Der Schmerz ist anderswo - Ulla Burges - E-Book

Der Schmerz ist anderswo E-Book

Ulla Burges

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Beschreibung

Acht Erzählungen, das heißt acht Versuche, im Leben etwas hinzukriegen. Um Scheitern geht es, und um Gelingen, vielleicht. Um Knoten, die lösbar sind, manchmal. Um Abschiede, die notwendig werden, unbedingt. Um Dummheit, die sympathisch ist, gelegentlich. Um Ignoranz, die unverzeihlich ist, immer. Um Unglaubwürdigkeit, die lebensbegleitend ist, hin und wieder. Um das bisschen Wahnsinn, das uns nicht verlässt, niemals. Wo liegt der Spaß im Kennenlernen eines sehr sonderbaren Mannes? Was passiert, wenn ein Defekt durch eine Beschränktheit ergänzt wird? Weshalb endet eine nicht unerotische Begegnung in der Deutschen Bahn tödlich? Was hat ein skurriler Traum mit der Alp-Entsprechung in der Realität zu tun? Wie kommt es, das jemand moralbefreit einfach so davonkommt? Wieviel darf einer erfinden, um noch ernstgenommen zu werden? Warum ist die Liebe ein so desaströses Unterfangen? Wieso muss man aus dem Osten wieder abhauen?

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Inhalt

Das Wort

Der Schmerz ist anderswo

Flugangst

Grünfäule

Zurückgebliebene

In Sachen Liebe

Glut im Ofen

Intermezzo

Das Wort

Ich war zerknirscht. Ich hatte einen Lapsus begangen. Ich hatte ein Wort geschrieben, das der Mann eine Ungeheuerlichkeit nannte, die er noch nie in seinem Leben auf sich angewandt gehört hat. In seiner Fassungslosigkeit ersuchte er mich, da er meinen Computerbrief, ohne zu zögern, sofort wütend gelöscht hatte, ihm denselben noch einmal zu senden, allerdings unter Ausmerzung dieses Wortes und gleichzeitigem Ersetzen durch einen wohlgefälligeren Begriff oder durch eine weniger wüst klingende Umschreibung.

Das freilich tat ich nicht. Stattdessen stellte ich sehr ernsthafte Überlegungen an im Hinblick auf unsere Freundschaft, die noch gar keine geworden war. Wobei Freundschaft nicht treffend ist. Sollte ursprünglich einmal eine Beziehung werden. Eine Freundschaft ist das auch, ist auch eine Art der Beziehung. Zu dem hier Angestrebten sollte ich besser Liebesbeziehung sagen. Ja, so ganz modern, über eine Internet-Partner-Suchmaschine hatte das begonnen. Schon komisch das Ganze. Heutzutage passiert Kennenlernen fast ausschließlich auf diese Art. Die Menschen wissen nicht mehr, wie man sich anders als maschinell auf Partnersuche begeben kann. Dass es das überhaupt einmal gegeben hat – wie vorsintflutlich! Männer oder Frauen vorgeschlagen zu bekommen, die zuvor – ebenfalls maschinell – nach Matchingpunktendisqualifiziert oder aber qualifiziert worden sind. Und wer weiß, gewiss bin ich heute selbst damit längst schon wieder aus dem Rennen, denn diese Art Punktesystem wird inzwischen out sein und abgelöst durch was echt viel Cooleres. Egal, heute macht man das generell so – wenn man meint, einen zu sich passenden Menschen zu brauchen. Ich meinte das wohl so. In der Anfangszeit jener asozialen Vermittlungsmanie.

Nun ja, der Mann war unter vielen anderen eines Tages, kurz nachdem ich meine Computer-gesteuerte Such-Aktion begonnen hatte, als fast einziger unter den mir sogleich angebotenen, auffällig geworden. Er war insofern aus dem Rahmen gefallen, als er mir nachdenklich, klug und etwas überspannt erschienen war in den Bekanntgaben zu seiner Person. Die meisten Männer schrieben ja nichts zu ihrer Person, weil sie dachten, dass allein die Angabe des Alters (sicher gelogen), eines mehr oder minder ausgeübten Berufes, und die drei Tatsachen, ob sie Raucher sind oder nicht, dick oder dünn und welcher Religion sie angehören, falls sie einer angehören – als ob diese Angaben ausreichend wären, sie hinreißend zu finden. Vielseitig interessiert war auch immer noch so ein Unwiderstehlichkeitskriterium.

Der Mann, der mir hier angepriesen wurde, war keineswegs sparsam in seinen Mitteilungen. Zunächst einmal war er des Schreibens kundig und keiner von den Üblichen, die von mir sehr rasch per Mouse-Klick der Entsorgung anheim fielen, weil ihnen ganz offensichtlich das rechte Schreiben der Wörter – von der Interpunktion ganz zu schweigen – ebenso unwichtig waren wie ein paar Hinweise bezüglich ihrer Spezifika.

Also dieser Mann benutzte ordentlich die Orthografie, was mich ohnehin schon verblüffte, und zum anderen – ich muss es gestehen – reizten mich seine Gedanken, seine Ideale, seine ziemlich speziellen Vorstellungen, die mir sympathisch, wenn auch etwas, sagen wir: überdimensioniert erschienen, da sie, ganz konkret, nichts Geringeres als die Rettung der Welt und insbesondere die Rettung der Menschheit zum Ziel hatten. Als ausgewiesener Globalisierungsgegner beschäftigte er sich wissenschaftlich einerseits zwar auf molekularer Ebene, andererseits sehr global – allerdings nicht weniger analytisch – mit der Erhaltung schlechthin: mit der Erhaltung von Völkern, von Rassen, mit der Erhaltung von Sprachen und Kulturen, mit der Erhaltung von Fauna und Flora und mit der von Statistiken und Primzahlen – wobei er sich, was mir ein leichtes Stirnrunzeln verursachte, durchaus genial fand, was er auch später immer wieder ins Feld führte, als er mit meiner ausgemachten Dummheit zu kämpfen hatte. Nein, er tat das keineswegs so brutal, er bedauerte es nur immer wieder, dass ich so wenig fähig war, auf seiner akademischen Ebene, wie er es nannte, mit ihm Schritt zu halten, zu disputieren – oder noch besser: mit ihm einer Meinung zu sein. Beziehungsweise schlimmer noch: Ich weigerte mich bald schon, mit ihm diese Ebene zu betreten, die, wie mir schien, ganz allein seine Ebene war. Ich gehörte dort nicht hin, weil ich da ins Rutschen geriet, weil das eine schiefe Ebene war, weil innerhalb von drei Minuten er mir den Zusammenhang von Arbeitslosenzahlen, atomarer Verseuchung und damit kontinuierlicher Genschädigung sowie der Waldorf-Pädagogik begreiflich machen wollte. Ich erwies mich als ziemlich ungeeignet für ein derartiges Verstehen. Was ihn keineswegs davon abhielt, mich täglich damit zu konfrontieren, in den Mails oder abends am Telefon – dann, als ich ihm erlaubte, mich anzurufen. Er schickte mir Auszüge seiner wissenschaftlichen, nicht veröffentlichen Arbeiten mit der dringenden Bitte um Stellungnahme, gegebenenfalls Korrektur. Damit zwang er mich hoch hinauf auf sein Niveau. Irgendwann war ich am Ende mit meinen Argumentationen bezüglich meiner Weigerungen. Ich kommentierte also etwas bissig seine mir oft nicht einleuchtenden Abhandlungen. Waren sie einleuchtend für mich, so stammten sie, wie er mir hinterher erklärte, nicht von ihm selbst, sondern von anderen aus der Autorengruppe.

