmar Walter erblickt am 6. März 1924 das Licht der Welt. Er ist das dritte Kind von Ludwig und Dorothea Walter. Sein Vater wuchs auf im Dorf Niederkirchen, etwas nördlich von Ottmars Geburtsstadt Kaiserslautern. Ludwig verließ seine Heimat vor dem Ersten Weltkrieg. Ihn zog es nach Amerika, er wollte die weite Welt sehen und ein paar Dollar verdienen. 1914 kehrte er zurück in die Pfalz. Wenige Tage später bricht der Erste Weltkrieg aus. Ludwig wird zum Militär eingezogen. Die Armee schickt ihn nach Berlin. Hier lernte er Dorothea kennen, Spitzname: «s’ Dorsche». Die waschechte Berlinerin war kaum zwanzig, als sie mit Ludwig das erste Kind erwartete: ihren Sohn Friedrich, Rufname: Fritz, geboren am 31. Oktober 1920. Gemeinsam zog die frisch gebackene Familie zurück in die Heimat des Vaters, genauer gesagt nach Kaiserslautern. Mit dem angesparten Geld aus Ludwigs Zeit in Amerika und mit etwas finanzieller Hilfe seiner Mutter kaufte sich die junge Familie ein Haus in der Bismarckstraße. Im Erdgeschoss eröffneten die Walters eine Gastwirtschaft. Für 70 Pfennig bekommt man Rippchen mit Sauerkraut und Brot, für 90 Pfennig ein Kotelett mit Kartoffeln. An besonderen Tagen servieren sie Gulasch mit Nudeln.

Ottmars Kindheit spielt sich hauptsächlich zwischen dieser Gastwirtschaft und der Schule ab – wobei die Betonung auf «zwischen» liegt. Die Walter-Söhne verbringen selten Zeit zu Hause. Ottmars ältester Bruder Fritz trat schon von Kindesbeinen an gegen jeden Gegenstand, den er finden konnte. Mit sechs überzeugte er die anderen Kinder auf der Straße, ihn beim Fußball mitspielen zu lassen. Sie waren deutlich älter, doch Fritz war schon in jüngsten Jahren der merklich bessere Kicker. Der schmächtige Junge nahm den Ball und dribbelte an allen anderen vorbei. Es ist der Beginn seiner Karriere als Schreck eines jeden Gegenspielers.

Fritz gibt die Freude am Fußballspiel an seine zwei Brüder weiter. Ludwig junior, der zweitälteste Sohn, ist still und zurückhaltend. Sohn Nummer drei, Ottmar, hat Temperament. Fritz sorgt dafür, dass sie immer mitspielen dürfen. Grünflächen sind im Kaiserslautern der Zwanzigerjahre rar gesät. Fußball wird auf den Straßen gespielt. Nur alle paar Jubeljahre tuckert ein Auto vorbei. So haben die Kinder die Möglichkeit, von Bordstein zu Bordstein zu kicken. Auf Kaiserslauterns Straßen befinden sich zu jener Zeit auf beiden Seiten der Straße Einlässe zum Kanal; Einbuchtungen im Bordstein, welche die Kinder mit Sandsäcken füllen.[2] So konnten die Kinder auf zwei Tore spielen, von einer Straßenseite zur anderen. Gekickt wird mit allem, was die Umgebung hergibt: Stofffetzen, runde Steine, verlorene Tennisbälle. Einen eigenen Ball können sie sich nicht leisten. Um das zu ändern, sammeln die Kinder der Bismarckstraße die abgeschälten Kartoffelschalen in den ansässigen Lokalen und verkaufen sie als Tierfutter an die Bauern. Der mit dem Gewinn erworbene Ball wird gehütet wie ein Schatz.

Ludwig senior ist nicht begeistert, dass sich seine Kinder dem Fußball verschreiben. Er hat keine konkrete Abneigung gegen den Sport. Längst vorbei ist die Zeit, als der Fußball als «Fußlümmelei» verschrien war. Ludwig würde es jedoch lieber sehen, dass seine Jungs boxen. In Amerika hat er häufig Boxkämpfe besucht. Ihn faszinierten die dunkelhäutigen Kämpfer mit ihren durchtrainierten Körpern. Als der Deutsche Max Schmeling 1936 gegen den haushohen Favoriten Joe Louis aus den USA boxt, sitzt Walter senior mit seinen Jungs am Radioempfänger. Der Kampf findet zur amerikanischen Prime Time statt – also mitten in der deutschen Nacht. Die Stimme des Reporters überschlägt sich, als der krasse Außenseiter den amerikanischen Favoriten zu Boden schickt. Ottmar lauscht gespannt. Einige Zeit später will er sich auch im Boxsport versuchen – allerdings nur kurz. Seine Liebe gilt dem Fußball.

Ottmar saugt alles auf, was sein Bruder tut: jede Bewegung, jede Finte, jede Technik. Aber er kann nicht jede der filigranen Bewegungen einfach kopieren. Sein Vater hat recht: Sein Körper ist steifer als der seines Bruders, seine Knie nicht so beweglich, sein Fuß hölzerner. Doch Ottmar weiß, dass er gar nicht so gut sein muss wie Fritz. Wenn sein Bruder zwei oder drei Kinder auf sich zieht, genügt es, wenn Ottmar sich hinter deren Rücken wegstiehlt. Fritz muss nur den Ball zu ihm passen, und er schießt ihn ins Tor. So gewinnen die Walter-Brüder jedes Spiel. Im Sommer treffen sich die Kinder Kaiserslauterns auf einer Wiese hinter der Nähmaschinenfabrik Pfaff. Sie tragen das Turnier der Straßen aus, jede Straße stellt eine Mannschaft. Fast immer stammt die Siegermannschaft aus der Bismarckstraße.

Mit der Zeit kicken die Gebrüder Walter nicht mehr nur auf der Straße. Ihre Mutter meldet sie im örtlichen Sportverein an. Der nächstliegende Klub wäre eigentlich der VfR Kaiserslautern, dessen Stadion steht auf dem Erbsenberg. Dorothea Walter gefällt der Verein jedoch nicht. Die Berlinerin ist sich zu fein für den Arbeiterverein VfR, murmeln sie in Kaiserslautern. Die Wahrheit ist simpler: Ein anderer Klub verspricht, Fritz mit Sportschuhen auszustatten. Dorothea hasst es, dass Fritz seine guten Schuhe immer beim Kicken ruiniert. So meldet sie Fritz Walter beim 1. FC Kaiserslautern an. Seine Brüder folgen ihm zu jenem Klub, dessen Sportplatz auf dem Betzenberg steht. Ottmar überredet auch seinen Freund Ernst Liebrich und dessen Bruder Werner, zum 1. FCK zu gehen.

In den Sommerferien reisen die Walters meist nach Berlin. Die Schwester der Mutter lädt sie ein. Ottmar und seine Brüder verbringen viel Zeit am Wannsee, aber auch auf den Straßen der Stadt. «Am Brabanter Platz und in den Hinterhöfen haben wir mit den Kindern der Nachbarschaft natürlich auch Fußball gespielt», wird sich Ottmar später erinnern. «Mitunter waren wir dann die Stars – oder wollen wir es mal so sagen: Die Großstadtbuben haben über uns Jungs aus der Provinz nicht schlecht gestaunt, was wir so alles mit dem Ball machten.»[3] Berlin ist für die Walter-Kinder eine zweite Heimat.

Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, verändert sich Ottmars Tagesablauf. Die nationalsozialistische Partei hat große Pläne für Deutschlands Jugend. Sie soll im Geist des neuen Regimes geschult werden. Die Mädchen müssen zum Bund Deutscher Mädels, die Jungs wiederum kommen in die Hitlerjugend. Die Nachmittage und Wochenenden stehen ganz im Zeichen des Führers. Ottmar Walter kickt nunmehr nicht nur auf der Straße und für den 1. FC Kaiserslautern, sondern auch unter dem Wappen Fähnlein 3. Dazwischen müssen die Jugendlichen immer wieder paramilitärische Übungen absolvieren. «Ein guter deutscher Junge gehorcht!», bringt ihm der Vorsitzende seiner Gruppe bei, der Jungführer. Der neun Jahre alte Ottmar versteht dieses neue Regime nicht so ganz, freut sich aber, noch öfter Fußball spielen zu dürfen. In der Hitlerjugend steigt Ottmar in den Rang eines Sportwartes auf.[4] Er lebt eine Jugend im Zeichen des Sports, immer in tiefster Bewunderung zu seinem großen Bruder.[5]

Das Talent von Fritz Walter spricht sich schnell herum. Anfangs hatte der Jugendtrainer des 1. FC Kaiserslautern Fritz noch in der Abwehr aufgestellt. Als er in einem seiner ersten Spiele beim Stand von 0:4 nach vorne stürmt, erzielt er prompt ein Tor. Sein Trainer empfängt ihn in der Kabine mit einer Standpauke. Ein deutscher Junge habe die Befehle eines Erwachsenen zu befolgen! Aus Fritz werde sowieso nie ein Stürmer, poltert der Trainer. Das entpuppt sich als eine der größeren Fehleinschätzungen der deutschen Fußballgeschichte. Fritz Walter wird alsbald im Sturm aufgestellt und schießt Tore am Fließband.[6] Mitte der Dreißigerjahre kommen zu den Spielen der Jugendmannschaften des 1. FC Kaiserslautern fast so viele Zuschauer wie zu den Partien der Herren-Elf. Sie wollen den Wunderknaben Fritz Walter sehen.

Mit 17 Jahren soll Fritz in der Herren-Mannschaft debütieren. Laut geltender Spielordnung dürfen jedoch nur Spieler ab 18 in der ersten Mannschaft auflaufen. Um diese Regelung zu umgehen, bedarf es der Sondergenehmigung eines Arztes. Der weigert sich jedoch, Fritz ein Attest auszustellen. «Der Kerl ist nur ein Strich in der Landschaft! Was wollt ihr mit dem?»[7] Fritz muss aufgepäppelt werden. Der Vereinsvorstand organisiert, dass Fritz täglich bei der Familie Speyerer zu Mittag essen kann. Die Speyerers haben einen Metzgerbetrieb und immer ein paar Scheiben Wurst oder ein Kotelett übrig. Hier genießt Fritz deftige Kost und Fleisch in Massen. Was er nicht aufisst, nimmt er mit nach Hause. Seine Brüder erhalten die Reste.

Ottmar kennt es bereits, dass sein Bruder eine Sonderbehandlung erhält. Wenn Ottmar oder seine Geschwister nicht aufessen wollen, zwingen ihre Eltern sie dazu. Bei Fritz wird ein Auge zugedrückt. Die Mutter sagt immer zu Fritz, er habe so schöne Hände – viel zu schade, um Schuhe zu putzen. Ottmar und Ludwig müssen also Fritz’ Treter polieren, damit dessen Hände schön sauber bleiben. Und wenn Fritz sich den ganzen Tag auf dem Fußballplatz rumtreibt, sagt sowieso niemand etwas – das ist schließlich seine Gabe. So muss Ottmar allein dem Vater ein Butterbrot bringen, wenn dieser früh am Morgen im Wald Stockholz sammelt. Auf den hochbegabten, sensiblen Fritz nehmen alle Rücksicht. Ludwig und Ottmar werden hingegen zu starken Jungs erklärt und entsprechend behandelt.

Neid empfindet Ottmar jedoch nie. Zumindest äußert er sich nie so. «Ich war Fritz-vernarrt. Fritz war für mich alles, das muss ich ehrlich zugeben. Er wusste, dass ich alles für ihn tun würde … Mich hänselten sie manchmal, wenn sie sagten, du musst dich aber anstrengen, wenn du so werden willst wie der Fritz … Ich orientierte mich unwahrscheinlich am Fritz, an allem, was er spielerisch-technisch an den Tag legte.»

Fritz muss nicht lange auf sein Debüt warten. Sein erstes Spiel für den 1. FC Kaiserslautern bestreitet der 17-Jährige am 25. März 1938. Beim Freundschaftsspiel gegen den 1. FC Pforzheim schießt er zwei Tore. Danach steht er auch in der Liga in der Kaiserslauterer Startelf. Die Mannschaft steigt trotzdem ab. Fritz Walter sorgt aber in der kommenden Saison dafür, dass der 1. FCK direkt in die oberste Liga zurückkehrt. Er ist an 93 der insgesamt 113 Tore beteiligt. In einigen Spielen trifft er vier- oder fünfmal.[8]

Ottmar sitzt häufig im Publikum, wenn sein Bruder aufläuft. Die meisten Spiele finden ohnehin in der näheren Umgebung Kaiserslauterns statt. Eine nationale Liga kennt der deutsche Fußball nicht. Der Deutsche Fußball-Bund hätte 1933 beinahe eine Profiliga eingeführt. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten war dies Makulatur. Diese schafften die Landesverbände ab und gliederten den deutschen Fußball in Sportgaue. In 16 Gauligen spielen die Klubs um eine regionale Meisterschaft. Der 1. FC Kaiserslautern spielt zur Saison 1938/39 in der Mittelpfalz-Staffel der zweiten Gauliga Südwest. Dort trifft Fritz Walters Team auf illustre Namen wie den SV Niederauerbach oder den Werksportverein Kammgarn.[9]

Um den Jahreswechsel 1938 auf 1939 sieht Karl Hohmann erstmals Fritz Walter spielen. Er ist einer der vielen Regionaltrainer, die sich um den Nachwuchs im deutschen Fußball kümmern. Hohmann erkennt Fritz Walters Talent sofort. Begeistert kontaktiert er den Reichstrainer. Sepp Herberger ist zuständig für die Nationalmannschaft und damit die oberste Instanz im deutschen Fußball. Herberger solle bitte zum nächsten Lehrgang im Südwesten Deutschlands erscheinen, Hohmann wolle ihm einen ganz besonderen Spieler vorstellen. Er verspricht nicht zu viel. «Talente wie den Fritz entdeckt man nicht, die kommen von selbst hervor», wird Herberger später über diesen Tag sagen.[10] Er zeigt Fritz seine Bewunderung auf die Herberger-eigene Art: indem er ihm erst einmal vorhält, was er alles an seinem Spiel verbessern müsse. Er brauche mehr Kondition, müsse härter trainieren, und vor allem Kopfbälle solle er üben! In sein Notizbuch trägt er ein: «Fritz Walter, 1. FC Kaiserslautern».

Fritz absolviert in den kommenden Monaten Extraschichten. Statt zwei- bis dreimal die Woche zu trainieren wie seine Mannschaftskameraden, klettert er jeden Tag über den Zaun des Trainingsgeländes, um frühmorgens oder spätabends allein zu üben. Bei Waldläufen arbeitet er an seiner Kondition. Ottmar sieht, welch ein Pensum sein Bruder absolviert, und tut es ihm gleich. «Zweimal in der Woche trainierten wir mit der Jugend. Zusätzlich fuhr ich jeden Abend mit dem Fahrrad in den Wald, machte meinen Waldlauf, sprang an Bäumen hoch, köpfte und so weiter – das waren alles Dinge, die ich dem Fritz abguckte.»

Ottmar Walters Weg in die erste Mannschaft des 1. FCK verläuft schneller als der seines Bruders. Am 1. September 1939 überfällt das nationalsozialistische Deutschland Polen. Am 3. September erklären Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Die jungen Erwachsenen, die jedes Wochenende auf den Fußballplätzen kicken, verlassen in Scharen ihre Heimat. Sie werden zur Armee eingezogen. Auch der 1. FC Kaiserslautern verliert nach und nach seine Spieler an die Kriegsfront. Der Klub sucht händeringend nach Verstärkung.

So bestreitet Ottmar bereits im Alter von 17 Jahren das erste Spiel im rot-weißen Trikot des 1. FC Kaiserslautern. Sein Debüt führt ihn im September 1941 nach Metz.[11] Wenige Wochen zuvor hatte das Deutsche Reich den sogenannten Blitzkrieg gegen Frankreich gewonnen. Die lokalen Führer der nationalsozialistischen Partei wollen die Verbindung des alten und neuen Deutschlands feiern. Sie setzen ein Freundschaftsspiel zwischen einer Heeresauswahl und dem 1. FC Kaiserslautern an. Kaiserslautern gewinnt mit 9:3. Fritz schießt vier Tore. Ottmar eins.[12]

In den kommenden Monaten beeilen sich die Nationalsozialisten, die annektierten Gebiete in das Reich einzugliedern. Kaiserslautern ist nun nicht mehr Teil der Gauliga Südwest, sondern kickt in der Gauliga Westmark. Die Gegner stammen nicht mehr nur aus Speyer oder Ludwigshafen, sondern auch aus dem saarländischen Saarbrücken oder dem lothringischen Metz.

