Der Schwanenprinz - Lina Sobolewski - E-Book

Der Schwanenprinz E-Book

Lina Sobolewski

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Beschreibung

"Was soll ich tun, wenn ich nicht so bin, wie Andere mich haben wollen?" Kronprinz Ludwig von Bayern war schon als Kind nicht der zukünftige König, den sich seine Eltern und die ganze Gesellschaft ausgemalt hatten. Er geht als Jugendlicher nicht gern jagen, dafür findet er die Natur viel zu schön. Auf stundenlangen Spaziergängen beobachtet er die Tiere, anstatt sie zu erschießen. Sein größter Traum ist es nicht, einmal ein Land zu erobern- er will ins Theater gehen und die Musik von Richard Wagner hören, sehnt sich nach einem Leben wie im Märchen, nach Frieden und einem guten Ende. Doch auch, wenn er lieben Künstler wäre: Ludwig soll König werden, ein echter Mann und ein starker Herrscher, und sein Vater Maximilian schreckt nicht davor zurück, Ludwig eindeutig zu sagen, dass er seinen Erwartungen nicht entspricht. Als Ludwig sich dann auch noch verliebt, taucht eine weitere Frage in ihm auf: Ist es so schlimm, einen Mann zu lieben?

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Inhalt

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

10.Kapitel

11.Kapitel

12.Kapitel

13.Kapitel

Epilog

1.KAPITEL

EIN LEBEN IM SCHATTEN

„29. SEPTEMBER 1845, SCHLOSS NYMPHENBURG”

„Eure königliche Hoheit, es ist angerichtet.“ Kronprinz Maximilian von Bayern nickte der Bediensteten nur kurz abwesend zu und vertiefte sich dann wieder in seine Aufzeichnungen. Er hörte die Worte zwar, aber wirklich wahrgenommen hatte er sie nicht. Er hatte auch gar keinen Hunger. Das war eigentlich ungewöhnlich für ihn. Heute war wieder einer dieser Tage, heute ließen ihn seine Gedanken für keine Sekunde in Ruhe. Er hatte den ganzen Nachmittag lang schon alles versucht, um den ständigen Kreislauf in seinem Kopf zu stoppen, er hatte Tagebuch geschrieben, Akten sortiert, sich rasiert und war an die frische Luft gegangen, aber nichts führte zum Erfolg, zu der inneren Ruhe, nach der er sich so sehr sehnte. Das einzige Ergebnis seiner Bemühungen war ein unglaubliches Chaos auf Max’ Schreibtisch. Bei dem Versuch, dieses wieder in Ordnung zu bringen, war er auf einen alten Ordner gestoßen. Erst hatte er ihn zur Seite gelegt, doch dann, aus reiner Neugier heraus, doch geöffnet. Dass er das lieber hätte lassen sollen, zeigte ihm das Chaos, das sich jetzt von seinem Schreibtisch gleichermaßen auf seinen Kopf und sein Herz ausgeweitet hatte. In dem Ordner war etwas gewesen, das er verloren gedacht hatte. Irgendwo zwischen all den Akten verschwunden, bedauerlich- aber vielleicht besser so. Denn die Realität brach die Versprechen, die auf dem alten Papier standen. Die so oft beteuerte Liebe hatte sich in Ignoranz und Abneigung gewandelt, die poetisch beschriebene Vorfreude zu Frust und Enttäuschung, die ihm seine Frau jeden Tag aufs Neue offen zeigte. Nichts war mehr übrig von der jugendlichen Verliebtheit, die sie in ihren ersten Briefen an Max beteuert hatte. Sie, die nun seine Ehefrau war. Sie- Marie, die bildhübsche Prinzessin.