Recht schnell hatte er mir ein großformatiges Foto von sich gesandt. Ich hatte ein solches noch gar nicht erbeten, weil ich gern noch eine Weile meinen – allerdings zusehends schrumpfenden – Illusionen nachgehangen hätte. Er fand Foto aber wichtig – worin ich ihm schließlich zustimmte, da es dem Zweck der rechtzeitigen Desillusionierung diente. Mein augenblicklicher Kommentar beim Anblick des Fotos, allein mit mir und laut vorm Monitor: Intellektueller Frauenverprügler.

In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum: Just dieser Mann öffnete seinen schmallippigen Mund; er hatte sehr, sehr kleine Zähne, wie Milchzähne, mit klaffenden Zwischenräumen von Zähnchen zu Zähnchen. Durch diese Zwischenräume drückte er durchgekautes Weißbrot, das er herausnahm und mir in die Ohren drücken wollte. Mein Traum-Kommentar, von dem ich erwachte: Das kann ja heiter werden. – Davon schrieb ich ihm am nächsten Tag. Er forderte mich auf, anständigere Sachen von ihm zu träumen. Und ihm nun endlich einmal auch ein Foto von mir zu schicken. Was ich dann tat – womit die Desillusionierung auch von seiner Seite her glückte. Und das kam so: Ich war die meisten Jahre meines Lebens von zierlicher Statur. Das wusste er bereits aus meinem Internet-Profil. Er bekam also das Bild einer lachenden zierlichen Frau aus dem letzten Jahr. Das ginge ja überhaupt nicht, kam da zurück, ein paar Pfunde zu viel seien das schon, womit er nicht mehr umgehen könne in Gedanken an seine an ihm gescheiterte Ehefrau. Mich empörte das heftig – was ich allerdings in freundliche Worte kleidete, nämlich dass er doch wisse, dass Frauen über fünfzig sich entscheiden müssten, ob sie fortan als Kuh oder als Ziege leben wollten und dass ich mich seit längerem schon für die Ziege entschieden hätte, allerdings nicht für eine ausgemergelte Ziege, die ich überdies für ihn nicht zu werden gedächte. Der Mann vermied daraufhin weitere Kommentare.

Beizeiten hatte er sich meine zielgerichteten Nachfragen bezüglich seiner Familie, seiner schlecht gelaufenen Ehe, verbeten mit dem Hinweis darauf, dass er darüber sprechen wolle, wann er es für richtig halte. Was blieb mir anderes übrig, als es zu akzeptieren. Ein wenig kann ich mich schon einstellen auf die Menschen und ihre Eigenarten.

Einer seiner Lieblingsbegriffe war geistig-seelische Nähe oder Verbundenheit. Ich wollte wissen, wie er das meinte. Das mit dem Geistigen hatte ich ja verstanden. Dem war ich nicht gewachsen. Blieb das Seelische. Wozu brauchte er überhaupt eine Frau – das hatte ich ihn schon sehr zeitig im Laufe unserer Schriftlichkeiten gefragt, weil mir schien, dass doch eine Frau gar keinen Platz hatte in seiner Welt der allumfassenden Molekularität. Er erklärte es mir: Das Geistig-Seelische als unbedingte Voraussetzung für – ja, so etwas wie schließlich kraftspendende Verschmelzung im Körperlichen zwecks Erlangung einer höheren Bewusstseinsstufe. Aha. Das konnte ja noch dauern, wo ich doch im Geistigen gar nicht mächtig war, er aber nicht von mir abzulassen gedachte, was ich ihm mehrfach vorschlug. Und ich dachte ab und zu an diese Verschmelzung mit dem Körper dieses Mannes, dessen Foto-adaptierte Traum-Physiognomie mir nur ein sehr begrenztes Lustempfinden verschafft hatte. Manchmal ist es ratsam, den Prüfstand der Realität gänzlich zu vermeiden.

Ich bemühte mich jedenfalls um das Seelische, nannte es die persönliche Ebene. Und ich muss sagen, ich bemühte mich redlich. Ich entblätterte von meiner Seele Blatt um Blatt. Ich schickte ihm ein paar von meinen – ebenfalls unveröffentlichten – kleinen Geschichten, Glossen, Gedichten, denn überall war ja ein sehr persönliches Stück von mir enthalten. Die Gedichte nannte er schön oder aber nicht schön. Passten sie nicht in sein Weltbild von Menschenerhaltungsbestrebungen, hatten sie gar Sterben und Tod zum Inhalt, waren sie nicht schön. Also waren die wenigsten schön. Die Geschichten las er nicht, die waren mit etwa zehn Seiten zu lang und der knappen Zeit für sein Wissenschaftliches abträglich. Die Glossen las er, nannte meine Sprache massiv – wobei ich erst später herausbekam, dass dies ein Aburteil war. Fragen nach Privatem stellte er nicht. Ich drückte ihm praktisch mein Privates auf. Ein wenig. Mir war schnell klar, dass Privates für ihn von allenfalls untergeordnetem Interesse war. Vielleicht war er damit überfordert. Irgendwann bemängelte ich das bei ihm. Von da an stellte er brav immer wieder die gleichen Fragen bezüglich meiner Person und betonte allzu augenfällig ebenso brav seine Doch-Interessiertheit, um sich anschließend zu beklagen, dass ich auf seine Fragen nach meinen Ansichten bezüglich wirtschaftlicher Energiesparanreize viel zu selten und zudem uneindeutig einginge.

Wochen waren vergangen, Wochen einer versuchten seelischen Verbundenheit, die nicht aufkommen wollte, zumindest nicht meinerseits. Was ihn betraf, hatte er sich schon gemeinsam mit mir in der Badewanne gewähnt – für mich generell, da ich solche Erfahrung schon gemacht habe, mit nur ansatzweise Behagen verbunden – was ich ihm erklären und ihn wiederum ein Stück desillusionieren musste. Er hatte übrigens schon länger mein Bild von der Ziege dankbar aufgegriffen, mich fortan Zicklein genannt – nicht ohne sich selbst als den dazugehörigen Wolf zu sehen, den er als überall sehr haarig beschrieb und auf dessen Schoß er das Zicklein manchmal träumte, mit dem Zusatz, dass es dem Zicklein dort keineswegs langweilig werden würde, gleichermaßen nicht auslassend, dass er in Liebesdingen außerordentlich kundig und meine Vorgängerin nur des Lobes voll sei, was seine schnellen Finger betreffe. – Solche Reden oder solches Schreiben waren dazu angetan, die Abschwächung meiner Sympathie für ihn zu beschleunigen. Ich bat ihn, derartige Phantasien für sich zu behalten. Meine Aversion wurde belustigt aufgenommen und als Versuchsballon seinerseits zu den Akten gelegt.