Ottmar avanciert nach seinem Debüt schnell zum Stammspieler. Woche für Woche läuft er an der Seite seines Bruders auf. Fritz hat die Rolle des Mittelstürmers inne, Ottmar spielt als Halbstürmer neben ihm. Die vorherrschende taktische Formation der Zeit, das WM-System, sieht fünf Stürmer vor: In der Mitte kickt der Mittelstürmer, auf den beiden Flügeln die Außenstürmer. Dazwischen schließen die Halbstürmer die Lücken und verbinden das Spiel zwischen den Außen und dem Zentrum. Ottmar fühlt sich in dieser Rolle ideal aufgehoben: Er darf seinem Bruder zuarbeiten, ihm die Bälle zuspielen und dessen Pässe erlaufen. Fritz interpretiert die Rolle des Mittelstürmers ohnehin recht frei. Er taucht mal hier auf, spielt mal dort einen Pass oder schlägt vom Flügel eine Flanke. Ottmar kennt die Spielweise seines Bruders wie kein anderer. Er weiß, wann er dessen Position einnehmen und wann er in den freien Raum starten muss. Ottmar stellt sich auf dem Platz ganz in den Dienst seines Bruders.

Nicht nur die Gebrüder Walter sorgen für Aufsehen. Auch Ottmars Freund Ernst Liebrich hat mittlerweile in der ersten Mannschaft debütiert. Werner Kohlmeyer, nur wenige Wochen jünger als Ottmar, verstärkt das Team in der Abwehr. Er ist nicht nur ein bulliger Verteidiger, sondern bricht auch in der Leichtathletik mehrere lokale Rekorde. Mit dem erst 20 Jahre jungen Werner Baßler versteht sich Ottmar besonders gut. Ottmar spielt gerne mit dem Flügelstürmer zusammen. Die Talente des 1. FCK dominieren die neu gegründete Gauliga. Der FK Pirmasens, geschwächt durch die Abberufung seiner Spieler in den Krieg, geht gegen den FCK mit 0:26 unter. Die Schmach sitzt so tief, dass die Pirmasenser ihre Mannschaft am nächsten Tag vom Spielbetrieb abmelden.

Kopf der Mannschaft bleibt Fritz Walter. Bereits im Jahr 1942 bezeichnen die Sportgazetten den FCK als «Walterelf». Fritz war mittlerweile zum Stammspieler in der deutschen Nationalmannschaft aufgestiegen. Die Länderelf ruht auch im Krieg nicht. Im Gegenteil: Sie bestreitet so viele Spiele wie nie zuvor. Während die Nationalsozialisten den Krieg über ganz Europa bringen, wollen sie im Heimatreich den Anschein der Normalität wahren. Länderspiele dienen als Ablenkung für die Bevölkerung. Zugleich nutzen die Nazifunktionäre diese Partien, um Bände zu knüpfen zu Verbündeten und zu Nationen, die unter deutscher Besatzung stehen. Zwischen April 1940 und April 1941 finden 13 Länderspiele statt. Fritz war seit seinem Debüt im Juli 1940 bei jedem Lehrgang anwesend. Er sieht Nationaltrainer Herberger fast schon häufiger als seine eigene Familie.[13]

Dass Fritz selten zu Hause ist, liegt auch an einem anderen Grund. Auch ein Nationalstürmer bleibt nicht verschont vom Militärdienst. Der Zweite Weltkrieg fordert einen stetigen Nachschub an Soldaten. Kaum ein kriegsfähiger Mann kann sich dem entziehen. Eine glückliche Fügung sorgt dafür, dass Fritz in seiner Heimatstadt Kaiserslautern einkaserniert wird. Zu den Spielen seiner Kaiserslauterer darf er die Kaserne verlassen, an die Front muss er zunächst nicht. Dennoch rückt der Krieg damit näher an die Familie Walter.

Dem sportlichen Erfolg des 1. FCK tut dies keinen Abbruch. In der Gauliga Westmark eilt der Club von Sieg zu Sieg. Als Gauliga-Meister qualifizieren sie sich für die Ausscheidungsspiele um die Deutsche Meisterschaft. Die Sieger aller Gauligen treten im K.-o.-System an, um den deutschen Meister zu ermitteln. In der ersten Runde treffen die Kaiserslauterer auf Waldhof Mannheim. Es wird die erste große Sternstunde der Walter-Brüder. Ottmar erzielt das frühe 1:0 und später einen weiteren Treffer, sein Bruder steuert drei Tore bei zum 7:1-Erfolg. Die überregional bislang kaum bekannten Kaiserslauterer tauchen plötzlich auf in der Liste der Titelfavoriten.

In der zweiten Runde muss der 1. FCK gegen den FC Schalke 04 antreten. Seit 1934 stand der Verein aus Gelsenkirchen in acht von neun Endspielen um die Deutsche Meisterschaft. Fünfmal haben sie den Titel errungen. Die Mannschaft um Ernst Kuzorra und Fritz Szepan spielt technisch derart brillanten Fußball, dass ihr Spiel einen eigenen Namen bekam: Der «Schalker Kreisel» soll beschreiben, wie die Schalker unentwegt die Positionen tauschen und sich den Ball zuspielen. Pass, Annahme, Pass: So lautete das Idealbild des «Schalker Kreisels».

Da die Gelsenkirchener selbst in Kriegszeiten in Bestbesetzung antreten, sind sie auch in diesem Jahr haushoher Favorit. Gegen den 1. FC Kaiserslautern werden sie dieser Rolle gerecht. Die Walter-Brüder sehen staunend zu, wie die Schalker Ball und Gegner laufen lassen. Der Ball kreiselt um sie herum und an der Lauterer Abwehrreihe vorbei. Zwischenzeitlich führt Schalke mit 7:0, ehe Ottmar und Fritz noch drei Ehrentore erzielen. Schalke gewinnt 9:3. Der Traum von der deutschen Meisterschaft – er ist fürs Erste ausgeträumt.

Der Fußball dominiert das Leben der Walter-Brüder. Sie gehen zwar, wie alle Kicker jener Zeit, geregelten Berufen nach. Fritz hat auf der Sparkasse gelernt, Ottmar ließ sich zum Kfz-Mechaniker ausbilden. Unter der Woche warten sie aber nur auf den Sonntag, den Tag des Fußballs. Sie leben für ihren Sport.

Mit der Zeit wirft der Krieg aber immer größere Schatten auf ihr Leben. Fritz war es gelungen, in den ersten eineinhalb Jahren als Soldat vom Frontdienst verschont zu bleiben. Im April 1942 wird er jedoch an die Front berufen. Nationaltrainer Herberger sorgt sich um seinen Schützling. Der 21-Jährige ist schon jetzt Kopf und Herz seiner Nationalmannschaft. Herberger besorgt Fritz ein Attest; angeblich setze ein Magenleiden diesen außer Gefecht. Die nächsten zwei Monate verbringt Fritz im Lazarett in Nancy. Das hindert ihn nicht daran, zwischenzeitlich abzureisen und die Meisterschaftsspiele gegen Mannheim und Schalke zu bestreiten. In beiden Spielen zeigt der «kranke» Fritz Fabelleistungen. Als Fritz’ Attest abläuft, überlegt sich Herberger eine neue List. Dank seiner Hilfe wird Fritz nicht an die Front, sondern nach Berlin versetzt. In der Heimatstadt seiner Mutter kickt er fortan für die Truppenmannschaft eines Wachbataillons.[14]

Ottmar wird mit jedem Tag stärker vor Augen geführt, dass er sich dem Krieg nicht mehr lange wird entziehen können. In Kaiserslautern werfen bereits 1940 britische Kampfflugzeuge erste Bomben auf die Stadt. Seit das Deutsche Reich im Sommer 1941 auch der Sowjetunion den Krieg erklärt hat, mehren sich die Meldungen toter und vermisster Soldaten. Millionen junger Deutscher werden an die Ostfront geschickt und kehren nie zurück. Ottmar will nicht warten, bis er zum Militärdienst berufen wird. Er will sein Schicksal selbst in der Hand behalten. Im Juli 1942 meldet er sich zusammen mit seinen Mannschaftskameraden Werner Baßler und Ernst Liebrich zum Marinedienst. Keiner von ihnen hatte zuvor irgendeinen Bezug zu Schiffen; Kaiserslautern ist weder für seine Meereslage noch für seine Seen bekannt. Der größte See, den Ottmar je gesehen hatte, dürfte der Wannsee bei seiner Tante in Berlin gewesen sein. Warum also ausgerechnet die Marine? Ganz einfach: Den jungen Männern gefallen die blauen Uniformen. «Auf die Mädchen wirkten die blauen Jungen besonders anziehend», so Ottmar.

