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Der Fußballexperte Tobias Escher porträtiert in diesem Buch elf Trainer, die den Fußball in den vergangenen Jahren maßgeblich geprägt und verändert haben. Dazu zählen natürlich Pep Guardiola und José Mourinho, aber auch Jürgen Klopp, Joachim «Jogi» Löw, Antonio Conte und viele mehr. Sie alle haben mit neuen taktischen Ideen und Strategien Maßstäbe gesetzt. Escher erklärt ihre Trainingsmethoden und Spielphilosophien, beschreibt ihre tägliche Arbeit und erzählt, welche Menschen sie beeinflusst haben. Auch weniger bekannte, aber sehr beeindruckende Trainer wie Maurizio Sarri oder Marcelo Bielsa stellt Escher vor. In der Gegenüberstellung der innovativsten und mutigsten Fußballtrainer unserer Zeit eröffnet sich ein vollkommen neuer Blick auf den besten Sport der Welt. Und so findet Escher Antworten auf Fragen, die jeden Fußballfan umtreiben: Warum haben Guardiola und Mourinho mehr Titel gewonnen als jeder andere Trainer? Wie hat Klopp Dortmund ins Champions-League-Finale geführt? Und was hat Löw mit der Nationalmannschaft gemacht? Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten Trainer der vergangenen Jahre auch die taktisch klügsten waren; ein guter Trainer kann den Unterschied machen zwischen einer guten und einer sehr guten Mannschaft.
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Seitenzahl: 273
Tobias Escher
Die Zeit der Strategen
Wie Guardiola, Löw, Mourinho und Co. den Fußball neu denken
Ihr Verlagsname
Pflichtlektüre zur Fußball-WM!
Wie ist der FC Bayern überhaupt noch zu schlagen? Warum hat RB Leipzig einen kometenhaften Aufstieg in der Bundesliga hingelegt? Die Antwort lautet immer öfter: Mit dem richtigen Trainer ist alles möglich. Wer den Sport neu denkt, verschafft sich einen Vorsprung im Wettkampf. In diesem Buch porträtiert der renommierte Fußballexperte Tobias Escher die innovativsten, mutigsten und besten Fußballtrainer unserer Zeit und erklärt ihre Ansätze und Ideen: Guardiola, Klopp, Mourinho, Löw und viele mehr. Erst in der Gegenüberstellung wird die Finesse ihrer taktischen Visionen deutlich.
Tobias Escher beschäftigt sich rund um die Uhr mit Fußball. Er ist Mitbegründer des Taktikblogs «Spielverlagerung.de», das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung «Bohndesliga», einer Produktion von Rocket Beans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher ebenfalls für «Zeit Online», «11 Freunde» und erarbeitet Taktikanalysen für das ZDF. Das «Medium-Magazin» wählte ihn 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten Deutschlands.
«Schnelligkeit im Fußball ist nicht das Resultat schneller Beine, sondern klugen Vorausdenkens!»
Sepp Herberger
Fußball ist ein einfaches Spiel. Oder etwa nicht? Wer den Fußball der jüngeren Vergangenheit verfolgt, dürfte nicht immer das Gefühl haben, einen einfachen Sport vor sich zu haben. Früher hieß es: «Geht’s raus und spielt’s Fußball.» Heute ist von falschen Neunern die Rede und von abkippenden Sechsern, von Fünferketten und Matchplänen, von individueller Belastungssteuerung und von digitalen Scouting-Lösungen. Ist das, wie der kicker vorwurfsvoll formulierte, «der Versuch einer Elite, durch eine Verwissenschaftlichung der Begriffspalette jene von der Diskussion um den Volkssport Nummer eins auszuschließen, denen man ohnehin nicht zutraut, etwas von der Materie zu verstehen»? Anders gefragt: Was hat sich schon verändert? Ein Ball, 22 Spieler, ein Platz mit 7140 Quadratmetern – so war der Fußball, so wird er immer sein. Warum sollte der Sport plötzlich komplexer geworden sein, wie man allerorten hört?
Die Antwort liegt, wie Otto Rehhagel einst so schön sagte, auf dem Platz. Wer ein heutiges Fußballspiel mit einer Partie aus den Sechzigern, den Neunzigern oder auch nur von vor zehn Jahren vergleicht, kann sich fragen: Ist das dieselbe Sportart? Früher benötigten die Teams eine halbe Minute, um den Ball von einem Tor vor das andere zu treiben. Heute liegen zwischen Balleroberung und Torabschluss oft keine zehn Sekunden. Früher zogen sich die Teams nach einem Ballverlust an den eigenen Strafraum zurück und warteten ab, was der Gegner tut. Heute ergreift eine Mannschaft nach dem Ballverlust sofort wieder die Initiative, das gesamte Team schiebt nach vorne. Vor zwanzig Jahren liefen die Spieler sieben bis acht Kilometer pro Spiel, heute legen Mittelfeldspieler in neunzig Minuten Strecken von vierzehn Kilometern oder mehr zurück. Der Fußball ist athletischer geworden, schneller, durchdachter. Die Spieler bewegen sich, überspitzt formuliert, wie orchestrierte Roboter über den Platz. Ja, der Fußball hat sich verändert. Man muss beide Augen fest zukneifen, um das nicht zu erkennen.