Er drängte auf ein Treffen. Innerlich stöhnend gab ich nach – nicht ohne immer noch einen winzigen Hoffnungsfunken in mir zu spüren. Die Telefonate mit ihm hatte ich bereits Dosis-reduziert. Er hatte sie sich abends im Bett gewünscht, da sie sich so für ihn besonders bequem und – wer weiß – auch lustvoll anließen. Wir hatten Winter. Mein Schlafzimmer war kalt. Ich klemmte mir den Hörer so zwischen Kopfkissen und Ohr, dass ich die Hände unter die wärmende Bettdecke stecken konnte. Nein, nicht SO – ich hatte doch hinsichtlich seiner liebestollen Ambitionen um Abstand gebeten. Also nichts mit verzücktem Bettgeflüster. Ohnehin gab es nur die Rentendebatte der Politiker, finanzwirtschaftliche Überlegungen, die eigene gerade in Gründung begriffene Aktiengesellschaft, das ätzende Finanzamt, die dringend notwendigen Energieberatungen, die er durchführte und andere anleitete, Daten, Fakten, Zahlen, Namen und die Liebe seiner Waldorf-Schüler zu ihm, ihrem hoch gebildeten Waldorf-Lehrer. Nicht sehr oft lauschte ich so seinen tiefen Gedanken abends im Bett. Seinem Wunsch nach Allabendlichkeit gegenüber fand ich Ausreden. Von anderen Frauen habe er sich sagen lassen, er habe eine streichelnde Stimme, bemerkte er einmal so mitten in seinen politisch-physikalisch-gentechnisch-waldorfträchtigen Abendbetrachtungen, die ich weitgehend schweigend zur Kenntnis nahm. Etwas Streichelndes fand ich nicht im Klang seiner schnarrenden Stimme – ich versuchte stets meine verrenkenden Abstraktionen: weg vom Inhalt, einfach mal nur den Schwingungen lauschen, dem Tonfall. Er sprach ziemlich hell und ziemlich schnell, verschluckte mitunter die letzten Silben der Wörter, hatte sicherlich in seiner Vorstellung eine dankbare dreizehnjährige Waldörflerin vor sich, der er etwas zu erklären trachtete von der Welt und dem, was sie im Innersten zusammenhält. Geduldig wartete ich auf das Ende dieser – später nur noch seinerseits bettlägerigen – Telefonmonologe und sehnte meine eigenen spannenden Traumgebilde herbei.

Dann also das Treffen. Das Treffen auf halber Strecke zwischen seinem und meinem Wohnort. Jeder fuhr drei Stunden dorthin. Ich kann es kurz machen. Mein Traumgesicht von ihm erfuhr die wahrhaftigste und erschütterndste Bestätigung in der Realität, und ich vermute, dass mein mageres Lächeln eine Spur verzweifelten Entsetzens enthielt, als er mir mit ausgebreiteten Armen und sehr lächelnd auf dem Bahnsteig entgegenkam. Weißbrot in den Zähnchen-Zwischenräumen gab es nicht, dafür später dort den quellenden Grünkohl seiner vegetarischen Pizza, während er mit vollem Munde über die Finanzkrise im Allgemeinen und über seine ins Leben gerufenen Energiesparprojekte im Besonderen dozierte. Später liefen wir fröstelnd durch die kleine menschenarme feucht-nieselige irgendwie nackte Februarstadt. Meine Hände hielt ich fest in den Manteltaschen. Drei Minuten über Berufliches erzählte ich von mir – er hatte darüber tatsächlich etwas wissen wollen. Aber ich wollte ihn nicht langweilen. Mein Sprechen blieb holprig, spärlich, etwas einsilbig, angereichert mit längerem Verstummen wegen der Nicht-Notwendigkeit meiner Äußerungen – was ihn einerseits stutzig gemacht hatte, wie er mir später erklärte, andererseits es für ihn angenehm war und ihn meine Nähe hatte spüren lassen. Wie unterschiedlich doch die Empfindungen sind.

Drei Stunden später fuhr mein Zug zurück. Ich stürzte schnell und vehement in mein Buch, das ich gerade las, in die geschilderte Prallheit bei Philip Roth, in fremde Leben, in die nachvollziehbare Rothsche Direktheit, Unverschämtheit und Brillanz, ich sog sie in mich hinein mit einem Gefühl von Zorn und Neid und Freude, endlich.

Was den Mann betrifft, so hatte ihm unsere Begegnung gefallen. Schriftlich wollte er sich nun aber wirklich nicht mehr weiträumig äußern mir gegenüber. Er hatte sich zuvor schon so viel Mühe mit mir gegeben. Die abendlichen Telefonate weiterhin und sein Besuch demnächst bei mir standen auf dem Plan. Ich – allerdings weiter schriftlich – gestand ihm meine Missempfindungen anlässlich des zurückliegenden Treffens. Ich sprach erneut und sicher zum zehnten Male von meinem Wunsch nach einer persönlichen Ebene unseres Miteinanders. Seine leicht empörte schriftliche Antwort gipfelte in dem Satz, dass wir auf einer persönlichen Ebene noch lange nicht angekommen wären. Ich fragte ihn sehr konkret, was er sich darunter denn vorstelle, unter der persönlichen Ebene, denn offenbar meinten wir beide gänzlich Unterschiedliches, und meine Zweifel schienen mir immer mehr berechtigt, ob er diesen Wunsch überhaupt verstehe. Ganz offensichtlich erwartete ich von ihm Unmögliches, während er mit mir Chinesisch redete. Ich fragte ihn noch konkreter, ob er mir weiterhin von Wechselkursen, demografischem Wandel, Kursschwankungen und anthroposophischen biochemischen Steuerungsvorgängen waldorfscher Genmanipulation erzählen wolle. Nein, schrieb er verdrießlich, oder ja, aber ich brächte schließlich sowieso alles durcheinander, es hätte wirklich keinen Zweck mit mir.

Was wir dann aber machen wollen, wenn er nicht bereit sei, von sich, aus seinem eigenen, besonderen Leben etwas preiszugeben, fragte ich ihn. Wenn ihm das viel zu persönlich, viel zu nahe, zu verfänglich, zu verräterisch, zu – was weiß ich – sei.

