Mein graues Paradies - Ulla Burges - E-Book

Mein graues Paradies E-Book

Ulla Burges

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Beschreibung

Als Lena ihre alte Mutter bei sich aufnimmt, rückt ihr die eigene Geschichte wieder mehr ins Bewusstsein, und sie beginnt, sie aufzuschreiben: Lena wächst als Einzelkind während der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in einem Thüringer Dorf auf. Beide Eltern verhalten sich seltsam. Während sich der meist hilflos-resignierte Vater Lena entzieht, greift die Mutter mit Schlingpflanzenarmen nach der Tochter, die sich gegen die wortgewaltige und angstvoll agierende Mutter zu wehren versucht. So vergehen bis zu Lenas Flucht ins Studium viele Jahre. Im zweiten Teil ist Hannah, Lenas begabte Tochter, längst erwachsen mit eigenem schwierigen Sohn. Sie ist ihrem Anderssein auf die Spur gekommen innerhalb einer Therapie, in der sie ihren sexuellen Missbrauch in Kindertagen offenlegen konnte. Die Konfrontation damit zwingt Lena zur Selbstreflektion. Mein Graues Paradies ist eine autobiografische Geschichte, erzählt aus der Perspektive der Autorin. In beiden Teilen geht es um Störungen und Verstörungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, um psychischen wie physischen Missbrauch, um die teils verzweifelte Suche nach Verstehen und Verstandenwerden, um die Dynamik innerseelischer Prozesse, um Generationen übergreifende Unfähigkeiten zwischen Eltern und Kindern – ein Psychogramm dreier Generationen einer Familie. Und im ersten Teil findet da-neben ein kleines Stück DDR-Zeitgeschichte seinen Niederschlag.

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Inhalt

Mein graues Paradies

Inventur der Kümmernisse

Die klare, kluge Sicht der Kinder ist oft ganz einfach. Eltern sind dem meist entwachsen. Und aus Erfahrung lernt man nicht zwangsläufig. Wie sich alles wiederholt! Wie blind man bleibt!

Man spricht von Lebensentwurf. Klingt großartig. Als ob man sein Leben selbst entwerfen, kreieren könnte. Wer entwirft unser Leben, wenn man Gott als simplen Alleswisser und Alleskönner aus dem Spiel lässt? Vieles geschieht einfach, ohne unser Zutun, unfreiwillig, ist schon da, wenn wir ankommen in der Welt: Bedingungen, in die wir hineingeboren werden. Und dennoch bauen wir sehr rasch selbst mit an diesem Entwurf, stellen uns diesen Bedingungen. Eine kleine Freiheit. Stricheln herum am imposanten Reißbrett unseres Lebens.

Heute hat alles einen Namen. Das Ordnungssystem ist verständlich. Wie es mir ergangen wäre, hätte mir jemand ein paar Erklärungen gegeben, als ich ein Kind war, jugendlich, eine junge Erwachsene? Wäre manches einfacher gewesen, eher akzeptabel? Die Tage, die Jahre, die mich angähnten, wären leichter verkraftbar gewesen? Ich weiß nicht, ob ich, mit mehr Wissen ausgestattet, die Gegebenheiten gelassener hätte betrachten und damit meine Mühe um Veränderung hätte weitgehend reduzieren können. Wäre kraftsparend gewesen.

Wäre es? Hat meine Tochter Kraft gespart, als sie ihre Mühe um mich, um die Beziehung zu mir, beizeiten bleiben ließ? Sie wusste genauso wenig wie ich, eine Generation vor ihr, konnte nichts einordnen. Die Aufmerksamkeit, die sie vermisst hat bei mir, hing mit meinem fehlenden Misstrauen zusammen. Ich war niemals misstrauisch. Was ich in hohem Maße hätte sein müssen, bedingt durch meine eigene Entwicklung. Die Kraft, die meine Tochter gespart hat durch die Abwendung von mir, zehrte sich auf in ihrem Alleingang, der fast in die Katastrophe geführt hätte.

Mein graues Paradies

Der Anfang vom Ende

Sie schlurft herein zu mir, lächelt. »Was machst du hier?«

»Schreiben.«

»Immer dieses dämliche Geschreibe – worüber denn?« Sie steht neben mir, Blick auf den Bildschirm. Ob ihre Augen etwas erkennen?

»Über dich.« Ich verschiebe die Seiten; sie soll nichts lesen. Ich schäme mich, verrate sie. Sie steht bei mir, während ich über sie schreibe.

»Über mich«, murmelt sie, schüttelt den Kopf, schlurft kleinschrittig wieder hinaus. Über meiner Schulter hängt ein dünner Geruch von ihr.

Schreiben über meine Mutter. So viele Jahre her alles. Lange war ich nicht frei. Keine Distanz zu den beiden Personen, die meine Eltern waren. Wie auch. Nach meinem Auszug brauchten die neunzehn Jahre Gemeinsamkeit mit ihnen Ruhe, Ablagerung, Reifung, Katharsis, was weiß ich. Pause einfach. Bin ich jetzt frei?

Sie steht neben mir, ich schäme mich. Sie soll weggehen.

Ich will keine Rücksichten mehr nehmen, nicht an meinem Schreibtisch. Was aufgeschrieben ist, schmerzt nicht mehr. Warum schreibe ich jetzt, wo sie bei mir wohnt? Hängt vielleicht mit den Erinnerungen zusammen. Die kommen jetzt wieder.

Das alte Porträtfoto, vierziger Jahre des inzwischen vergangenen Jahrhunderts. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, lächelt versonnen irgendwohin. Ebenmäßige Züge, weiße Zähne, hohe Stirn, dunkles, welliges zurückgekämmtes Haar. Schönes Gesicht, schöne junge Frau. Mit einem Hauch von Melancholie. Das Foto mag ich.

Meine Mutter, Esra, im letzten Jahr ihrer ersten Ehe. Ein Jahr später heiratete sie Hannes, der mein Vater wurde, nach weiteren fünf Jahren. Zur Zeit des Fotos war sie also umgeben von zwei Männern, von ihrem Ehemann, der sie verehrte schon acht Jahre, mit dem sie in Zuneigung, aber leidenschaftslos lebte, und von dem anderen, der sie heftig und glühend begehrte, bis der erste ihm bereitwillig seinen Platz zur Verfügung stellte – erzählte sie immer so.

Die Zeit ist eine böse Zauberin. Verkalkungen hier, Entkalkungen da, Grauwerden, Zahnausfall, Versteifungen, Falten, Schwerhörigkeit, Verblödung. Abbau auf der ganzen Linie. Nur ihre Stimme, solange sie sich nicht erregt, ist weder leise noch brüchig geworden. Sie singt heute nicht mehr, sagt, das gehe nicht mehr. Zur täglichen Medikamentendosis gehören abends Psychopharmaka, immer dieselben seit zig Jahren. Zum Einschlafen, sagt sie.

Ich würde gern ein aktuelles Foto neben das von früher hängen – würde ich? Weil ich gemein bin? Sie möchte nicht mehr fotografiert werden. »Innen drin bin ich noch immer jung«, sagt sie. »Habe ja niemals wirklich leben dürfen, ist alles noch unverbraucht, leider sieht man das nicht auf einem Foto.« Manchmal spricht sie so, in klaren Minuten, ein Überbleibsel.

Zustand nach einem schweren Schlaganfall. Dreizehn Stunden täglich im Bett, zehn Stunden fernsehend im Sessel, Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht, über Kopfhörer, sie ist fast taub. Ab Mitternacht Das Goldene Blatt oder Die Bunte im Bett, keine Bücher mehr, keine Briefe. In ihrer Ausdrucksweise ist sie schlichter, ordinärer als vor Zeiten. Wähnt sie sich allein, spricht sie mit sich selbst, benutzt häufig Begriffe im schlesischen Dialekt ihrer Kindheit. Ihre Zahnprothesen hat sie weggeworfen. Seit über einem Jahr lebt sie in meiner Wohnung, die sie nicht verlässt. Ich betreue sie, habe Vollmachten von ihr, verfüge über ihr Geld, über sie als Person. Machtgefühl? Ich wollte, es wäre mir erspart geblieben.

Gestern ist mir etwas passiert, das mir leid tut, hoffentlich hat sie es schnell wieder vergessen. Ich wollte mit ihr zum Hörgeräteakustiker, das Probegerät zurückbringen, ein anderes zur Probe mitnehmen, das vierte jetzt, sie kommt nicht zurecht mit der Technik, ist ungeduldig, schimpft auf den Fachmann, dem sie keinerlei Kompetenz zugesteht, weigert sich, weiterhin sein Versuchskaninchen zu sein und obendrein mit mir zu meinem Vergnügen in der Weltgeschichte herumzufahren. »Ich muss überhaupt nicht hier bei dir leben, ich kann auch wieder weggehen!« Es war ihr altbekannter gebieterischer Tonfall.

Ich ließ mich hinreißen zu der (notwendig sehr lauten) Spontan-Antwort: »Wo willst du denn hin! Dich will doch niemand haben!«

Da stand sie, klein, gebeugt, die spärlichen grauen Haare wirr abstehend, mit fassungslosem Blick, offenem Mund. Blieb so stehen ein paar Sekunden, geplättet, wehrlos, taperte dann davon.

Mama, verzeih mir, so habe ich das nicht gemeint.

Gesagt habe ich das nicht.

Und wie ich das so gemeint hatte.

Neue Wohnung – neues Glück

Ich war zwei, als die Familie umzog von der Stadt R. in Sachsen nach Thüringen. Knapp dreihundert Einwohner in dem Dorf K. Mein Vater, Lehrer, hatte bisher Deutsch und Erdkunde unterrichtet. Meine Mutter Deutsch, Musik und Zeichnen, bis zu meiner Geburt. Rheumatismus in zahlreichen Gelenken, verschlimmerte sich danach. Eine Aufwartefrau musste helfen, den Kinderwagen hatte die Tochter dieser Frau geschoben. Jetzt in K. war ebenfalls Hilfe nötig, obwohl meine Mutter jetzt nicht mehr berufstätig war. Mit sechsunddreißig bewältigte sie nur noch mühevoll einen Teil des Haushalts selbst. Mein Vater war schwerbeschädigt, Kriegserinnerung. Er übernahm die Dorfschule als Schulleiter. Stelle nebst Wohnung waren frei geworden durch den Tod des alten Lehrers – verlockendes Angebot für meinen Vater. Eine politische Hoffnung ließ ihn von Sachsen ganz gern in westliche Richtung gehen. Blauäugig nannten sie das später.