Der Wandel ereignete sich nicht von heute auf morgen. Ein Grund dafür ist das viele Geld, das mit dem Profifußball verdient wird. Die Umsätze der Spitzenklubs haben sich seit den neunziger Jahren verzehnfacht. Das Interesse am Fußball macht es möglich. Der Fan bezahlt, sei es für das Stadionticket, Merchandising oder Pay-TV-Abos. Viel von diesem Geld stecken die Klubs in irrwitzige Transfersummen und immer höhere Gehälter. Doch es fällt auch etwas für andere Bereiche ab: für die Nachwuchsarbeit, mit der bereits sehr junge Talente gesucht und gefördert werden, für immer modernere Trainingsplätze, auf denen Fußballer effektiver trainieren können, oder für technische Innovationen, die Spielern helfen, schneller zu regenerieren und besser Muskeln aufzubauen. Im Spitzenfußball sind vollkommen andere Leistungen möglich, als noch vor zwanzig Jahren. Technisch, weil die Spieler besser ausgebildet sind. Athletisch, weil die Spieler effektiver trainieren. Taktisch, weil Spieler bereits in der Jugend verschiedene Systeme kennenlernen und ein wesentlich höheres Verständnis für taktische Fragen haben als früher.
Der Fußball hat sich in sämtlichen Bereichen professionalisiert. Vorbei sind die Zeiten, als Manager aus Lust und Launen heraus Spieler verpflichteten. Horst Hrubesch, einer der treffsichersten Stürmer seiner Zeit, wurde erst entdeckt, als er schon 24 war, per Zufall, bei einem Spiel für einen Amateurklub. Heute beschäftigen die großen Vereine Kaderplaner, die genaue Vorstellungen entwickeln, welche Spieler zum Klub passen und welche nicht. Scouts leuchten mögliche Neuverpflichtungen aus bis ins kleinste Detail. Ärzte und Physiotherapeuten überwachen die Blutwerte der Spieler, stets besorgt, dass die Spieler konditionell oder athletisch abfallen. Möglichst wenig soll dem Zufall überlassen werden – in der Vergangenheit ein häufig bemühter Faktor im Fußball.
Den größten Einfluss auf die Entwicklung des Fußballs hatten aber nicht die hypermodernen Trainingszentren oder die Sponsoren mit dem vielen Geld. Es sind Menschen, die mit ihren Ideen die Welt verändern. Im Fußball findet man diese Menschen oft auf den Trainerbänken. Es liegt in der Natur des Berufs: Die Forschung mag große Durchbrüche in der Trainingswissenschaft erzielt haben, die Mannschaften mögen intelligenter zusammengestellt sein, die Spieler besser ausgebildet. Am Ende entscheidet der Trainer, wie eine Mannschaft spielt, wie sie trainiert, welche Taktik sie umsetzt. In der Geschichte des Fußballs gab es immer wieder Trainer, die auf diese Fragen neue, innovative Antworten gefunden haben. Sei es, indem sie neue Trainingsmethoden anwandten, neue Strategien erprobten oder ihre Mannschaft völlig unerwartet aufstellten. Die Trainer sind das kleine Rädchen im Zahnradgetriebe Fußball, um das sich alle anderen Rädchen drehen.
Der Wandel des Fußballs hängt eng zusammen mit dem Wandel des Trainerberufs. Kein Posten im Fußball hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren so sehr verändert wie der Beruf des Trainers. Früher waren sie eben das: Fußballtrainer. Heute müssen sie zig Funktionen auf einmal erfüllen. Sie müssen Mannschaftsführer sein, Lehrer, Taktikfuchs, Psychologe, Physiotherapeut, Experte für die sich ständig weiterentwickelnde Trainingswissenschaft und – last, but not least – abgebrühte Medienprofis. Nie war das Scheinwerferlicht, das auf die Trainer fällt, greller als heute. Trainer genießen fast so viel Popularität wie ihre Spieler. Sieg oder Niederlage, Triumph oder Debakel, schöner oder hässlicher Fußball: All das wird häufig am Trainer festgemacht. Die Erwartungen steigen ins Unermessliche, wenn Pep Guardiola zu Bayern München oder José Mourinho zu Manchester United wechselt. Und das nicht ohne Grund, wie die vergangenen Jahre zeigen: Ein guter Trainer kann den Unterschied machen zwischen einer durchschnittlichen und einer sehr guten Mannschaft.
In diesem Buch möchte ich Ihnen Trainer vorstellen, die den Fußball in den vergangenen Jahren maßgeblich geprägt haben. Die Einfluss darauf hatten, wie heute Fußball gespielt wird. Ich möchte ihre Ideen vorstellen, ergründen, wie sie auf diese Ideen gekommen sind, und beschreiben, was sie einzigartig macht und wieso sie mit ihren Mannschaften Erfolge feiern. Erfolg muss nicht gleichbedeutend sein mit dem Gewinn von Titeln. Es kann auch ein Erfolg sein, wenn ein Trainer besonders schönen Fußball spielen lässt oder wenn seine Ideen so revolutionär sind, dass sie seine Kollegen inspirieren. Kurz: Ich möchte analysieren, wie elf Trainer den Fußball verändert haben.
Ein Fußballteam ist ein komplexer Organismus, Fußball ein komplexer Sport. Kondition, Technik, Psychologie, Taktik, Form, persönliche Animositäten und Kritik von außen – all diese Dinge entscheiden über Erfolg und Misserfolg. Ein Trainer muss die richtigen Entscheidungen treffen, um alle Themen unter einen Hut zu bekommen. Jeder Trainer hat Bereiche, in denen er sich besonders auskennt. Der eine mag ein Meister der Trainingslehre sein, der andere ein abgebrühter Medienprofi, der Dritte ein einfühlsamer Psychologe. Viele Wege führen nach Rom. Ich möchte zeigen, welche neuen Wege die Trainer in den jeweiligen Teilbereichen des Fußballs beschritten haben.