Und ich muss gestehen, dass sein Vorhaben mich mit wachsendem Unbehagen zu erfüllen begann, da sich der geplante Besuch übers kommende Wochenende erstrecken sollte. Ich fragte ihn, ob Nähe außerhalb von Sexualität – die ich vorerst mitnichten anstreben wollte, und, wer weiß, ob überhaupt jemals mit ihm – und die er schließlich bereits vor Wochen wenig verführerisch umschrieben hatte, ihm zur Gänze fremd sei. Seine Mail-Antwort bestand aus einem erschrockenen Nä-he? Se-xu-a-li-tät? Mit Fragezeichen und Strichen zwischen den Silben. Als wäre ihm beides ebenso identisch wie unbekannt. Ich sah es vor mir, wie seine Augen sich geweitet haben mussten. Was war passiert? Etwas war damit ausgelöst worden bei ihm. Ich wusste nichts zu antworten.

Einen Tag später kam sein Wie meinst du das nur? Er schien immer noch verstört. Ich versuchte, ihm die Begriffe zu erklären. Und die Unterscheidung zwischen beiden. Kam mir blöd vor damit. Und erinnerte ihn an seine Formulierung von der körperlichen Verschmelzung und, als auch darauf nur lebensfernes Kopfschütteln signalisiert wurde, schrieb ich ihm kurzerhand ein deftiges Zitat aus Philip Roth, dessen sprachliche Drastik für mich mitunter das Literarische zu verlassen droht. Da stand es nun, jenes hässliche Wort, eingebettet in nicht weniger derbe Wendungen innerhalb eines längeren Satzes.

Konnte diese Wucht ihm auf die Sprünge helfen? Verschüttete Erinnerung freilegen?

Nein, so viel Gewaltsamkeit von mir ertrug er nicht. Ich hätte es wissen sollen. Er schämte sich dieses vulgären Wortes so sehr – er schämte sich meiner so sehr, dass er augenblicklich diesen Mailbrief in den Papierkorb klickte – und auch diesen auf der Stelle leerte und, wer weiß, am liebsten die ganze Festplatte zerstört hätte. Mich forderte er voller Empörung auf, ihm den gleichen Brief noch einmal zuzusenden unter vorheriger Ausrottung dieser Abscheulichkeit, die überhaupt noch niemals jemand ihm gegenüber verwendet hatte. Ich sah es ein: ihm gegenüber, der doch höhere Bewusstseinsstufen zu erreichen trachtete.

Was habe ich ihm angetan. Mit dem Zitat eines berühmten Schriftstellers. Nicht wieder gutzumachen. Was bin ich für ein Monstrum. Ich hatte ihm während der ganzen Wochen immer wieder Philip Roth zu lesen empfohlen. Wie konnte ich. Welch ein Irrtum. Sein Begriff vom Versuchsballon kam mir in den Sinn. Aber dann bat ich ihn, er möge doch, in Anbetracht der aktuellen finanziellen Lage in Europa und weltweit, angesichts von Hunger, Kriegen und Artensterben, bezüglich der atomar bedingten keineswegs ausreichend verwalteten Genschädigungen, ferner des Verdünnungszieles, den globalisierungsverursachten Einheitsbrei betreffend und, nicht zuletzt, zur Verbreitung der Waldorf-Pädagogik seine ganz persönlichen Energiesparmaßnahmen dahingehend zu erweitern, das kommende Wochenende bei mir zu streichen.

Da war er einverstanden.

Der Schmerz ist anderswo

Sie fühlte etwas in ihrem Leib, all die Traurigkeit und den Zorn, die Welt war gegen sie. Es war nicht dieses Selbstmitleid, diese Keiner-liebt-mich-Stimmung, nicht eines dieser Luxusprobleme der anderen, damit gab sie sich nicht ab. Sie wusste, dass das, was da in ihrem Bauch rumorte, nichts anderes als diese ganze Trauer war und die Wut auf ihr Leben, schließlich musste das irgendwo hin, und ihr Bauch war ein guter Ort zum Aufbewahren, Punkt. Sie selbst vermisste ihre Fröhlichkeit, ihr quietschendes Lachen. Sie wusste, sie war anders geworden, hatte jedoch inzwischen jene Stumpfheit erreicht, die einhüllt und schläfrig macht. Schulterzucken, funktionieren, es kommt auch wieder besser.

Gabriela Franske, wach auf, du sollst zum Arzt gehen.

Die Freundin drängte. Gabriela ging nicht zum Arzt. Sie hat genug Ärzte an sich herummachen lassen, ihr hat noch keiner helfen können. Sie ist nicht krank. Und all das Böse kann ihr kein Arzt der Welt wegbehandeln. Das würde von ganz allein rauskommen, aber es war offenbar noch nicht genug, es musste wohl noch einiges hinzukommen.

So redete sie, fast mehr zu sich selbst als zur Freundin, die Gabriela daran erinnerte, dass sie verheiratet war und vielleicht schwanger sein könnte.

»Dass ich nicht lache«, sagte Gabriela. »Ich bin ein Krüppel, wie soll das denn gehen. Andere Leute kriegen die Kinder, ich doch nicht.« Ihr Lachen klang bitter, Tränen hinter den dicken Brillengläsern.

Die Freundin ging.

Sie greift in die Räder ihres Rollstuhls, energisch stößt sie die Tür auf, abgekratzte Farbe und eingedelltes Holz dort, wo das Trittbrett ständig dagegenrumst. Sie rollt um die Ecke in die Küche, greift nach der Glaskanne der Kaffeemaschine, lässt sie ins Spülbecken fallen, geübter Handgriff, nichts geht kaputt, mit einer Hand zieht sie sich am Beckenrand hoch, die andere reißt am Wasserhahn, sie sackt zurück in den Stuhl, dann die umgekehrte Reihenfolge. Wenn die Kanne überläuft, ist es in Ordnung, denn beim schrägen Herauszerren kippt die Hälfte Wasser in den Abfluss, sie braucht nicht so viel. In dem Augenblick, wenn sie sich hochgezogen hat, sieht sie den Schmutz auf der Arbeitsfläche, bis dorthin reicht sie nicht. Falls Besuch kommt, ist es bestimmt dunkel, und die mickrige blanke Vierzig-Watt-Birne unter der Decke lässt den Dreck nachher unsichtbar erscheinen. Sie langt nach oben, um den Schalter der Kaffeemaschine zu erreichen. Sie wartet.

Sie wartete schon lange, hatte viel Zeit, seit sie auch stundenweise nicht mehr gebraucht wurde als Telefonistin. Bei günstigem Wetter fuhr sie in der Stadt herum, mit dem elektrisch betriebenen Stuhl, gut, dass sie den endlich hatte. Sie steckte sich die braunen Haare auf, bunte Plastikspangen hinein, machte sich die Lippen rot, die Nägel auch, das bunte Tuch mit den Glitzerfäden um den Hals, und ab ging die Post. Ein paar Leute traf sie immer, ein paar, mit denen sie reden konnte, quatschen, nichts Besonderes, es gab nichts Besonderes.

