Der Schöpfer der Ewigkeit - Wil McCarthy - E-Book

Der Schöpfer der Ewigkeit E-Book

Wil McCarthy

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Beschreibung

Es war einmal auf einer Welt aus kollabierter Materie …

In der achten Dekade des galaktischen Königreichs SOL lebt die Menschheit dank zweier atemberaubender Technologien in nie gekanntem Frieden und Wohlstand. W-Stein kann jede Substanz – ob natürlich, künstlich oder gar hypothetisch – nachbilden; Kollapsium, bestehend aus kleinsten schwarzen Löchern, ermöglicht die virtuelle Übertragung von Materie innerhalb des Sonnensystems – auch von Menschen. Während der Erfinder von Kollapsium, Bruno de Towaji, von einer wissenschaftlichen Innovation von mythischen Ausmaßen träumt, arbeitet sein Konkurrent Marlon Sykes verbissen an einem Telekommunikationsprojekt, für das ein Ring aus Kollapsium um die Sonne gelegt wird. Doch als ein Saboteur diesen Ring angreift und er sich unaufhaltsam auf die Sonne zubewegt, muss aus gnadenloser Konkurrenz gewissenhafte Zusammenarbeit werden, deren Gelingen über die Zukunft des gesamten Sonnensystems entscheidet.

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Das Buch

Die achte Dekade der Regentschaft des galaktischen Königreichs SOL: Dank zweier atemberaubender Technologien lebt die Menschheit in nie gekanntem Frieden und Wohlstand. W-Stein kann nahezu jede Substanz – ob natürlich, künstlich oder gar hypothetisch – nachbilden. Kollapsium, bestehend aus kleinsten schwarzen Löchern, ermöglicht die virtuelle Übertragung von Materie innerhalb des Sonnensystems – und somit auch von Menschen. Während der Erfinder von Kollapsium, Bruno de Towaji, von einer wissenschaftlichen Innovation von mythischen Ausmaßen träumt, arbeitet sein Konkurrent Marlon Skyes verbissen an einem Telekommunikations-Projekt, für das ein Ring aus Kollapsium um die Sonne gelegt werden soll. Und nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch in Sachen Liebe erweist sich Skyes als hartnäckiger Rivale. Doch als ein Saboteur den Kollapsium-Ring angreift und dieser sich unaufhaltsam auf die Sonne zubewegt, muss aus gnadenloser Konkurrenz eine gewissenhafte Zusammenarbeit erwachsen, deren Gelingen über die Zukunft des gesamten Sonnensystems entscheidet.

»Der Schöpfer der Ewigkeit« ist der Auftakt zu Wil McCarthys atemberaubender Science-Fiction-Bestsellerserie SOL.

Der Autor

Wil McCarthy lebt mit seiner Familie in Denver, USA, und arbeitet als Ingenieur. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten populär, denen mittlerweile mehrere Romane folgten. Darin befasst er sich immer wieder mit der Frage nach den zukünftigen Perspektiven der Menschheit, wobei er es meisterhaft versteht, die literarischen und wissenschaftlichen Aspekte seiner Themen zu verknüpfen.

Mehr zu Autor und Werk unter: www.wilmccarthy.com

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE COLLAPSIUM

Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe

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Deutsche Erstausgabe 9/2006 Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 2000 by Wil McCarthy Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Dirk Schulz Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN: 978-3-641-19227-3V001

www.heyne.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmungERSTES BUCH - Es war einmal auf einer kleinen Welt aus kollabierter Materie
1. KAPITEL - Worin ein wichtiges Experiment gestört wird2. KAPITEL - Worin eine dringende Bitte vorgebracht wird3. KAPITEL - Worin ein eindrucksvolles Gebilde in Augenschein genommen wird4. KAPITEL - Worin ein legendärer Zechsaal eingeweiht wird5. KAPITEL - Worin ein großer Berg erklommen wird6. KAPITEL - Worin eine historische Zeremonie stattfindet
ZWEITES BUCH - Es war zum zweiten Mal auf einem gefährdeten Stern
7. KAPITEL - Worin ein anomales Resultat zu denken gibt8. KAPITEL - Worin das Wesen der Zeit erläutert wird9. KAPITEL - Worin unerwartet Gastfreundschaft geübt wird10. KAPITEL - Worin ein Verbrechen rekonstruiert wird11. KAPITEL - Worin die Trümmer durchsiebt werden12. KAPITEL - Worin ein seltsames Wesen entdeckt wird13. KAPITEL - Worin ein brillanter erster Schritt unternommen wird
DRITTES BUCH - Intrigen zum Dritten
14. KAPITEL - Worin eine uralte Frage neu gestellt wird15. KAPITEL - Worin sich wieder einmal zeigt, dass man hinterher zumeist klüger ist16. KAPITEL - Worin ein ruheloser Geist besänftigt wird17. KAPITEL - Worin das Haus seine Tapferkeit unter Beweis stellt18. KAPITEL - Worin zahlreiche Gesetze gebrochen werden19. KAPITEL - Worin sich das Tempo der Gesetzesbrüche beschleunigt20. KAPITEL - Worin es zur Begegnung mit Gespenstern der Vergangenheit kommt21. KAPITEL - Worin die Prophezeiungen eines Schwarzmalers in Erfüllung gehen22. KAPITEL - Worin die beiden großen wissenschaftlichen Leuchten ihrer Zeit aufeinander prallen23. KAPITEL - Worin gefleht und um Menschenleben gefeilscht wird24. KAPITEL - Worin eine historische Rechnung aufgemacht wird
ANHANG
ANHANG A - In dem ein Anhang zur Verfügung gestellt wird
KollapsiumW-SteinSemisichere Schwarze LöcherFeigenbaumkonstanteWahres VakuumElektromagnetische GreiferMyonen-KontaminationDer Sieg über die Trägheit
ANHANG B - Glossar
ANHANG C - Technische Anmerkungen
ANHANG D - Marlon
DANKSAGUNG

Für Quentin und Casey,denn versprochen ist versprochen.

ERSTES BUCH

Es war einmal auf einer kleinen Welt aus kollabierter Materie

1. KAPITEL

Worin ein wichtiges Experiment gestört wird

In der achten Dekade des Königinreiches Sol, auf einem kleinen Planeten in der Tiefe des Kuipergürtels, lebte ein Mann namens Bruno de Towaji, der zu dem Zeitpunkt, da unsere Geschichte beginnt, gerade seinen 3088zigsten Morgenspaziergang rund um die Welt begann.

Der Begriff ›Morgen‹ wird hier mit Bedacht gebraucht, denn unterwegs durchquerte er die Tag- und die Nachtzone einmal hin und einmal zurück, und das ohne ein einziges Mal anzuhalten. Es war ein ausgesprochen kleiner Planet, kaum sechshundert Meter im Durchmesser, um den eine noch kleinere ›Sonne‹ und ein ›Mond‹ kreisten, die Bruno selbst konstruiert hatte.

Begleite ihn: Sieh, wie seine Schritte durch die blühende Wiese pflügen, spür das Jucken der Pollen in Augen und Nase. Und jetzt geht es durch den Mittagswald, durch dessen Blätterdach die Sonnenstrahlen fallen. Die Bäume sind klein und weit ausladend, Zitrusgewächse und Hartriegel, weniger eine schattige, von Pilzen wimmelnde Wildnis als vielmehr ein Kompromiss mit den Gesetzen der Physik – größere Bäume hätten die Troposphäre durchstoßen. So aber streifen die höchsten Äste gerade mal an den vorbeiziehenden bauschigen Sommerwolken und kämmen sie.

An den Nordhügeln vorbei: Sieh, wie der Bach zwischen ihnen hervorrieselt, wie der Wald den Weiden am Ufer weicht. Die Brücke ist ein malerischer Bogen aus einheimischem Holz; am anderen Ufer liegen in der Nachmittagssonne das Grasland, der Gemüsegarten, der von gebeugten Robots gepflegt wird, die Felder mit wilder Gerste und Mais, um die sich niemand kümmert und auf die schräge Sonnenstrahlen fallen. Hinter dir senkt sich die Sonne herab und gleitet schließlich hinter den stark gekrümmten Horizont des Planeten. Trotz der Strahlenbrechung aufgrund des feinen Atmosphärendunstes wird es ganz plötzlich dunkel, und dann wird der Untergrund steinig – nicht zerklüftet, aber hart und flach und mit Findlingen übersät, gesprenkelt mit robusten mediterranen Gewächsen. Hier aber beschreibt der Bach eine Biegung, und während der Abend der Nacht weicht, weitet sich der Lauf zu einem Sumpf mit Rohrkolben und kleinen Rinnsalen und mündet schließlich in einen kleinen See. Manchmal scheint der Mond und malt lange, weiße Reflexe aufs unbewegte Wasser. Heute aber sind nur die Sterne zu sehen, der Milchstraßennebel und die ferne, stecknadelkopfgroße Sol. Dort ist die ganze Geschichte ausgebreitet; wenn du magst, kannst du die Menschheit mit der Hand bedecken.

Es wird kälter; bedenke, dass dich der Planet von der kleinen Sonne – der einzigen Wärmequelle – abschirmt. Die tödliche Kälte des Weltraums ist so nah, dass du buchstäblich einen Stein hineinwerfen könntest. Das Ufer aber führt um die im Halbdunkel liegenden Wiesen herum, der Horizont rötet sich vom Streulicht, und dann auf einmal ist wieder Morgen, und die warme Sonne erscheint über der Planetenkrümmung. Und da liegt Brunos Haus: niedrig, flach, marmorweiß und morgengelb leuchtend. Du hast etwa zwei Kilometer zurückgelegt.

So sah Brunos Morgenspaziergang aus, der sich kaum von allen anderen Morgenspaziergängen unterschied. Bisweilen zog er einen Mantel an und nahm die andere Route über die Hügel und die Pole, durch Kalt und Warm und Kalt und Warm, doch dabei ging es hauptsächlich um Masochismus; die Polarroute war zwar kürzer, aber landschaftlich weniger reizvoll.