Ein Aspekt, der in den vergangenen Jahren immer wichtiger wurde, ist die Taktik. Es ist der Bereich des Fußballs, in dem ich mich besonders gut auskenne. Seit Jahren beobachte, analysiere, beschreibe ich Strategien und Taktiken, mit denen Spitzenteams Erfolge feiern. Als Blogger habe ich auf der Seite Spielverlagerung.de angefangen, über das Phänomen Taktik zu berichten. Mittlerweile habe ich das Hobby zum Beruf gemacht. Taktik nimmt auch in diesem Buch einen großen Stellenwert ein, ist sie doch der Bereich, der sich in den vergangenen Jahren maßgeblich gewandelt hat. Trainer definieren sich mehr denn je über ihre Spielphilosophie, über die taktischen Ideen, die sie ihren Spielern mitgeben. Die Professionalisierung hat dazu geführt, dass die Klubs mittlerweile Analysten und Scouts einstellen, die ihren Chefs zuarbeiten. Sie analysieren den kommenden Gegner, suchen Stärken und Schwächen. Sie helfen den Trainern, für jeden Gegner maßgeschneiderte Taktiken zu entwerfen.
Strategie und Taktik werden oft synonym verwendet, bezeichnen aber zwei unterschiedliche Konzepte. Die Strategie bezieht sich auf übergeordnete Fragen, die ein Trainer über längere Zeit prägt: Ist es ihm wichtiger, dass seine Mannschaft Tore schießt, oder soll sie in erster Linie Tore verhindern? Will ein Team den Ball haben, oder spielt es stärker auf Konter?
Die Taktik bezeichnet die einzelnen Elemente, die genutzt werden, um eine Strategie umzusetzen. Das Konterspiel ist beispielsweise ein strategisches Element. Der lange Ball, um schnell das Mittelfeld zu überbrücken, wäre ein dazu passendes taktisches Element.
Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten Trainer der vergangenen Jahre auch die taktisch klügsten waren. Pep Guardiola und José Mourinho haben mehr Titel gewonnen als jeder andere Trainer. Sie sind zwei Taktikfüchse, jeder auf seine Art. Auch Jürgen Klopp, Joachim «Jogi» Löw oder Antonio Conte haben ihre Teams mit den richtigen Strategien an die Spitze geführt. Man könnte dies als Ex-post-Analyse abtun nach dem Motto: «Der Sieger schreibt die Geschichte.» Ich argumentiere andersherum: Zunächst stand bei all diesen Trainern die Spielidee, die Philosophie, nach der sie spielen ließen. Die Erfolge stellten sich erst ein, als ihre Spielideen fruchteten. Darum möchte ich mich auch gar nicht zu sehr auf ihre Titel, auf ihre Erfolge fokussieren. Ich lasse die Arbeit der Trainer für sie sprechen.
Thomas Tuchel verglich ein Fußballspiel im Interview mit dem ZeitMagazin Mann mit einem Theaterstück: «Die Mannschaften gehen raus, dann ist Aufführung, und wir gucken alle das Spiel.» Ein bisschen gleicht der Trainerberuf tatsächlich dem eines Regisseurs: Er behält den Überblick, plant alles, versucht, den Spielern seine Vision zu vermitteln. Am Ende sind zwar die Spieler die Schauspieler, die das Stück aufführen. Es waren aber die Trainer, die ihnen das Wie an die Hand gaben. Insofern spiegelt ein Fußballspiel auch immer die Philosophie und ein Stück weit auch die Persönlichkeit eines Trainers, genau wie Theaterstücke häufig Spiegelbilder ihrer Regisseure sind. In meinen Porträts wiegen daher die Taten der Protagonisten mehr als ihre Worte; der Fokus liegt auf der Analyse ihrer Arbeit, ihrer Aufführungen, die sie der Welt präsentieren. Was sind die Methoden dieser Trainer? Wie sieht ihre bevorzugte Taktik aus? Wie sieht ihre tägliche Arbeit aus? Was machen sie anders als ihre Kollegen? Welche Menschen haben sie beeinflusst, und welchen Mitarbeitern vertrauen sie? Wie sieht ihre Trainingsmethodik aus, welche Strategie steckt hinter ihrer Aufstellung? Kurz: Wie denken sie den Fußball neu?
Die Biographien und die Persönlichkeiten der Trainer sind dabei wichtige Bausteine, um ihren Erfolg zu erklären. Unsere Umgebung formt uns zu dem, was wir sind. Ich werde in jedem Kapitel den Werdegang und die wichtigsten Eigenheiten eines Trainers vorstellen. Was ich nicht machen werde: Ihnen vorbeten, wie fleißig und fußballverrückt sie sind. Jedes Porträt ließe sich mit denselben Phrasen ausschmücken: Sie alle lieben den Fußball. Abgöttisch. Man könnte sie nachts wecken, und sie würden Vorträge halten über die Stärken und die Schwächen ihres Linksverteidigers oder über die Taktik des kommenden Gegners. Alle Trainer erscheinen morgens als Erster auf dem Trainingsgelände und verlassen es abends als Letzter. Sie alle haben schon Nächte durchgearbeitet oder sind mitten in der Nacht aufgestanden, weil sie eine geniale Idee hatten, die sie unbedingt sofort notieren mussten. Im Spitzenfußball ist dieser Fleiß keine herausragende Eigenschaft, er ist die Grundvoraussetzung. Qualität kommt in dieser Welt immer auch von Qual – und von ständiger Selbstoptimierung. Alle Trainer sind immer auf der Suche nach neuen Ideen, nach Inspirationen, nach neuen Mitteln und Wegen, ihre Mannschaft besser zu machen. Sie alle sind Laptoptrainer, denn mal ehrlich: Wer arbeitet heutzutage schon ohne Laptop?