Seit sechs Jahren war sie jetzt verheiratet und immer noch stolz darauf. Die Großmutter hatte immer abgewinkt, ihr gesagt, so eine wie sie bekäme nie einen Mann, niemals. Und wie hat sie gestaunt, die Großmutter, als Egon mit einem Mal ankam und Gabriela heiraten wollte. Egon Franske, der Schuhmacher, nicht schön, nicht besonders helle, aber er fand sie gut, nettes Mädel, wie er immer sagte. Weg wollte er mit ihr, weg aus der Gegend, ganz woanders hin. Und Gabriela war Feuer und Flamme, beweisen wollte sie es der Großmutter, die pausenlos Kindchen, Kindchen jammerte, das wird doch nichts, lass die Finger davon, und von dem erst recht. Nein, sie wollte weg, sie musste weg. Was andere konnten, das konnte sie schon lange.

Sicher, es gab allerhand Leute, die sich wunderten, wenn sie erfuhren, dass Gabriela verheiratet war, aber das erfüllte sie mit besonderem Stolz, denn sie wusste genau, was sie alle dachten, was sie sich fragten und worauf sie keine Antwort hatten. Alle waren so taktvoll, so voller Scham, so irritiert und so ahnungslos, dass Gabriela jedes Mal mit großem Vergnügen antwortete: »Da staunste, was?« Das war zu Beginn ihrer Ehe.

Sie reagierte noch immer so, nur den ironischen und leicht aggressiven Unterton, der inzwischen mitschwang, bemerkte sie selber nicht. Zu Hause, wenn sie herumsaß und wartete, starrte sie vor sich hin. Scheidung? Der Großmutter am Ende noch recht geben? Gut, sie war weit weg, der Kontakt so gut wie abgebrochen, sie würde es vielleicht gar nicht erfahren. Aber die Leute, die würden sich ins Fäustchen lachen: Das konnte ja nicht gehen auf die Dauer, wie denn, der arme Mann.

Fünfundzwanzig war sie jetzt, und der Bauch tat ihr weh. Sie hatte einen Mann, eine Freundin, zahlreiche Bekannte, darunter mehrere aus Vietnam, Indien, der Türkei. Das waren die Gemüse- und Klamotten-Händler auf dem Marktplatz, den sie regelmäßig aufsuchte, nicht, um etwas zu kaufen, nur zum Schwatzen. Diese Menschen gefielen ihr.

Die Freundin war okay, aber nicht so okay wie die von früher, Anita, von vor zehn Jahren, als sie noch bei der Großmutter lebte. Mit der von damals gab es keine Geheimnisse, kein Tabu, aber da gab es auch noch keine Probleme, da gab es nur Spaß und Gekicher und die Jungs, über die man sich gemeinsam lustig machte oder die man gemeinsam süß fand. Mit der Freundin jetzt war es schwieriger. All die schlimmen Dinge, die eigenartigen und peinlichen, die, für die sie sich schämte nun schon seit Jahren, konnte sie niemandem erzählen, auch der Freundin nicht. Die stellte auch keine Fragen, war auch so eine verdammt Rücksichtsvolle. Ordentlich gestellte Fragen hätte man vielleicht ordentlich beantworten können, aber niemand wollte wirklich etwas wissen.

Gabriela hat schon immer alles wissen wollen, nur vielleicht nicht dringend genug, hat sich zu früh zufrieden gegeben mit blöden und ausweichenden Erklärungen. Immer haben sich alle geschämt, verlegen gegrinst. Heute war sie es, die sich schämte. Sie schämte sich jetzt sogar wegen ihres Aussehens. Sie rollte den Stuhl vor den Spiegel im Flur: Nein, eigentlich nicht anders als gewohnt: zierlich wie immer, die rundlichen Beine nicht runder als sonst, der leicht verkrümmte Rücken unauffällig, bequem eingesunken im Stuhl, locker fallender Pulli; bei hochgerecktem Oberkörper jedoch Brust und Bauch eine Ebene – Scheiße, sie schlug auf diesen Bauch.

Gabriela stößt die Tür zum schmalen Badezimmer auf, unwillig. Der Rollstuhl passt gerade zwischen Wand und Badewanne. Wenn sie die Hände an den Rädern hat, muss sie achtgeben, dass sie ihre Fingerknöchel nicht blutig schrammt. Sie zieht sich aus, Pullover, Hemd, Büstenhalter. Sie rutscht im Stuhl so weit wie möglich nach vorn, links von ihr ist die Wanne, darüber an der Wand ein schräger Haltegriff, verchromt. Sie lässt sich über die Wanne fallen, löst die rechte Hand von der Stuhllehne, gleichzeitig muss die linke den Griff zu fassen kriegen, was bisher immer gelungen ist. Die rechte Hand greift nach, beide Hände am Griff, zieht sie sich aus dem Stuhl über den Wannenrand. Ist ein Bein verkantet oder klemmt es fest, löst sie eine Hand, langt unter das Knie, hebt das Bein an und zieht es hinein in die Wanne. Die Beine sind sehr schwer, fühllose Masse, die sie einfach mitnehmen muss, hinterherziehen, nebeneinanderpacken, Beine gehören eben dazu, zu ihr gehören sie wie zwei große gestorbene Tiere, fest mit ihr verwachsen, ebenso vertraut wie fremd. Die Beine fallen, schlagen dumpf nach unten auf den Boden der Wanne, ohne Schmerzen.

Sie liegt, es ist hart, sie muss sich beeilen, denn in der Steißgegend ist die Haut druckempfindlich und gefährdet. Beim Ausziehen der Hose dreht sie sich rasch, geschickt den jeweiligen Schulter- und Hüftschwung nutzend, von einer Seite auf die andere und schiebt dabei die Kleidung herunter. Dann die Windeln. Sie trägt ähnliche wie die Babys heute, früher waren es die üblichen Baumwollwindeln, die gewaschen wurden. Endlich ist sie nackt, kann im Liegen die Brause aufdrehen, schnell machen. Wenn sie fertig ist, zieht sie sich in sitzende Haltung, Sitzen ohne Stütze im Rücken oder an den Seiten ist immer riskant, die nasse Wanne ist glatt, sie kennt das, Behinderten-ungerecht. Rausstemmen ist komplizierter, kraftaufwendiger als Reinwuchten. Nie darf sie die Vorbereitungen zu allem vernachlässigen; was sie vergessen hat bereitzulegen, rächt sich, kostet zusätzlich Kraft und Zeit. Zum Beispiel sollte jetzt ein Handtuch im Rollstuhl liegen. Wenn nicht, ruckelt sie, unsicher sitzend, das, womit sie den Oberkörper abgetrocknet hat, unter sich, zieht es zwischen die Beine; die Haut, die nur selten ohne Feuchtigkeit ist, muss jetzt gut getrocknet und anschließend mit speziellem Creme gepflegt werden. Dann zieht sie den Rollstuhl ganz dicht an die Wanne, umgreift mit der Linken die Arm-, mit der Rechten die Rückenlehne, und wenn alles klappt und sie ordentlich fit ist, kann sie sich mit einem kraftvollen Schwung heraushechten, hängt dann mit dem Bauch über Wannenrand und Armlehne, die Beine, tote schlaffe Säulen von unvorstellbarer Last, eingeknickt in der Wanne, keine Stellung zum Ausruhen, es drückt. Sie fasst nach der rechten Armlehne, mit der linken Hand greift sie nacheinander die bleiernen Beine, hievt sie über den Rand, Bergung von Schwergewichten, sie knallen runter, Füße auf die Fliesen, Schienbeine gegen das Trittbrett, blau sind sie immer, Badewannen-Tango nennt sie das Ganze. Noch ein Schwung, eine Drehung dabei, und sie sitzt wieder in ihrem gepolsterten Stuhl, schnauft erleichtert, fühlt sich wunderbar sauber. Schnell die Pampers an, im Liegen ginge das besser, manchmal macht sie es in der Wanne, wenn sie sich schon dort das Gesäß getrocknet hat, alles hat seine Vor- und Nachteile, alles ist Übungssache, und Übung hat sie.