Von den so liebevoll geschriebenen Zeilen hatte Max sich sofort gedanklich in das Jahr 1841 zurückversetzen lassen. Nur, um die Leichtigkeit dieser Monate noch einmal zu erleben. Nur kurz, für ein paar Sekunden. Und plötzlich war er wieder drei Jahre jünger und frisch verliebt gewesen. Max konnte sich noch allzu gut an dieses Gefühl erinnern und wollte sich daran für den Rest seines Lebens festklammern, wie an einem Tau, das ihn über dem dunklen Abgrund der Realität hielt.

Als er die damalige preußische Prinzessin Friederike Franziska Auguste Marie Hedwig, wie Marie mit vollem Namen hieß, zum ersten Mal gesehen hatte, mit ihren langen, braunen Haaren und den wachen Augen, war es sofort um ihn geschehen gewesen. Dabei hatte Maximilian nach dem vorangegangenen, misslungenen diplomatischen Verkupplungsversuch mit einer Zarentochter niemals daran gedacht, zu heiraten. Außerdem hatte er sich mit 30 Jahren bereits viel zu alt gefühlt, um sich richtig zu verlieben. Der Druck von allen Seiten war zwar mit jedem seiner Lebensjahre als Junggeselle gewachsen, und immer wieder hatte Max’ Vater, König Ludwig I, versucht, seinen Sohn zum Heiraten zu bewegen, aber Maximilian hatte sich still und heimlich schon damit abgefunden, allein zu bleiben-Thronfolge hin oder her. Aber dann hatte er sein Mariechen zum ersten Mal gesehen. Eine lebensfrohe, jugendliche- vielleicht, weil sie damals erst 16 gewesen war- und unglaubliche schöne Frau. Sofort hatte er um ihre Hand angehalten. Und welche Eltern hätten zu dem Antrag eines Kronprinzen schon „Nein“ gesagt?

Max hatte nicht erwartet, dass seine Liebe von dem Mädchen selbst erwidert werden würde. Er war nicht sonderlich attraktiv, wortgewandt oder stark. Und doch schien es anfangs, als wäre Marie ihm gegenüber nicht abgeneigt. Es war alles perfekt gewesen, die zwei Familien beglückwünschten Max und Marie immer wieder zur Verlobung, denn die Verbindung war für beide Seiten äußerst sinnvoll. Die bayrische Königsfamilie und die preußische Hohenzollern-Dynastie gehörten zu den angesehensten Familien Europas. Marie brachte alle Qualitäten einer guten Ehefrau, Königin und Mutter des zukünftigen Thronfolgers mit. Sie war schön, gebildet und gesund. Max hatte sein Glück kaum fassen können. Selbst sein Vater war einmal mit Maximilian, den er sonst gern als Enttäuschung bezeichnete, zufrieden gewesen.

Und Max hatte sich wirklich angestrengt, das Herz von Marie langfristig zu gewinnen. Der sonst künstlerisch eher weniger Interessierte Kronprinz hatte Marie unzählige Liebesgedichte und Briefe geschrieben, und heiraten wollte er so bald, wie nur irgend möglich.

Die Hochzeit wurde für den Januar 1842 geplant. Aber nur kurze Zeit vor dem Termin erkrankte die Braut schwer, an Masern, und eine Verschiebung bis zur Genesung war unerlässlich. Sobald Marie wieder genesen war, kam das nächste Hindernis auf das junge Paar zu: Marie musste vor ihrer Hochzeit konfirmiert werden, diese Zeremonie ging vor. Maries Familie gehörte dem evangelischen Glauben an, bei der Konfirmation seiner Verlobten wohnte der katholische Max zum ersten Mal einem evangelischen Gottesdienst bei. Ein königliches Paar, das bei der Trauung nicht den gleichen Glauben hatte, war alles andere als konventionell. Max hatte sich bei der Verlobung keine Gedanken darüber gemacht, denn für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass seine Braut für ihn konvertieren würde. So sah es die Tradition schließlich vor. Dann wäre auch keine Konfirmation nötig gewesen und er hätte sie früher heiraten können. Doch Marie hatte wohl nicht einmal daran gedacht. Hier hatte Max erstmals ihre starrköpfige Seite kennengelernt, über die er sich heutzutage so oft ärgerte. Und es war noch schlimmer gekommen: Sie hatte sich schlichtweg geweigert, in einer katholische Trauung verheiratet zu werden. Und natürlich hatte Max nachgegeben. Ein Muster, das sich seitdem durch ihre Ehe zog. Diesen ersten Kompromiss bereute er noch immer, aber er hatte seine Marie doch so schnell wie möglich heiraten wollen und dabei auch in Kauf genommen, dies in einer evangelische Prokurativtrauung zu tun. Max war also aus Respekt vor seinem Glauben bei der eigenen Hochzeit nicht anwesend gewesen und hatte sich durch Prinz Wilhelm von Preußen vertreten lassen. Keine Spur von Romantik.