Für dieses Buch habe ich mir Tausende Fußballspiele angesehen, bin zu Trainings von Bundesliga-Vereinen gefahren, habe Zeitungen und Bücher nach Interviews und Anekdoten durchgewälzt. Ich habe Spieler getroffen, die unter diesen Trainern gearbeitet haben, und mit Journalisten und Experten gesprochen, die deren Karrieren bereits lange verfolgen. Ich habe mich bemüht, möglichst viele Informationen über die elf Trainer zusammenzutragen. Nur eines ist mir leider nicht gelungen: persönlich mit ihnen zu sprechen. Einerseits ist das nur zu verständlich: In Zeiten des totalen medialen Interesses am Fußball erhalten die Trainer Dutzende, teils Hunderte Interviewanfragen. Andererseits hat sich bei vielen Klubs mittlerweile eine Wagenburgmentalität entwickelt. Pressesprecher halten Journalisten auf Abstand, beantworten selbst einfache Fragen nicht mehr – Presseabwimmler wäre in den meisten Fällen die passendere Jobbeschreibung.
Ich wage dennoch zu behaupten: Auch ohne persönliche Interviews dürfte dieses Buch Ihnen Erkenntnisse bieten. Es gab auch für mich viele «Aha!»-Momente, als ich die Lebensgeschichten der Trainer und ihre Methoden studierte. Oft ergab sich aus dem einen das andere. Wussten Sie, dass José Mourinho bereits in den Neunzigern am Laptop gearbeitet hat? Dass Jogi Löw seine Trainerausbildung eigentlich in der Schweiz absolvierte? Oder dass Zinédine Zidane Cristiano Ronaldos Vertrauen gewann, indem er gegen ihn in einem Freistoß-Wettbewerb antrat?
Sie werden wahrscheinlich nicht jedem Schluss zustimmen, den ich aus meinen Analysen ziehe. Vielleicht werden Sie auch nicht mit meiner Auswahl an Trainern einverstanden sein. Aber ich hoffe, dass Sie zumindest etwas lernen über die Trainer und ihre Methoden – und nebenbei auch darüber, wie der Fußball im Jahr 2018 funktioniert.
«Für mich ist Schönheit, dem Gegner nicht zu geben, was er will. Es gibt viele Dichter im Fußball, aber die gewinnen keine Titel.»
Tief versteckt in Mourinhos Computer, im Unterordner eines Unterordners, findet sich eine Datei. Als Benfica Lissabon ihn im Jahr 2000 nach nur wenigen Monaten entließ, legte Mourinho diese Datei an. Er nutzte die erzwungene Auszeit, um seine Karriere Revue passieren zu lassen. Seit über einem Jahrzehnt arbeitete er nun im Fußball – zunächst als Scout, später als Assistenztrainer, jetzt als Cheftrainer. Er wollte das Wissen, das er in dieser Zeit erlangt hat, katalogisieren. Trainingsmethoden. Taktische Ideen. Spielvorbereitung. Analysen des Gegners. Berichte über neue Talente, die er entdeckt hat. Seine Medienstrategie. All das sammelte er in dieser einen Datei. Und das war erst der Anfang: Seit knapp zwanzig Jahren pflegt Mourinho die Datei. Er verbringt Stunden an seinem Laptop, um Dokumente auf dem neuesten Stand zu halten. Nur wenige Eingeweihte dürfen einen Blick darauf werfen. Mourinho taufte sie «Die Bibel».
Obwohl ich mich seit Jahren mit der Arbeit von Mourinho beschäftige, war die Tatsache, dass Mourinho derart methodisch vorgeht, neu für mich. Mourinho – ein Pedant, der seine komplette Arbeit im Detail protokolliert? Es will so gar nicht recht passen zu dem Bild, das ich von Mourinho hatte. Mourinho, das Großmaul. Mourinho, der Defensivstratege. Mourinho, der «Special One», dem jedes Mittel für den Erfolg recht ist. Es schien mir irgendwie falsch zu sein, dass dieser Mann, der gerne gegnerische Trainer verspottet und über sich selbst in der dritten Person redet, dass dieser Mann stundenlang vor seinem Laptop sitzt und jeden einzelnen Schritt seiner Arbeit akribisch protokolliert.
Mourinho hat das Spiel mit den Medien perfektioniert. Jedes Mikrophon nutzt er als Bühne, um sich selbst darzustellen. Nicht nur der Mensch Mourinho verschwindet hinter dieser Fassade, sondern auch der Fußballtrainer. Was macht Mourinho eigentlich den ganzen Tag lang? Was zeichnet ihn als Trainer aus? Und wie konnte er zu einem der größten Trainer unserer Zeit werden? Diese Fragen sind gar nicht so leicht zu beantworten bei einem Menschen, der sein Image genau steuert. Der sein privates Ich vor der Öffentlichkeit abschottet und über jedes Detail wacht, das nach außen dringt. Doch wenn man sich näher mit Mourinho als Trainer beschäftigt, stellt man fest: Es steckt mehr hinter ihm, als man vermuten würde. Mourinho ist einen steinigen Weg gegangen, um zu einem der erfolgreichsten Trainer unserer Zeit zu werden. Und er steht beispielhaft für eine wichtige Einsicht: Ein großer Trainer muss kein großer Spieler gewesen sein.