Er hatte bereits gefrühstückt; der Spaziergang sollte die Verdauung fördern und ihn für das Tagwerk stärken: für seine Experimente. Vor ihm öffnete sich automatisch die Haustür. Robotdiener wichen ihm behände aus, sodass er freien Weg zum Arbeitszimmer hatte. Die Robots verneigten sich, obwohl er ihnen schon tausendmal gesagt hatte, sie sollten das sein lassen. Wortlos grummelnd gingt er an ihnen vorbei. Natürlich gaben sie keine Antwort, doch ihre bronzefarbenen und zinngrauen humanoiden Körper summten und klickten leise. Als rein mechanische Wesen, von der Bürde der Imagination und des Begehrens unbelastet, widmeten sie sich allein seinem Wohlergehen und seiner Zufriedenheit.

Eine weitere Tür ging auf, schloss sich hinter ihm und verschwand. Er schwenkte die Hand, und die Fenster wurden zu Wänden. Ein weiterer Handschlenker, und die Deckenleuchten verschwanden, die Bodenleuchten desgleichen, der Schreibtisch und die Stühle und weitere Möbelstücke verwandelten sich in optische Supraleiter und wurden unsichtbar. Holographische Projektionen schufen die Illusion der heutigen Versuchsanordnung: fünfzig Kollapsone, kleine Würfel, sichtbar als stecknadelkopfgroße Zusammenballungen von Tscherenkowstrahlung, taubenblau und schwach pulsierend, umkreisten den holographischen Planeten in einem komplizierten Tanz wechselnder Umlaufbahnen.

Nachdem der letzte Satz kaputtgegangen war, hatte er die vergangene Woche damit zugebracht, sie zusammenzusetzen.

Sie zusammensetzen? Doch, ja.

Stell dir eine Kugel aus Di-ummanteltem Neutronium vor, das Compton-Streulicht aussendet. Es handelt sich um eine Art übergroßen Atomkern; eine Milliarde Tonnen gewöhnlicher Materie, zusammengepresst zu einem Durchmesser von drei Zentimetern, sodass die Protonen und Elektronen sich zu einer dicken Neutronenpaste verbinden. Sich selbst überlassen würde die Kugel innerhalb von Nanosekunden explodieren und eine Milliarde Tonnen Protonen und Elektronen mit beträchtlichem Impuls hervorschleudern. Daher die Verkleidung: kristalliner Diamant und Faserdiamant und dann wieder Kristall, umhüllt von einer gebundenen Schicht von W-Steinb. Eine wahrhaft zähe Substanz; Bruno hatte noch nie gehört, dass es Neutronen gelungen wäre, sich zufällig aus ihrem kleinen Gefängnis zu befreien.

Diese ›Neubel‹ waren der Samen des Samen – acht davon mussten noch weiter zusammengepresst werden, bis ein Kollapson entstand –, und der kleine ›Mond‹ war einfach nur Brunos Speicher: zehntausend Neubel, zusammengehalten durch ihre beträchtliche Gravitationskraft. Weitere fünfzehnhundert bildeten den Kern des kleinen Planeten, eine Kugel von einem halben Meter Durchmesser, mit einem Skelett aus W-Stein, ummantelt von einer einige hundert Meter dicken Schicht aus Erde und Stein und einer von Robots und Künstlern gestalteten Oberfläche.

Bruno war nämlich sehr reich.

Außer Monden und Planeten aber konnte man auch Schwarze Löcher daraus machen, in stabilen Gittern angeordnete Schwarze Löcher, die als ›Kollapsium‹a bezeichnet wurden.

Bruno war als Erster darauf verfallen, und jetzt, siebzig Jahre später, beschäftigte er sich noch immer damit. Man könnte auch sagen, er hatte seine Seele dafür verkauft. Jedenfalls hatte er eine ganze Lebensphase dafür hingegeben: seine Liebe, seine Wahlheimat auf Tongatapu. Aber der Lohn war gewaltig: Er konnte die Raumzeit nach seinen Wünschen manipulieren. Welches Potenzial sich damit eröffnete …

Das war das Aufregende daran, und es hätte ihm durchaus gereicht, die Unternehmung zu leiten und die Ausarbeitung einer Horde von Angestellten oder hingebungsvollen Doktoranden oder wem auch immer zu überlassen. Allerdings brachte fast niemand die Geduld auf, die Gleichungen auszuarbeiten oder zu untersuchen, welche Strukturen stabil waren und welche nicht, geschweige denn die Eigenschaften der stabilen Strukturen aus den Grundprinzipien herzuleiten. Das war Knochenarbeit, und nur wenige Studenten besaßen die erforderliche Zähigkeit. Das war das größte Problem. Das zweitgrößte waren die Unfälle, die sich ereigneten, wenn Experimente mit Kollapsium schief gingen, und das drittgrößte Problem waren die zwanzig Milliarden Menschen, die sich in einem solchen Fall verständlicherweise aufregten.

Deshalb beschritt die Hand voll Menschen, die in der Lage gewesen wären, diese Art Forschung zu betreiben, einfachere, ausgetretene Pfade, die Pfade, auf denen Unfälle weit seltener waren als Ruhm und Reichtum. Arbeitstiere nannte er sie bisweilen.

Er setzte sich auf seinen unsichtbaren Stuhl, der unter ihm die Form veränderte. Der Stuhl war nicht weich, sondern smart, ein massiver Gegenstand, der sich seiner speziellen Körperform anpasste. Er ließ die Knöchel knacken, bewegte die Schultern, schüttelte die Handgelenke wie ein Athlet der Vergangenheit, der sich anschickte, ein schweres Gewicht zu heben. Dies alles tat er langsam; ein Beobachter hätte gemeint, voller Ingrimm. Es kam nicht darauf an, dass die eigentliche Hebearbeit von elektromagnetischen Greifern verrichtet wurde; er versuchte, sich in den gleichen Geisteszustand zu versetzen wie ehedem die Athleten, in einen Zustand, in dem der Körper dem Geist gehorcht und Steifheit, Schmerz und Zeit sich widerwillig unterwerfen. Auf dein Kommando …

Auch Bruno hatte versucht, wie eines der Arbeitstiere zu sein, ja, wirklich. Er hatte Jahre darauf verwandt, seine Telekommunikationskollapsiter immer schneller, besser und billiger zu machen, hatte das Iskon gebaut und ein Vermögen verdient. Das alles aber langweilte ihn, denn was er wirklich wollte, war, einen arc de fin zu erschaffen, der in der Lage wäre, sich Photonen vom Ende der Zeit zu schnappen. Die Zeit hatte tatsächlich ein Ende – das ergab sich eindeutig aus den Zustandsgleichungen –, doch wie das Ende beschaffen war, das war Gegenstand endloser Diskussionen und zahlloser Mutmaßungen. Aber warum sollte man streiten und theoretisieren, wenn man nur ein Fenster zu öffnen brauchte und sich mit eigenen Augen vergewissern konnte?

Daher die fünfzig Kollapsone mit ihren wechselnden Orbits und der unheimlichen Hawking-Tscherenkow-Strahlung. Nicht um einen Bogen zu bauen – welch vermessener Gedanke! –, sondern um ein Werkzeug anzufertigen, das dazu dienen könnte, einen Teil des Bogens zu bauen oder zumindest einen Hinweis darauf zu bekommen, mit welcher Methode sich einer bauen ließe. Bruno rechnete damit, dass das Projekt viele tausend Jahre in Anspruch nehmen würde.

Übrigens war er nahezu unsterblich, und wie alle anderen fiel es ihm noch immer schwer, damit zurechtzukommen. Eine Gesellschaft, in der der Tod entweder durch Selbstmord, monströse Unfälle oder sorgfältig geplanten Mord eintrat und in der die seltenen Todesfälle bei Kindern den Betroffenen nicht nur Jahre oder Jahrzehnte ihres Lebens raubten, sondern Jahrtausende, war nicht ganz so wundervoll, wie man meinen mochte. Welch eine Diskrepanz, das genaue Gegenteil von Fairness. Andererseits, welch ein Potenzial …

War seine Aufregung nach all den Jahren unnormal? Die ewige Frage, von der Zeit geglättet: War Besessenheit ein Geschenk? Er atmete tief durch, bereitete sich aufs Eintauchen vor.

Brunos fünfzig Kollapsone waren nicht stabil in ihren Orbits und konnten nicht ewig darin verweilen, ohne dass es zu Zusammenstößen oder Ausstoßungsereignissen kam, welche die Umlaufbahnen durcheinander gebracht hätten. Dann wäre die ganze Mühe umsonst gewesen. Deshalb verglich er die Orbits mit dem Plan, den er sich eingeprägt hatte, ließ mit einem Fingerdruck ein Interface aus dem unsichtbaren Schreibtisch ausfahren und löste die gravitativen Induktionsmechanismen aus.

Damit packte er ein Kollapson und beobachtete, wie es auf dem Display flatterte und ruckte. Die Kräfte, die er hier anwandte, waren schwach im Vergleich zur Gravitationskraft der Kollapsone, aber die befanden sich natürlich in freiem Fall. Über einen längeren Zeitraum ausgeübte schwache Kräfte waren ebenso wirksam wie plötzlich ausgeübte starke Kräfte. Und Bruno hatte Zeit genug gehabt, sich in Geduld zu üben. Behutsam packte er ein zweites Kollapson und stupste es dem ersten entgegen. Nach einer Weile stupste er es erneut an, um die Annäherungsgeschwindigkeit zu reduzieren. Schwerfällig trieben sie aufeinander zu und berührten sich schließlich. Die Vereinigung ging mit einem grünen Lichtblitz einher; dann setzten sie die Flugbahn als ein einziges Objekt fort. Er ergriff ein drittes Kollapson und fügte es vorsichtig dem Gebilde hinzu, dann nahm er sich ein viertes und ein fünftes vor.