Nach diesen Startschwierigkeiten allerdings hatte wieder Harmonie im Leben des bayrischen Kronprinzen einkehren sollen und die Hoffnung, mit Marie die Richtige Frau, eine treue, lebenslustige Weggefährtin gefunden zu haben, war noch für einige Zeit am Leben geblieben, denn Max‘ frisch angetraute Braut hatte sehr zufrieden in Bayern gewirkt.

Schnell war sie zum Liebling des Volkes geworden, hatte gelernt, die Natur in den Bergen zu lieben und auf Empfängen stets wunderschön gelächelt.

Mit der Zeit kam in Max immer wieder die Frage auf, ob ihre Liebe zu der Landschaft größer war, als die zu ihm.

Marie war in jeder freien Sekunde wandern gegangen, das tat sie auch jetzt noch, sie vermeid Zweisamkeit mit ihrem Ehemann um jeden Preis und wenn sie dann doch allein waren, schwieg sie und machte keinen Hehl daraus, dass sie sich unwohl fühlte.

Andererseits hatte sie durchaus gute Ideen, wenn Max sie um Rat bat und sprach am gemeinsamen Familientisch mit unvergleichlichem Charme und königlicher Würde. Dann drängte sie Max fast in den Hintergrund. Angesprochen hätte er das natürlich niemals, denn ein Mann ließ sich doch nicht von seiner Frau ausboten!

Aber wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Ehepaar gab, dann setzte sich immer Marie durch, und Max, schnell müde von den ständigen Diskussionen, folgte ihrem Temperament bald nur noch. Über die Jahre verstand er das Sprichwort „Aussehen ist nicht Alles“ ganz genau.

Doch Alle waren zufrieden mit seiner Auswahl. Besonders sein Vater. Ludwig hatte ihm, obwohl auch er von Maries Durchsetzungskraft gehört hatte, immer gesagt: „Die Marie wird dir wunderschöne und gesunde Kinder bringen.“ Und dann hatte er noch spöttisch hinzugefügt: „Ein Mann wie du braucht eine Frau wie sie, sonst triffst du gar keine Entscheidungen mehr!“ Natürlich. Alles diente nur dem Zweck. Und besonders der gesicherten Thronfolge. Das war doch der Grund, weshalb sein Vater so sehr darauf bestanden hatte, dass Max in jungen Jahren heiraten würde. Das Gefühl, eine Spielfigur auf dem Schachbrett seines Vaters zu sein, sollte sich durch Max‘ ganzes Leben ziehen.

Kinder mussten her. Eine riesige persönliche Veränderung, und doch nur eine weitere Aufgabe, die erfüllt werden musste. Trotzdem hatte Maximilian noch immer die Hoffnung gehabt, dass Kinder das schnell abgekühlte Verhältnis zwischen ihm und Marie wieder auftauen würden. Schließlich war die Voraussetzung für gemeinsame Kinder eine gewisse körperliche Intimität, nach der Max sich sehr sehnte.