Noch nie hat Gabriela ihre Beine zum Gehen benutzen können. Sie empfindet es mitunter als lästig, aber es ist normal für sie, sie kennt es nicht anders, Leben mit Einschränkungen, na und. Ein blind Geborener leidet nicht so wie ein spät Erblindeter, der weiß, was er verloren hat. Man behilft sich, ist erfinderisch, trainiert das Mögliche, entwickelt neue Fähigkeiten, nichts weiter. Ein blind Geborener kann besser hören als jeder Sehende, Gabriela hat kräftige Arme, außerdem kann sie ab nabelaufwärts alles das fühlen, was unterhalb nicht geht, und sie hat ein empfindliches Gespür entwickelt für die Unfähigkeiten der anderen. Tränen über das eigene Unvermögen weinte sie niemals, nie hat sie ihren Körper als untauglich empfunden. Es sind die anderen, die ihn für untauglich halten.

Die Freundin kam wieder, machte sich Sorgen: »Warst immer noch nicht beim Arzt?«

»Was soll ich dort.«

»Das ist nicht normal, Mensch, musst dich kümmern, hast wohl gar keine Angst?«

»Was soll denn sein, ich esse zu viel. Du wirst auch dicker, wenn du zu viel isst.«

Die Freundin ging ihr auf die Nerven, hatte keine Ahnung, quatschte dummes Zeug, half ihr kein bisschen, was wusste sie schon, sollte lieber gehen. Alleinsein war sowieso besser, sie fühlte sich oft nicht wohl, spürte diesen Druck im Bauch, hatte das Bedürfnis, sich hinzulegen. Die Freundin war gut für gute Tage, an den schlechten war sie so nutzlos wie die eigenen Beine. Drei Stunden noch, bis Egon kam – wenn er kam. Gabriela legte keinen Wert darauf, sollte er sich doch zum Kuckuck scheren. Sie schwang sich aus dem Stuhl ins Bett, aber zum Einschlafen war sie zu müde.

Ihre Mutter fiel ihr ein, immer, wenn sie an ihre Mutter dachte, dachte sie: die Frau. Gabrielas Erinnerung an sie war geringfügig, gesehen hat sie sie selten. Die Großmutter hatte ihr widerwillig von ihr erzählt, das Wenige ist haften geblieben, sie wird es nicht los: Gabriela war auf die Welt gekommen mit dem, was sie einen offenen Rücken nannten, die Frau schämte sich eines solchen Kindes, der Mann hat gekniffen, war gleich abgehauen, wollte von dem Bastard, dem Ding, wie er es nannte, nichts wissen – soll’s sterben, dann komm ich wieder, vielleicht, hat er gesagt. Gabriela starb nicht. Sie starb einfach nicht, nicht vor und nicht nach der Operation in frühen Babytagen. Die Ärzte hatten, nachdem Gabrielas Rücken geschlossen worden war, der Frau viel Glück mit ihrem Kind gewünscht. Glück war gut, denn Hoffnung gab es wenig, man versprach Lähmung der unteren Körperhälfte, Windeln von der Wiege bis zur Bahre, bei immerhin wahrscheinlicher Normalität in der geistigen Entwicklung.

Gabriela hat Mühe gemacht, Mühe wollte die Frau nicht, ist fortgegangen. Die Großmutter, die Mutter der Frau, hat sich erbarmt. Und das Erbarmen war eine harte Schule. Nein, lieblos war sie nicht, die Großmutter, aber ernst, ohne viele Worte sehr streng, unnachgiebig und nie ohne Zorn auf ihre Tochter, die Frau. Liebe ist nicht zu erzwingen, nicht einmal Verantwortung, waren ihre bitteren Worte gewesen. Die Großmutter nahm das Ruder in die Hand, stark und geschickt war sie. Das, was getan werden musste, wurde getan, viel Federlesen wurde nicht gemacht.

Dabei hatte es die Großmutter gut, die Ärzte behielten recht, Gabrielas Entwicklung verlief unkompliziert. Lebendig war sie und hart im Nehmen, wenn es derber als gewöhnlich zuging. Sie lachte, als sie sich die große Schublade voller Bestecks und Küchengeräte auf die Beine riss, lachte und malte Bildchen auf die Fußbodendielen mit dem hervorquellenden Blut aus einer tiefen Wunde überm Knie. Sie verbrühte sich mit frisch aufgegossenem Tee und stocherte mit den Fingern erfreut in den sich bildenden Blasen auf der Haut ihres Oberschenkels.

»Hast es gut, merkst nüscht, heulst wenigstens nicht dauernd wie andere Kinder«, sagte die Großmutter, während sie Butter auf die Blasen drückte, Butter und Mehl.

Gabriela lernte schnell, überall zog sie sich kraft ihrer Arme hin, bald auch bäuchlings die Treppen aus dem Garten hinauf in die Küche, sich am Geländer festhaltend. Sie begriff ihre Beine als naturgegebene Hindernisse, die hängenblieben an Möbeln und Türpfosten, die überall hin mitgenommen werden mussten. So wie andere Kinder laufen lernen, lernte sie rutschen und sich ziehen. Das Vergnügen über die eigenen Erfolge war das gleiche.

Jetzt, während sie im Bett lag, dachte sie an den phantastischen Bollerwagen, den sie aus der Nachbarschaft bekommen hatte, an ihre fliegenden langen Haare und ihr Kreischen, wenn die Kinder sie viel zu wild umherzogen. Den Unfall wird sie nie vergessen, als sie sich überreden ließ zu einer rasanten Alleinfahrt einen verbotenen Hügel hinab, die Kinder hatten es ihr vorgemacht in Gabrielas Wagen, es konnte nichts passieren, und es passierte doch: Kippen, sich überschlagen, Wolken und Gras in rasendem Wirbel, Erde im Mund, der stechende Schmerz, Atmen unmöglich, dann Dunkelheit. Dann Herberts Gesicht über ihr, sein Mund schrie sie an aus Dreck und Tränen und Rotz. Und dann ihr heldenhaftes Versprechen dem versammelten schlechten Gewissen gegenüber, keinem ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Die Kinder packten das ganze Unglück vor Großmutters Haustür, den kaputten Wagen und das kaputte Kind. Das schwieg hartnäckig und absolut und wochenlang. Niemand erfuhr etwas, keine Großmutter, keine Krankenschwester und kein Arzt im Krankenhaus, auch der Polizist wurde eingeschaltet, an den erinnert sie sich gut.