Die anderen Kollapsone wirkten nahezu beunruhigt. Ihr orbitaler Tanz erweckte den Eindruck, als werde eine riesige Decke schwerfällig um sie herumgezogen und gefaltet. Brunos Bewegungen waren behutsam und geübt; er hatte das schon hundertmal getan und so viele Fehler dabei gemacht, dass er die Limits, die Bruchstellen und die Fehlermodes kannte und genau wusste, wie weit er gehen konnte. Bevor sein Netzwerkgate abgestürzt war und den endlosen Fragen und Ermahnungen seiner Kollegen ein Ende gemacht hatte, war er häufig gefragt worden, warum er das von Hand mache und nicht eine Software schreibe, die imstande wäre, die gleichen Verrichtungen ganz exakt auszuführen. Kam die Frage von einem Wissenschaftler oder Techniker, so hatte er sie zumeist ignoriert, doch für die Handwerker, Künstler und Landschaftsdesigner hatte er eine Antwort parat: Warum schreibst du sie nicht? Die Wahrheit war, wenn er diesen kreativen Prozess hätte automatisieren können, hätte er es getan und wäre erneut der reichste Mann des Königinreiches geworden.

Er ertappte sich dabei, dass er leise vor sich hinsang. Eigentlich war es eher ein Murmeln; er war kein guter und auch kein ambitionierter Sänger, doch bisweilen sang er bei der Arbeit trotzdem:

Malgrant ens feia anar a esglésiaera un món petit … i meravellósun món de … guixos de colorsque pintàveu vós …

Ein altes katalanisches Wiegenlied. Der Text war in Vergessenheit geraten, da es an den katalanischen Noten fehlte, die ihnen Leben eingehaucht hätten. Es störte ihn nicht, dass er den Text wahrscheinlich durcheinander brachte, obwohl seine Eltern sich wahrscheinlich im Grab umdrehten. Das aber waren flüchtige Gedanken, die von der Schwere der vor ihm liegenden Aufgabe bald erdrückt wurden.

Ganz allmählich nahm sein Entwurf Gestalt an: eine Art Eimer, ein Fächer, eine Linse. Die Form hatte keinen besonderen Zweck; das galt für die meisten Strukturen des Kollapsiums. Um jedoch die gewünschte Form zu erzielen, musste man stabile Zwischenformen durchlaufen und einen Baustein nach dem anderen hinzufügen, ohne das prekäre Gleichgewicht des Systems zu stören. Häufig bedeutete dies, komplizierte Formen aufzubauen, die bei der Vollendung spontan in einfachere übergingen, so wie Schlüssel und Schloss sich vereinten und einen massiven Riegel hervorspringen ließen. Oder in diesem Falle eine Art Raumzeitbrechstange, die imstande war, Teile des Vakuums abzuhebeln, damit man sehen konnte, was dahinter lag. Zumindest war das sein Ziel!

Bevor das Zusammensetzen auch nur zur Hälfte beendet war, ertönte jedoch ein Alarmsignal. Den Sound hatte er sorgfältig ausgesucht, und er war unüberhörbar, durchdringend. Der Gravitationswellenalarm. Brummend drückte er auf einen leuchtenden gelben Kreis, fuhr die Vergrößerung hoch, beugte sich vor und suchte auf dem Display aufmerksam nach dem Ursprung der Anomalie.

Er fand ihn nicht. Alles war so, wie es sein sollte. Die winzigen Tscherenkow-Stecknadelköpfe hielten alle die Raum- und Schwingungstoleranzen ein. Erneut schrillte der Alarm, lauter als zuvor und noch durchdringender. Bruno fluchte, denn das zukünftige Brecheisen befand sich gerade in einem äußerst heiklen Stadium, und die Kollapsiummatrix wurde von wenig mehr als gutem Willen zusammengehalten. Er fasste die Enden des Gebildes und wollte es stabilisieren, da vibrierten auf einmal die Sensorpads des Schreibtisches. Gleich darauf vibrierten sie erneut, stärker als zuvor. Der Alarm ertönte ein drittes Mal. Es musste sich tatsächlich um eine äußere Störung handeln, denn kurz darauf begann sein Projekt zu schwanken wie Seetang in der Strömung, und die Kollapsone wurden instabil, da sich die Phase der gravitativen Interaktion zwischen den Schwarzen Löchern ständig verschob.

»Verzeihung, Sir«, meldete sich das Haus aus einem schwach leuchtenden Wandlautsprecher. »Ein Raumschiff nähert sich.«

Das Kollapsium entglitt seinen Fingern, faltete sich zu einem origamiartigen Gebilde zusammen und zerknitterte zu einem Spuckestrahl leuchtender Pünktchen.

»Mist«, sagte Bruno. Dann erloschen die Punkte einer nach dem anderen, und in Sekundenschnelle war alles vorbei.

»Voraussichtliche Ankunftszeit in sieben Minuten«, sagte das Haus und stellte auf einem Wandabschnitt den schematischen Annäherungsvektor des Raumschiffs im Verhältnis zum Planeten, zur Sonne und zum Mond dar.

Bruno seufzte. Das neue, viel größere Schwarze Loch, das er soeben erzeugt hatte, war schwer zu detektieren, denn es mangelte ihm an den klar erkennbaren Emissionen eines Kollapsons, doch er fand es intuitiv und lud es mit einem Protonenstrom auf, dann schleuderte er es mit einem empörten Brummen in das andere Lager, die als ›Abfalleimer‹ dienende Hypermasse, die seine Welt in tausend Kilometern Abstand umkreiste. Die Umlaufbahn war unproblematisch, sie würde dem Raumschiff nicht in die Quere kommen. Vielleicht hätte er es so einrichten sollen, dass das Raumschiff daran streifte: ein Schuss vor den Bug, die Aufforderung, sich zu entschuldigen. Aber nein, ein solcher Unfug konnte leicht schief gehen, und das war auch der Grund, weshalb er hier in der Einöde lebte.

Er seufzte erneut und versuchte sich bereits einzureden, dass es auf sieben verlorene Arbeitstage nicht ankäme, dass er jede Menge Zeit habe – unendlich viel Zeit, wenn man’s recht bedachte. Der Geldverlust war schon schwerer zu verschmerzen: zweihundert Neubel buchstäblich zum Fenster rausgeworfen, dazu kamen noch weitere zwanzig, die er vergangene Woche vergeudet hatte, und die acht von letztem Monat und die zwanzig, die er aus irgendwelchen Gründen zwischendurch in den Mülleimer geworfen hatte. Der Mond am Himmel wurde kleiner, immer kleiner, und obwohl er sicherlich genug Geld hatte, Material nachzukaufen, stellte die Anlieferung jedenfalls eine logistische Herausforderung dar. An der letzten Lieferung waren zehntausende Menschen beteiligt gewesen, ganze Firmen hatte er für den Zweck in Beschlag genommen, und die Unternehmung hatte mehr gekostet als der ganze Planet. Eigensüchtige Extravaganz – das Laster der Reichen. Er konnte den nächsten Kauf jedoch nicht ewig hinausschieben.

Fluchend schaltete Bruno mit einer Handbewegung die Boden- und Deckenbeleuchtung ein. In den Wänden erschienen Glasfenster, durch die er die Morgensonne sah. Das Mobiliar verwandelte sich in Holz – in W-Holz, um genau zu sein –, die bunten Bedienungselemente und Displays verschwanden, zurück blieben glatte Oberflächen. Hinter den Schablonenbildern von Teleskopen und Raketenschiffen an den Wänden kamen Wandgemälde zum Vorschein. Der Raum war schlicht – klein, ordentlich und vielleicht ein wenig altmodisch –, genau so, wie nach Brunos Ansicht ein Arbeitszimmer auszusehen hatte.

»Ich entschuldige mich dafür, das Raumschiff nicht eher bemerkt zu haben«, sagte das Haus mit leiser, nachdenklicher Zerknirschung.

»Macht nichts«, grummelte Bruno und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er es ernst meinte. Die letzte Zerstreuung war schon sehr lange her. Er hatte nicht erwartet, dass sich irgendwas tun würde.

»Das Raumschiff nähert sich viel schneller als ein Neutroniumfrachter«, fuhr das Haus fort, als hielte es weitere Erklärungen für angebracht. »Damit habe ich nicht gerechnet und die Detektionsradien zu eng angesetzt. Das Scheitern Ihres Experiments war wahrscheinlich die direkte Folge davon.«

Mit einer Handbewegung öffnete Bruno eine Tür und trat ins Wohnzimmer, ein Durcheinander von Modellen, Essensverpackungen und achtlos weggeworfener Kleidung, und auch das sollte so sein. Jetzt aber nickte er bei dem Anblick, spitzte die Lippen und sagte: »Hör auf, dich zu entschuldigen, und räum lieber auf. Wenn wir Besuch bekommen, müssen wir uns schließlich von unserer besten Seite zeigen. Welche ID hat das Schiff?«

»Nicht verfügbar, Sir. Unser Netzwerkgate ist defekt. Und das seit vier Jahren.«

»Ah, ja.«

Die Robotbediensteten waren weder vollkommen selbstständig noch reine Anhängsel der Haussoftware. Sie verfügten weder über Selbstbewusstsein noch eine starre Programmierung. Geleitet von stummer Intuition tanzten sie wie Träume durch ihre Hausarbeiten. Sie wussten genau, welche Wege sie einschlagen, welche Gelenke sie drehen oder strecken mussten. Ihre Bewegungsökonomie war vollkommen. Sie wussten auch, wohin alles gehörte; der Großteil des Durcheinanders war Faxware und ging ins Fax zurück, um recycelt zu werden, doch einige Gegenstände waren original oder natürlichen Ursprungs oder mit Erinnerungen befrachtet, und jeder hatte seinen Platz im Regal, auf dem Tisch oder im Schlafzimmerschrank nebenan. Wo er gerade daran dachte …

»Schließ ab«, sagte er und zeigte auf die Schlafzimmertür. Sie glitt zu, verschmolz mit der Wand und überzog sich mit ungegenständlichen Wandgemälden.