Marie hatte es allerdings nur als eine weitere Pflicht angesehen, einen Thronfolger zur Welt zu bringen. Sie hatte Alles, was dafür nötig gewesen war, still über sich ergehen lassen und auch während der Schwangerschaft nie eine Emotion gezeigt, sie hatte sich nicht beschwert, aber auch von Vorfreude auf das Kind war keine Spur gewesen.

Als Sie einige Monate nach der Hochzeit eine Fehlgeburt erlitten hatte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt.

Doch plötzlich, kurze Zeit später, hatte Marie im August 1845 doch ein gesundes Kind geboren. Einen Jungen, an dem nichts von der fehlenden Leidenschaft zu sehen war. Ein wunderschönes und gesundes Kind.

Auch heute, mehr als einen Monat nach der Geburt, hatte Maximilian noch immer nicht wirklich realisiert, dass er wirklich Vater geworden war. Also beschloss er, es ein für alle Mal aufzuschreiben. „Diese Zeilen sollten Dir die frohe Botschaft bringen, dass der Herr unsere teure Marie mit einem holden, starken Knaben gesegnet hat und zwar an meines Vaters Geburtstag, worüber er innig erfreut ist.“ Mit diesen Worten begann Max den Brief an seinen Schwager, den Prinzen Adalbert von Preußen. Während er die Worte schrieb, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, und ein aufgeregtes Kribbeln stieg in ihm empor, als er an den Tag, an dem sich sein Leben für immer verändert hatte, zurückdachte. Die Mischung aus überwältigender Freude und unglaublicher Erleichterung, welche er in dem Moment, in dem sein Sohn das Licht der Welt erblickt hatte, gefühlt hatte, war kaum zu beschreiben. Erleichterung, weil die Geburt gewiss nicht einfach gewesen war.

Nicht nur Maximilian, sondern auch seine Eltern, das bayrische Königspaar, hatten die fast 20 Stunden, in denen die arme Marie in den Wehen gelegen hatte, gebangt und gehofft. Nach der Geburt war Marie für einige Tage sehr schwach gewesen, aber schnell hatte die Freude des Mutterseins ihre Schmerzen überwunden.

„Der Augenblick, wo das Kind den ersten Schrei tat, war ein herrlicher. Die gute Marie hatte plötzlich alle Schmerzen vergessen“, schrieb Maximilian weiter. Offiziell sollte der Brief seinem Schwager die frohe Nachricht überbringen, die allerdings schon direkt nach der Geburt des Jungen mit 101 Kanonenschüssen in Nymphenburg verkündet worden war und sich mittlerweile sicher weit herumgesprochen hatte.

Aber Max wollte die Form wahren und außerdem fühlte es sich gut an, von der Geburt des eigenen Kindes zu schreiben, es machte ihn stolz. Das ganze Volk freute sich mit der Wittelsbacher Königsfamilie.

Doch obwohl Max unglaublich dankbar für seinen Sohn war, wurde auch das Ereignis seiner Geburt wieder durch die Umstände getrübt. Denn eine Person freute sich noch mehr, als der Kindesvater selbst. Ludwig I. Wie immer, hatte Max’ Vater am Ende gewonnen. Es konnte ja nichts einmal ausschließlich zu Max‘ Gunsten ausgehen.

Man hätte denken sollen, dass Max mit der Gründung seiner eigenen Familie endlich, mit 33 Jahren, etwas hatte, das ihn von seinem Vater loslöste. Aber 28 Minuten hatten Max vom stolzen Vater zum Statisten im Leben zweier Männer gemacht. Zum schlichten Bindeglied zwischen zwei schillernden Persönlichkeiten.

28 Minuten nach Mitternacht, 28 Minuten nach Anbruch des 25. August 1845. Das Datum, das Max sich am allerwenigsten für die Geburt seines Sohnes gewünscht hätte. Das Datum, an dem 59 Jahre zuvor auch Ludwig I das Licht der Welt erblickt hatte. Der Namenstag von „Ludwig“- dabei hatte Max seinen Sohn Otto, nach dem Vorbild des Stammvaters der Wittelsbacher Dynastie, nennen wollen.