Mourinhos «Bibel» liefert einen ersten Anhaltspunkt, wie der allseits bekannte und doch irgendwie völlig unbekannte Trainer Mourinho tickt. Als José Mourinho in den Neunzigern seine Trainerkarriere begann, besaßen Fußballtrainer keine Laptops, viele nicht einmal einen Computer. Mourinho war ein Außenseiter, nicht nur aufgrund seiner Vorliebe für Hochleistungsrechner. Für Fußballenthusiasten, die nicht selbst auf höchstem Niveau gespielt haben, war es zu jener Zeit nahezu unmöglich, als Trainer im bezahlten Profifußball zu arbeiten. Der Job des Trainers war Ex-Spielern vorbehalten, speziell in Mourinhos Heimat Portugal. Den meisten portugiesischen Klubs standen Ex-Profis als Präsidenten vor. Sie reservierten die Plätze auf den Trainerbänken für ihre früheren Teamkollegen.
Mourinhos Traum, mit Fußball sein Geld zu verdienen, war nahezu aussichtslos. Er versuchte es trotzdem. Mourinho hatte eine tiefe Verbindung zum Fußball, er wurde praktisch in den Fußball hineingeboren. Sein Vater Félix Mourinho war von Beruf Torhüter. Höhepunkt von dessen Karriere war ein Länderspieleinsatz für Portugal. Nach seinem Karriereende arbeitete er als Trainer. José schaute seinem Vater stets über die Schulter. Als kleiner Junge alberte er mit den Mitspielern seines Vaters herum, später war er Mitarbeiter des Trainerstabs. José arbeitete als sogenannter Scout: Er beobachtete für seinen Vater den nächsten Gegner. So lernte er früh das Trainergeschäft kennen – auch dessen Schattenseiten. Hilflos musste er mit ansehen, wie sein Vater wieder und wieder den Job verlor und wie die Familie darunter litt. Die wohl prägendste Erfahrung ereignete sich Weihnachten 1984: Familie Mourinho hatte sich gerade zum Weihnachtsessen eingefunden, als das Telefon klingelte. Der Vereinspräsident war am Apparat. «Tut mir leid, Félix.» Der Vater wurde entlassen. An Heiligabend.
Früher waren sie eine Ausnahmeerscheinung, heute stellt jeder Verein gleich mehrere an: Scouts. Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt «Kundschafter» bzw. «Späher». Scouts reisen für einen Verein zu Spielen anderer Klubs. Dort kundschaften sie die kommenden Gegner des Teams und deren Spieler aus. Sie beobachten auch mögliche Neuzugänge und prüfen, ob diese den Verein verstärken würden. Mittlerweile hat sich das Berufsbild aufgespalten: Die Klubs beschäftigen Spieler-Scouts, die sich ganz auf die Beobachtung von Transferkandidaten konzentrieren, Videoanalysten, die Videomaterial des kommenden Gegners sichten und für den Trainer aufbereiten, und Statistiker, die sich durch Zahlen und Daten wühlen.
Mourinho träumte dennoch davon, eines Tages ein Großer des Fußballs zu werden. Zunächst versuchte er sich als Spieler. Ihm fehlten jedoch die Statur und das Talent, um auf dem höchstem Niveau mithalten zu können. Nach einigen Einsätzen in der zweiten portugiesischen Liga beendete er seine Karriere. Dem Wunsch seiner Mutter, eine Banklehre zu machen, kam er genau einen Tag lang nach. Dann kündigte er. Stattdessen bewarb er sich für ein Studium der Sportwissenschaften in Lissabon. Sein Vater stand hinter ihm und half ihm, für die Aufnahmeprüfung zu büffeln.
Das Studium der Sportwissenschaften war der erste wichtige Wendepunkt in Mourinhos Leben. Er traf an der Universität Akademiker, die sein Bild vom Fußball prägen sollten. Bereits am ersten Tag lernte er Professor Manuel Sérgio kennen, einen Philosophen, der sich auf Fußball spezialisiert hat. Auf Sérgios Frage, was er denn werden wolle, antwortete Mourinho selbstbewusst: «Fußballtrainer!» Sérgio entgegnete kühl: «Wer sich nur für Fußball interessiert, wird den Fußball niemals verstehen.» Sérgio lehrte Mourinho, den Fußball mit anderen Fachgebieten zu verknüpfen: Psychologie, Literatur, Neurowissenschaften. «Fußball ist mehr als nur ein Spiel», so Sérgios Motto. Besonders aufmerksam lauschte Mourinho auch den Vorlesungen von Vítor Frade. Der Professor für Sportwissenschaften gilt als Erfinder der «taktischen Periodisierung», einer zu jener Zeit neu entwickelten Trainingsmethodik.
Nach seinem Studium verschaffte Jesualdo Ferreira, ein weiterer Dozent der Hochschule, Mourinho einen Posten als Assistenztrainer beim Klub Estrela da Amadora. Als Mourinho die Hochschule verließ, hatte er nicht nur seine erste Festanstellung im Fußballgeschäft, sondern auch eine neue Sichtweise auf den Sport gewonnen.
Im Sport stammt das Konzept der Periodisierung aus der Leichtathletik. Die Trainingszeit wird in unterschiedliche Perioden eingeteilt, meist Zyklen genannt. Innerhalb der einzelnen Zyklen werden unterschiedliche Bereiche mit wechselnder Intensität trainiert. Die Zyklen dienen dazu, zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bestform zu sein. Es ist ein Modell, das zur langfristigen Trainingsplanung dient. Dieses Modell wird heutzutage auf den Fußball übertragen.