Er brummte zustimmend, dann fragte er: »Ankunftszeit?«

»In fünf Minuten, zwanzig Sekunden.«

Er brummte erneut, diesmal weniger zustimmend. Das Haus hatte Anweisung, keine Sekundenangaben zu machen – es gab zu viele Sekunden, eine ganze Ewigkeit. Unter diesen Umständen aber blieb ihm wohl nichts anderes übrig.

Besuch.

Besuch! Beunruhigt beschnupperte er seine Kleidung. »Verdammt noch mal, ich stinke bestimmt. Diese Sachen sind wahrscheinlich hässlich. Baden und ankleiden, aber flott! Beeilung!«

Die Robots waren so schnell, als hätten sie mit seinem Befehl gerechnet. Kappe, Weste, Kittel und Hose wurden Bruno ausgezogen und zum Recyceln in die Öffnung des Faxgeräts geworfen. Er entspannte sich, ließ seine Arme anheben und sich drehen. Die Robots mit ihren unendlich sanften ausdruckslosen Gesichtern wären eher gestorben, als ihn zu verletzen oder ihm auch nur die kleinste Unannehmlichkeit zu bereiten, und jeder Widerstand von seiner Seite hätte sie lediglich langsamer und noch sanfter werden lassen. Er ließ sie ihre Arbeit verrichten, und schon wuschen sie ihn mit Schwämmen und feuchten, parfümierten Tüchern. Siebenmal wurde ein Fettmagnet aus W-Stein durch sein Haar geführt, der sich beim achten Durchgang in einen erwärmten Frisurenkamm verwandelte. Das Fax spuckte frische Kleidung aus – passend für den Empfang von Besuchern –, die sich selbstständig glätteten und zuknöpften, während die Robots umherwuselten.

Eine rote Applikation wies er zurück.

»Landet es hier? In der Nähe?«, fragte er.

»Der Kurs lässt eine Landung auf der Wiese vermuten, vierzig Meter im Osten. Sie sollten im Haus bleiben, bis das Manöver abgeschlossen ist.«

»Hm? Ja, klar. Bitte mach das Dach und die Ostwand transparent.«

Folgsam verwandelte sich ein Drittel des Hauses in Glas. Ja, in echtes Glas – W-Stein war wie W-Holz eine Grundform programmierbarer Materie, und falls Gefahr drohte, konnte es sich mühelos in Impervium oder Bunkerit oder einen anderen widerstandsfähigen Superreflektor verwandeln.

»Braves Haus«, murmelte er anerkennend und musterte den jetzt sichtbaren Himmel.

Trotz der Störung, trotz des verlorenen Kollapsiums und der unhöflich schnellen Annäherung des Schiffes konnte Bruno dessen Landung und das Eintreffen der Besucher kaum mehr erwarten. Es war lange her, dass er Gesellschaft gehabt hatte, und das war die Besatzung des Neutroniumfrachters gewesen, die ein wenig frische Luft schnappen wollte, bevor sie das Raumschiff wendete und sich nach Hause faxte.

Einer der Männer, ein vor Dankbarkeit überfließender Neureicher, hatte Bruno ein Geschenk gemacht: eine neubelgroße Diamantkugel, die statt mit Neutronium mit Wasser gefüllt war. In dem Wasser waren Algen, Bakterien und fast mikroskopisch kleine Salzwassergarnelen gewesen, ein ganzes Ökosystem, das bei Lichtzufuhr vielleicht ewig leben konnte. »Für den Fall, dass es Ihnen zu einsam wird, Sir«, hatte der Mann gesagt. Aufgrund der unregelmäßigen Tag-und-Nacht-Zyklen im Haus war das Ökosystem im Regal jedoch binnen Wochen umgekippt. Seine letzte zwischenmenschliche Interaktion. Eine Lektion?

Der Morgenhimmel leuchtete durchs Glas. Bruno bat um ein Fadenkreuz. Das Haus projizierte gehorsam einen tellergroßen grünen Lichtkreis, der sich kaum bewegte und in dessen Zentrum er nichts erkennen konnte. Kurz darauf aber funkelte etwas Gelbweißes in der Mitte auf, von Metall reflektierter Sonnenschein, und eine Minute später machte er im blauweißen Atmosphärendunst tatsächlich einen kleinen Punkt aus. Der Punkt verwandelte sich in ein hoch am Himmel befindliches Spielzeugraumschiff – eine flügellose Metallträne, die über den Rand des grünen Fadenkreuzes hinausquoll –, und schließlich schwoll es mit beunruhigender Schnelligkeit zu einem hausgroßen Flugobjekt an, das die Cirruswolken und die Dunstschicht durchstieß. Die Wolken wichen der funkelnden, polierten Hülle aus, zerknitterten und zerbrachen im Gravitationskrümmungsfeld. Die Triebwerke feuerten, kleine Eruptionen glühend heißen Plasmas, welches das Gras in engen Bullaugenkreisen erst weiß und dann schwarz färbte. Ein Schatten raste vom Horizont heran und warf sich unter das Raumschiff, als der Abstand zum Boden erst auf wenige Meter, dann auf Zentimeter schrumpfte und schließlich null wurde.

Das Aufsetzen war nicht zu spüren. Die Landung wurde erst dann eindeutig bestätigt, als die Steuertriebwerke erloschen, das schimmernde Krümmungsfeld verschwand und das Raumschiff klar und deutlich zu erkennen war. Die Geräusche des Atmosphäreneintritts und der Landung waren nicht lauter gewesen als ein Windrauschen in den Bäumen. Gut gemacht.

Was Bruno jedoch auffiel, war das Wappen auf der funkelnden Raumschiffhülle: eine von zwei Palmen überschattete blau-weiß-grüne Erde mit drei weiteren Planeten im Hintergrund. Darüber schwebte eine Krone aus monokristallinem Diamant.

»Tür«, sagte er, vor einem Regal stehend und auf den Landeplatz hinausblickend. Das Haus schien einen Moment zu zögern, als überlegte es, ob es die Wand an dieser Stelle öffnen oder ihn bitten sollte, ein paar Schritte zur Seite zu treten – natürlich musste es darauf achten, nichts kaputt zu machen. Welche Entscheidung würde ihm die geringsten Unannehmlichkeiten bereiten? Jedenfalls dauerte der Entscheidungsprozess so lange, dass Bruno trotzdem ungehalten wurde.

»Tür!«, fauchte er, als fast zwei Sekunden verstrichen waren. Daraufhin öffnete sich augenblicklich vor ihm die Wand, die Robots eilten umher, um Vasen und Bilderrahmen in Sicherheit zu bringen und einen Beistelltisch aus dem Weg zu räumen. Bruno trat durch die Öffnung in die taufrische, nach Wiese duftende Luft hinaus.

An der Seite des Schiffes befand sich eine mit Nieten besetzte rechteckige Naht. Kein W-Stein, sondern echtes Metall, ein luftdichtes Behältnis, das vor dem Vakuum schützte. Eine Luke. Da drang oben auch schon Licht heraus, und die Luke schwenkte nach unten. Dahinter kam eine teppichbelegte Treppe zum Vorschein. Sie setzte auf dem Boden auf, sodass ein bequemer kleiner Ausstieg entstand.

In der Lukenöffnung standen zwei zierliche Robots, hübsch anzusehen mit ihren Spitzenröckchen, den kaum merklich zur Seite geneigten Federhüten und den Zeremonialhellebarden in den Metallhänden, die aussahen, als wären sie von einer kräftigen Bö oder einem schroffen Befehl aus echten Waffen geformt worden. Mit vollkommen synchronen Bewegungen stiegen sie die Treppe herunter und schritten geradewegs auf Bruno zu. Das Raumschiff hatte noch behutsamer aufgesetzt, als er zunächst gemeint hatte, gesteuert von Wesen, die ebenso viel Wert auf Etikette und Pomp legten wie auf die Beherrschung von Aero- und Astrodynamik.

In zehn Metern Abstand blieben sie stehen, knallten die Metallfersen zusammen und verneigten sich.

»Deklarant-Philander Bruno de Towaji«, sagte der eine – oder vielleicht hatten auch beide gleichzeitig gesprochen. »Wir überbringen Ihnen die Grüße Ihrer Majestät und deren Bitte um eine Audienz. Sie sollen mit uns kommen.«

Es war immer ein wenig seltsam, Robots sprechen zu hören, denn sie taten es so selten und hatten keine Münder. Einem königlichen Dekret zufolge galt es als unschicklich, Maschinen mit Gesichtern, Haar oder Genitalien herzustellen, ausgenommen zum Zwecke der sexuellen Perversion, und die galt ebenfalls als unschicklich und bedurfte keiner weiteren Ermutigung.

»Verzeihung?«, sagte Bruno.

»Sie sollen mit uns kommen«, wiederholten die Robots in flüssigem, förmlichem Ton, wie Uhrwerkballerinen.

»Ah, ja. Dürfte ich auch den Grund erfahren?«

»Es handelt sich um eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit, Deklarant. Weitere Erklärungen sind uns nicht gestattet.«

»Nicht gestattet. Ich verstehe.« Bruno nickte und fragte sich, ob sein Bild wohl aufgezeichnet oder übermittelt wurde, und wenn ja, ob er würdevoll oder weise oder einfach nur einsiedlerisch wirkte, mit zu viel Haar und Bart. »Dann hält Ihre Majestät sich also nicht an Bord auf. Warum hätte sie auch herkommen sollen?«

Ja, warum eigentlich, da sie ihn doch aus der Ferne problemlos herumkommandieren konnte? Von jähem Zorn erfasst, riss er sich die Kappe vom Kopf und schleuderte sie den Robots vor die goldenen Füße. »Hebt sie auf. Überbringt sie ihr. Das ist meine Antwort. Wenn Ihre Majestät eine Audienz wünscht, ist sie herzlich eingeladen, mich hier zu besuchen. Meine Arbeit erlaubt es mir derzeit nicht zu reisen.«

Die Robots überlegten.