Dieser Name hatte natürlich nicht einmal mehr zur Debatte gestanden. Nur einen Tag darauf wurde der Junge, in Anwesenheit des stolzen Taufpaten und Großvaters, auf den Namen Ludwig getauft.

Jetzt hieß sein erster Sohn so wie sein Vater, die beiden wären für den Rest ihres Lebens verbunden. Maximilian fühlte sich übergangen, und nicht nur das, denn sein Vater kontrollierte nicht nur sein gesamtes Leben, sondern auch den Namen seines Kindes. Es fühlte sich an, als sei Max wieder ein zehnjähriger Junge, der voll und ganz unter dem Befehl seines Vater stand und in sein Kissen weinte, weil er nachmittags nicht spielen durfte. Aber das konnte er so natürlich nicht schreiben. Seine Gefühle waren ja nur das Gejammer eines ängstlichen und gewöhnlichen Thronfolgers. Trotzdem- durch den Namen, den die beiden teilten, fühlte es sich für Max an, als sei der kleine Ludwig nicht sein Sohn, sondern der des „großen“ Ludwig. Und die Gerüchte, die in München kursierten, kränkten ihn noch mehr.

Der Respekt, den Könige im Volk genossen, war lange nichts mehr derselbe wie im Mittelalter. Die Menschen lästerten und zerrissen sich die Münder, auch über ihren Herrscher, den sie doch eigentlich respektieren mussten.

Und das nirgendwo so gern, wie in München, das war Max gewohnt. Aber dass geflüstert wurde, Max sei impotent und Ludwig I hätte sich selbst seiner Schwiegertochter angenommen, das war nun doch zu viel für den ohnehin schon unsicheren jungen Mann.

Eigentlich hatte er sich schon damit abgefunden, immer im Schatten seines Vaters stehen zu müssen. Warum auch nicht, Maximilian hatte eben eine ruhigere Art, er verabscheute Prunk, Gold und Alles, was unpraktisch war.

Die Bauwut seines Vaters ekelte Max geradezu an, das ständige Streben danach, immer mehr zu erschaffen, betrachtete Max nicht nur als ineffizient, sondern auch als Verschwendung von Geldern, die so viel besser hätten eingesetzt werden können.

Laut gesagt hatte er seine Meinung natürlich nie, aber Ludwig I wusste ganz genau, dass sein Sohn anderer Ansichten vertrat als er. Dass er davon alles anderer als begeistert war, das ließ Ludwig seinen Sohn schon immer mit harschen Sprüchen und enttäuschten Blicken spüren. Dabei hatte Max sein Leben lang versucht, sich so gut wie möglich im Hintergrund zu halten, denn damit, im Schatten zu stehen, war er einverstanden- nur, keine eigenen Person mehr zu sein, das störte ihn. Er wollte wahrgenommen werden, nicht nur ein Anhängsel, der enttäuschende Sohn, sein.

Im Grunde unterscheiden sich die Probleme in der Königsfamilie nicht von denen der Bürgerlichen. Nur wurden sie wie durch eine unsichtbare Barriere zurückgehalten, weggeschoben, nicht ausgesprochen. Aber im Grunde wusste jeder, was der Andere von ihm dachte, und es wurde geflüstert. Allerdings stets nur hinter vorgehaltener Hand, um die Form zu wahren. Die Folgen waren Schweigen und verächtliche Blicke am Familientisch.

Diese Blicke waren meist auf Max gerichtet. Und es würde so bleiben, solang sein Vater leben würde, denn das Amt des Königs stand Ludwig auf Lebenszeit zu.

Max Traum davon, eines Tages seinen Vater herumkommandieren zu dürfen, erschien noch unrealistischer, als dass seine Frau ihm einmal „Ich liebe dich“ zuflüstern würde. Er stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Ein Leben im Schatten, das war für Max vorbestimmt.