Der zweite Wendepunkt in Mourinhos Leben folgte 1993. Als Sporting Lissabon den Briten Sir Bobby Robson als neuen Trainer anstellte, suchte der Verein händeringend einen Übersetzer – Robson verstand kein Wort Portugiesisch. Mourinho, der sich in Großbritannien fortgebildet hatte, sprach fließend Englisch. Eigentlich sollte Mourinho für seinen neuen Boss nur übersetzen, doch er gab sich damit nicht zufrieden. Er half Robson beim Training und fertigte vor jedem Spiel Dossiers über den Gegner an. Robson war beeindruckt. «Da stand dieser Typ vor mir, in seinen frühen Dreißigern, der nie ein großer Spieler war und praktisch keine Erfahrungen als Trainer vorzuweisen hatte. Und doch waren seine Dossiers besser als alles, was ich von den Top-Profis bekommen habe, die für mich bei Weltmeisterschaften gearbeitet haben.» Mit der Zeit übertrug Robson seinem Übersetzer mehr und mehr Aufgaben. Robson kümmerte sich hauptsächlich um das Training der Offensive, Mourinho durfte das Training der Defensivkräfte leiten – eine Aufgabenteilung, die im Fußball zu jener Zeit eher unüblich war und die Mourinho für seine weitere Karriere prägte.
Mourinho wechselte gemeinsam mit Robson zum FC Porto und später zum FC Barcelona. Dort arbeitete er zunächst weiter für den Briten. Als Barça Robson entließ, übernahm Louis van Gaal dessen Amt. Mourinho sollte eigentlich mit Robson den Verein verlassen, drängte sich jedoch dem neuen Trainer auf. Van Gaal imponierte Mourinhos Selbstbewusstsein. «Ein arroganter junger Mann» sei Mourinho gewesen, doch genau das faszinierte van Gaal an ihm. Mourinho habe seine Meinung nie versteckt. «Am Ende habe ich öfter auf Mourinho gehört als auf meine übrigen Assistenztrainer.»
«Barcelonas Philosophie hat mich mehr beeinflusst als jeder Trainer», sagte Mourinho später. «Diese vier Jahre waren für mich absolut entscheidend.» Barcelona war aus fußballerischer Sicht in den neunziger Jahren ein außergewöhnlicher Verein. Ballkünstler wie Luís Figo, Christo Stoitschkow oder Rivaldo zelebrierten das Spiel mit ihren Tricks und Finten. Vor allem aber war Barcelona ein Ort, an dem der Fußball neu gedacht wurde. Johan Cruyff, der frühere holländische Weltklassefußballer, hatte den Verein Anfang der Neunziger als Trainer umgekrempelt. Barcelona bekam zu jener Zeit eines der modernsten Jugendzentren. Die Barcelona-Philosophie – viele Pässe, viel Struktur im Spiel – wurde den Spielern schon im Jugendbereich eingeimpft. Als Assistenztrainer, der für die Beobachtung der kommenden Gegner zuständig war, tauschte sich Mourinho regelmäßig mit den Spielern aus. Stars wie Luis Enrique, der junge Xavi oder Pep Guardiola suchten das Gespräch mit ihm, um mehr über die Schwachstellen des Gegners zu erfahren. Er traf in Barcelona auch auf Francisco Seirullo, einen Fitnesscoach, der neue Methoden lehrte. Seirullo schaffte in Barcelona das klassische Konditionstraining ab: Die Spieler mussten keine Runden um den Platz drehen, keine Waldläufe absolvieren. Jede einzelne Einheit sollte mit dem Ball absolviert werden. Mourinho lernte Seirullos Konditionstraining mit Ball kennen und schätzen. Barcelona wurde so etwas wie ein magischer Ort für Mourinho.
Im neuen Jahrtausend verließ Mourinho Barcelona. Er wollte nicht länger Assistenztrainer sein, sondern als Cheftrainer selbst Verantwortung tragen. Nach einem kurzen Stelldichein bei Benfica Lissabon – Mourinho überwarf sich mit dem Präsidenten – führte er den Provinzklub União Leiria 2002 zu einem sensationellen fünften Platz, die beste Platzierung in der Vereinsgeschichte. In der darauffolgenden Saison wechselte Mourinho zum FC Porto. Nun verlief der Aufstieg Mourinhos kometenhaft: 2003 holte er mit Porto die nationale Meisterschaft sowie den UEFA Cup, den Vorläufer der heutigen Europa League. 2004 gewann der vom Status und von der Finanzkraft eher zweitrangige Verein FC Porto völlig unerwartet die Champions League. Plötzlich war Mourinho, wenige Jahre zuvor noch Assistenztrainer, ein Coach von Weltrang.
Mourinho selbst scherzte zu jener Zeit: «Nach 15 Jahren als Trainer gelte ich jetzt als Erfolg über Nacht.» Tatsächlich hatte er sich über ein Jahrzehnt auf den Trainerberuf vorbereitet. An der Universität von Lissabon und als Assistenztrainer in Barcelona entwickelte er seine Philosophie. Dass er in Porto derart große Erfolge feierte, hatte einen simplen Grund: Er war der Konkurrenz um mehrere Jahre voraus, und das in allen relevanten Bereichen des Fußballs: im Training, in der Taktik und in der Mannschaftsführung.