Die Naivität, mit der Ottmar und seine Mannschaftskameraden in den Krieg ziehen, verblüfft. Bis heute gibt es keine Anhaltspunkte, dass ein Mitglied der Walterelf besondere Hingabe zum Nationalsozialismus hegte. Im Gegenteil: Ernst Liebrich hatte sogar eine recht distanzierte Haltung zu den Machthabern. Sein Vater war als früheres Mitglied der kommunistischen Partei eingesperrt worden. Nur deshalb war er aus seinem Verein geflogen und beim 1. FC Kaiserslautern gelandet. Doch auch Ernst Liebrich meldet sich freiwillig. All die jungen Männer waren zum Dienst am Heimatland erzogen worden. Sie wissen, dass sie dem Kriegsdienst sowieso nicht entgehen können. Warum dann nicht wenigstens schick aussehen?

Für Ottmar Walter bedeutet der Marinedienst zunächst keinen Fronteinsatz. Im holländischen Breda, damals von Deutschland besetzt, erhält er seine Grundausbildung. Zum Jahreswechsel 1943 wird er nach Kiel versetzt. Unter der Woche lernt er auf Marineschiffen. An den Wochenenden will er nicht auf Fußball verzichten. Ottmar und Werner Baßler melden sich beim örtlichen Verein Holstein Kiel als Gastspieler. Während des Zweiten Weltkriegs ist es üblich, dass deutsche Soldaten am Ort ihrer Kasernierung die lokalen Vereine verstärken. Das wirbelt den deutschen Fußball mächtig durcheinander. Während zuvor namhafte Teams ihre Spieler an die Front verlieren, können bis dato unterklassige Teams aus Städten mit hoher Militärpräsenz auftrumpfen.

Holstein Kiel gehört zu diesen Vereinen. Die mit zahlreichen Gastspielern gespickte Mannschaft avanciert zum besten Team in Deutschlands Norden. Ottmars erstes Spiel im Trikot der Holstein-Störche ist ein Freundschaftsspiel gegen den FC St. Pauli im März 1943. Kiel siegt 10:1. Die Mannschaft gewinnt deutlich die Gauliga Schleswig-Holstein. Während Ottmars Stammverein, der 1. FC Kaiserslautern, geschwächt von kriegsbedingten Abgängen, im Niemandsland der Gauliga Westmark herumdümpelt, spielt Ottmar mit seinen Kielern um die Deutsche Meisterschaft.

Ottmar Walter (Zweiter von rechts) kämpft im Dress von Holstein Kiel um die Deutsche Meisterschaft 1943.

Das Deutsche Reich hat zu diesem Zeitpunkt eine Ausdehnung erreicht wie nie zuvor. Zur deutschen Meisterschaft haben sich alteingesessene Vereine qualifiziert wie der amtierende Meister FC Schalke oder der Rekordmeister 1. FC Nürnberg, aber auch Teams aus Warschau, Posen oder Wien. Holstein Kiel zieht in der ersten Runde ein Freilos. Im Achtelfinale müssen sie beim Berliner SV antreten. Die Stadt, in der Ottmar viele Sommer seiner Jugend verbracht hat, treibt ihn zu Höchstleistungen an. Er erzielt den wichtigen ersten Treffer. Kiel gewinnt 2:0. Wie im Vorjahr steht Ottmar im Viertelfinale um die Deutsche Meisterschaft.

Dort warten alte Bekannte. Den Kielern wird der FC Schalke 04 zugelost. Als die Auslosung bekannt wird, steht halb Kiel Kopf. Die Nachfrage nach Karten ist kaum zu befriedigen. Zahlreiche Schaulustige wollen die legendären Schalker Kicker Ernst Kuzorra und Fritz Szepan bestaunen. Der Platzwart beschließt eigenmächtig, dass in das 15000 Menschen fassende Stadion auch 18000 Zuschauer hineinpassen. Zwar müssen auch die Schalker durch den Krieg Talente an die Mannschaft heranführen, wie etwa den 16 Jahre jungen Stürmer Berni Klodt. Dennoch geht der amtierende Meister als haushoher Favorit in das Spiel.

Die Partie auf dem Holstein-Platz avanciert zu einer der größten Fußball-Sensationen der Kriegsjahre. Die Kieler gehen früh in Führung. Ottmar ist zwar selten im Strafraum zu finden. Doch immer wieder reißt er Lücken für seine Mitspieler oder setzt sie mit klugen Pässen in Szene. Ohne Fritz an seiner Seite genießt er mehr Freiheiten, und er weiß diese zu nutzen. Noch vor der Pause schießt Holstein das zweite und das dritte Tor. Schalke kommt über einen Elfmeter zwar zum Ehrentreffer. Doch als Holstein mit dem Schlusspfiff das 4:1 erzielt, brandet im ganzen Stadion Jubel auf. Die Zuschauer stürmen das Spielfeld, sie tragen ihre Helden auf den Schultern vom Platz.

Im Halbfinale wartet der Dresdner SC. Der Spielbetrieb wird bereits vom Krieg bestimmt. Lange Reisen sollen vermieden werden aus Angst vor Fliegerangriffen und um das überlastete Transportwesen zu schonen. Daher findet das Spiel auf halbem Wege zwischen beiden Städten im Hannoveraner Eilenriedestadion statt. Die Kieler Spieler reisen schon einen Tag vorher an. Am Morgen des Spiels am 13. Juni 1943 kommt es zu einem Luftangriff auf die Stadt Kiel. Deutsche Jäger und die britische Royal Air Force liefern sich über der Stadt eine größere Schlacht. Die Sorge um Verwandte und Freunde wiegt bei vielen Spielern größer als die Konzentration auf ein Fußballspiel. Dresdens Nationalstürmer Helmut Schön erzielt den ersten Treffer, zwei weitere folgen. Holstein verliert mit 1:3. Die Dresdner gewinnen wenige Tage später auch die Deutsche Meisterschaft.

Auf Ottmar Walter wartet ein letztes Spiel im Kieler Dress. Zu jener Zeit wird auch der dritte Platz der deutschen Meisterschaft ausgespielt. Im Berliner Poststadion findet das Spiel um Platz drei einen Tag vor dem großen Finale statt. Gegen den First Vienna FC zeigen die Kieler noch einmal ihr ganzes Können, ehe die Marine die Mannschaft über alle Meere verstreut. Besonders Ottmar ist hoch motiviert, schließlich läuft er abermals in der Heimatstadt seiner Mutter auf. An den ersten beiden Kieler Treffern ist er beteiligt, das dritte Tor erzielt er selbst. Kiel gewinnt mit 4:1.[15]

Ottmar Walter zieht sich in den Katakomben des Olympiastadions um, als eine kleine Gestalt die Kabine betritt. Ottmar Walter kennt den Mann von Fotos und aus Erzählungen seines Bruders. Seine Mitspieler verstehen kaum ein Wort, als der Mann im Trenchcoat im Mannheimer Dialekt zu babbeln beginnt. Der Pfälzer Ottmar versteht den badischen Mundschlag von Sepp Herberger ohne Schwierigkeiten. «So, Sie sind also Ottmar Walter. Ihr Bruder hat mir schon viel von Ihnen erzählt», sagt der Reichstrainer. Ottmar lauscht andächtig seinen Worten. Herberger hat wie immer etwas zu mäkeln. «Sie sollten Ihre Sprungkraft und Ihre Antrittsschnelligkeit ein bisschen verbessern.»

Kurz bevor er die Kabine verlässt, spricht er die Worte aus, von denen Ottmar seit Jahren träumt. «Bald haben wir ein Länderspiel gegen Finnland. Halten Sie sich bereit.»