»Ihre Majestät besteht auf Ihrem unverzüglichen Erscheinen«, sagten sie nach einer Weile. »Eine grundlose Weigerung wäre nicht nur unhöflich, sondern käme auch sehr ungelegen. Es besteht kein Anlass, grob zu sein.«

»Grob? Davon kann keine Rede sein. Überhaupt nicht. Sagt Ihrer Majestät, es sei mir wie immer eine Freude, ihr in jeder Hinsicht zu Diensten zu sein. Die Aufforderung von Robotboten kann ich jedoch nicht als verpflichtend betrachten. Ihr habt mich bei meiner wichtigen Arbeit gestört, bei einer kostspieligen Arbeit, und das ohne jede Erklärung oder Entschuldigung. Ihre Majestät ist schlecht beraten, sich solcher Werkzeuge zu bedienen, wie ihr es seid, und ich lade sie ein, sich mittels der viel verlässlicheren Methode des unmittelbaren Gesprächs an mich zu wenden. Bedauerlicherweise ist mein Netzwerkgate defekt. Ich fürchte, ihr müsst umkehren und sie persönlich herbringen.«

Er holte Luft und wollte noch mehr sagen, beherrschte sich jedoch. Robots zu quälen war töricht – sie hatten keine Gefühle, die man verletzen konnte, und keine Verpflichtungen, die sie erfüllen mussten. Man konnte sie frustrieren, so wie man einen Tauben frustrierte, wenn man ihn anschrie. Sie registrierten, was vor sich ging, würden aber niemals auf die gewünschte Weise reagieren. Andererseits waren sie wie geschaffen dafür, fehlgeleiteten Zorn auf sich zu lenken. Den Überbringer einer schlechten Nachricht zu töten, war gut und schön, zumal wenn der Bote gar nicht lebendig war und jedes Faxgerät die defekten Teile jederzeit wieder in einen funktionierenden Robot verwandeln konnte. Nicht ›so gut wie neu‹, sondern tatsächlich neu. Deshalb nahm er an, dass ein wenig Sticheln schon in Ordnung ging.

Wortlos drehten sich die Robots um und stiegen die Treppe hoch, die anschließend eingefahren wurde und sich hinter ihnen mit einem Zischen und einem dumpfen Geräusch schloss.

Natürlich würde Bruno sein Verhalten irgendwann Leid tun, einer von vielen Fehlern, die er im Nachhinein bedauerte. Aber es tat ihm gut.

Er wich ein paar Schritte zurück und wartete auf ein Anzeichen des bevorstehenden Starts, um sich dann rechtzeitig im Haus in Sicherheit zu bringen. Doch das Raumschiff stand einfach da, ohne dass sich etwas tat, und nach einer Weile begriff er: Es hatte ein Faxgate an Bord, das über ein Breitband-Netzwerkgate mit dem Innensystem-Kollapsiternetz verbunden war, dem Iskon. Die Robots faxten sich in den Thronsaal Ihrer Majestät zurück, um seine ›Einladung‹ zu überbringen, und da das Schiff keine Anstalten machte zu starten, gingen sie noch immer davon aus, dass sie ihn mitnehmen würden.

Er bekam Herzklopfen. Besonders klug hatte er sich wohl nicht verhalten.

Bruno besaß natürlich ebenfalls ein funktionierendes Faxgerät. Seit vielen Jahren schon versorgte es ihn mit Kleidung und anderen Dingen, die Atom für Atom anhand gespeicherter Muster aufgebaut wurden und fix und fertig aus verschiedenen Öffnungen innerhalb und außerhalb des Hauses zum Vorschein kamen. Das Fax produzierte auch einen Großteil seiner Nahrung und ergänzte das Obst aus seinem anachronistischen Garten.

Das Gate vermochte sogar Menschen zu reproduzieren; auch er hatte diesen alten Taschenspielertrick schon einige Male ausprobiert und hin und wieder einen Nachmittag mit einer perfekten Kopie seiner selbst verbracht. Genau gesagt mit zwei Kopien seiner selbst, denn der ursprüngliche Bruno war beim Leseprozess zerstört worden. Am Ende aber lief es auf das Gleiche hinaus.

Es hieß, man vertrage sich anfangs gut mit seinen Kopien, doch nach einer Weile gingen sie einem auf die Nerven. Bruno hatte sich in seiner eigenen Gesellschaft in höchstem Maße gelangweilt: Was konnte er von sich selbst auch schon Neues erfahren? Er hätte vielleicht eine Kopie von sich damit beauftragen können, neue Dinge in Erfahrung zu bringen, aber er wollte diese Kopie nicht sein, wollte nicht von der Arbeit getrennt werden, die ihm wirklich wichtig war, und einer von ihm hätte diese Rolle natürlich übernehmen müssen. Binnen Stundenfrist verwandelte er die Kopien unweigerlich wieder in das Original, denn ein Bruno de Towaji reichte offenbar völlig aus. Daher auch sein mangelnder Eifer, das defekte Netzwerkgate zu reparieren.

Die aus der Netzwerkabstinenz resultierende Ruhe war wohltuend gewesen. Er sollte sie besser genießen, solange es ging, denn wenn die Robots mit Begleitung zurückkämen oder ihn mit Gewalt durch ihr Gate zerrten, wäre damit Schluss.

Er wollte sich gerade zum Haus zurückbegeben, als sich zu seiner Verblüffung die Luke in der Hülle der Metallträne erneut öffnete, die Treppe ausgefahren wurde und in der Öffnung niemand anderer als Ihre Majestät persönlich erschien. Die Robots folgten ihr in respektvollem Abstand, als sie die Treppe herabschritt.

Während er die Besucherin anstarrte, stellte Bruno rasch ein paar Berechnungen an: Die Erde war ungeachtet der Jahreszeit stets mindestens sieben Lichtstunden entfernt. Daher hätte es vierzehn Stunden dauern müssen, bis die Robots mit Ihrer Majestät im Schlepptau auftauchten. Selbst wenn sie sich aus irgendeinem Grund auf dem Jupiter aufgehalten haben sollte, hätte es mindestens zwölf Stunden gedauert, wahrscheinlich aber erheblich länger, je nachdem, an welcher Position seiner Umlaufbahn sich der Planet gerade befand. Folglich musste sie es so eingerichtet haben, dass ihr Muster zeitgleich mit der Landung eingetroffen war. Hatte sie mit seiner Weigerung gerechnet? Vielleicht hatte sie ihr Ebenbild auch einfach ins Leere gefunkt und die Robots angewiesen, es bei Bedarf aufzufangen und zu materialisieren. Diesen Gedankengängen wohnte eine kaltblütige Logik inne, und daher nahm er an, dass sie zutreffend waren. Quod erat demonstrandum.

Die Treppe des Raumschiffs war mit rotem Teppich belegt, und das Ende stieß weiteren Teppich aus, der sich vor der Königin durch die versengte Wiese ausstreckte, bis er plötzlich innehielt und dann eine niedrige Plattform bildete, ein kleines Marmorpodest, das allmählich sichtbar wurde, als stiege es bei zurückweichender Flut aus dem Meer empor. Ihre Majestät kletterte auf die Plattform, und die Robots, die Zeremonialhellebarden in Habachtstellung, nahmen rechts und links davon Aufstellung. Zeremonialhellebarden, ach was; sie war hier, und weitere Waffen waren keine zu sehen. Die Klingen waren vermutlich imstande, den Planeten in zwei Hälften zu spalten.

Als die Robots das Wort ergriffen, klangen sie hochmütiger als zuvor. »Deklarant-Philander Bruno de Towaji, erweisen Sie Ihrer Majestät Tamra-Tamatra Lutui, der Jungfräulichen Königin Aller Dinge, die Ehre. Sie dürfen niederknien.«

Sie war in die Purpurfarbe gekleidet, die allen anderen verboten war. Auf dem Kopf saß die Diamantenkrone, in der Linken hielt sie das Zepter der Erde, und an den Fingern der Rechten prangten die Ringe des Mars, Jupiter und Saturn. Ihr Haar war schwarz, ihre Haut walnussbraun, und sie schaute finster drein. Sie war wunderschön und schrecklich anzusehen und hatte üble Laune, und ein Wort von ihr reichte aus, ihn zu vernichten.

»Hallo, Tam«, sagte er lahm, dann warf er sich ihr seufzend zu Füßen.

2. KAPITEL

Worin eine dringende Bitte vorgebracht wird

Übrigens war sie eine Galionsfigur. Sie konnte ihn nicht tatsächlich vernichten, ihn töten, sein Muster löschen und seinen Namen von allen Steinen und Säulen entfernen lassen, aber wenn sie wollte, konnte sie ihm das private und berufliche Leben ganz schön sauer machen.

»Sagen Sie nicht ›Hallo‹ zu mir!«, fauchte sie, als er vor ihr niederkniete. »Erheben Sie sich. Treten Sie näher.«

Die Bodenfeuchtigkeit war an den Knien durch den Hosenstoff gedrungen. Geistesabwesend wischte er mit der Hand darüber, dann merkte er, was er da tat, und wischte die Hand für den Fall, dass die Königin sie ihm schütteln wollte, an der Weste ab. Zögerlich breitete er die Arme aus.

»Meine Welt, Majestät. Willkommen.«

Sie nickte würdevoll. »Ja. Ihre Welt.« Dann legte sie den Kopf schief und musterte ihn seltsam. »Geht es Ihnen gut? Oder warum stehen Sie so schief?«

Er blinzelte. »Schief? Ach, das kommt von der Krümmung. Der Planet ist so klein, dass man alle sechs Meter um ein ganzes Bogengrad von der Vertikalen abweicht. Ihr ›Oben‹ unterscheidet sich von meinem. Die Bäume« – er zeigte darauf – »scheinen sich von ihnen wegzuneigen, und das umso mehr, je weiter sie entfernt sind. Sehen Sie, wie schief sie stehen?«

Die Königin von Sol sah zum Horizont und nickte zerstreut. »Das ist mir auch schon aufgefallen. So wie der Boden nach allen Seiten abfällt, komme ich mir vor, als stünde ich auf einer Bergspitze. Ist das dort unten Ihr Haus?«

»Äh … ja«, antwortete Bruno und folgte ihrem Blick mit den Augen. »Aber es liegt nicht ›unten‹: Der Boden ist hier ziemlich eben. Sollen wir reingehen?«

Sie nickte. »Irgendwohin, wo wir uns setzen können. Es gibt viel zu besprechen.«

»Das kann ich mir denken.«

Gefolgt von den adretten Robots geleitete er sie über die Wiese. Ihre purpurfarbenen Röcke pflügten eine Schneise durchs Gras, der Sonnenschein fiel ihr ins rundliche Gesicht. Selbst ihr langer Schatten wirkte eher würdevoll als schmal, eine Königin, wie sie im Buche stand. Bruno konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er versuchte es nicht einmal.