Im Training orientiert sich Mourinho bis heute an der Methodik von Seirullo, die er in Barcelona kennengelernt hat. Jede Trainingseinheit findet mit Ball statt. Ein isoliertes Konditionstraining, beispielsweise durch Waldläufe, verhöhnt Mourinho: «Ein begnadeter Pianist rennt nicht um sein Klavier oder macht Liegestütze auf seinen Fingern. Er spielt Klavier, sein ganzes Leben lang.» Wichtig ist für ihn ein ganzheitliches Training, das alle Aspekte des Fußballs vereint. Statt einzelner Übungen, bei denen nur ein Detail trainiert wird, sollten die Trainingseinheiten immer mehrere Elemente umfassen. Wenn Mourinho möchte, dass sein Team das Passen trainiert, stellt er keine Hütchen auf und lässt seine Spieler vorgegebene Passfolgen abspulen. Stattdessen wird das Passen in eine Spielform integriert – ein Drei-gegen-Drei, ein Sechs-gegen-Sechs, ein Fünf-gegen-Zehn. Jedes Training sollte sich so anfühlen wie eine Situation aus einem echten Spiel, inklusive Handlungs- und Gegnerdruck. Dazu gehört auch, dass eine Trainingseinheit unter Mourinho 90 Minuten dauert, in Ausnahmefällen kürzer, aber niemals länger. Schon Sepp Herberger wusste: Ein Spiel dauert 90 Minuten. Warum sollte ein Training länger dauern?
Anders als die meisten Trainer plant Mourinho sein Training nicht «aus dem Bauch heraus», sondern gibt ihm einen wissenschaftlichen Anstrich. Mourinho trainiert dabei nach dem Konzept der «taktischen Periodisierung», das sein Universitätsprofessor Frade entwarf. Im Vordergrund steht die Vermittlung des Spielkonzepts, das Mourinho sehen möchte. Dieses Spielkonzept ist die Maxime. Die Maxime wird wiederum in einzelne Sub-Prinzipien unterteilt. Diese Organisation geht hinunter bis zu den Sub-Sub-Prinzipien. Entscheidend ist, dass alle zurückführen zur Maxime, dem Kern der Mannschaft. Die einzelnen Sub-Prinzipien müssen immer und immer wieder trainiert werden, damit die Spieler sie irgendwann unbewusst abrufen können. Somit entfernt sich Mourinho auch von der klassischen Trainingsmethodik, nach der die Spieler auf einzelne Höhepunkte «in Form gebracht» werden sollen. Mourinhos Methodik zielt darauf ab, sein Spielkonzept, die Maxime, so weit zu perfektionieren, dass die zahlreichen Sub-Prinzipien jederzeit abgerufen werden können, egal, ob in einem Spitzenspiel der Champions League oder einem Duell gegen einen Abstiegskandidaten. Er plant seine Trainingswochen lange im Voraus, um die einzelnen Sub-Prinzipien über lange Zeit perfektionieren zu können. Jede Trainingswoche enthält dabei Phasen der Regeneration vor und nach den Spielen. Das war Anfang der nuller Jahre nicht selbstverständlich. Noch heute hält sich bei manchen Trainern (und vielen Fans) der Irrglaube, nach einem schwachen Spiel sollten die Spieler mit einem extra harten Training bestraft werden. Mourinho würde das nie tun, schadet es doch der Regeneration und damit der geistigen und körperlichen Frische der Spieler.
Abb. 1: Taktische Periodisierung
Mourinhos Training beim FC Porto war immer ganz darauf ausgerichtet, seinem Team Vorteile im taktischen Bereich zu verschaffen. Die Maxime seines Spielkonzepts, das strategische Ziel, war der Umschaltmoment nach Ballgewinnen. Heutzutage ist der Umschaltmoment in der Fußballsprache etabliert, jener Moment, in dem ein Team den Ball gewinnt und damit von Defensive auf Offensive umschalten kann. Anfang des Jahrtausends war das Wort «Umschaltmoment» ein Neologismus, eine Wortneuschöpfung, die kaum jemand benutzte. Mourinho, Organisationsfanatiker, wie er war, ließ genau trainieren, wie die Mannschaft den Ball zu erobern und wie sie nach Ballgewinnen umzuschalten hat. Mourinho erklärte den Umschaltmoment zur Maxime, dem sich alles im Spiel unterzuordnen hat. Wenn seine Mannschaft den Ball gewann, sollte sie nicht nach hinten oder zur Seite passen, sondern direkt nach vorne. «Je länger der Ball im Mittelfeld zirkuliert, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Gegner uns den Ball abnehmen wird», so Mourinho. Schnelligkeit geht über Genauigkeit.
Das erste Sub-Prinzip, das für ein schnelles Umschaltspiel nötig ist: die Balleroberung. Mourinho wollte nicht, dass sein Team am eigenen Strafraum verharrt und auf den Gegner wartet. Nur wer den Ball am richtigen Ort erobere, könne schnell vor das gegnerische Tor gelangen. Die Abwehr sollte nach vorne rücken, das Mittelfeld ebenso. Die Mannschaft sollte die
Der Umschaltmoment bezeichnet den Moment, in dem der Ballbesitz wechselt: Ein Team erobert den Ball, das andere Team verliert den Ball. Die Mannschaften müssen nun von Offensive auf Defensive bzw. von Defensive auf Offensive umschalten. Umschaltspiel meint also, wie eine Mannschaft nach einem Ballgewinn oder Ballverlust reagiert. Oft wird dieser Begriff auch synonym mit dem Begriff «Konterspiel» verwendet. Hier bezeichnet das Umschaltspiel einzig das schnelle Spiel nach vorne, sobald ein Team den Ball erobert hat.
Räume eng machen, sodass sie Druck auf den Gegner ausüben kann. Alle Spieler mussten dafür defensiv mithelfen. «Es gibt Leute, die sagen, kreative Spieler seien von Abwehraufgaben zu entlasten», sagt Mourinho. «Wer dies behauptet, kennt den Fußball nicht. Alle elf Spieler müssen zu jeder Zeit genau wissen, was sie zu tun haben.»