Zweieinhalb Zimmer, vier geräumige Abstellkammern, direkt im Schulhaus über den beiden Klassenräumen. Von acht Schulklassen wurden vier in jedem Raum unterrichtet. Mein Vater teilte sich die Arbeit mit anfangs einer Kollegin, später kam Herr Rode dazu. Jetzt unterrichtete mein Vater alle Fächer.

Tierfreundlich

Klo über den Hof. Im Sommer fette schwarze Spinnen in den Ecken, klebten da fest. Langbeinige Kanker, die Weberknechte, tentakelten über Wände und Klositz. Aus dem Loch aufgeschreckte Schmeißfliegen, sobald man den runden Holzdeckel beiseite stellte, tagsüber. Abends blieben sie drin im Loch. Am Abend nahm man eine Haushaltskerze und Streichhölzer mit aufs Klo – warum blieb das Zeug nicht gleich dort? Erst mit zwölf traute ich mich, ein Streichholz anzuzünden. Mein Respekt vor Feuer war riesig, das brennende Kind aus dem Struwwelpeter-Buch allgegenwärtig. Taschenlampe durfte nicht sein, Batterien kosteten. Winziger dunkelbrauner Nachttopf in der kalten Küche, für kleine Bedürfnisse nach Einbruch der Dunkelheit, nicht ausreichend für alle drei, mein Vater urinierte daher gleich in den Ausguss, peinlich für ihn und mich, kam ich just in dieser Minute zufällig dazu. »Muss das jetzt sein!« Er war ungehalten. Ja, ich musste auf den Topf.

Im Winter waren die Tiere im Klo verschwunden, Winterschlaf vielleicht, oder eingefroren. Hindernisreicher Weg vom Haus bis dorthin manchmal, zehn Meter Schneeschippen bis zur erlaubten Erleichterung. Bei Glatteis schuf ich eine Rutschbahn bis hin, böse von mir, ich hatte nicht Mutters Unbeweglichkeit bedacht. Einmal war sie ausgerutscht auf dem Eis, steif und schmerzbedingt unfähig, allein wieder aufzustehen. Hat lange mitten im Hof gesessen und gerufen.

Klopapier galt als zu teuer. Mein Vater war angehalten, mit einem besonderen Messer, dem Klopapiermesser, die Zeitung Neues Deutschland zu zerteilen. Die Zeitung musste sein, er war Lehrer. Allein wegen des riesigen Formats war sie zum Lesen ungeeignet, praktischer war die Verarbeitung zu Klopapier. Mein Vater ratschte Klopapier, stapelweise, auf Vorrat. Lachte manchmal, wenn er Ulbricht das Gesicht zerschlitzte und sich vorstellte, was später damit geschehen würde. Obwohl er es nicht ausstehen konnte, sich mit Zeitung den Hintern zu wischen, hatte stets Probleme mit Hämorrhoiden. Richtige Rollen Klopapier kaufte meine Mutter nicht. Sie hatte keine Hämorrhoiden.

Anheimelnd

Ich hatte einen Schlafraum, und bis ich zwölf war, mein Gitterbett, schämte mich dafür, erzählte das niemandem. Als ich mich darin krümmte, wurde das uralte hell gestrichene Eisenbett, in dem mein Vater als Junge geschlafen hatte, für mich aufgestellt. Das schwarzgraue eiserne Öfchen wurde nur manche Jahre zu Weihnachten einmal seiner Bestimmung entsprechend benutzt. Bettzeug wurde klamm im Winter, Eiskristalle an der Rupfenwand. So nannten sie diese Wandbespannung, Rupfen. Weiß nicht, wer oder was dafür gerupft worden war. Mit Muster: rotbraune kleine Muster auf hellerem textilartigen Grund. Tiere erkannte ich darin, Pudel, Giraffen, Elefanten. Klopfte ich gegen die Wand, rieselte hinter der Bespannung der Putz, allmählich bildeten sich Dellen, unterhalb davon Vorwölbungen, Aussackungen von beachtlicher Größe. Durch Kratzen entstand eine winzige Staubwolke, nach einigen Kratzern hatte ich bräunliches Zeug unter den Nägeln.

Meinem Bett gegenüber die alte Kredenz mit Kram darin. Obendrauf immer dieselbe Decke, blauer dünner Stoff, bestickt mit gelbschwarzen Blumen, das Garn teilweise zerrissen durch zahllose Waschvorgänge. Die Fenstervorhänge, Kleinkindermuster, Hundchen, Blümchen, Häuschen, zierten das Fenster siebzehn Jahre lang, bis ich auszog. Schlafbucht nannte ich den Raum, als ich älter wurde. Renoviert wurde sie nie, die Rupfen-Schlafbucht. Malerarbeiten waren generell nichts für die Eltern. Spielen mochte ich in dem Raum nicht. Hausaufgaben waren nicht möglich, kein Tisch, kein Stuhl, meist zu kalt, finster trotz des großen Fensters, Nordseite. Ich schämte mich für den Raum, nur für mich, andere Kinder brachte ich nicht mit nach Hause. »Dein Vater hat am Vormittag schon genug mit fremden Kindern zu tun, in der Wohnung brauchen wir sie nicht auch noch.« Plausible Erklärung.

Täglicher Mittagsschlaf war selbstverständlich. Gitterbettkinder mussten mittags schlafen, absolut unerlässlich für mein gesundes Wachstum, erklärte mir die Mutter. Klein war ich, zierlich, dünn. Noch mit zehn, elf Jahren schickte sie mich jeden Mittag zum Schlafen in den kalten sonnenlosen Raum, an die rotbraun staubende Rupfenwand. Ich kratzte. Die Pudel verloren ihre Köpfe, die Elefanten ihre Rüssel. Mit einer Nadel stach ich in die dicken Wandbeulen, winzige Löcher, Stunde um Stunde, feiner Riesel Rupfenstaub.

Ganz reale kleine Tiere gab es in meinem Bett, nicht so oft, aber doch immer wieder mal eines oder zwei, wahrscheinlich Bewohner der Rupfenwand, die herankrabbelten, mir die Zeit zu vertreiben, drei, vier Millimeter lange lanzettförmige dunkelbraune Gestalten, hell quergestreift, ziemlich flink, wir spielten miteinander. Die Mutter nannte meine winzigen Freunde »Ungeziefer, Zecken, nichts weiter«. Jahre später, als Zeckenbisse bekannt und bedeutsam wurden, erinnerte ich mich an die Zecken in meinem Bett, an diese Gürteltiere en miniature, wer weiß, waren vielleicht schlichte Rupfenkäfer. Müde war ich jedenfalls nicht, dafür immer öfter zornig auf meine Eltern, die waren begierig auf ihren täglichen Mittagsschlaf, Mutter auf der Couch im Wohnzimmer, Vater blieb im Sessel hängen, entschlief stets beim Zeitunglesen sofort nach dem Essen. Die Zeitung sank auf sein Gesicht, er schnarchte laut. Mutter, seit jungen Jahren etwas schwerhörig, störte das nicht. Mich konnten sie nicht gebrauchen während dieser Zeit im selben Zimmer. Wohin mit mir? Spielen wollte ich. Natürlich nicht im elterlichen Schlafzimmer, auch nicht in meiner Schlafbucht, beides meist Eisbuden. Raus wollte ich, zu den anderen Kindern – nix da. Von dort hätte ich wieder ins Haus kommen können unter Umständen, hätte den geheiligten elterlichen Schlaf gestört, auf dem meine Mutter bestand, wegen ihrer allnächtlichen Schlafstörungen. Meine wache Anwesenheit nach dem Mittagessen hätte ein eindeutiges Ärgernis für sie bedeutet, folglich musste ich ins Bett, weil ich für mein Alter zu klein war. »Wenn du schon nicht ordentlich isst, musst du wenigstens ordentlich schlafen.« Nicht mehr unbedingt plausibel.

Hoppelpoppel & Co.

In der Tat: Das meiste Essen verabscheute ich, stets satt nach drei Happen. Fleisch kaute und kaute ich, immer trockener werdendes Zeug in meinem Mund, immer mehr werdend, blöder Sonntagsbraten. Würgte es unter ernsten Blicken und Tränen herunter, es würgte sich von selbst wieder herauf. Den Fleischkloß im Mund – ich hatte einfach keine Spucke für so etwas – rannte ich in die Küche an den braun glasierten Topf mit Malzkaffee, nahm einen Mundvoll, die Trockenmasse verdünnte sich zu schluckbarem Brei. Wenn ich es nicht ertrug, spuckte ich den Klumpen in die Abfallschüssel unterm Küchentisch, vergrub ihn sorgfältig unter Kartoffelschalen vor Mutters Adleraugen, das herrliche teure Fleisch auszuspucken! Dann nämlich musste sie mich festbinden auf dem Stuhl und den Stuhl fest am Tisch, ließ mich sitzen vorm Teller mit dem herrlichen teuren Fleisch und überhaupt mit dem ganzen wunderbarem Essen, bis zur nächsten Mahlzeit. »Ich werde es dir schon beibringen zu essen.« Dann weinte sie, derartige Methoden anwenden zu müssen, um mich zu erziehen.

Ähnlicher Verlauf bei der abendlichen halben Scheibe Pumpernickel, zwingend notwendig für meine Verdauung, über die gesagt wurde, dass sie ohne Pumpernickel nicht funktioniere – ging nie aus das Zeug. Süßlich-bitter-trocken, Streik meiner Speicheldrüsen, halbe Stunde pro Halbscheibe.