»Es ist weniger weit, als ich dachte«, bemerkte die Königin, als sie sich dem Haus näherten. »Und es ist kleiner. Wohnen Sie schon die ganze Zeit in einer solchen Hütte? Einer solchen Bruchbude?«

Bruno zuckte die Achseln. »Das hat ebenfalls mit der Kleinheit des Planeten zu tun. Wenn das Haus breiter wäre, würde sich die Krümmung des Fußbodens bemerkbar machen. Eine Kugel würde nicht ins Rollen geraten – in gravitativer Hinsicht ist der Boden flach –, aber in der Wohnung verlangt das Auge nach geraden Linien und rechten Winkeln.«

»Wie wär’s, wenn Sie ein Stockwerk draufsetzen würden?«

Er schüttelte den Kopf. »In der oberen Etage wäre die Schwerkraft geringer und der Luftdruck erheblich niedriger. Und zwar um dreißig Prozent. Auf einem so kleinen Planeten ist der Gradient sehr hoch.« Er zeigte zu den schneebedeckten Kuppen der Nordhügel. »Da oben ist die Luft ausgesprochen dünn. Und es ist kalt.«

Sie lächelte. »Auf diesen kleinen Erhebungen?«

»Mein Himalaya. Ich fühle mich hier wirklich ganz wohl, Tamra, außerdem glaube ich, Sie sind nicht deshalb hergekommen, um den Planeten umzumodeln.«

Mit einer Handbewegung ließ er eine Tür erscheinen. Sie öffnete sich, und sie traten hindurch. Das Haus hatte sich in seiner Abwesenheit umgemodelt und rote Läufer ausgerollt. Das Mobiliar war eleganter als gewöhnlich. Mit Diamanten besetzte goldene Kronleuchter hingen von der Decke, die geschmückt war mit Glasmosaiken in Grün-, Blau- und Gelbtönen, die Szenen aus Tonga darstellten, der Heimat Ihrer Majestät.

In Brusthöhe kreisförmig an den Wänden platzierte Lautsprecher intonierten ›Gedankt sei Gott für die Wiederherstellung der Monarchie‹, die inoffizielle und recht populäre Hymne des Königinreiches Sol; die offizielle Hymne war das langweilige ›Gelobt sei Ihre Majestät‹, die so gut wie nie gespielt wurde. Zumindest war sie zu der Zeit kaum gespielt worden, als Brunos Netzwerkgate noch funktioniert hatte. Wahrscheinlich hatte sich nicht nur der Musikgeschmack in der Zwischenzeit geändert, sondern auch die Bekleidungsmode und der Einrichtungsstil. So war das halt mit der Mode: Die selbstverständlichen Dinge wirkten nach einer Weile lächerlich und die lächerlichsten selbstverständlich. Die Unsterblichkeit hatte noch keine Auswirkungen auf die ästhetischen Maßstäbe des Königinreiches gehabt, obwohl sich auch das während seiner Abwesenheit geändert haben mochte.

Es war neunzehn Jahre her, dass er Tamras Hof verlassen, und elf Jahre, dass er der Zivilisation den Rücken gekehrt und das Getriebe der Welt gegen die Stille, den Frieden und die Einsamkeit eingetauscht hatte. Hier draußen war er nicht einzigartig und hatte sich nicht unterzuordnen. Er war einfach nur allein.

Ihm wurde bewusst, dass er etwas sagen und seiner Rolle als Gastgeber gerecht werden sollte. »Äh … irgendwelche Erfrischungen? Etwas zu essen oder zu trinken? Ich habe auch frisches Gemüse aus dem Garten anzubieten.«

Sie rümpfte die Nase. »Sie ziehen noch Gemüse? Danke, nein. Vielleicht ein Glas Wasser. Sollten wir nicht Platz nehmen?«

»Oh. Ja. Verzeihen Sie.« Er deutete auf einen Sessel, der neben einem niedrigen Tisch stand, und wartete, bis sie sich gesetzt hatte, wartete, bis sie ihm mit einem Kopfnicken Platz zu nehmen erlaubte; darauf setzte er sich ihr gegenüber. Ein leise klickender Robot tauchte auf, stellte zwei Gläser mit Eiswasser auf den Tisch und zog sich wieder zurück. »Sie sehen gut aus, Tamra. Wirklich.«

»Sie sehen auch gut aus«, erwiderte sie mit einem Anflug von Verärgerung. »Wie immer.«

Ein Achselzucken. »Jeder sieht gut aus. Aber ich habe mich in Schale geworfen!«

Sie musterte ihn einen Moment lang, dann sagte sie: »Ja. Um ehrlich zu sein, sehen Sie aus, als wollten Sie in einem Melodram auftreten. Das graue Haar ist neu. Aber irgendwie passt es zu Ihnen.«

Ihr Tonfall war zwar scharf, aber nicht unfreundlich. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre überkorrekte Haltung zeugte er von Belustigung, mühsam gebändigtem Zorn und Eile sowie von verletztem Stolz. Schließlich hatte er den Hof ohne ihre Erlaubnis verlassen. Sogar ohne formellen Abschied, denn er hatte gefürchtet, seine Entschlusskraft könnte bröckeln. Es war feige gewesen, respektlos, unhöflich, und was immer sie jetzt hierher geführt hatte … Nun, er hatte sie durch den Reifen springen lassen. Was war so dringend, dass eine Königin einen dermaßen von der Richtigkeit seines Entschlusses überzeugten Exilanten quasi anbettelte?

»Es ist etwas geschehen«, sagte er. »Etwas ganz Schreckliches.«

Sie schüttelte den Kopf, doch ihr Blick wirkte nervös und unsicher. »Schrecklich kann man nicht sagen. Eher lästig. Aber … eines Ihrer Projekte ist schief gegangen. Es wurde niemand verletzt, aber die … Aufräumarbeiten laufen nicht sonderlich gut. Ich habe mir gedacht, Sie könnten uns vielleicht einen Rat geben.«

Bruno war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. »Ich bin Experte für das Kollapsium, Hoheit. Industrieunfälle gehören nicht zu meinem …« Er stockte. »Oh, ich verstehe. Es handelt sich tatsächlich um einen Unfall mit Kollapsium.«

Sie nickte und spitzte die Lippen. Bruno war einen Moment lang wie gelähmt von ihrer Schönheit und konnte nicht mehr denken, geschweige denn sprechen. Es hieß, das menschliche Gehirn sei vorprogrammiert für die Monarchie, für die Hierarchie, für die Überhöhung und Bewunderung einzelner Menschen, und die Erkenntnis, dass es sich tatsächlich so verhielt, legte sich auf einmal wie ein schweres Kissen auf Bruno. Tamra Lutuis Erscheinung – das lange, schwarze Haar, die Neigung des Kopfes, die sanften Rundungen ihrer Hüften, ihrer Schenkel und ihres Busens – reichte als Erklärung jedenfalls bei weitem nicht aus. Er war sich bewusst, dass ihr Schmollmund allein ihm keine solch jungenhafte, zitternde Ehrfurcht hätte einflößen sollen. Aber sie war eine Königin, und das stand auf einem ganz anderen Blatt.

Ihre Majestät, die seine Reaktion, seine Sozialallergie, sehr wohl kannte, wartete höflich darauf, dass sein Anfall vorüberging.

»Ja«, sagte sie schließlich. »Ein Unfall mit Kollapsium. Sie sollten stolz auf uns sein, Bruno; wir haben endlich etwas Großes in Angriff genommen. Offenbar war es zu groß für uns.«

Bruno schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ehrgeiz schließt notwendigerweise auch die Bereitschaft zum Scheitern mit ein, Tam. Sonst ist es kein Wagnis. Sie dürfen Ihre Fehler nicht bereuen.«

»Diesen schon, Deklarant«, erwiderte sie kühl. »Es besteht kaum noch Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Manche Fehler sind unentschuldbar.« Sie musterte ihn mit mildem Vorwurf: Empfand er niemals Bedauern?

»Das mag sein«, sagte er und zeigte zum Eingeständnis seines Nachgebens die Handflächen vor, um nicht eine Erklärung oder Entschuldigung vorbringen zu müssen. Für sein Verhalten hatte er gute Gründe. Oder etwa nicht? »Äh … vielleicht sollten Sie mir berichten, was geschehen ist. Mit dem Kollapsium, meine ich.«

Ihre Majestät klopfte mit dem Fingerknöchel auf den Tisch. »Ein Zeichenfeld, bitte.« Die Tischplatte verdunkelte sich folgsam, und wo sie mit dem Finger darüberstrich, erschienen bunte Linien, Punkte und Kreise. »Das ist die Sonne, ja? Ich kann nicht gut zeichnen, aber das sollen die Umlaufbahnen von Venus, Erde und Mars sein.«

Für eine flüchtige Skizze war die Darstellung bemerkenswert akkurat.

»Sol ist groß, und wenn zwei Planeten mit der Sonne in der Mitte aufgereiht sind – wenn sie mit ihr in Opposition stehen, so sagt man doch? –, dann müssen die Netzwerksignale mittels Satellit um sie herum geleitet werden. Je größer die Entfernung, desto größer auch die Zeitverzögerung, außerdem bringt das alles Kosten mit sich.«

»Ja«, sagte Bruno verständnisvoll. Er hatte die Grundlagen für das Kollapsiter-Netz – das Netzwerkbandbreiten älteren Datums um sechs Größenordnungen übertraf – selbst gelegt und wusste über die Funktionsweise des Systems recht gut Bescheid.