Einige Wochen lang wartet Ottmar Walter auf die Berufung zum Länderspiel. Mit jedem Tag schwindet seine Hoffnung. Als Sepp Herberger ihm das Versprechen gab, ihn zum nächsten Länderspiel mitzunehmen, war das letzte Spiel der Nationalelf bereits Monate her. Es fand im November 1942 statt, in Bratislava traf Deutschland auf die Slowakei. Das Ergebnis – ein deutscher 5:2-Sieg – war nebensächlich. Die Partie erinnerte weniger an ein Fußballspiel denn an eine politische Kundgebung. Die Zuschauer nutzten das Spiel, um ihren Unmut über die deutsche Kriegstreiberei auszudrücken. Schon beim Einlaufen ins Stadion grölten und pfiffen die slowakischen Fans. Jedes Foul an den Deutschen wurde frenetisch bejubelt. Nach der Halbzeitpause wollten die deutschen Spieler den Rasen gar nicht mehr betreten. Herberger musste ihnen gut zureden, damit sie auf das Feld zurückkehrten.

Ottmar muss einsehen, dass Herberger sein Versprechen nicht wird halten können. Die Sportpresse druckt nichts über ein Länderspiel gegen Finnland. Seit Joseph Goebbels wenige Wochen vor den deutschen Meisterschaftsspielen den «totalen Krieg» ausgerufen hat, wurde der Sportverkehr drastisch eingeschränkt. Herberger hatte zwar hinter den Kulissen nichts unversucht gelassen, um ein Länderspiel gegen Finnland zu organisieren. Doch die Macht eines Reichstrainers ist in Zeiten des totalen Krieges begrenzt. Ottmars Traum vom Länderspiel – er bleibt ein Traum.

Er setzt sich neue Ziele. Holstein Kiel will ihn unbedingt halten. Als einfacher Marinesoldat ist dies kaum möglich. Ottmar bemüht sich um eine Stelle als Sportoffizier. Es wäre die Chance, seinen Marinedienst dem geliebten Sport zu widmen. Ehe er für diese Dienstlaufbahn infrage kommt, muss Ottmar jedoch 18 Monate Frontbewährung nachweisen. Walter lässt sich an die Atlantikküste versetzen. Fortan schiebt er Dienst auf dem Torpedoboot T 15.

Er bleibt in Kontakt mit Herberger. Über seinen Bruder hat Ottmar erfahren, dass Herberger den Nationalspielern beim Militärdienst unter die Arme greift. Fritz wurde mehrfach zu Truppenteilen verlegt, bei denen wenig Gefahr eines Fronteinsatzes besteht. Zeitweise hatte er für eine Pariser Soldatenelf gekickt, ehe er nach Italien abkommandiert wurde. Trotzdem war Ottmar in großer Sorge um seinen Bruder gewesen. Während er um die Deutsche Meisterschaft kämpfte, rang Fritz monatelang mit einer Malaria-Infektion. Als diese geheilt war, kündigten die Italiener das Bündnis mit den Deutschen. Sie kämpften fortan aufseiten der Alliierten gegen Deutschland. Fritz konnte sich nur kurz vor knapp über die Alpen retten. Zumindest war er heil nach Kaiserslautern zurückgekehrt.

Wenig später hört Ottmar, dass sein Bruder bei einem Jagdgeschwader dient. Ottmar kommt das seltsam vor. Wie wurde aus seinem Bruder, dem Obergefreiten der Wehrmacht, über Nacht ein Unteroffizier der Luftwaffe? Bald jedoch sah er Fritz’ Namen häufig in den Sportzeitungen und konnte sich die Hintergründe zusammenreimen. Denn Fritz kickt in der Mannschaft der «Roten Jäger», einem Fußballtrupp zusammengestellt von Hermann Graf. Der Major ist ein hochdekorierter Kriegsheld, mit seinem Jagdflieger hatte er mehr Abschüsse vorzuweisen als jeder andere Kampfpilot. Die nationalsozialistische Propaganda hatte Graf zu einem Helden der Kriegszeit erhoben. Seine wahre Leidenschaft aber gilt dem Fußball. Einst war Graf als überdurchschnittlich fähiger Torhüter in den Dunstkreis der Nationalmannschaft gelangt. Zu einem Länderspieleinsatz kam er zwar nicht, doch er blieb mit Reichstrainer Sepp Herberger freundschaftlich verbunden. Im Krieg lebt diese Verbindung neu auf. Graf und Herberger lassen nach und nach einige der besten deutschen Kicker zur Luftwaffe versetzen. Graf bastelt sich so eine Auswahlmannschaft des deutschen Fußballs. Die NS-Oberen drücken beide Augen zu angesichts von Grafs Verdiensten und seiner hohen Popularität im Volk. Außerdem lassen sich Grafs «Rote Jäger» zur Truppenbespaßung einspannen.[16]

Ottmar wird nicht Teil der Mannschaft. Herberger versucht stattdessen, Ottmar bei Breslau 02 unterzubringen, einer Sammelstelle für verdiente Kicker analog zu den Roten Jägern. Doch das Vorhaben misslingt. Ottmar muss weiter Kriegsdienst in Brest schieben. Für kurze Zeit liegt sein Schiff vor Cuxhaven vor Anker, und er verstärkt die örtliche Mannschaft des Cuxhavener SV. Ansonsten rückt der Fußballsport in den Hintergrund – wie im gesamten Reich. Ottmar ist jetzt in erster Linie Marinesoldat.

Viele Soldaten berichten, dass das Nervenaufreibende an einem Krieg nicht unbedingt die Kämpfe selbst sind. Es ist die ständige Furcht davor, wann ein Gefecht ansteht. Für Marinesoldaten gilt dies in noch viel stärkerem Maße als für andere Truppenteile. Sie befinden sich mit ihren Schiffen auf dem Meer, umgeben von nichts außer Wasser. Die Ortungssysteme können zwar vor Feindkontakt warnen. Doch im Zweiten Weltkrieg ist angesichts der Bedrohung durch U-Boote und schlechter Radargeräte nie ganz klar, wann Gefahr droht.

Ottmar Walter erlebt den Angriff mitten in der Nacht. Leuchtraketen steigen auf. Der stockdüstere Himmel färbt sich taghell. Torpedos sausen durch das Wasser. Von allen Seiten fliegen Kugeln. Granaten schlagen ein, Splitter wirbeln durch die Luft. Der Lärm übertönt alles. Ottmar schnappt sich seine Schwimmweste. Viel mehr bekommt er nicht zu fassen. Es endet, kaum dass es begonnen hat. Ottmars Schiff säuft ab.

Ottmar klammert sich an seine Schwimmweste. Das Adrenalin, das durch seinen Körper strömt, beginnt zu schwinden. Langsam spürt er die Schmerzen. Ottmar betrachtet seinen Körper. Ein Loch klafft in seinem Oberarm, ein weiteres in seinem Oberschenkel. Aus seiner Schulter ragen kleine Splitter. Das Wasser um ihn färbt sich rot. Am meisten schmerzt sein rechtes Knie. Er kann es kaum bewegen. Mehrere Splitter haben sich durch das Fleisch gebohrt.

Stundenlang treibt Ottmar zwischen Trümmer- und Leichenteilen. Ein deutsches Boot sammelt ihn und einige weitere Verletzte auf. Von den 130 Mann an Bord hat kaum jemand überlebt.[17]

Im Lazarett stapeln sich die Verletzten auf den Gängen. Die Ärzte haben kaum Zeit, sich intensiv um ihre Patienten zu kümmern. Der Marinearzt Dr. Linnemann befindet sich auf seiner Visite, als er plötzlich innehält. «Ich kenne Sie! Sie sind Ottmar Walter. Ich habe Sie spielen sehen!» Der Arzt ist ein Fan von Holstein Kiel und hatte das Spiel gegen Schalke im Stadion verfolgt. Er betrachtet Ottmar Walters rechtes Knie. Die Splitter müssen raus. Während eines Krieges, in dem kaum Zeit bleibt für fachgerechte Amputationen, entfernt Dr. Linnemann in einer komplizierten Prozedur einige der Splitter aus Walters Knie.

Als Ottmar Walter nach der Operation erwacht, fragt er: «Kann ich jemals wieder Fußball spielen?» Doch der Arzt kann nicht einmal sagen, ob das Bein gerettet ist. «In fünf Tagen müssen Sie das Bein wieder um 90 Grad beugen können. Ansonsten bleibt es für immer steif.»[18]

Ottmar Walter liegt in seinem Krankenbett und versucht, sein Bein zu bewegen. Er lässt sich Gewichte geben, um die Muskeln anzusprechen. Mit zehn Kilo an jedem Fuß wippt er. Stundenlang. Die Schmerzen, die er spürt, sind kaum zu beschreiben. Doch er gibt nicht auf. Es hätte das Ende für all das bedeutet, was er je geträumt hat. Das Fußballspielen. Die Laufbahn als Sportoffizier. Das Trikot der Nationalmannschaft. Eisern zieht Ottmar sein Trainingsprogramm durch. Bereits nach vier Tagen kann er das rechte Bein um 90 Grad beugen.