Aber noch schrecklicher als seine eigene traurige Realität erschien ihm seine Verpflichtung, genau Dies an seinen Sohn weitergeben zu müssen. Es war ein Kreislauf, dem man nicht entfliehen konnte, auch, wenn Max sich vornahm, alles, was in seiner Möglichkeit stände, anders zu machen, als sein Vater.

Auf den kleinen Ludwig würde eine schlichte Erziehung warten, so schlicht, wie es nur möglich war für einen zukünftigen König. Eine gute und strenge Ausbildung, die ihn nicht zum Prunk erziehen würde. Keine Erziehung zur Arroganz, sondern zur Demut, erst vor seinem Vater und dann vor Gott.

Sein Sohn würde viel lernen, sodass er ein kluger, politisch denkender König werden würde. Einer, der nicht nur repräsentierte, sondern wusste, was er tat. Der sich nicht von Gold und Schimmer blenden lies, sondern selbst nachdachte. Damit er einmal ein guter König werden würde, nicht nur eine Geldverschwendung für die Staatskasse. Hatte Max seinen Vater gerade als „Geldverschwendung“ bezeichnet? Gut, dass das niemand gehört hatte. Er war doch kein kleiner Junge mehr, der sich über seine Eltern beschwerte. Er war nun selbst Vater! Und sein Sohn würde genau das bekommen, was Max sich immer für sich selbst gewünscht hatte. Das war zwar erdrückende Verantwortung, aber auch eine Möglichkeit. Hoffnung.

Maximilian versuchte, sich auf diesen Hoffnungsschimmer zu besinnen und darauf, dass er doch eigentlich jeden Grund hatte, glücklich zu sein. Er war stolz auf seine Frau und auf das, was sie durchgestanden hatte, aber er wusste eben auch, dass der schwerste Teil für sie beide als Eltern noch kommen würde. Die Erziehung. Und das obwohl, oder gerade weil diese in den hohen Adelskreisen zum großen Teil an Ammen und Erzieherinnen abgegeben wurde. Eine harte und strenge Erziehung würde Maximilians Sohn unvermeidlich sein. Aber der Kronprinz war fest davon überzeugt, Alles richtig zu machen, wenn er es nur anders tun würde als sein eigener Vater. Er hatte durch seine Freiheit der eigenen Bautätigkeiten- die hatte Ludwig I seinem Sohn zum 18. Geburtstag „geschenkt“- die Möglichkeit, seine Kinder fern ab von München und den Regierungsgeschäften zu erziehen.

An dem einzigen Ort, der Maximilian alleine gehörte, den er selbst geschaffen hatte, sollte sein Sohn großwerden. Hoch über dem wunderschönen Schwangau, mit direktem Blick auf den tiefblauen Alpsee, befand sich die Burg Hohenschwangau. Maximilians liebster Ort auf der ganzen Welt. Eine alte Burg, die er mit zwanzig Jahren bei einer Wanderung entdeckt und sich sofort in die Lage und die Atmosphäre verliebt hatte.

Er hatte sie restaurieren, umbauen und ganz nach seinen Vorlieben gestalten lassen. Das gesamte Bauwerk, mit seiner gelblichen Wandfarbe, den Wandgemälden im Inneren und dem kleinen, aber wunderschönen Garten, war ein Gesamtkunstwerk.

Das Schloss war genauso, wie Max es sich in seinem Traum vorgestellt hatte. Hohenschwangau war Kronprinz Max, aber es würde auch Maximilian II, König von Bayern, sein. Er fühlte sich unglaublich verbunden mit den Gemäuern, als wären sie ein Körperteil, das zu ihm gehörte. Das Schloss vereinte seine liebsten Gemälde, Familiengeschichte und eine gleichzeitig praktische und außergewöhnliche Architektur.