Tamras zornige Miene hatte sich ein wenig gemildert. Im Casimir-Supervakuum des Kollapsium-Netzes war die Lichtgeschwindigkeit wesentlich höher als in den halb vollen Energiezuständen des Normraums. Ein Kollapsiumring rund um die Sonne konnte auf der einen Seite Signale aufnehmen, sie an der anderen Seite wieder abgeben und so nicht nur die Zeit für den Umweg sparen, sondern auch die Zeit für den Durchgang reduzieren. Wie bei einer Schnellstraßenumleitung, auf der das Tempolimit eine Billion Mal höher lag als auf den verstopften Straßen des Stadtzentrums. Warum sollte man schleichen, wenn man im Handumdrehen die ganze Strecke durchrasen und dabei Lichtminuten der Reise sparen konnte? »Sehr elegant, sehr eindrucksvoll. Und vermutlich unglaublich kostspielig.«

Tamra zuckte die Achseln. »Die für die Kosten zuständigen Damen glauben, die Investitionen würden sich aufgrund der erhöhten Effizienz schon in hundert Jahren bezahlt machen. Eigentlich ist das nur das erste Teilstück eines neuen Netzwerks, das die Komponiere planen: ein Spinnennetz von Kollapsiumfäden, die sich bis in die abgelegensten Winkel des Königinreiches erstrecken.«

Diese Metapher war Brunos Ansicht nach schon allzu häufig bemüht worden. Es würde nur wenige Stunden dauern, bis das ›Spinnennetz‹ reißen und die Speichen des Rades auf verschiedenen Bahnen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Sonne umkreisen würden. Es sei denn …

»Allmächtiger. Dieser Ring. Ist er stationär?«

Tamra ruckte mit dem Kopf; offenbar hatte sie ihn nicht verstanden.

»Ist er stationär?«, unternahm er einen neuen Anlauf. »Kreist er um die Sonne, oder verharrt er aus irgendeinem Grund an Ort und Stelle?«

»Oh«, sagte sie und nickte. »Ja, er ist statisch. Man hat mir gesagt, das müsse so sein, damit er richtig funktioniert. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie sich an Deklarant Sykes’ Leute wenden.«

Bruno überlegte. Ein statischer Ring rund um die Sonne? Die Mutter aller Kollapsiter, nicht um die Sonne kreisend, sondern wie eine filigrane Hängebrücke darüber aufgehängt? Undenkbar! Das Leben im Königinreich hatte sich während seiner Abwesenheit zweifellos verändert. Auf einmal lagen ihm zahllose Fragen auf der Zunge.

»Wodurch wird der Ring in Position gehalten? Du meine Güte, was hält ihn zusammen? Dabei entstehen stehende Wellen mit dem Vielfachen der Gravitationsfrequenz. Außerhalb des Rings macht das nichts, aber es ist mir ein Rätsel, wie die Phasen im Innern zusammenpassen sollen. Die dabei entstehenden Scherkräfte müssten das Kollapsium eigentlich auseinander reißen …«

Er hielt inne; im Gesicht Ihrer Majestät zeigte sich lediglich höfliches Nichtbegreifen. Sol konnte sich glücklich schätzen, eine so aufgeweckte, scharfsinnige Königin zu haben, doch sie verstand sich eher auf seichtere Zeitvertreibe und war im Laufe der Zeit zu einer Art glorifiziertem Videostar geworden.

»Verzeihen Sie«, sagte er und neigte den Kopf, sodass sie die ergrauten Haarwurzeln auf seinem Schädel sehen konnte. »Ich werde mich bemühen, Sie nicht mehr zu unterbrechen. Welches Problem hat Sie hergeführt? Ausgerechnet zu mir?«

Die Königin runzelte die Stirn, wobei sich die Sorgenfalten in ihrem Gesicht vertieften. »Bruno, Sie müssen mich zurückbegleiten. Es ist mir wirklich ernst. Faxen Sie sich ins System, schauen Sie sich alles an und sagen Sie uns, was wir tun sollen. Wenn es nicht so wichtig wäre, hätte ich mich nicht den weiten Weg herbemüht.«

»Versteift sich der Ring?«, sagte er aufs Geratewohl.

Sie schüttelte den Kopf. »Sämtliche Analysen ergeben, dass die Konstruktion tadellos ist. Selbst die Umweltschützer räumen ein, dass er selbst im derzeitigen Zustand, da erst ein Drittel vollendet ist und von elektromagnetischen Greiferstationen fixiert wird, stabil genug ist.«

»Hm. Wo liegt dann das Problem?«

Ihre Majestät seufzte und erweckte den Eindruck, sie werde aufgrund einer Unpässlichkeit jeden Moment anfangen, auf dem Sessel umherzurutschen. »Vergangenen Monat hatten wir eine schwere Sonneneruption. Der Kollapsiter wurde genau in der Mitte getroffen, und die Hälfte der Greifer, die ihn fixierten, wurden verbrannt. Wir schaffen bereits neue heran, aber …«

»In der Zwischenzeit ist die Struktur instabil geworden«, sagte Bruno.

Sie nickte, hob das Glas und trank in tiefen Zügen, als wäre etwas Stärkeres als Eiswasser darin, das ihre Nerven beruhigte. Ein solches Verhalten hatte Bruno bei ihr – oder bei sich selbst – schon lange nicht mehr beobachtet. Als sie getrunken hatte, umklammerte sie weiterhin das Glas und hielt es sich an die Lippen, bis Bruno klar wurde, dass dies ein Vorwand war, um nicht fortfahren zu müssen. Als er eine Weile gewartet hatte, nahm sie einen weiteren Schluck, dann noch einen, bis das Schweigen allmählich peinlich wurde und Bruno sich gezwungen sah, selbst das Wort zu ergreifen.

Ein derart unbeholfenes Verhalten sah ihr ganz und gar nicht ähnlich; ein weiterer Hinweis auf ihre ganz und gar unköniginnenhafte Anspannung.

»Er beschleunigt«, schlug er vor. »Die Kraft der Greifer reicht nicht aus, ihn schnell genug zu stabilisieren.«

Sie nickte.

»Wenn ein Fels in Hanglage ins Rollen gerät«, bemühte er eine Analogie, von der vermutete, dass sie ihr gefiel, »kann man ihn durch einen gut platzierten Kiesel aufhalten. Wird man jedoch zu spät tätig, ist mehr dazu nötig, nämlich ein großer Stein oder ein eiserner Bremsklotz. Und wenn der Fels auch den überrollt …«

Sie setzte das Glas ab. »Im Wesentlichen trifft das zu. Je mehr der Ring sich zusammenzieht, desto stärker wird die Anziehungskraft der Sonne. Wir kommen mit dem Bau neuer Greifer nicht mehr nach. Man hat mir gesagt, uns blieben noch sechs Monate.«

Jetzt runzelte Bruno die Stirn. »Sechs Monate, was soll das heißen? Bis der Ringkollapsiter in die Sonne stürzt?«

Tamra nickte erneut.

Bruno wurde bleich. »Großer Gott. Großer Gott. Das wäre tatsächlich ein Unfall!«

»Sie werden uns helfen«, sagte Tamra. Es war kein Befehl; ihr Tonfall hielt die Schwebe zwischen Diktum und Bitte. Als hätte er das Recht, sich ihr zu verweigern. Als wäre er überhaupt imstande, sich zu verweigern, denn wie hätte er sonst von ihrem Hof fortgehen können?

Er betrachtete ihre kupferfarbenen Augen, ihre mandelfarbene Haut, ihr elegantes purpurfarbenes Kleid, das in der Taille mit einer von Diamanten strotzenden Goldkette gerafft war. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie dasselbe Kleid trug, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Auch ihre Frisur und ihr Make-up waren genau wie damals. War das Absicht, ein durchsichtiger Versuch, ihn zu beeinflussen? Er fand die Vorstellung beunruhigend.

»Glasdecke«, sagte er zum Haus. Licht strömte herein. Er blickte blinzelnd nach links und hob den Zeigefinger. »Meine Sonne wärmt exakt einen Untertan, Tamra. Ihre wärmt Milliarden. Selbst wenn es möglich sein sollte, dass irgendjemand im weiteren Umkreis einen Sonnenkollaps überleben könnte, was ich sehr bezweifle, so ist die Vorstellung, dass es keine Sol und folglich auch kein Königinreich mehr gibt … Tamra, glauben Sie wirklich, ich könnte mich weigern? Wir haben uns gestritten, gewiss, aber halten Sie wirklich so wenig von mir? Warum sind Sie hergekommen? Ihre Robots hätten mich mit Gewalt zu Ihnen schleppen sollen.«

»Das hätten sie beinahe auch getan«, sagte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. »Aber nein, ich habe nicht geglaubt, dass Sie sich weigern würden. Aber Ihnen gefällt es, sich schwierig zu geben. Ich fürchte, an Bruno de Towaji muss man auf ganz spezielle Weise herantreten. Selbst dann, wenn man die Königin der ganzen Menschheit ist.«

Er bemühte sich, möglichst finster dreinzuschauen. »Ich stehe Ihnen zu Diensten, Tamra. Wie immer. Führen Sie mich zu Ihrem Faxgerät und hören Sie auf, sich Sorgen zu machen. Wir brechen auf der Stelle auf!«

3. KAPITEL

Worin ein eindrucksvolles Gebilde in Augenschein genommen wird

Sie traten durchs Faxgate des Schiffes auf eine Arbeitsplattform hinaus: eine flache, überkuppelte Platte aus Di-ummanteltem Neutronium, die groß genug war, um darauf Volleyball zu spielen.

Bruno stockte der Atem. »Allmächtiger«, sagte er.