Zusammen mit Ottmar Walters Schiff gehen große Teile der deutschen Marine unter. Die Alliierten landen unter amerikanischer Führung in Omaha Beach. Schnell verdrängen sie Deutschland von der Atlantikküste. Der kampfunfähige Ottmar gelangt in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Die Amerikaner schicken ihn nach Brest, ehe er auf ein Gefangenenschiff geführt wird.

Ottmar hat in seiner Kindheit viele Geschichten über die Vereinigten Staaten gehört. Sein Vater sprach unentwegt von seiner Zeit in Übersee. Von den Boxkämpfen, die er besuchte, den großen Werbetafeln, die überall hingen, den Menschen aus aller Herren Länder, die er dort traf. Ottmar hatte wie seine Brüder davon geträumt, eines Tages nach Amerika zu reisen. Dass er dies an Bord eines Gefangenenschiffs tut, ist eine bittere Fügung des Schicksals.

Ottmar Walter erlebt das Kriegsende in einem Gefangenenlager in Virginia, Tausende Kilometer und ein Weltmeer getrennt von seiner Heimat. Auch nach der Kapitulation geben die Amerikaner ihre Kriegsgefangenen nicht frei. Ottmar wartet. Einen Monat. Zwei. Ein ganzes Jahr. Viel zu tun gibt es in seinem Gefangenenlager nicht, zu sehen noch viel weniger. Um das Warten erträglich zu gestalten, beginnt er zu rauchen. Ottmar weiß, dass Sportler eigentlich nicht rauchen sollen, Nationalspieler erst recht nicht. Aber wozu sich jetzt zurückhalten? Sport lässt sich hier kaum treiben. Die Amerikaner haben kein Interesse am Fußball. Ob und wann er nach Hause kommt, weiß er nicht. Eine Nationalmannschaft gibt es nicht mehr, ganz zu schweigen von einer Nation.

Zwei quälend lange Jahre verbringt Ottmar Walter in Übersee. Erst 1946 kehrt er nach Europa zurück, genauer gesagt in ein Kriegsgefangenenlager in England. Nahe Liverpool wartet er auf seine Entlassungspapiere. Der Prozess zieht sich. Auf einer Schreibstube erkennt ein Offizier seinen Namen. «Walter … Kennen Sie den Fußballspieler Fritz Walter?» «Ja», antwortet Ottmar gedankenschnell. «Das ist mein Bruder.» Der Offizier will es zuerst kaum glauben. Dann fachsimpelt er mit Ottmar über den Fußballgott und die Welt. Wenige Tage später erhält Ottmar seine Entlassungspapiere. Er darf mit dem nächsten Schiff nach Deutschland zurückkehren. Der Name Walter erspart ihm eine lange Wartezeit.

Als er am 2. Oktober 1946 am Hamburger Hafen eintrifft, erwarten ihn sein Bruder Fritz und Sepp Herberger bereits. Der frühere Reichstrainer ist nunmehr arbeitslos. Er eröffnet Ottmar, dass dieser nicht sofort in seine Heimatstadt Kaiserslautern zurückkehren könne. Deutschland sei nunmehr in vier Zonen geteilt: eine amerikanische, eine britische, eine französische und eine sowjetische. Kaiserslautern läge in der französischen Zone. Die Franzosen seien früheren Soldaten gegenüber nicht gerade wohlwollend gesinnt nach diesem bestialischen Krieg. Sie würden Ottmar sofort wieder in ein Lager stecken. Herberger habe aber ein oder zwei Ideen, wie sich Ottmars Rückkehr bewerkstelligen ließe. Auch in diesen Nachkriegsmonaten ist Herberger ein eifriger Pläneschmied. Bis er etwas Konkretes habe, könne Ottmar bei ihm in Weinheim wohnen, sagt Herberger. Es liegt nicht weit entfernt von Kaiserslautern, allerdings nicht in der französischen, sondern der amerikanischen Zone.

Noch mehr staunte Ottmar, als Fritz ihm erzählt, dass er nicht mehr auf der Sparkasse arbeitet. Er steht nun ganz in Diensten des 1. FC Kaiserslautern. «Ottmar, wir haben wieder eine Mannschaft zusammen. Wir spielen wieder. Willst du mitmachen?»

HR: Eine Jugend im Krieg

Man kann sich Bilder anschauen des alten Ruhrgebiets, Erinnerungen lesen, Zeitzeugen lauschen. Aber riechen kann man das Ruhrgebiet nicht mehr. Könnte man hundert Jahre in der Zeit zurückreisen, würde man sich als Erstes an diesem Geruch stören. Der beißende Duft von Kohle und Teer und Schlacke – er ist längst verflogen. Zu einer Zeit, als das Wort Umweltschutz nicht einmal Schulterzucken hervorrief, flogen der Dampf und der Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken einfach in die Luft.

Zeit seines Lebens wird Helmut Rahn auf diesen Geruch verweisen, wenn er von seiner Heimat spricht. Dieser süßlich-modrige Duft, der charakteristisch ist für das Gebiet zwischen den Flüssen Ruhr und Emscher. Diesen Duft atmet Rahn vom Tag seiner Geburt an ein. Dieser Duft ist seine Heimat.

Helmut Rahn kommt am 16. August 1929 als dritter Sohn seiner Familie in Essen zur Welt. Sein Vater war in Gelsenkirchen geboren. Er hat, wie so viele im Ruhrgebiet, Jahre seines Lebens unter Tage verbracht.[19] Auf der Zeche hat er so lange geschuftet, bis er sich mit einem eigenen Betrieb selbstständig machen konnte. Er beschaffte sich Pferde und Fuhrwerk. Seitdem transportiert er für die Zechen der Gegend Deputatkohle. So nennt man die Kohle, die die Bergarbeiter zusätzlich zu ihrem Lohn vom Bergwerk erhalten. Rahns Vater kümmert sich um Beschaffung und Transport dieser Kohlen. Rahns Mutter, eine gläubige Katholikin, kam im österreichischen Wels zur Welt und verbringt ihr Leben im Ruhrgebiet.

Rahn wächst im Essener Norden auf, Adresse: Leseband 28. Die anderen Kinder taufen ihn «Köttel», was ziemlich genau das bedeutet, was man denkt: Rahn ist in den Augen seiner Altersgenossen nicht größer als ein kleiner Kothaufen. Die Zeiten sind härter, der Umgangston rauer – und Helmut ein wirklich schmächtiger Junge.

Wie viele seiner Altersgenossen wird Helmut Rahn auf der Straße gegen alles getreten haben, was halbwegs rollt. In seiner Familie herrscht kein ausgeprägtes Fußballinteresse, weder bei seinen (deutlich älteren) Brüdern noch bei seinem Vater. Der war ein stadtbekannter Turner. Bei den damals üblichen Schaukämpfen hatte er sich zahlreiche begehrte Schleifen erturnt. Fußball spielt allenfalls in den Schimpftiraden seiner Mutter eine Rolle. Sie fürchtet, dass ihr Sohn seine guten Schuhe ruiniert.[20]

Wenige Tage nach Helmut Rahns zehntem Geburtstag bricht der Zweite Weltkrieg aus. Seine älteren Brüder müssen an die Front. Sein Vater erhält aufgrund seiner Tätigkeit das Prädikat «von der Heimatfront nicht abkömmlich». Er bleibt in Essen und kümmert sich um seinen Fuhrpark, den er mittlerweile um ein paar Autos erweitert hat.

Bereits im Jahr 1940 fliegen britische Bomber-Verbände erste Luftangriffe auf das Ruhrgebiet. Essen ist ein beliebtes Ziel der Bomber: Die Kruppwerke produzieren den für die Kriegswirtschaft lebenswichtigen Stahl, die Bergwerke versorgen das Land mit Kohle. Schnell greift in der Bevölkerung die Sorge um, Opfer der Luftangriffe zu werden. Die nationalsozialistische Führung fürchtet um die Moral der Deutschen. Alle Kinder und Jugendlichen sollen so bald wie möglich von den Städten hinaus auf das Land geschickt werden. Für die nationalsozialistischen Verwaltungsbeamten, die diesen Befehl auszuführen haben, entpuppt sich das als Drahtseilakt: Sie sollen möglichst viele Kinder aus den Städten evakuieren, ohne dies wie eine allgemeine Evakuierung aussehen zu lassen. Diese hätte den Deutschen die Illusion geraubt, dass dieser Krieg weit weg vom Heimatreich geführt wird.