Sonntags zerstampfte Eierschalen auf aufgebackenen Brötchen, Kalkzufuhr für dein Knochenwachstum. Sie ging mit gutem Beispiel voran, Ausrufe ihres Entzückens, während sie selber die Stampfschalen aß. Der brave Vater schüttelte den Kopf, aß die Knochennahrung tapfer mit. – Eine spezielle Nachspeise, eine Art Puddingersatz, Hoppelpoppel von ihr genannt, erregte mir Brechreiz. Weißei von einigen Eiern wurde mühevoll mit dem Schneebesen geschlagen, bis es steif war und eine Schüssel voll ergab. Sie sprach von den Hungerjahren, vom Segen einer vollen Schüssel, auch wenn sie nur mit Schaum, mit Luft gefüllt war, einmal ein voller Bauch. Ich bemühte mich sehr, leider kein bisschen hungrig. Sie verfeinerte das Brechmittel für mich mit Zucker, sogar mit Kakao aus dem letzten Bielefeld-Paket ihres Vaters, was nichts änderte an der Schaum-Beschaffenheit der Substanz, Würgen nach jedem Löffel, langsames Rühren im Schälchen, der Schaum am Grunde verflüssigte sich wieder. Weißei, trinken sollte ich das nun, Eiweiß sagte sie dazu, wertvolles Eiweiß, wichtigster Grundstoff für mein Wachstum.

Ich wuchs dennoch langsam, zu wenig, blieb sehr dünn, trotz Kaffeefleisch, Hoppelpoppel, Eierschalen und Mittagsschlaf. Sanostol schickte der West-Großvater, schmeckte scheußlich, süß, half auch nicht.

Schreckliches Geheimnis

Meine Mittagsschlafproteste wurden rigoros abgeschmettert, nicht weiter beachtet, kindlicher Unverstand, Trotz. Die Gleichaltrigen lachten. Ich hatte zu verschwinden im Gitterbett, kratzte, sang Lieder, erzählte Puppe oder Teddy Geschichten, beobachtete, im Bett kniend, den alten Nachbarn, wie er auf den dampfenden Misthaufen pinkelte, neben das Plumpsklo. Schwein, sagte ich vor mich hin. Allerdings – war ja praktisch.

Mit etwa elf Jahren machte ich einen speziellen Fund in der alten Kredenz. Dort gab es unter anderem Bücher – warum nicht im Wohnzimmer bei den vielen anderen? Ich blätterte, alles uninteressant. Ein dünner Band mit blauweißer Schrift: Kinder-Aufklärung, oder so ähnlich. Wusste ich eigentlich alles schon von meiner Mutter, war längst im Bilde darüber, wie Kinder entstehen, sich entwickeln, geboren werden, aber wer weiß, vielleicht gab es ja noch Neues. Gab es auch, unter der Überschrift Sexuelle Befriedigung – was war das? Hatte sie nichts erzählt davon. Dabei war ich eigentlich schon richtig erwachsen, hatte doch schon meine Blutungen, konnte daher rein theoretisch, mit elf, selbst ein Kind bekommen – hatte sie so gesagt, als ich erstmalig im Mittagsschlafgitterbett davon überrascht worden war.

Also sexuelle Befriedigung, blödes Wort, stellte ich bald fest, machte mich stutzig, was waren geschlechtliche Bedürfnisse? So was wie Hunger oder Durst, bloß eben weiter unten im Bauch? Kannte ich nicht. War ich nicht normal? Was über die Jungen geschrieben stand, überblätterte ich, unwichtig. Mädchen könnten sich ebenfalls selbst befriedigen, aha. Die Innenseite der Oberschenkel reiben, stand da. Tat ich, unter Buch-Anleitung. Ich war zart, war grob zu mir, rieb, großer roter Fleck auf jedem Schenkel, die Haut brannte, das war sexuelle Befriedigung? Mist, in Büchern logen sie doch nicht, oder? Ich war enttäuscht, las weiter. Eine Skizze, Äußere weibliche Geschlechtsteile. Das musste verglichen werden mit der Natur, war vielleicht auch wieder Unsinn. Auf Zehenspitzen holte ich aus dem Eltern-Schlafzimmer, aus Mutters Frisiertisch einen Handspiegel, stieg damit wieder ins Gitterbett. Diesmal hatten sie nichts Falsches geschrieben. Alle die winzigen Gebilde trugen sogar Namen, spannend. Scheide konnte ich bei mir nicht finden. Die hatte aber meine Mutter, hatte mir davon erzählt, daraus war ich geschlüpft. Vielleicht besaß sie die anderen Sachen nicht. Ich studierte weiter. Reiben stand schon wieder da, den Kitzler und die Schamlippen, so käme es ebenfalls zum Orgasmus – ebenfalls? Das vorhin war also ein Orgasmus, Brennen auf der Haut, rote Flecken, waren immer noch da. Ich machte mich wieder an die Arbeit, wollte es wissen. Vorsichtig musste ich hier sein, die zarte Haut war empfindlich. Wider Erwarten war das gut, warm wurde mir, wohlig, immer wohliger. Daher also hatte dieser kleine Hügel seinen Namen. Wenn jetzt Mutter oder Vater kämen, dachte ich, egal, Aufhören ging nicht. Bis endlich die Hand von selber innehielt im Gefühl eines phantastisch Unerträglichen. Mein Herz spürte ich klopfen, das war toll.

»Hast du schon mal deinen Kitzler befriedigt?« Ich flüsterte in Mutters Ohr, ging nur uns Frauen was an. Ich war überzeugt, dass sie das noch nie ausprobiert hatte, denn damit würde sie sich entschieden wohler fühlen, und das wünschte ich ihr doch so. Entsetzter Blick zu mir, dann zum Vater am Schreibtisch.

»Was fällt dir ein! Schämst du dich nicht?« Schloss mich trotzdem sofort in die Arme. »Mein armes Kind, wo hast du bloß wieder diese Scheußlichkeiten her, wer hat dir denn diesmal so was erzählt? Neulich kamst du schon an mit diesem schlimmen Wort, weißt schon, das mit f. Ist es nicht schrecklich, Hannes, welch üblen Umgang das Kind hier hat!«

Hannes sagte nichts. Aber es war etwas Schreckliches, was ich gesagt hatte, und nicht nur gesagt. Schrecklich, aber schön. Stand doch sogar in dem Buch, ein schreckliches Buch. Meine Eltern besaßen schreckliche Bücher, seltsam.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum, hatte nun etwas gegen die Langeweile im mittäglichen Bett, aber es blieb mein Geheimnis, und das geschah meiner Mutter recht, wenn sie gar nicht wissen wollte, wie das ging. Es war neu, aufregend und aus einem unerfindlichen Grund unerlaubt. Aber schließlich war es nichts Besonderes mehr, die Aufregung legte sich, meine Lust auf das Schreckliche ließ nach. Luft und Sonne, die anderen Kinder lockten, aber die waren auch unerlaubt. Irgendwann erdachte ich mir eine gehörige Strafrede für meine Eltern, dass sie mich nicht mehr lieb hätten, mich nur los sein wollten, mich deshalb ins Bett stopften. Mutig mit klopfendem Herzen hielt ich die Ansprache. Sie lächelten mild, schüttelten den Kopf. »Ach, Kind, was redest du da für einen Unsinn.«

Meistens war ich still, hatte nur braunen Staub unter den Nägeln nach dem Mittagsschlaf meiner Eltern. Ausnahmen gab es, Ausnahmen mit Haken. Wurde mir die mittägliche Schlafbucht erlassen, hatte ich dafür abends bereits um sechs Uhr im Bett verschwunden zu sein. Irgendwie wollten sie mich nicht. Warum war ich nicht kräftiger, robuster, dachte ich mir, hätten sich dann ein anderes Argument ausdenken müssen für ihr Ruhebedürfnis. Hätten sicher eines gefunden. Eltern sind immer Sieger.

Kindersicherung

Mein Wunsch nach einem Geschwisterkind ging nicht in Erfüllung. Sie wollten nicht, qualvolle Schwangerschaft mit mir und meinem Zwillingsbruder, permanente Verstopfung, von Anfang an. Daher auch für meinen Vater wenig erbaulich, der ihr neun Monate täglich einen Einlauf verpassen musste. Hat ihm sicher gereicht. Er war es, der ein zweites Kind rigoros ablehnte, wie Mutter mir erzählte. »Ich hätte gern alle Qualen für ein weiteres Kind noch einmal auf mich genommen.« Mein Zwillingsbruder war tot zur Welt gekommen, schwierig für sie, hätte viel lieber einen Jungen gehabt, sagte sie. Ich verstand das nicht. Was war an einem Jungen besser, wertvoller als an mir? Nun musste sie sich damit zufrieden geben, dass ich statt seiner am Leben geblieben war. Er wäre Gold gewesen, ich war gewiss Silber; und Silber ist schließlich auch ganz schön. Ich wuchs allein auf, fand das nicht gut. Fast alle im Dorf hatten Geschwister, ich beneidete sie. »Bist du doof«, sagten die. »Wir müssen immer alles teilen.«

Ich hoffte lange, beobachtete meine Mutter. Klein war sie, rund, mit dickem Bauch. Ich wollte einen Bruder. Schwester wäre auch okay gewesen. Der Bauch wurde nicht dicker. Ich fragte manchmal ganz direkt, sie reagierte traurig: Ich wüsste doch, Papa wolle kein Kind mehr. Papa war schuld.

Der Kontakt zu anderen Kindern war eingeschränkt. Sie taten sich schwer mit mir und ich mich mit ihnen. Kindergarten kam nicht in Frage. »Die blöden Dorfkinder sind nichts für dich.«

Geweint hat sie, bitterlich geweint, als ich erstmalig mit vier oder fünf das Haus ohne sie verließ, hinunter auf den großen Hof. »Du bist nun groß, gehst deiner Wege, brauchst mich nicht mehr.« Ich widersprach heftig, schluchzte gleich mit, ging lange nicht wieder in den Hof spielen.

Drei Mädchen, später, gehörten zu den blöden Dorfkindern. Nicht wichtig, ob sie zu mir kommen durften oder ich zu ihnen. Es gab auch andere, aber die waren wählerisch, hatten was gegen das Besuchsverbot.