»Ja«, sagte ungerührt Ihre Majestät.

Diamant – die kristalline Form des Kohlenstoffs – verdankt seine Schönheit dem hohen Brechungsindex, der das Licht in seine Komponenten aufspaltet. Der Stein selbst ist durchsichtig, doch das einfallende Licht wird – sozusagen gegen seinen Willen – verlangsamt, gebeugt und reflektiert, als träfe es auf Spiegel. Beim Auftreffen auf einen Diamanten werden die roten, gelben und grünen Komponenten eines Lichtstrahls auf verschiedene Bahnen abgelenkt, was man gemeinhin als ›Funkeln‹ bezeichnet.

Ummantelt der Diamant einen Kern aus entarteter Materie, wird die Wirkung aufgrund der Compton-Streuung der Photonen an der Neutronenoberfläche noch verstärkt. Die Standardbeschreibung, wonach das Neutronium wie ein weißer Nebel im Innern eines Edelsteins aussehe, liegt vollkommen daneben: Es gibt nichts Vergleichbares, denn es ähnelt eher einem verfestigten Traum von einem Nebel. Dabei war es ausgesprochen massiv. Doch das galt nur für den Boden unter Brunos und Tamras Füßen. Über ihren Köpfen hingegen …

Selbst Di-ummanteltes Neutronium wirkt neben dem betörend schönen Licht des Kollapsiums, in dem ein zerlegter Lichtstrahl Tage oder Wochen oder gar bis in alle Ewigkeit kreisen kann, so stumpf wie geschnittenes Glas. Während die Lichtgeschwindigkeit bereits in der Luft beziehungsweise im ›Vakuum‹ des leeren Raums höher ist als im Innern von Diamant, so ist sie im Casimir-Supervakuum der Kollapsiummatrix um eine Milliarde Mal gesteigert. Das TscherenkowBlau ist die Strahlung, die von schnellen Partikeln abgegeben wird, wenn sie in ein dichteres Medium eindringen und vorübergehend dessen Lichtgeschwindigkeit übertreffen, und eben dieses überirdische Licht ist charakteristisch für das Kollapsium.

Also stell dir einen Kollapsiumbogen vor, der den Himmel ausfüllt. Stell dir ein Universum von Sternen vor, das sich über dir in die Unendlichkeit erstreckt, winzige Lichtpünktchen, deren Licht durch das Kollapsium fällt und es umhüllt. Stell dir Sol zu deinen Füßen vor, ein riesiger Feuerball, der teilweise verdeckt wird von einer Scheibe aus Di-Verkleidung, die bis auf das im Kollapsiumbogen über deinem Kopf kreisende Licht unsichtbar ist.

Wie Chormusik, die durch die Weite des Himmels schallt, sollte Bruno de Towaji später schreiben, eine Formulierung, die zehntausende Jahre lang aus dem Zusammenhang gerissen zitiert werden würde. Der Rest des Zitates lautete: Es war großartig, gewaltig, eine Absurdität beispiellosen Ausmaßes und Umfangs. Ein Blick in den Himmel, das ja, aber so wie wir ihn uns träumen, Strandaffen, die sich für Glitzerkram begeistern. Wenn wir Gott beeindrucken wollen, so würde ein Berg schmutziger Socken vermutlich den gleichen Zweck erfüllen.

Es war schon bemerkenswert, dass selbst Bruno de Towaji den Ringkollapsiter weniger als Meisterwerk der Ingenieurskunst auffasste, denn als ein Kunstwerk. »Erstaunlich«, sagte er.

»Ja«, konnte Ihre Majestät ihm nur beipflichten. Ihre beiden Robots kamen zum Vorschein und nahmen beiderseits des Gates Aufstellung.

Dann kam ein Mann – kurzhaarig, klein von Statur, frisch rasiert und gut gekleidet –, den die Robots nur kurz in Augenschein nahmen. Offenbar kannten sie ihn, und sein Verhalten legte nahe, dass er an die sanfte, aber strenge Robotuntersuchung ebenso gewöhnt war wie an die sanfte, aber strenge Gesellschaft der Königin. Er wirkte respektvoll, aber weder ehrfürchtig noch eingeschüchtert, und das hielt Bruno ihm augenblicklich zugute, denn in seinem Blick nahm er kühle, sozusagen mathematische Unvoreingenommenheit wahr.

Bruno war den Umgang mit anderen Menschen nicht mehr gewohnt, und wir dürfen vermuten, dass er dem ersten Eindruck wenig Wert beimaß und sich eine gründlichere Einschätzung vorbehielt.

»Majestät«, sagte der Mann, nahm den Hut ab und verneigte sich so tief, dass seine Hände fast die Oberfläche der Plattform streiften.

»Marlon«, sagte die Königin mit einer leichten Neigung des Kopfes. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich nehme an, Sie haben Ihr Muster bereits vorzeitig hochgeladen?«

Der Mann verneigte sich erneut, diesmal weniger tief, dann lächelte er höflich. »Ich habe dort, wo sie sich mal als nützlich erweisen könnten, Kopien meiner selbst gespeichert, Majestät. Diese hier ist nur wenige Tage alt, aber wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen selbstverständlich eine neuere.«

Tamra schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig.« Zu Bruno sagte sie: »Marlon Sykes ist der Vater des Ring-Kollapsiter-Projekts. Ohne seine langwierigen und hartnäckigen Bemühungen wäre es dazu …« – sie zeigte zum Kollapsiumbogen hoch – »nicht gekommen.«

Meinte sie das Gebilde oder den Unfall? Lag ein Vorwurf in ihrem Ton? Bruno war sich nicht sicher, konnte aber nicht erkennen, welche Stimmung sich hinter der Maske der Gelassenheit verbarg. Die versteckte Andeutung aber war ziemlich eindeutig: Marlon Sykes hatte sie davon überzeugt, dass das Ringprojekt sicher sei. Und er hatte sich geirrt. Es war so leicht, Fehler zu machen.

»Dr. Sykes«, sagte er und verneigte sich seinerseits.

Der Mann lächelte freundlich. »Deklarant Sykes, um genau zu sein. Freut mich, Sie wiederzusehen, Sir.«

»Bruno«, scherzte Tamra, »Sie kennen Marlon von Ihrer Zeit bei Hofe her.« Der warnende Unterton war jetzt unüberhörbar; sie war verlegen, und Bruno war schuld daran.

Zunächst hatte er Mühe, den Namen und das Gesicht einzuordnen. Es hatte da tatsächlich einen Marlon Sowieso gegeben, doch das war ein Erster Philander gewesen, eher ein Nachbild als ein realer Höfling. Ein ehemaliger Geliebter der Königin, angeblich ein begabter Materieprogrammierer … Marlon Sykes, ja, genau. Bei den Göttern des Gedächtnisses, waren die Erinnerungen an die Einzelheiten seines Lebens wirklich so schnell verblasst?

»Deklarant Sykes«, wiederholte Bruno, verneigte sich noch tiefer als zuvor und schlug, wie er hoffte, einen zerknirschten Ton an. »Deklarant-Philander Sykes, ja, natürlich! Ich habe längere Zeit sehr abgeschieden gelebt, Sir, aber der Lapsus ist … äh …« – er sah Tamra an und nickte – »unentschuldbar.«

»Keine Ursache«, sagte Marlon lächelnd und winkte ab. »Das ist Jahre her, und so eng war die Bekanntschaft nicht. Dieser Ihr Bewunderer ist froh, dass man sich seiner überhaupt erinnert.«

»Hm«, machte Bruno skeptisch. »Tja, denn.«

Eigentlich hätte er verlegen sein sollen. Stattdessen verspürte er nur leichte Gewissenbisse; dass er sich an Marlon Sykes nicht erinnerte, war nicht verwunderlich und nicht seine Schuld. Es waren einfach so viele Leute dagewesen. Seine Kindheit hatte er unter toleranten Erwachsenen verlebt. Und an der Universität hatte er Menschen getroffen, die ähnlich dachten wie er und ihn davon überzeugten, dass seine Gleichgültigkeit gegenüber der Etikette eher ein Minderheitenstandpunkt als ein geistiger Defekt sei, die Folge davon, dass er als Waise aufgewachsen sei oder sein Gehirn umstrukturiert habe, um Platz zu schaffen für Gartengestaltung und Mathematik. Infolgedessen hatte er mehrere Jahre des Studiums als Mitglied einer Art privater Widerstandsbewegung verbracht, an Selbstsicherheit gewonnen und sich das freimütige Gebaren zugelegt, das alle zu respektieren und zu bewundern behaupteten.

Es war die ohne Einschränkung schlimmste Zeit seines Lebens gewesen; das Phantom, das Etikette genannt wurde, war kein Klacks, sondern vielmehr eine Art genetisch codierte Hackordnung. Selbst er mochte keine taktlosen Tölpel, auch wenn er eine Zeit lang Umgang mit ihnen gehabt hatte. Deshalb hatte er beschlossen, die absurd subtilen, aber im gesellschaftlichen Miteinander unerlässlichen Reaktionen als eine Art Sprache zu betrachten, und mit einer geringeren Kraftanstrengung, als er später auf das Erlernen des schlechten Tonga verwandte, hatte er damit begonnen, sich das grundlegende Vokabular mitsamt der dazugehörigen Grammatik einzuprägen.

Die ganze Mühe hatte allenfalls zu einem Teilerfolg geführt, ihm aber jedenfalls ein Fundament verschafft, auf dem er aufbauen konnte. Die Alkoholrezepte seines Vaters hatten ihm sowohl Mut als auch eine Art unbewusster Gelassenheit verliehen, die sich als wahrhaft hilfreich erwiesen, zumal andere Leute ebenfalls tranken. Was waren sie doch für glückliche Trinker gewesen! Seine Fähigkeit beim Darts- und Shuffleboardspiel hatten sich ebenfalls als nützlich erwiesen.

Gelegentlich hatte er auch Anfälle von geistiger Zerstreutheit gehabt, doch die waren zumindest teilweise darauf zurückzuführen