»Na, na, na«, hatte der gesagt, »ist ja keiner gestorben, wird schon alles wieder zusammenwachsen, und bei Gabriela kommt’s ja auf eine gebrochene Rippe nicht an, oder?«

Über solchen Gedanken war sie schließlich doch eingeschlafen, was nicht gut war, denn Egon mochte es nicht, wenn er nach getaner Arbeit heimkam und Gabriela im Bett vorfand, ohne dass sie für ihn gekocht hatte.

»Koch selber was, ich bin nicht deine Magd«, sagte sie.

Auch das war nicht gut, denn sie hatte bereits gemerkt, dass Egon nicht nüchtern war. Es gab in letzter Zeit Tage, an denen es ihr gleichgültig war, ob sie Egon richtig behandelte, damit er friedlich blieb. Auch heute hatte sie keine Angst, ihre Empfindlichkeiten lagen nicht an der Oberfläche, sie fühlte sich matt und dumpf, angenehm teilnahmslos. Egon zerrte sie aus dem Bett, sie schlug zu Boden, er schrie auf sie ein, unartikuliert, versoffen, mit den Armen schützte sie ihren Kopf, das war nicht nötig, er stand lallend, dreckig, speicheltriefend in der Tür, sie sah seinen Zeigefinger auf sich gerichtet, wacklig, unkoordiniert, diesen Zeigefinger, dem zwei Glieder fehlten, mit dem stocherte er in ihre Richtung, und bis zu ihrem Ohr drangen unverständlich ein paar bierfahnige Satzfetzen, dazwischen herausgebrüllte Begriffe wie ›faule Sau‹, ›lahme Fotze‹, ›verpisste Schlampe‹, die ihr hinreichend bekannt waren, dann knickten ihm die Knie weg, seine Hand verfehlte die Klinke, er sank langsam auf die Türschwelle, sein Kopf fiel krachend unmittelbar neben ihre Füße, er würgte lautlos, und Erbrochenes breitete sich rasch aus, großflächig und dünn, aber gehaltvoll, durchdringend im Geruch. Ihr Blick ruhte auf diesem Bild, bis es verschwamm unter zwei dicken Tränen, die kein Lidschlag die Wangen abwärts beförderte. Ein fröhliches Kirmesfest, zehn Jahre her, kam ihr plötzlich in den Sinn. »Verdammt schlechter Tausch«, sagte sie laut, zerrte ihre Füße nach oben, die zogen Fäden, sie ließ sie wieder fallen und bemerkte erstaunt, dass sie weinte.

Gabriela hat die Haare frisch gefärbt, braun, nicht auffällig, ein paar neue Glitzerspangen erworben und neue Armreifen, viele hat sie jetzt, teils aus Aluminium, teils Plastik mit bunten Steinchen, sie trägt sie alle zusammen; für frischen Nagellack ist die Zeit knapp, der pinkfarbene bröckelt schon, egal, sie muss jetzt raus. Es ist winterlich kalt, der Aufwand, um auszufahren, erheblich. Schließlich steckt sie in der dicken Jacke, hat sich Schuhe angezogen, und mit leeren Stoffbeuteln und ihrem Portemonnaie in der rechten Hand, zieht sie sich auf den Unterarmen bis zur Treppe, dreht sich, sitzt, hält sich mit der linken am Treppengeländer fest und rutscht, rutscht, rutscht neun Stufen ihrer Hochparterre-Wohnung abwärts bis zum dort wartenden Elektro-Rollstuhl. Der ist schwer, kippt nicht gleich, wenn sie sich daran hochzieht und den Körper hineindreht, wobei der warme Fußsack, der darin liegt, nach Möglichkeit nicht verrutschen sollte. Sie mummt sich ein, Geld und Beutel unten an die Füße, Reißverschluss zu, Abfahrt. Sie hat gute Laune, heute wenig Schmerzen, die Luft fließt herrlich frisch in ihren Brustkorb, der so oft zu eng ist und das Atmen erschwert. Das neue Make up verdeckt hervorragend die blauen Flecken von vor zwei Tagen. Der vietnamesische Nachthemden-Verkäufer auf dem Marktplatz flüstert ihr ein Kompliment ins Ohr, sie kichert. Im Supermarkt kauft sie ein, einen Wagen kann sie nicht schieben, Milch, Saft, Brot, Butter, Obst; auf Schokolade hätte sie Appetit, aber das Geld ist knapp. Sie nimmt trotzdem welche, der Fußsack ist geräumig. Sie bezahlt nicht immer alles, was sie mitnimmt. Hinter der Kasse verstaut sie die Ware in die Beutel, die Beutel auf die Füße im Fußsack. Ihr Stuhl fährt sie nach Hause, zurück über den Markt, der Vietnamese wird sie besuchen kommen, irgendwann, und sie darf nicht vergessen, die Batterie des Rollstuhls aufzuladen, wobei sie den Nachbarn um seine widerwillige Hilfe bitten muss. Auf der Heimfahrt hat es zu regnen begonnen, der Schirm schützt sie bis zu den Knien, unten weicht sie durch. Um das Brot ist eine Folie, Gott sei Dank.

Der Hausflur ist winzig, er wird nass durch den Rollstuhl, den tropfenden Fußsack, den Schirm. Der Nachbar guckt zur Tür heraus, flucht, schlägt die Tür zu. Gabriela schwingt sich wütend aus ihrem Gefährt, liegt schräg auf der Treppe, hängt sich die vollen feuchten Beutel um den Hals, Gewicht nach hinten auf den Rücken, die Schlaufen schneiden vorn in den Hals, die Hände sind klamm, Kraft ist notwendig, viel Kraft heute, die Geländerstäbe sind wieder locker, drehen sich, sie muss den Handwerker anrufen. Jemand kommt von oben, es ist die junge Frau aus dem zweiten Stock.

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein«, keucht Gabriela, »eine meiner leichtesten Übungen.« Heute sind kleine Pausen nötig zwischen den Stufen, jede ist ein Erfolg, neun Erfolge. Oben tun die Arme weh, was ist nur los heute.