Mit den drei Mädchen traf ich mich irgendwo draußen, meistens im Tal, guter Ort, nicht weit vom Dorf, baum- und buschbestanden, im Winter mit brauchbaren Rodelstrecken. Wir trafen uns, um weiter weg zu laufen als erlaubt, in Gegenden, wo die alte Wecken mit ihrem beladenen Handwagen rannte, unterwegs ins andere Dorf. Liefen ihr nach, mit Abstand, hatten Angst vor der Alten, die Weck hieß, alle kannten sie. Groß war sie, dünn, drahtig, mit bräunlichem Ledergesicht und langer Nase, für uns eine Hexe. Sie redete mit niemandem, murmelte vor sich hin, zog mit langen kräftigen Schritten, im Sommer barfuß, ihren Wagen mit Bürsten, Besenstielen, Seiflappen, Waschpulver und allerlei Kram. Leute konnten bestellen bei ihr. Einmal zerrte sie eine große Zinkbadewanne mit sich umher, immer durchs Tal, ohne Straße, ohne Weg.

Margit war ein dünnes dunkelhaariges Mädchen, so alt wie ich. Margit hatte elf Geschwister, die ältesten waren längst verheiratet, hatten selber Kinder. »Meine Mutter ist so dick, sie geht nie aus dem Haus«, sagte Margit. Einmal nur sah ich sie, als mich Margit mit zu sich nach Hause nahm, ein paar Minuten, war ja verboten. Dort saß ihre Mutter in der winzigen Küche auf zwei Stühlen am Herd, legte ganze Eier in einen Topf mit Suppe, erstaunlicher Anblick. Man fragt keine peinlichen Sachen, wusste ich von meiner Mutter. Trotzdem, ich musste das wissen, wie konnte Margits Mutter die Küche jemals verlassen, sie passte nie und nimmer durch die schmale Tür. »Doch.« Margit erklärte das ganz sachlich. »Seitwärts.« Und nach den Eiern in der Suppe fragte ich sie auch. »Die kochen wir immer so, müssen wir nicht extra Wasser aufsetzen.«

Mit Margit traf ich mich manchmal. Einmal, große Extra-Ausnahme, gestattet von der Mutter, weil mein Vater zu einer langen Lehrer-Konferenz in der Stadt war, einmal war Margit sogar bei mir zu Hause. Wir spielten Kinderkriegen, im Wohnzimmer, legten uns auf den Boden, Röcke hoch, zerrten unsere Puppen unter uns hervor, kreischten ganz laut.

»Das Mädchen stinkt ja fürchterlich«, sagte meine Mutter, nachdem Margit wieder weg war, riss das Fenster auf, atmete tief durch. Ich hatte bisher nie bemerkt, dass Margit stank. Sie durfte nie wieder zu mir kommen, war als Probekind durchgefallen.

Ein anderes Mädchen war Anneliese, klein und drall, mit kurzen Locken, blond, derb, widerspenstig. Sieben waren sie bei ihr zu Hause: Eltern, ein Großvater, Anneliese und drei Brüder. Freddy war jünger als sie, doppelt so dick wie Anneliese, mit einem Kopf vom Umfang einer größeren Melone. Beiden lief ständig die Nase, kein Taschentuch. Zogen alles hoch. Wurde das vom Sog der Nase nicht mehr erreicht, schleckten ihre dicken trägen Zungen auf, was auf der Oberlippe zitternd gelbgrün glänzte. Oder nahmen den Jackenärmel. Freddy war lieb, aber man durfte ihn nicht reizen, dann drosch er heulend drauflos, auf seine Schwester, eine Schulbank oder eine Katze, egal.

Mit Anneliese ging ich ins Tal, einmal fanden wir eine geräumige Höhle unter einem ausladenden Busch, konnten stehen drin. Ein Stück Baumstamm als Tisch, ein paar ältliche Decken. Wem gehörte das? Wir hatten Angst. Vorm Eingang waren geschickt dicke Zweige befestigt. Die alte Wecken, vielleicht. Geheimhaltung war geboten, was zwei oder drei Tage klappte. Anneliese hatte es Freddy erzählt, den sie dann mitbrachte. Er musste uns schwören, keinem von dem Versteck zu berichten. Wir spielten Mutter, Vater, Kind. Lief nicht besonders, Freddy hieb immer bloß mit der Faust auf den Baumstamm-Tisch, brüllte irgendwas, grinste, schlürfte seinen Rotz von der Lippe.

Meine Eltern sahen es nicht gern, mein Spielen mit Anneliese. Gerüchte waren da im Umlauf, was ihre Familie betraf. Andeutungen meiner Mutter, ich sollte doch lieber den Kontakt mit Anneliese meiden, verstand ich nicht. Schlimme Dinge in der Familie – Anneliese fand ich nicht schlimm.

»Ihr Vater hat mit ihr was angefangen.« Verstand ich nicht. Keine weiteren Erklärungen. Mein Vater könnte auch mal was anfangen mit mir, hatte mit mir noch nie was anzufangen gewusst, schüttelte jetzt nur immer verlegen den Kopf, murmelte fortwährend vor sich hin: »Der eigene Vater …, der eigene Vater …«

Danach war Anneliese eine Weile verschwunden, im Krankenhaus, hieß es, leise, verlegen. Anneliese war nicht meine Freundin, aber ich wollte doch genauer wissen, was los war, sie besuchen fahren im Krankenhaus.

»Kinder lässt man nicht rein in die Krankenzimmer.«

Ich drängelte die Eltern. Anneliese sei schwanger beziehungsweise schwanger gewesen, das Kind habe man ihr genommen. Anneliese war zwölf, ein Jahr älter als ich.

»Ja, ja, schwanger. Stell dir mal vor, dein Papa würde dir ein Kind machen.« Wie ein Kind machen ging, wusste ich, vorstellen konnte ich mir das nicht. Ich zuckte die Schultern.

Dachte viel an Anneliese. Seltsam das alles. Für die Erwachsenen ganz schlimm, keiner sprach drüber, alles nur hinter vorgehaltener Hand, mit verdrehten Augen, Wörter wie Ekel und Schande und Verbrecher fielen. Anneliese hatte ein Verbrechen begangen? Oder ihr Vater. Oder beide. Unanständig, peinlich. Ich dachte an das Schreckliche, irgendwie genauso peinlich, verboten, es zu erwähnen. Mit zwölf schwanger, allerdings sehr eigenartig. Ihr Papa der Vater ihres Kindes, noch komischer. Irritiert war ich, unsicher. Anneliese hatte niemals was erzählt oder angedeutet. Erzählt man vielleicht auch nicht, weil alle doof sind, dachte ich, erzählte schließlich mein Schreckliches auch nicht mehr. Interessant war sie von da an für mich, hätte gern ganz viel drüber erfahren, am liebsten von ihr selbst. Ihr Vater, zusammen mit ihr, die Vorstellung misslang. Schlank war er, groß, dunkler Typ, schwarze Augen und Haare, schwarze Hornbrille, eine Hand fehlte ihm, mürrisch war er. Ein Kind machen, er der Anneliese. Ich lachte. Warum lachte ich? – Fragen wollte ich Anneliese, musste nur erst zurückkommen.

Zum Fragen kam es nie, mir wurde strikt verboten, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen.

»Mit solchen Leuten darf man sich überhaupt nicht abgeben. Schämen sollen die sich. Kein Wort redest du wieder mit dieser Anneliese, hörst du!«

Sie tat mir plötzlich leid, die Anneliese. Ob sie ihr den Bauch aufgeschnitten hatten, um das Kind da wieder rauszuholen?

Eines Tages war sie wieder da, klein und dicklich, mit ihren stumpfen, struppigen Locken, sah mich an, große helle Augen, sagte nichts. Ich sah sie auch an, hatte Fragen, sagte nichts. –

Die Geschichte mit Anneliese ging noch weiter, aber erst ein oder zwei Jahre später. Erst einmal war da niemand mehr für mich, die Eltern fanden das gut. Margit hatte gestunken, Anneliese war dumm und außerdem so eine, da lässt man die Finger davon.

Elvira hieß das dritte Mädchen, zwei Jahre älter als ich, aber mit mir in einer Klasse, zweimal sitzen geblieben. Elvira war groß, füllig, kalbsgesichtig, sehr gutmütig. In der zweiten Klasse legten wir Schiefertafel und Griffel beiseite, schrieben in richtige Hefte mit Federhalter, der ins Tintenfass eingetaucht wurde. Herr Rode, unser neuer Lehrer, jung, außerordentlich fett, Schweißperlen auf der Stirn, furchtbarer Mundgeruch. Wulstfinger, in der Mitte liefen die Nägel über rundliche Bögen zu einer scharfen langen Spitze zusammen, Stechfinger, stießen erbarmungslos in den Heften herum, kleine Löcher im Papier. Hausaufgabenkontrolle. Elvira neben mir, legte mit großer Selbstverständlichkeit ihr Heft wie alle an den Bankrand, aufgeschlagen, leere Seiten. Herr Rode stutzte, keine Erklärung. Blätterte im Heft, entdeckte die Hausaufgabe, wahllos irgendwohin geschrieben, in Elvira-Art, die ersten sechs oder acht Aufgaben tadellos und richtig, dann flüchtiger, falsche Ergebnisse oder gar keine, die letzten Aufgaben völlig unleserlich, geschmiert, ganz zum Schluss über die gesamte Seite wilde, böse, runde Krakel.

Herr Rode spießte vielfach seinen Fingernagel ins Papier, entrüstet: »Und das hier? Und das hier?«

Schulterzucken und Grinsen. Elvira zählte die winzigen Stechlöcher, meist mehrere Seiten durchdringend, kicherte: »Neun Stück!«

Elvira war einsilbig, langweilig, mochte es, wenn ich ihr Geschichten erzählte, saß am Gartenzaun, breitbeinig im Gras, kaute einen Halm, bis er aufgegessen war, verlangte meine Gespenstergeschichten, wurde blass, fragte immer wieder, ob das denn auch wirklich wahr wäre. Klar doch, alles war wahr. Die Eltern fragten mich kopfschüttelnd, was in aller Welt ich denn stundenlang mit der verblödeten Elvira anfangen könne.