Als Kompromiss ersinnen die Nationalsozialisten die Kinderlandverschickung. Das dazugehörige Rundschreiben führt aus: «Der Führer hat angeordnet, dass die Jugend aus Gebieten, die immer wieder nächtliche Luftalarme haben, auf der Grundlage der Freiwilligkeit in die übrigen Gebiete des Reiches geschickt wird.»[21]

Helmut Rahn gehört zu den ersten Kindern, die Ende 1940 ihre Heimat verlassen. Seine Eltern bleiben in Essen. Er selbst tritt zusammen mit seiner Klasse eine Zugreise an, die ihn quer durch das nationalsozialistische Deutschland führt. Am Ende landen Rahn und seine Mitschüler im Protektorat Böhmen und Mähren. Das Deutsche Reich hat dieses Gebiet, das im heutigen Tschechien liegt, bereits vor Beginn des Kriegs annektiert. Die Essener schlagen ihr Lager in der Stadt Gumpolds (heute Humpolec) auf, hundert Kilometer südöstlich von Prag. Weibliche und männliche Schüler werden strikt getrennt. Rahn und seine Klassenkameraden kommen in einem alten Waisenhaus unter.

Die Nationalsozialisten möchten mit der Kinderlandverschickung die Stadtbevölkerung nicht nur vor Bombenangriffen schützen. Sie sehen auch die Chance, die Jugend in ihrem Sinne zu formen. Fernab der Heimat und weit weg vom Einfluss ihrer Familien sollen die Kinder die Ideologie des Nationalsozialismus verinnerlichen. In Helmut Rahns Altersklasse gehört zu jedem Lager ein Jungführer der Hitlerjugend. Er ist mit der Aufgabe betraut, das Leben außerhalb des Unterrichts zu regeln. Tägliche Appelle gehören zum Lageralltag genauso dazu wie paramilitärische Übungen und Geländemärsche. Die Machthaber vor Ort achten penibel darauf, dass die deutschen Kinder keinen Kontakt zu den Einheimischen pflegen. Der Tag ist streng getaktet. Jede Form von Individualismus wird unterdrückt.

Zu den wenigen Geschichten, die Rahn später aus dieser Zeit teilt, gehört die Erinnerung an seinen ersten Fußball-Wettkampf. Das Fußballspielen soll im Lager zunächst verboten werden. Rahns Lehrer teilen dieselbe Sorge wie seine Mutter: Das Kicken könnte den Schuhen schaden! Ein Lehrer aus einem anderen Lager überzeugt die Essener Erziehungsberechtigten, ihre Jungs trotzdem an Wettkämpfen teilnehmen zu lassen – nur eben barfuß.

So findet Rahns erstes richtiges Fußballspiel weit, weit entfernt von seiner Heimat statt. «Passt auf den Grünen auf!», schreien die gegnerischen Spieler. Gemeint ist Helmut Rahn. Er trägt als einziger eine grüne Hose. Die Deckung hält Rahn nicht auf: Laut eigener Angabe schießt er alle drei Tore seiner Mannschaft – und das, obwohl er mit nackten Füßen gegen den Ball tritt. Dass das Spiel 3:6 verloren geht, ist für ihn nur eine Randnotiz. Entscheidend ist das Gefühl, das ihn überkommt, als er die Gegner stehen lässt und den Ball ins Tor schießt. Dieses Gefühl möchte er öfter spüren.

Als Helmut Rahn aus dem Lager zurückkehrt, liegt Essen in Trümmern. Die Vereinigten Staaten hatten Deutschland den Krieg erklärt. Mit den Amerikanern im Bunde intensivieren die Alliierten ihre Luftangriffe. Kaum eine Stadt im Ruhrgebiet sieht sich heftigeren Angriffen ausgesetzt als Essen. Die Kruppwerke sind das Hauptziel der Bomber. Längst geht es den Alliierten nicht mehr nur darum, kriegswichtige Industrien zu zerbomben. Der Luftkrieg soll das deutsche Volk zermürben. Immer mehr Bomben fallen auf den Stadtkern. Fast alle Schulen in Essen sind bereits zerstört.

Helmut Rahn wird von seinen Eltern wieder fortgeschickt. Sein Weg führt nach Oberostendorf im Allgäu, 80 Kilometer westlich von München. Hier lebt Rahn nicht mehr in einem Lager, sondern bei einer Bauernfamilie. Die Jugendlichen sind nun nicht mehr so stark abhängig von der Hitlerjugend; die Kinderlandverschickung gleicht mittlerweile stärker einer Evakuierung denn einer ideologischen Maßnahme. Auf dem Land sind die Schrecken des Krieges weit entfernt. Nur ab und an dröhnen die Motoren der Jagdflugzeuge, wenn diese Oberostendorf auf ihrem Weg Richtung Augsburg oder München überfliegen.

Hier im Allgäu bekommt Helmut manchmal Besuch von seiner Mutter. Sie bringt auch seinen kleinen Bruder Hans mit, der erst wenige Jahre alt ist. Eines Tages erreicht sie ein Telegramm. Der Vater schickt es. Helmut Rahns älterer Bruder Herbert ist tot. Gefallen als Fallschirmjäger. Die Mutter solle sofort nach Hause zurückkehren. Mit einer Mischung aus Trauer und Trotz beschließt sie, ihre Familie fortan zusammenzuhalten. Die Tage der Kinderlandverschickung sind für Helmut Rahn gezählt. Mit seiner Mutter und seinem Bruder kehrt er nach Essen zurück. Gemeinsam schlägt sich Familie Rahn durch das brennende Deutsche Reich.

Zwei Monate später verlässt Helmut in Essen die Schule. Sein Vater besorgt ihm eine Lehrstelle als Autoelektriker. Er hofft, dass Rahn mit seinem Wissen über Autos eines Tages im familiären Betrieb helfen kann. Der Plan geht nicht auf. Einige Monate nach dem Beginn der Lehre wird Rahns Ausbildungsstätte bei einem Fliegerangriff ausgebombt. Unter den Trümmern begraben liegt auch Rahns Karriere als Autoelektriker.

Früher als geplant beginnt Helmut mit der Arbeit bei seinem Vater. Theoretisch lautet seine Aufgabe, die Deputatkohle an die Bergwerksarbeiter auszuliefern. Praktisch hat er damit zu kämpfen, die Pferde im Zaum zu halten. Die Alliierten fliegen nun pausenlos Luftangriffe. Das Dröhnen der Flugzeuge und das Rattern der Flugabwehrgeschütze schreckt die Tiere auf. Der noch immer recht schmächtige Junge hat seine liebe Mühe, die Kohlen an den Mann zu bringen.

Eines Tages galoppiert Helmut mit seinem Fuhrwerk, als sich Flugzeuge nähern. Er steigt ab und rettet sich in den nächstgelegenen Bunker. Als er den Bunker wieder verlässt, fehlt von den Pferden und vom Fuhrwerk jede Spur. Sie haben Reißaus genommen. Ein Pferd ist zum Haus der Rahns galoppiert, wie sich später herausstellt. Das andere Pferd und das Fuhrwerk tauchen nie mehr auf. Vielleicht wurden sie von einer Bombe getroffen. Vielleicht hat ein findiger Dieb die Gelegenheit genutzt.

Der Krieg ist nun endgültig ins Reich heimgekehrt. Die deutschen Soldaten kämpfen an allen Fronten Rückzugsgefechte. Selbst die größte Propaganda kann nicht mehr übertünchen, dass es für das Deutsche Reich nichts mehr zu gewinnen gibt. Dennoch mobilisieren die Fanatischsten der Fanatiker noch einmal die letzten Reserven. Alle Männer zwischen Pubertät und Greisenalter werden aufgerufen, als Teil des Volkssturms das zerbröselnde Reich zu verteidigen.