Sie befühlte ihren Bauch, der Hosenbund war unangenehm eng, sie presste die Hand gegen den Bauch und versuchte, das Innere zu verschieben, dieses Innere, welches immer öfter so sehr drückte, dass es weh tat. Es drückte nach unten und nach oben, erschwerte das Luftholen; wenn sie sich sehr aufrecht in den Stuhl setzte, wurde es besser, aber dieses Aufrechte schmerzte in der Wirbelsäule, die nicht gerade gewachsen war.

Immer sicherer war sie geworden, dass das, was sich da in ihr vermehrte und Platz beanspruchte, nicht weniger werden konnte, solange sie den saufenden Schuster ihren Ehemann nennen musste. Zum Glück erschien er nicht jeden Tag zu Hause. Noch nie war es schön mit ihm gewesen, aber das letzte Jahr war die Hölle. Soll er sich doch totsaufen, lieber heute als morgen. Sie malte sich aus, wie seine Beerdigung ablaufen müsste: Einige würde es geben, die würden heulen, seine Mutter bestimmt, und seine Schwester vielleicht, aber sie, Gabriela, würde schallend lachen und auf den Sarg hinunterspucken zum wohlverdienten Abschied. So müsste es sein.

Vor sechs Jahren war sie weg von zu Hause, mit fliegenden Fahnen, sie konnte die Großmutter nicht mehr ertragen, wollte keinen Tag länger warten, endlich auf eigenen Füßen stehen. Die Großmutter fuhr sich an den Kopf, sprachlos, Egon hatte ein Schnäpschen getrunken und brüllte vor Lachen: »Mach doch, stell dich doch hin auf deine Füße, achtes Weltwunder, was?«

Alles hatte die Großmutter gemacht für sie und mit ihr, seit Babytagen hatte sich kaum etwas verändert, Gabriela war behütet und umsorgt worden, wurde gewickelt von ihr, vor neunzehn Jahren ebenso selbstverständlich wie heute. Nur gut, dass Gabriela die Katastrophe nicht ahnte, mit der ihre Ehe begann, denn diese einfachsten und zugleich wichtigsten Verrichtungen am eigenen Körper hatte sie noch nie selbst erledigt, und das Erlernen geschah schließlich so unvermittelt und mit der Brutalität eines Schwimmmeisters, der seinen Schützling in der ersten Stunde ins tiefe Wasser schmeißt. Später lachte sie darüber wie über zahlreiche andere Begebenheiten, die in der Situation des Erlebens alles, nur nicht lachhaft sind.

Zum Beispiel dieser besonders schlechte Tag, den die Großmutter einmal hatte, nichts hat Gabriela vergessen. Diese plötzliche Wut, als sie sieben oder acht war.

»Dein Windelkram, deine ewige Scheiße!«, hat sie geschrien, »bis hier steht sie mir, bis hier!«

Gabriela hat losgeheult, laut und kreischend, entblößt und ausgebreitet auf dem Bett, hilflos und zum ersten Mal voller Scham.

»Heul nicht, hast keinen Grund, wirst ja immer bedient!«, schrie die Großmutter, und dann Schläge mit der verschmutzten Windel, Schläge auf den fühllosen Unterkörper, den Schmerz empfand sie anderswo. Die Großmutter hatte Kraft, das Kind hörte bald auf zu schreien, die Kotwindel schlug weiter auf sie ein, Gabriela erinnert sich an das verzerrte Gesicht der Großmutter, die irgendwann erschrocken innehielt, stöhnte und sich auf den Stuhl fallen ließ. Gabriela sieht sich so liegen, wie die Großmutter sie liegen sah, reglos auf dem breiten Bett, die leicht gespreizten Beine mit den nach außen gedrehten formlosen Füßen von sich gestreckt, die Haut der Oberschenkel gerötet, Kot auf Pullover, Bettzeug, Stirn und Haaren. Und sie weiß noch schräg über ihrem Kopf die flache gelbliche Schale der Schlafzimmerlampe, und wie sie die kleinen Fliegen zählte, die sich dort tummelten, zusammenstießen und sich wieder trennten, fünf waren es.

Das war nur einmal so passiert, fast immer hatte die Großmutter ihre Gefühle unter Kontrolle. Auch Gabrielas körperliche Entwicklung hatte sie unter Kontrolle, erledigte die täglichen Säuberungen, schweigend, rasch, gründlich, mit geübten Händen, selbstverständliche Rituale immer schon. Die Erkundungen ihres Körpers aus frühen Kindertagen hatten für Gabriela nie etwas Aufregendes geboten, vollständig nackt hatte sie sich zu der Zeit noch nie gesehen. Was sie erfühlen konnte, reichte bis zum Nabel, knapp darunter nahmen nur noch ihre Hände etwas wahr. Sie war dort gewissermaßen zu Ende. Für sie hörte ihr Körper dort auf, wo sie ihn nicht mehr spürte. Das, wonach sie griff, war nicht sie, es war das andere, das Fremde, ein Spielchen, welches sich schon sehr früh erschöpft hatte. Was dort geschah, wo sie nichts fühlte, ging sie nichts an. Das einzige, was sie von ihren Ausscheidungen wahrnahm, empfand sie durch die Nase. Als sie in jenen frühen Tagen danach gefragt hatte, war Großmutters Antwort, dass es kein Anblick wäre, der sich lohnen würde. Das Kind akzeptierte das, weil es zu diesem unteren Bereich gehörte, der ebenso vorhanden wie ohne Belang war, unwesentlich, allenfalls lästig, und Gabrielas Wissbegier hatte hier wie überall schnell ihre Grenzen erreicht. Dass die Kinder im Bauch ihrer Mütter heranwachsen und irgendwann auch wieder herauskommen, wusste sie von der Großmutter. Die knappe Antwort hatte genügt, und sie genügte viele Jahre lang. Die Großmutter kümmerte sich um alles, was da irgendwie notwendig zu sein schien, und sie tat es auf ihre robuste grobe Art.

»Hab dich nicht so, das ist der Busen, der wächst jetzt«, erklärte sie später, als Gabriela sich über das derbe Abtrocknen beschwerte. Und als sie wissen wollte, was das mit ihrer Freundin ist, bei der neuerdings immer Blut da unten rauskommt, wo sonst die Pinkel rausläuft, reagierte die Großmutter nicht.

»Anita sagt aber, das kriegt jedes Mädchen. Krieg ich das auch?«

»Wird wohl so sein«, hatte da die Großmutter gesagt und keine Veranlassung gesehen, Gabriela mitzuteilen, dass sie bereits seit einem Jahr bestimmte Tage für ihre Enkelin in den Kalender markierte.

»Hast du das auch?« wollte Gabriela wissen.

»Sei du nicht neugierig, ist alles nicht wichtig für dich.«

Ein bisschen wichtig wurde die Sache dann doch, denn so, wie Anita davon erzählte, musste es allerhand Bedeutung haben. Die Großmutter wollte sie nicht weiter danach fragen, die wusste nichts, war außerdem schon alt und hatte sowieso keine Ahnung. Unterm Nachthemd berührte sie ganz sachte ihre kleine Brust, so war das gut und sehr angenehm.