»Nichts, sie kriegt immer so schön Angst.«

Elfriede, Elviras geheimnisvolle Schwester, schon erwachsen, habe ich ein paarmal gesehen. Elvira hatte mir erzählt von ihr, von ihrer früheren Klugheit und dass sie auf die Oberschule gegangen war. »Ist jetzt krank, komisch, spricht nicht mehr, schreit, schlägt manchmal einfach.«

Dunkle Wohnstube, einziges Fensterchen zum überdachten Kopfsteinpflasterhof. Kuchen und Milch, mochte ich beides nicht, aber es gehört sich so, Angebotenes nicht auszuschlagen, Elviras Mutter gab sich Mühe: die Tochter vom Lehrer. Erschrecken, ich fuhr herum, leiser Laut von hinten. Musste Elfriede sein, hockte in der Ecke, nicht bemerkt vorher. Wunderschön sah sie aus, Schneewittchen, dachte ich, saß da, starrte mich an, Oberkörper vor und zurück, nicht sehr, andauernd, bürstete tiefdunkles sehr langes Haar, wandte den Blick nicht von mir, ich nicht von ihr. Die Mutter sagte etwas. Ich mochte Elfriede nicht in meinem Rücken haben, Herzklopfen, da war doch was von Schreien und Schlagen.

»Elfriede, musst keine Angst haben, ist nur die Kleine vom Lehrer, die tut dir nichts«. Beruhigender Tonfall. Keine Antwort von Elfriede, keine Regung, keine Veränderung. Schaukelte leise vor, zurück, vor, zurück, bürstete in gleichmäßigen Strichen das glatte Haar, bis auf die Hüften.

Elfriede ängstigte und faszinierte mich. Einmal kamen wir zum Hoftor herein, Elvira mit mir. Da stand Elfriede, schlank, hochgewachsen, schwarzhaarig, vor der Tür zu ihrer Wohnung im Hof. Das sollten Schwestern sein? Elfriede auf der Treppe, bewegungslos, starrte mich wieder an.

»Guten Tag, Elfriede!« Ich traute mich nicht näher zur Treppe. Mit einem Eimer in der Hand, erschien die Mutter, fragte mich, ob wir zu Hause frisch geschleuderten Honig wollten, sie hätten so viel dies Jahr.

Elfriedes magische Augen, ich war wie gefangen.

»Weißt du, ich glaube, es ist heute nicht gut, wenn du hier bist«, sagte die Mutter weiter zu mir, nach einen schnellen Blick zu ihrer großen Tochter. »Elfriede geht es heute nicht so gut. Und wir wollen doch nicht, dass sie böse wird.«

Elfriede stieg langsam zwei Stufen herunter, auf mich zu, kein Blinzeln in den dunkel starrenden Augen. Ich wich zurück. »Schnell! Geh jetzt!«, rief die Mutter.

Noch ein Schritt von Elfriede auf mich zu. Elvira hatte die Hoftür aufgerissen, stieß mich aus dem Hof. Ich rannte.

Allmählich verlor ich den Kontakt zu Elvira, fuhr nach der vierjährigen Grundschulzeit mit dem Bus fünf Kilometer nach A., in eine andere Schule, eine POS (Polytechnische Oberschule), wo Gespenstermonologe und das Vorhandensein einer verrückt gewordenen Schwester an Bedeutung verloren.

Anneliese, die so früh schwanger geworden war, war aus der fünften oder sechsten Klasse entlassen worden, nach achtjährigem Schulbesuch. War jetzt vierzehn, fuhr jeden Tag mit dem ersten Bus früh halb sechs in die Stadt in irgendeine Fabrik. Nicht lange, Anneliese war wieder schwanger, diesmal musste sie in kein Krankenhaus. Stattdessen die Abteilung Jugendschutz, gerichtliche Verhandlungen, die Gerüchteküche. Mein Vater brachte täglich neue Meldungen mit, weiß der Teufel, woher er die hatte. Bei Anneliese sei wieder der Vater am Werke gewesen, aber nicht nur das, auch die beiden älteren Brüder. Und schließlich: Anneliese selbst hätte vor Gericht ausgesagt, dass es eigentlich der Großvater gewesen sei, der es ihr erst richtig beigebracht hätte.

Die Äußerung über den Großvater imponierte mir. Anneliese hatte die Nase voll von all dem Quatsch. Aus Wut, aus Trotz hat sie so etwas gesagt. Andererseits, was war da los?

Wir sprachen nicht mehr miteinander, ich sah sie kaum noch. Sie fuhr schon arbeiten, ich hatte noch etliche Schuljahre vor mir. Entfernung war da, Fremdwerden, ihr schnelles Erwachsenwerden, ihre Probleme, die nicht meine waren, mein Verstecken hinter ausgesprochenem Kontaktverbot. Ich sah sie nie mit jemandem reden, sie wurde gemieden von allen, von mir auch. Sie tat mir leid, anderen vielleicht ebenso. Ich fühlte mich schlecht, weil ich wie alle war, der Bannkreis blieb. Heimlich beobachtete ich sie, wie alle, den runder werdenden Bauch. Schließlich bekam sie ihr Kind.

Anneliese schob keinen Kinderwagen. Hatte ein Baby, aber das sah niemand. Nicht gesund, hieß es, kein Wunder bei so einem Inzuchtbastard. Anneliese fuhr jeden Tag mit dem frühen Bus in die Stadt, in die Fabrik, kam abends zurück. So jung, aber mit stumpfem müden Gesicht, stumpf und müde wie alle um sie, die viel älter waren, ohne Reden, ohne Lächeln, jeden Tag auf dem gleichen Platz im Bus.

»Wie geht’s dir eigentlich, dir und dem Kind?« Dem Kind sagte ich, schämte mich, weil ich nicht einmal wusste, ob Junge oder Mädchen.

»Gut geht’s, ist in der Wochenkrippe, muss doch arbeiten.« Wochenkrippe, was es alles gab.

»Und dann siehst du dein Kind überhaupt nicht?« Ich war erschrocken. Doch, am Wochenende, da hole sie die Kleine.

Wie schnell alles geht, dachte ich, manchmal geht alles so schnell. Alles anders mit einem Mal. Unmöglich plötzlich, im Tal herumzuhopsen mit Anneliese, in einer geheimen Höhle Mutter und Kind zu spielen. War jetzt kein Spiel mehr. –

Jahre später, ich war nur noch selten zu Besuch im Dorf, spielten zwei etwa achtjährige Mädchen vor einem Gebüsch.

Die mit dem blauen Kleid sei übrigens die Tochter von Anneliese, wurde mir erklärt. Ich blieb stehen, sah den beiden eine Weile zu, ließen sich nicht stören. Dickliches Kind, derbe, struppige Blondhaare, viel zu großer Kopf, ungefähr vom Umfang einer größeren Melone.

Von der Freude, ein DDR-Bürger zu sein

Mehrfach haben sie ihn abgeholt, verhört, stundenlang, meistens nachts. Ich bekam das gar nicht so mit, aber dann doch, war acht, neun Jahre alt, die Mutter erzählte mir davon hinterher. Wegen der Erdkunde war das, war sein Spezialgebiet. Sozialistische Länder und kapitalistisches Ausland, begann bereits dreißig Kilometer westwärts, ging niemanden von uns etwas an, hatte niemanden etwas anzugehen, Klassenfeind. Klassenfeind rüttelte ständig am Sozialismus, das waren wir, wunderbares und einzig wahres System, und die Sowjetunion, aber dort waren sie noch weiter, hatten schon Kommunismus. Westlich vom dicken roten Strich im Schul-Atlas, nicht weit weg von uns, hatten sie die Fläche einheitlich todgelb gemalt, keine Namen mehr. Gehörte sich so, war uninteressant, böse, Klassenfeind. Katzensprung nach Eschwege, mein Vater empörte sich. Eschwege hatte es nicht zu geben, Schulkinder wussten davon nichts, keine Menschen wie du und ich dort, nur der Klassenfeind, unbedingt zu ignorieren, nur so kann er vernichtet werden, eisernes Gebot. Sie hatten Vater abgeholt, weil er im Unterricht gesagt hatte, dass es große geschichtsträchtige Städte jenseits vom roten Strich gab, Städte mit Namen München, Köln, Hamburg, Worms. Sie fragten ihn, was es denn so Besonderes gäbe in München oder Köln, Hochburgen des Kapitalismus, des Feindes, angepriesen auch noch durch ihn.

Verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht jedes Mal bei seiner Rückkehr von solchen Verhören. Manchmal hockten fremde Männer im Unterricht, hörten sehr genau zu, was der Vater sagte, wie er es sagte. Zeitweise war ich dabei, hatte Unterricht bei ihm.

Das Guten-Morgen-Sagen von Lehrer und Schülern wurde ausgetauscht, neue Art der morgendlichen Begrüßung: »Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!«, rief der Lehrer. »Für Frieden und Sozialismus – immer bereit!«, riefen die Schüler. Mein Vater fand diesen Gruß albern, sagte weiterhin schlicht Guten Morgen, nicht lange, und er wurde wieder abgeholt.

Sein Widerstand, vielleicht zu groß das Wort für sein Verhalten, zeigte sich im Kleinen, verborgen, fein dosiert, er hatte Beruf und Familie, auf Dauer aber zermürbend für die anderen, meinte er. Ein einziges Mal ist er einem der Männer gegenüber laut geworden, die seinem Unterricht lauschten und Fragen stellten, ihm selber und auch den Schülern über ihren Lehrer – ein einziges Mal war genug, gab er sich die Blöße, zeigte, dass seine Haut dünn war: »Wenn euch meine Arbeit nicht passt, wenn ich sie euch nicht gut genug mache, dann packe ich noch heute meine Sachen und gehe!«, hat er geschrien. Im Frühjahr 1961.

Daraufhin diskutierten sie nicht mehr mit ihm, nicht zu Hause. Nahmen ihn mit, diesmal besonders eilig, besonders besorgt darum, dass jemand von ihnen bei meiner Mutter und mir blieb, man konnte ja nie wissen.