Rahns Mutter hat bereits einen Sohn verloren, ein weiterer ist verschollen, als Männer in Parteiuniformen an der Tür klopfen. Sie suchen Helmut Rahn. Er soll zur Volksfront, seine Heimat verteidigen. Rahns Mutter will auf keinen Fall einen weiteren Sohn für das Vaterland opfern. Sie schickt Helmut auf den Taubenschlag, direkt unter dem Dach. Zusammengekauert hockt er zwischen den Brieftauben seines Vaters. «Der Helmut ist nicht da!», antwortet seine Mutter. Ein paarmal spielen die ungebetenen Besucher dieses Spielchen mit, bis es ihnen zu bunt wird. «Wenn Ihr Sohn nie da ist, brauchen Sie wohl auch keine Lebensmittelkarten mehr?», fragen sie rhetorisch. Nur über diese Karten lässt sich im kriegsversehrten Reich Nahrung beschaffen. «Behalten Sie sie ruhig!», antwortet Rahns Mutter. Familie Rahn muss das Essen fortan noch strikter einteilen. Doch Helmut bleibt vor der Soldatenkarriere bewahrt.[22]

Als die Deutschen am 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterschreiben, sitzt Helmut Rahn in seinem Heimathaus in Essen. Die einzigen Schüsse, die er im Krieg abgefeuert hat, gingen auf die Tore im Kinderlandverschickungslager 235.

Rahns Heimatstadt Essen ist am Kriegsende nicht wiederzuerkennen. Fast 200000 Wohnungen zählte die Stadt vor dem Krieg. 64000 wurden total zerstört, fast 100000 weitere mehr oder weniger beschädigt. Die ganze Stadt ist übersät von Kratern und Blindgängern, die jederzeit doch noch explodieren können. Britische Soldaten patrouillieren auf den Straßen. Deutschland steht unter dem Diktat der vier Siegermächte. Die Alliierten machen sich daran, das Land von den Überresten der nationalsozialistischen Herrschaft zu befreien. Nie wieder soll von deutschem Boden Gefahr ausgehen.

Jede Art von Zusammenkünften wird untersagt. Der deutsche Hang, sich in Vereinen und Klubs und Wohlfahrtsorganisationen zusammenzuschließen, behagt den neuen Machthabern nicht. Sie sehen in diesen Strukturen eine Keimzelle der Nationalsozialisten. Die Sportvereine beziehen die Alliierten ausdrücklich in ihre Analyse ein. Sie hatten sich ohne Widerworte angepasst, als die Nazis 1933 ein neues Zeitalter ausriefen. Sofort organisierten sich viele Fußballvereine nach dem Führerprinzip, Juden und andere unliebsame Gruppen wurden ausgeschlossen. Nach 1945 lösen die Alliierten daher sämtliche Sportvereine und -verbände auf.

Doch die Sieger sind auch überrascht, wie schnell das selbst proklamierte Herrenvolk zu eifrigen Wiederaufbauhelfern mutiert. Gestern noch hatten sie halb Europa terrorisiert. Heute spielen sie sich als neue Deutsche auf, die mit Gewalt nichts mehr zu tun haben wollen. Die befürchteten Partisanenkämpfe bleiben aus. Niemand trauert den alten Organisationen hinterher, vom Wohlfahrtsbund über die Hitlerjugend bis hin zur vormals so mächtigen NSDAP.

Nur den Hang zum Sportverein, den können die Alliierten den Deutschen nicht austreiben. Obwohl die Alliierten jedweden organisierten Sport verbieten, finden bald die ersten Fußballspiele statt. Unter Decknamen treten die alten Vereine wieder gegeneinander an. In Essen trifft eine Mannschaft namens «Suppengrün» auf das Team «Aschenkippe». Es handelt sich um ein Spiel einer örtlichen Auswahl gegen die Überreste des FC Schalke 04. Überall finden geheime Spiele wie dieses statt. Die Zuschauer strömen zu den Sportplätzen, die jedoch wie das gesamte Land in Trümmern liegen.[23]

Zumindest im Westen lenken die drei Besatzungsmächte bald ein. Nach und nach dürfen traditionsreiche Vereine wie der FC Schalke oder Borussia Dortmund neu gegründet werden. Schon im Oktober 1945, nicht einmal ein halbes Jahr nach Kriegsende, findet in Essen die erste Stadtmeisterschaft statt. Der Ball rollt wieder.

Helmut Rahn beschließt in diesen Tagen, sein Hobby aus dem Verschickungslager wieder aufzunehmen. Er tritt dem lokalen Sportverein Altenessen 12 bei. Das Thema Schuhe ruft noch immer Streit hervor im Hause Rahn. Seine ersten Spiele bestreitet er in seinen Sonntagsschuhen, was seine Mutter nicht gern sieht. Allzu gut kicken lässt sich mit den Halbschuhen ohnehin nicht. Über einen Freund gelangt er an ein Paar Fußballstiefel. Dessen Bruder ist im Krieg gefallen. Das Paar ist drei Nummern zu groß, aber Helmut zieht einfach mehrere Paar Socken übereinander an, dann passen sie irgendwie.[24]

Das übergroße Schuhwerk bremst seine Spielfreude nicht. An jedem Sonntag ist er nun auf dem Sportplatz anzutreffen. Er spielt für die Jugendmannschaft, später schon für die B-Mannschaft, manchmal darf er auch bei der A-Elf antreten. Dass er erst 17 Jahre alt ist, kümmert niemanden. Die alte Spielordnung ist mit dem Deutschen Reich untergegangen. Es herrschen die wilden Regeln der Nachkriegszeit. Wer wo spielt, entscheidet sich von Woche zu Woche. Ständig kommen neue Spieler hinzu – Heimgekehrte aus dem Krieg, Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs oder Kriegsgefangene, die auf ihre Entlassung warten mussten. Viele der Spieler, die vor dem Krieg in Essen kickten, sind gefallen oder derart lädiert, dass an Fußballspielen nicht mehr zu denken ist. So sucht fast immer irgendeine Mannschaft einen Mitspieler. Rahn hilft gerne aus, nicht nur bei Altenessen 12, sondern auch bei Klubs aus anderen Vierteln. An manchen Wochenenden bestreitet er vier oder fünf Spiele. Hauptsache, Fußball.

Fußballspiele sind damals ein kleines Abenteuer. Von den ehemals 78 Sportplätzen in Essen sind nach dem Krieg nur noch 30 einigermaßen bespielbar.[25] Manche wurden von den Briten beschlagnahmt als Lagerfläche für militärische Geräte. Die meisten jedoch sind vollkommen zerstört und übersät mit Kratern. Woche für Woche schuften die Vereinsmitglieder, um die Plätze wieder herzurichten. Doch im ganzen Land herrscht Materialmangel. Notdürftig werden die Löcher mit Asche gefüllt. Wirklich gerade rollt der Ball auf diesen Feldern nicht. Fast keine Mannschaft hat Trikots, auch Hosen und Schuhe sind Mangelware.

Helmut Rahn ist das egal. Er will spielen. Seine Mit- und Gegenspieler kennt er aus der Nachbarschaft und aus seiner Schulzeit. Schnell kristallisiert sich heraus, dass er ihnen eins voraushat: Talent. Rahn gehört zu den Spielern, die alle Jugendlichen hassen. Er spielt so gut wie nie den Ball ab. Selbst wenn er an drei Gegenspielern vorbeigezogen ist, will er auch noch den vierten ausdaddeln. Doch das geht so oft gut, dass er sich das erlauben darf. Rahn ist ein Solist in einem Sport, der eigentlich ein Teamsport ist.

Rahns Körper funktioniert wie ein Radar. Egal, wo er sich befindet: Er erkennt sofort den schnellsten Weg zum Tor. Mit dem Ball am Fuß dribbelt er seine Gegenspieler aus, lässt sie links und rechts stehen. Rahn schießt Tor um Tor um Tor. Dieses Gefühl, den Ball ins Netz zu dreschen, lässt er sich nicht nehmen – schon gar nicht von seinen Mitspielern, die ein Zuspiel fordern. Sein Talent gestattet ihm diese Sonderrolle. Immer häufiger darf er als Mittelstürmer der ersten Mannschaft auflaufen.

Die Nachkriegszeit könnte trister kaum sein. Die Deutschen bekommen die Folgen des Kriegs zu spüren; Folgen, die ihre angegriffenen Nachbarn schon jahrelang erdulden mussten. Dass Nahrungsmittel rationiert werden müssen, waren die Deutschen aus Kriegszeiten gewohnt. Aber die Nationalsozialisten hatten penibel darauf geachtet, dass die eigene Bevölkerung genug zu essen hatte. Dafür wurden die besetzten Gebiete geplündert.