Als Sub-Sub-Prinzip ließ Mourinho verschiedene Formen des Balleroberns trainieren: eine Variante, bei der der Gegner bereits in dessen Hälfte gestört wird – ein Angriffspressing. Eine Variante, bei der Abwehr und Mittelfeld eng aneinanderstehen und den Ball am Mittelkreis erobern – ein Mittelfeldpressing. Und eine Variante, bei der sein Team tief verteidigt und den Gegner in die eigene Hälfte lockt, um dort zuzuschlagen – ein Abwehrpressing. Mourinho forcierte dabei vor allem das Mittelfeldpressing: Wer den Ball im Mittelfeldzentrum gewinnt, könne am besten kontern. Die gegnerische Mannschaft ist dann aufgerückt, der Weg zum Tor nicht zu weit. Das möchte Mourinho ausnutzen. Mourinhos Trainingsorganisation geht dabei ins kleinste Detail, bis hin zu der Frage, wie sich einzelne Spieler in einzelnen Situationen bewegen sollen.
Im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet man den Begriff Pressing, wenn das verteidigende Team den Gegner schon weit in dessen Hälfte attackiert. In der Fußball-Fachsprache bezeichnet das Pressing allerdings jeden Versuch, dem Gegner den Ball abzunehmen – egal, wo auf dem Feld das geschieht. Im modernen Fußball wird das meist im Kollektiv versucht, um dem Gegner keine Lücken zu bieten und die Chance auf einen Ballgewinn zu erhöhen. Das Gegenteil vom Pressing ist das Stellen des Gegners. Hierbei schließt man nur passiv die Passwege für den ballführenden Spieler, versucht aber nicht aktiv, den Ball zu erobern. Der Verteidiger bleibt hierzu vor dem Gegenspieler stehen und geht nicht aktiv in den Zweikampf.
Mourinhos Geniestreich in Porto war es, die einzelnen Varianten so weit zu perfektionieren, dass sein Team sie jederzeit abrufen konnte. Der FC Porto konnte seiner Maxime, dem Umschaltspiel, stets treu bleiben, sich dabei aber individuell an den Gegner und das Spiel anpassen. Dass sein Team die Stärken und Schwächen des Gegners bedenkt, ist Mourinho äußerst wichtig. Die Gegnerbeobachtung hat für den früheren Scout höchste Priorität. Als er bei Benfica als Cheftrainer anfing, war er mit der Qualität der Gegneranalysen derart unzufrieden, dass er einen neuen Scout einstellte – auf eigene Kosten. In Porto installierte er sein eigenes Team, das ausschließlich Analysen des Gegners anfertigte. Wie der Gegner das Spiel aufbaut. Wo die Schwächen liegen. Welche Eckballvarianten der Gegner im Gepäck hat. «Wenn du einen Ferrari hast und ich ein kleines Auto, muss ich dein Rad kaputt machen oder dir Zucker in den Tank streuen», sagte Mourinho einst. Genau das hatte er mit dem «kleinen» FC Porto vor.
Die letzten zwei Trainingstage vor einem Spiel waren immer der Einstellung auf den kommenden Gegner vorbehalten. Mourinho ließ nicht nur eine Marschroute trainieren. Sein Torhüter Vítor Baía sagte später gegenüber dem Blizzard: «Ich erinnere mich an ein Spiel gegen Benfica. In der Woche vor dem Spiel hat er uns auf den Fall vorbereitet, dass wir ein Tor schießen. Er erklärte uns, welche Auswechslung José Antonio [Benficas Coach] vornehmen und wie er seine Taktik umstellen wird. Genau so ist es eingetroffen. Wir waren komplett darauf vorbereitet.» Mourinho überlässt nichts dem Zufall. Er studierte mit seiner Mannschaft sogar ein, wie sie sich bei einem Rückstand in den Schlussminuten zu verhalten hat. Anstatt den Ball einfach lang in den Strafraum zu schlagen, sollten sie Passmuster befolgen, die abgestimmt waren auf den Gegner. Oft ließ Mourinho auch Zettel auf das Spielfeld reichen. Dort notierte er detaillierte taktische Änderungen, die seine Spieler dann umsetzten.
Manchmal stand auf den Zetteln nur ein einziges Wort: «Gewinnt!» Das führt zu Mourinhos drittem großen Steckenpferd: der Psychologie. Mourinho hatte sich bereits als Student ausführlich mit der Psychologie des Menschen beschäftigt. Schon als kleines Kind hatte er Fußballspieler kennengelernt. Er weiß, wie sie ticken, und es gelingt ihm, Theorie und Praxis zu verbinden. In seinen frühen Jahren hat er Mimik und Gestik perfektioniert, um seine Aussagen jederzeit kontrollieren zu können. Auch in der Mannschaftsführung hat alles, was Mourinho tut oder sagt, Methode.
Bei jedem Verein, mit dem Mourinho gearbeitet hat, gibt er seinen Spielern in der ersten Sitzung ein simples Versprechen: Er werde sich voll reinhängen und sie zu besseren Spielern machen. Egal, was die Leute da draußen sagen werden, er werde sie immer verteidigen. Wenn, ja, wenn sie das tun, was er von ihnen verlangt. Das ist sein Programm. Mourinho ist es wichtig, dass seine Mannschaft jederzeit konzentriert bleibt, egal, wie der Gegner heißt. «Ich motiviere andere mit meiner Motivation.» Er kann vor einem Spiel mit seinen Spielern Spaß haben und im nächsten Moment komplett ausrasten, wenn er merkt, dass sie ihre Konzentration nicht hochhalten. Dann fliegen schon mal Kisten oder Eimer durch die Kabine. Mourinho möchte alle Spieler ständig unter Strom halten.