Eine ganze Woche war er weg. Die Leute erkundigten sich, ob er krank sei. »Ja, Fieber, geht ihm nicht gut.« Die Blumen durften die Leute nicht an sein Bett bringen, »schläft gerade so schön«, log die Mutter. Ich war im Schlafzimmer, hörte alles, war still. Neben mir auf dem Stuhl Herr Wetzel, Aktentasche dabei, passte auf, dass meine Mutter das Richtige sagte und dass ich still blieb. Herr Wetzel war freundlich, zeitweise immerzu da. Auch noch länger, als mein Vater wieder zu Hause war, jeden Tag. Meine Mutter stöhnte, putzte extra die großen Fenster, wozu sie normalerweise Hilfe hatte, erklärte, dass jemand, der ernsthaft vorhabe abzuhauen, doch nicht vorher noch seine Fenster putze.

»Da haben wir schon ganz andere Dinger erlebt!« Herr Wetzel grinste.

»Die kriegen mich nicht klein«, flüsterte Vater, »die nicht.«

Mich umarmte er, seltenes Unterfangen, kitzelte mich, lachte: »Na, mein kleines Suppenhuhn, er ist wieder da, dein Papa. Sie müssen mich immer wieder rauslassen, niemand kann eingesperrt werden für nichts!«

Da stand er, mein Vater, hatte mich schnell wieder losgelassen, schade, er war hübsch, wenn er lachte, lachte so selten. Es gibt Fotos von ihm, im Trenchcoat, mit großkrempigem Hut, noch von vor meiner Geburt, schick sieht er darauf aus, verwegen. Sein dunkles Haar war zurückgegangen inzwischen, höher die Geheimratsecken, und die Kopfhaut oben war sichtbar. Er fuhr sich mit den Fingern durch die seidigen dünnen Haare, strich sie wieder nach hinten, seine grünlichen Augen mit den goldbraunen Pünktchen immer noch auf mich gerichtet, sah er mich schon nicht mehr.

Wenig später kamen sie wieder, drei Männer mit grauen Mänteln und glatten Gesichtern, eines davon gehörte Herrn Wetzel. Bisher hatten sie, wenn sie Vater abholten, die späten Nachmittagsstunden oder den Abend gewählt, leise, unauffällig, nie direkt aus dem Unterricht. Diesmal mitten in der Deutschstunde, abgebrochen, Kinder durften nach Hause gehen. Meine Mutter und ich standen oben am Fenster, Herr Wetzel hielt dem Vater die Tür eines dunklen Wagens auf, Vater sah hoch, zuckte die Schultern, sollte heißen, ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Er winkte uns, bevor er einstieg. Und er sollte diesmal gar nicht lange wegbleiben.

Sehr viel später erzählte der Vater von den Stunden dieses Beisammenseins mit der Staatssicherheit. Üble Geschichte, heutzutage zur Genüge bekannt, von grellen, ins Gesicht gerichteten Scheinwerfern, einem lange dauernden bösen Verhör, in dem Vater erkennen musste, dass er den Nachbarn nicht mehr trauen durfte, private Briefe waren geöffnet worden, Beweise über seine Informationen von westlichen Fernsehsendern, Informationen, deren Weitergabe an seine Schüler man ihm, Lehrer und Schulleiter, unterstellte – unhaltbarer Zustand natürlich. Vorlage eines psychiatrischen Gutachtens über seinen Geisteszustand, Frage einer Einweisung in eine psychiatrische Abteilung zur Beobachtung und gegebenenfalls medikamentösen Therapie. Am Ende die freundliche Alternative Berufsverbot und Nervenklinik oder aber zukünftige Zusammenarbeit mit den Organen der Staatssicherheit.

Bis zu dem Tag seiner Abholung hatte mein Vater sich ihnen überlegen gefühlt, innerlich größer und stärker als sie, hatte geglaubt, mit seinem Humor und mit seinem Augenzwinkern in diesem System leben zu können, indem er es belächelte trotz Schikanen. Jetzt und hier fühlte er nur noch seine Kleinheit, seine Schwäche, seine Wut, seine Ohnmacht.

Vier Tage später unterschrieb er ein Papier, auf dem stand, dass er mit all seiner Kraft bereit sei, den weiteren Aufbau des Sozialismus zu unterstützen und dass er fortan aktiv mitarbeiten werde, die Sicherheit des Staates zu gewährleisten, indem er sein Wissen und seine Fähigkeiten diesem System voll zur Verfügung stelle.

Der Unterricht lief danach normal ab, auf seltsame Weise war alles irgendwie normal. In Erdkunde erwähnte er sogar München und Köln und Hamburg, sie hatten nichts mehr dagegen. Nur das verschmitzte Lächeln in seinem Gesicht war verschwunden.

Der erste Auftrag kam bald, Bespitzelung des örtlichen Bürgermeisters, mit dem er sich gut verstand. Am Abend dieses Tages ging es ihm nicht gut, starke Schmerzen in der Herzgegend, im linken Arm. Der Notarzt veranlasste eine sofortige Krankenhauseinweisung, Herzinfarkt. Viele Wochen Krankenhaus, danach noch nicht wieder arbeitsfähig, später entlasteten ihn seine beiden Kollegen. Mathematik in der achten Klasse musste er jetzt nicht mehr unterrichten. Erdkunde auch nicht mehr.

Eines Tages kam der freundliche Herr Wetzel, brachte einen Blumenstrauß. Vater bekam keine Aufträge mehr. Konnten sie kranke Mitarbeiter nicht brauchen?

Das war die Zeit, als Vater wieder schmunzeln lernte. Aber er sah anders aus jetzt, irgendwie anders.

Grammatik mit Jod

Man sollte meinen, dass mir die Freude am Umgang mit der Muttersprache ordentlich verdorben worden ist. Meine Mutter hat mir die Regeln der deutschen Rechtschreibung und Grammatik so gründlich beigebracht, dass ich mich über meine ungebrochene Liebe zur deutschen Sprache durchaus wundere. Mir ist aus den zahllosen Lehrstunden bei meiner ehrgeizigen Mutter allerdings ein persönlicher Nachteil erwachsen: Menschen sollten in ihrer Muttersprache keine Rechtschreibfehler machen, ich sortiere sie danach mit Strenge, viele sortiere ich aus, zwanghaft. Wer sich die ›Hahre‹ raufen möchte oder mich ›unsäklich‹ liebt, den kann ich nicht ernstnehmen, muss ihm wenigstens die Geschichte erzählen. Manchmal sage ich auch: Es stört mich nicht, wenn du die Wörter falsch schreibst oder wenn deine Kommaverstreuung sehr mäßig ist, aber das ist eine glatte Lüge, und deswegen erzähle ich doch lieber die Geschichte. Meist schreibt er mir danach nicht mehr.

Der Sprach- und Schreibstil meiner Mutter war tadellos, ihre Orthographie ohne Fehler. Sie sortierte auch. Mich wollte sie später nicht aussortieren müssen, nicht aus diesem Grund. Zwischen sechs und elf Jahren betrachtete ich die Übungen als das Selbstverständlichste der Welt. Die täglichen Lektionen gehörten zu den Normalitäten meines Lebens, wie Zähneputzen und das abendliche von ihr geforderte Gebet, seit ich sprechen konnte und das mit den Jahren immer länger geworden war.

»Sechs Uhr ist es, mein kleines Mädchen – aufstehen!« Sie riss das große Licht in meiner Schlafbucht an. Decke über den Kopf, frühes Aufstehen von Montag bis Samstag, Schule erst ab acht, ich hatte nur die Treppe hinunterzugehen. Unterricht vorm Schulbeginn, die Mutter drängte und mahnte mich zur Eile. Die Übungen gehörten rasch zum täglichen Ritual, ich nahm sie in Kauf, nicht sonderlich interessiert, aber widerstandslos, so wie man den Regenschirm mitnimmt, wenn es draußen gießt.

Am mächtigen dunklen Schreibtisch meines Vaters wartete ich auf Mutters Ideen. Sie las vor, ich schrieb, z.B. einen kleinen Zeitungsartikel über eine brasilianische Frau, vierzigjährig, die ihr einunddreißigstes – oder war es ihr einundzwanzigstes? – Kind zur Welt gebracht hatte und bereits Urgroßmutter war.

Oder sie diktierte den Teil eines Märchens oder einen von ihr erdachten Text, meine geliebte Mammi hat mir trotz ihrer enormen Schmerzen wieder ein Kleidchen für meine Puppe Susi genäht – oder es war ein reines Wortdiktat, z.B. aus Fremdwörtern wie Portemonnaie, Mayonnaise und Rhythmus. Heute darf man diese Wörter alle völlig legal falsch schreiben – wer das tut, wird aussortiert.

Meine Mutter war einfallsreich, manchmal amüsierten wir uns beide. Ich schrieb in Schönschrift, machte möglichst wenig Fehler, die Berichtigung gehörte zu jedem Diktat, musste fertig werden, bevor ich die Treppen hinunter rannte zum Unterricht. War meist nicht viel zu berichtigen, ein Wort schrieb ich in der Regel nur einmal falsch, danach konnte ich mir Bouillon, Lappalie und Libyen merken. Hatte ich fehlerfrei geschrieben, sparte sie nicht mit Lob. Oder schenkte mir die ganz besonderen Blicke, wenn Schüler zum Nachhilfe-Unterricht zu ihr kamen und so permanent alles und immer wieder verkehrt schrieben.

Joachim zum Beispiel, ging in meine Klasse, behäbig, schwerfällig, körperlich wie geistig, hatte die Angewohnheit, sich mit seiner breiten Zunge das Gesicht so weit zu belecken, wie die Zunge reichte, ständig im Kreis, in beide Richtungen. Die Haut ständig nass, roter aufgesprungener Kreis um seinen Mund, von unterhalb der Nase über die Mitte der Wangen bis ans Ende des Kinns, persönliche Note. Ich versuchte dasselbe, kam bis zur Nase mit der Zungenspitze wie er, nach unten reichte sie nicht so weit wie bei ihm, meine Kinn-Unterkante konnte ich nicht anlecken, Joachim war besser. Wenn er Stuhl zum fünften Mal ohne h oder wir immer wieder mit ie schrieb, sah meine Mutter zu mir herüber, verdrehte kurz die Augen. Ich wusste, sie war stolz auf mich, hatte es leicht mit mir, war sogar so froh, dass sie mir jeden Sonntag das Diktat erlassen konnte. Dafür durfte ich sonntags einen Aufsatz schreiben. Entweder sie suchte ein Thema aus oder überließ das mir. Pädagogischer Spielraum. Sonntags ging es um Inhalt und Ausdruck. Sonntage waren oft langweilig, die anderen Kinder unter sich, ich versäumte nichts, schrieb Aufsätze.

Bilanz: Während der vier Grundschuljahre hatte ich jedes Jahr etwa dreihundert Diktate zusätzlich zu den schulischen geschrieben. Die fielen weg, als ich mit dem Bus zur Schule fahren musste. Die sonntäglichen Aufsätze blieben mir erhalten.

Die Küche war ein großer Raum, ohne Doppelfenster, der Feuerherd wurde nicht beheizt, bei Minusgraden draußen bald auch in der Küche, zehn Grad nur dann, wenn gekocht wurde. Beim Abwaschen erwärmten sich die Hände. Die Wasserleitung führte ohnehin ausschließlich kaltes Wasser, immer weniger und dünner, wenn es weiter frostete. Meine Mutter trug dann einen Bademantel über allen Kleidern, dunkelblau mit weißen schmalen Streifen, mit den Jahren fadenscheinig und schäbig geworden, selbst sie stellte seine wärmende Funktion in Frage, schleppte das Ding dennoch an zweihundert Tagen im Jahr.

Kachelöfen. Das Wohnzimmer wurde geheizt, und nur das. Gelegentlich zu Weihnachten – ich erwähnte es schon – bei besonders starkem Frost, heizte mein Vater auch das elterliche Schlafzimmer und meine Schlafbucht. Der Schlafzimmerofen qualmte entsetzlich, wurde zu selten benutzt. Diese Weihnachtsfeste habe ich trotzdem geliebt.

Erkältungen vorzubeugen war also eine wichtige Sache in jenen Jahren, in unserer Familie besonders.

Anfangs war es der gelblich angestrichene Küchenstuhl, auf den ich kletterte. Farbe blätterte ab, klebte an den nackten Sohlen. Die Mutter wusch mich jeden Abend sauber, im Sommer wie im Winter. Jeden Abend auf dem Küchenstuhl. Ich war winzig, hatte nur den kugelrunden Bauch rappeldürrer Kinder. Ich stand, bibbernd, weißer Hauch aus meinem Mund, auf dem Küchenstuhl vor dem riesigen Spiegel. Sie seifte mich ein mit dem Lappen, wusch es wieder ab, eisige Küche, eisiges Wasser, fließen musste das, keine stehende Brühe im Waschbecken. Ich dampfte. Meine Mutter veranstaltete die gleiche Prozedur mit sich selber ebenfalls, und da sie körperlich so eingeschränkt war, mit ihren versteiften verformten Gelenken ihren Rücken nicht erreichen konnte, blieb der für mich übrig, alle paar Wochen sollte ich ihren weißen fleischigen Rücken schrubben, von den Schultern bis zum Steiß. »Aaah, wie gut das tut«, frohlockte sie. Niemals sah ich sie ihre Beine oder Füße waschen. Sie fuhr ab und zu mit dem Bus in die Stadt. Wenn sie den Friseur aufsuchte, da sie niemals ihre Haare selber waschen konnte, stand auch die Fußpflege mit auf dem Programm. Aber den ganzen großen Rest besorgte sie allein, allerdings am Morgen, damit ich dabei sein, sehen konnte, wie mutig sie war, wie sie nicht schrie, damit ich ebenso nicht schrie, pädagogische Vorbildfunktion. Ich sah es, ich roch es auch, roch meine nackte Mutter am Morgen, einziger Geruch, an den ich mich erinnere bei ihr, damals, es war kein guter. Stand am breiten Waschbecken, heruntergelassener langbeiniger Baumwollschlüpfer, bis zu den Knien runtergelassen, breitbeinig, damit er nicht rutschte, Handtuch drüber gelegt, Spritz- und Tropfschutz, seifte den kalten triefenden Waschlappen ein, fuhr sich damit zwischen die Beine, zurück und vor, zurück und vor, bis hinten hinauf zum Steiß, war in meiner Augenhöhe, Nasenhöhe, konnte kaum über den Waschbeckenrand sehen. Manchmal rannte ich weg, bevor mich die Wolke aus Seife und Unterleib traf, das mochte sie gar nicht, rief mich wieder herbei, ich sollte ihre Kältetapferkeit bestaunen.

»Das stinkt aber!«, rief ich.

»Meinst du vielleicht, Männer riechen besser da unten?« fuhr sie mich an. Ich hielt die Luft an. Sie brachte die Sache hinter sich, lachte. »Siehst du, mein Schatz, wieviel Spaß das macht und wie munter und fröhlich man dabei wird?«

Kleinlauter Protest meines Vaters, manchmal: »Du hast immerhin eine dickere Speckschicht drauf als das Kind.«

Sie überhörte das, wollte davon nichts wissen, war doch mein Vater mit seiner Unlust, sich überhaupt zu waschen, sowieso nicht davon zu überzeugen, wie wichtig diese Kaltwaschungen für die Abhärtung waren.

»Wir werden nicht krank, die Kleine und ich, wir nicht!« Ihr Triumph. Präsentierte uns beiden ihren nackten Oberkörper, hieß meinen Vater und mich, ihre frisch gewaschene kalte Brust anzufassen. Mein Vater zeigte ihr einen Vogel, ich wollte auch nicht. Sie ließ nicht locker, bis Vater und ich ihre kalte Brust angefasst hatten. Weiches weißes Fleisch, dickes weiches weißes Fleisch. »Kannst ruhig feste zupacken, früher hast du mich mit Deinen zahnlosen Kiefern in die Brustwarzen gebissen, du kleines Biest mit deinen vier Pfund und dreihundert Gramm, als ich dich geschüttelt habe, weil du einfach nicht trinken wolltest!« Die alte Geschichte, sie erzählte sie gern. Mir war dann immer so, als ob ich mich daran erinnern könnte, winziger Augenblick. Und daran, dass sie mich hatten lange schreien lassen nachts, hatte sie erzählt, stolz drauf. Winzling, mein Magen hatte Hunger. Daran, wie die Eltern einander an den Händen festhielten, damit keiner aufstand, das ungebärdige Kind zu füttern. Das musste lernen, sich an feste Zeiten gewöhnen, hatte man ihr erklärt, damit ich keine Tyrannin würde. Man – das waren die Ärzte, Krankenschwestern, andere Mütter gewesen. Regeln zu befolgen, der Lernprozess hatte schon begonnen mit zweitausenddreihundert Gramm, bloß nicht zu spät damit anfangen.

Dass ich dennoch krank wurde, wenn auch nie schlimm, passte nicht in Mutters Konzept mit dem vielen kalten Wasser. Husten, Schnupfen, entzündeter Rachen. War mein Hals rot, tat er weh, ging es an Mutters Hand zur Gemeindeschwester Margarete, die mit dem besonderen Mittel.

»Setz dich da auf den Stuhl, mach den Mund auf.« Die füllige ältliche Schwester hielt ein dunkles Fläschchen mit einer noch dunkleren Flüssigkeit in der Hand, leuchtete mit einer Lampe in meinen Hals.

»Haben Sie Jod heute?« Mutter wollte immer, dass sie Jod hatte. »Nein, Sepso.« Sepso war nur Jod-Ersatz. Mir war das vollkommen egal, Jod oder Sepso, beides scheußlich. Ich sperrte ihr meinen entzündeten Rachen entgegen, Schwester Margarete pinselte mit einem Wattestäbchen da hinten herum, schwärzliches Zeug, brennend, übel schmeckend. Manchmal Würgereiz, immer Kullertränen, kein Mucks. Schwester Margarete schüttelte den Kopf. »Was die alles aushält, könnte ich nicht.«

Mutter nickte stolz. »Alles eine Frage der Erziehung.«

Den Weg zu Schwester Margarete hatte ich oft zu gehen. Meine Mutter ging ihn selber auch, wenn es nötig war, sie nahm mich mit, zeigte mir die gleiche Therapie bei sich, klaglos, die Pädagogik. Als ich älter wurde, ging ich allein, bat um Jod, notfalls tat es Sepso. Hatte ich Fieber, unterblieben die abendlichen Waschungen. Leider war Fieber selten.

Der große Küchenstuhl wurde irgendwann ausgetauscht gegen meinen Kinderstuhl, ich blieb handlich für meine Mutter.

»Man muss immer das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden.« Sie erklärte mir alles. Wir sangen gemeinsam alte Volkslieder. »In der Schule lernst du die sowieso nicht.« Das stimmte, Am Brunnen vor dem Tore und Der Mond ist aufgegangen waren unsozialistisch. Manchmal Rätselraten oder Ich sehe was, was du nicht siehst, Ablenkung von den Kaltwasserströmen.

Der Schulbeginn war wieder mit einem Wechsel verbunden, dem Wechsel vom Kinderstühlchen zur Fußbank. Das war die Zeit, als mich ein Wort in meinem Wortschatz aufzuregen begann, dessen Bedeutung mir lange verborgen geblieben war aus Scham, danach zu fragen, weil ich ahnte, dass über mich gelacht werden würde. Das Wort hieß Gasparo, und zwar wurde es auf der ersten wie auf der dritten Silbe gleichstark betont. Dieses Wort wurde ausgerufen, mehrmals in der Woche. Um es richtig zu verstehen, zu erfassen, riss ich das Wohnzimmerfenster auf, sobald dieses Wort von der Straße her gerufen wurde, immer zweimal hintereinander, vorher erklang eine Bimmel, die der kleinwüchsige Herr Friebe ein paar Mal hoch über seinem Kopf schwenkte, schräg vor unserm Haus postiert, immer an der gleichen Stelle. Dann rief er Gasparo! Gasparo! Etliche Fenster waren inzwischen aufgegangen. Herr Friebe entfaltete einen Zettel und las lautstark etwas vor, das mich kein bisschen interessierte. Während es mir um die Enträtselung von Gasparo ging, wunderten sich die Eltern über meine Neugier hinsichtlich der dörflichen Belange. Das ging Wochen so, oder Monate – ich wollte Gasparo ergründen, ohne sie danach fragen zu müssen. Es gelang mir nicht, ich musste fragen. Und was kam? Gelächter, spontan und für sie herzerfrischend. Gasparo hieß nichts anderes als ein gebrülltes und gleichermaßen genuscheltes Bekanntmachung – Betonungen auf -kannt und -ung.

Morgens Diktate, abends ab jetzt Grammatik. Ich liebte das Kaltwasser immer noch nicht, außerdem war es Zeit für Anspruchsvolleres als die alten Weisen. Auf der Fußbank zitternd, noch immer bohnenstangendünn, beschlug der Spiegel. Ich war weg, gut so, es ging um grammatische Regeln. Im zweiten Schuljahr beherrschte ich sämtliche Wortarten, die Pronomina und Präpositionen, die vier Fälle vor und zurück. Im dritten Schuljahr wurden Sätze analysiert, nach den Wortarten, Deklinationen, Konjugationen, Tempora, Modi, Genera der Verben, lief wie am Schnürchen, deutsche Begriffe und lateinische. Dann Satzteile. Adverbiale Bestimmungen, Konditional- und Konsekutivsätze, allabendliches Programm. Bei ausgeprägter Kälte in der Küche, Temperatur unter Null, lächelte sie auf besondere Art. Nackt vor mich hinzitternd, die dünnen Arme verschränkt, kam sie mit diesem Lächeln.

»Heute will mein Schatz ganz toll mutig sein, ja?«

Neinsagen kam nicht in Frage, die Zähne schlugen mir aufeinander, Lächeln misslang, ich nickte. Mit leisem Knacks hob sie den Waschlappen vom Haken. »Fass an, den unteren Zipfel!« Sie hielt den Lappen am Aufhänger fest. Ich fasste den unteren Zipfel, sie ließ den Lappen los, er stand aufrecht, gehalten zwischen Daumen und Zeigefinger, steif gefroren. Ihr lautes entzücktes Lachen, schmerzhaft, sie nahm mir das starre Ding ab.

»Und jetzt pass auf, aber nicht brüllen!« Quetschte den frostharten Lappen auf meinen Bauch, Brüllen ging nicht, nur Mundaufreißen, Armefuchteln, sie strahlte mich an, hielt das Eismonster auf meinen Bauch gedrückt, langsames Auftauen. Dünnes Rinnsal aus der Leitung. »Oh, oh, wenn es nur nicht ganz einfriert …« – kaum wärmer als der Eislappen, ihre Finger rot darunter, Seife in den Lappen.

»Hör zu, Wortarten und Satzglieder: Obwohl der Waschlappen gefroren war, freute sie sich wie verrückt über das winterliche Waschfest.«

Zähneklappern, meine Arbeit jetzt.

Auf dem Elektrokocher, uralt, rostig mit freiliegender Glühspirale, wackelte ein Töpfchen, lauwarmes Wasser nur fürs anschließende Zähneputzen.

Drei Tage später Schwester Margarete.

»Das kommt davon, wenn man im Winter ohne Anorak aufs Klo rennt.« Die Blicke meiner Mutter konnten vorwurfsvoll sein.

Gott und andere Märchenstunden

Die abendliche Gebetspflicht erwähnte ich schon. Im Sommer in meinem Bett, nach der kalten Waschung, unter mütterlicher Aufsicht. Im Winter, gründlich ausgekühlt, im Wohnzimmer, eingewickelt auf der Couch, Eisfüße am warmen Kachelofen. Die Mutter rückte sich den Sessel daneben, Händefalten, Augenschließen, Vaterunser, gelernt ist gelernt. Es folgte die Litanei Dank- und Bittworte an den lieben Gott, für Mutters kranken Vater in Bielefeld, Tante Hildchen, die ihn versorgte. Warum nicht auch für Vaters Eltern, die Großeltern in R.?

»Die sind gesund, wollen sowieso nichts wissen vom lieben Gott.«

Am Schluss sollte der liebe Gott mein Brüderlein im Himmel grüßen, Rainer hätte er heißen sollen, nach Rilke, den Mutter so liebte. Tot geboren, nicht mal ein Grab hatte er bekommen, nun Engelein da oben. Rainer hat es gut, der liebe Gott wird keine Zeit haben, ihn jeden Abend kalt zu waschen.

Ob Gott wohl böse mit mir würde, wenn ich einmal nicht betete? »Natürlich, er wartet jeden Abend auf dich.«

Als sie mein abendliches Beten nicht mehr so streng bewachte, probierte ich es aus, betete nicht, neugierig auf Gottes Strafe, schlief lange nicht ein, wachte früh auf wie immer, nicht blind, kein Finger fehlte, Spielsachen alle noch da, stolz drauf, Gott war nicht böse.

»Er lässt sich Zeit mit seiner Bestrafung, sei gewiss, es ist nicht ratsam, Gottes Güte auf die Probe zu stellen.«

Furchtbar traurig war ihr Gesicht. Schuldbewusst und eifrig bat ich am Abend bei ihm um Verzeihung, betete wieder brav. Ob es dem lieben Gott nicht längst langweilig ist, allabendlich Wort für Wort den selben aufgesagten Text zu hören? Ich dachte beim Beten an aufregendere Sachen, behielt solche Zweifel aber für mich. Betete ich allein, in meinem Gitterbett, bat ich ihn darum, sich um meine Eltern zu kümmern, gestand ihm, dass ich wieder geweint hatte ihretwegen. Er kümmerte sich nicht um sie. Aber es dauerte, bis ich erneut den Mut fand, seine Existenz zu missachten.

Mit Schulbeginn wurde ich von meiner Mutter zum Christenlehre-Unterricht geschickt. Mein Vater war dagegen, das war nicht gern gesehen, passte nicht zum Sozialismus, obwohl der ihm auch nicht passte. Für ihn gab es keinen lieben Gott, die Eltern stritten darüber, die Mutter siegte, also notwendige pädagogische Unterweisung in Glaubensdingen. Eine Wochenstunde im Pfarrhaus. Der Katechet hieß Schmidt, kam extra aus M. angereist, wir nannten ihn Schmidtchen, wofür es keinen Grund gab, er guckte grimmig, tiefes Loch im fleischigen Kinn, brüllte laut und oft, hässliche Fratze dann, niemand nahm ihn ernst. Er hatte nur wenige Schüler. Wer ging schon freiwillig zu so einem.

»Du gehst gefälligst dorthin!« Die Mutter war zornig. War ich seine einzige Schülerin, brüllte er. Ungezogen so was, nicht zu seinem Unterricht zu erscheinen. »Jesus Christus sprach: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen‹, und so spreche jetzt auch ich zu dir: Lass die Kindlein zu mir kommen!« Er befahl mir, die anderen zu holen, mitzubringen, trieb mich, hocherhobene Droh-Hand, zur Tür hinaus. Kam ich ohne sie wieder, knallte er wutentbrannt seine Bücher zusammen, Unterricht beendet, schnaubte, eilte zur Bushaltestelle.

Zwölfjährig machte ich dem Treiben ein Ende, fragte nicht meine Mutter, dafür den Pastor C., der im Nachbardorf wohnte, unser Dorf mit betreute, ich wollte vorzeitig zu ihm in den Konfirmanden-Unterricht kommen. Pastor C. staunte, ich war noch zu jung dafür, er lächelte schelmisch, verstand mein Anliegen, akzeptierte. Eine Woche später war ich in seinem Unterricht, stolz darauf. Er führte Gott gar nicht so gern im Munde, Schmidtchen hatte mir Gott fast gänzlich ausgetrieben durch sein Gebrüll und seine Drohungen. Meine Mutter hatte das raffinierter angestellt. Pastor C. war jung, kam in Gummistiefeln mit dem Motorrad angebraust, unterrichtete in Rosshaar-Stiefelsocken, lachte gern, seine hellen Augen strahlten. Er sprach mit uns über alles, wenig über Gott, ich mochte ihn sehr. Schlanker großer Mann, schon ergraut, trug aber die Haare länger als allgemein üblich, auch sein dunkler Bart war grau durchzogen. Eine hübsche blonde Frau hatte er, drei, später vier Kinder. Die Familie verhielt sich anders als die Dorfbevölkerung, schien offener, unkonventioneller, wurde von vielen misstrauisch beäugt. Mit vierzehn schwärmte ich für ihn, beneidete seine Frau, weil sie ihn hatte. Er besuchte uns manchmal zu Hause, meine Mutter fand ihn liebenswert, unpastörlich, charmant, endlich ein intelligenter Mensch in der dörflichen Einöde, amüsierte sich, weil ich ihn so mochte. »Falls ich jemals heiraten sollte, dann muss der Mann genauso sein wie er.«

»Ja, ja«, sagte sie und machte sich dazu ihre eigenen Gedanken.

Die Zeit, als ich Schmidtchen verließ, war die, als ich das große ehemalige Bett meines Vaters bekam. Vorbei die Zeit der dicken Märchenbücher, alle inzwischen selbst verschlungen. Vorher hatte es die Sonntagvormittage bei der Mutter im Bett gegeben, meine Eisfüße zwischen ihren Backofen-Schenkeln, die Märchenstunden bei ihr, schöne Erinnerung. Die Lieblingsmärchen: aus der Grimmschen Sammlung das kurze vom alten Großvater und seinem Enkel, war gar kein Märchen, hatte außerdem versöhnliche Zeilen am Ende, an die ich nicht glauben mochte. Und die langen von Andersen, Der Reisekamerad, Die Nachtigall, Die kleine Seejungfrau