Max war der Kunst nämlich keineswegs abgeneigt, er teilte viele Ansichten der Romantiker, nur verabscheute er die übertriebene, verschwenderische Kunst, die einzig der Selbstdarstellung dienen sollte. Eben dieses Verschwenden warf er insgeheim auch seinem Vater vor. Aber in Hohenschwangau hatte Max die Kontrolle. Und dass ein Schloss, mitten in der Natur, mit prächtigen Möglichkeiten zum Jagen, Wandern, Spielen und Lernen sich besser für ein Kind eignete als das laute, hektische München, war ein Argument, auf das selbst der König nichts erwidern konnte.

„es ist doch ein prächtiges Gefühl Vater zu sein...", mit diesen Worten schloss Max seinen Brief und setzte seine Unterschrift darunter.

Er hatte große Pläne für das Leben seines Sohnes, aber dabei dufte er seine eigene Zukunft nicht vergessen.

Mit 33 Jahren war er zwar lange nicht mehr der Jüngste, und ihn plagten schon lange körperliche Beschwerden, aber die eigentliche Blüte seines Lebens stand Maximilian noch bevor. Das war etwas, das die königliche Familie von anderen Adligen unterschied: Anstatt auszuziehen, zu studieren und ein eigenes Leben führen zu können, verbrachte der Kronprinz einen großen Teil seines Lebens damit, zu warten. Zu warten, und zwar auf den Tod des eigenen Vaters. Um das zu werden, wofür er, soweit er sich erinnern konnte, vorbereitet geworden war. König. Eines Tages wäre Max der mächtigste Mann in Bayern, und dann wären all die Demütigungen durch seinen Vater in Vergangenheit gerückt. Eines Tages.

Nur wann? Zu Maximilians Ärger erfreute sich Ludwig I momentan besserer Gesundheit als er selbst, er war unglaublich beliebt bei seinen Untertanen und dachte gar nicht daran, zu sterben. Max zweifelte deshalb hin und wieder an der Einhaltung des Versprechens, das ihm in die Wiege gelegt worden war. Aber nein, daran wollte er gar nicht erst denken.

Max zuckte zusammen, als er einen Blick auf seine Taschenuhr warf.

Er hatte die Zeit völlig vergessen, seit dem ersten Ruf der Bediensteten war fast eine Stunde vergangen. Sicher war nicht nur das beste Essen bereits vergriffen, nein, im Speisesaal würde ihn auch seine wütende Familie erwarten, die sich mal wiedervöllig zurecht- über seine Verspätung beschweren würde. Verdammt. Max sprang auf und saß keine Minute später an der Tafel.

Das beste Essen war tatsächlich schon längst verspeist worden. Aber Max dufte sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassen. Natürlich hätte er nach Nachschlag fragen können, innerhalb weniger Minuten hätten die Diener alles, was er sich wünschen konnte, gebracht, aber dann hätte er sich wieder einiges von seinem Vater anhören müssen. Nein, da musste Max jetzt durch.

Gerade an diesem Tag waren natürlich Alle pünktlich zum gemeinsamen Essen dort gewesen. Selten speiste die königliche Familie zusammen, aber nun sahen Ludwig I, seine Frau Therese und natürlich Marie ihn alle strafend an, als wäre Max ein ungezogener Junge gewesen.

Schweigend griff Max nach dem übrigen Gemüse und lies sich ein Glas Champagner einschenken, während sein Vater Braten nachbestellte. Nach einigen Minuten der unangenehmen Stille ergriff König Ludwig das Wort. „Maximilian, ich hoffe, du bist dir deiner Verantwortung als Vater bewusst.“ streng sah er seinem Sohn in die Augen. Max war überrascht. Er hatte mit Allem gerechnet, nur nicht mit Erziehungsratschlägen.

„Dein Sohn, Ludwig“, er betonte den Namen besonders, Max biss die Zähne zusammen, „er wird genau dieselbe Erziehung genießen, wie du.“ Maximilian starrte auf seinen Teller. Der Hunger war ihm vergangen. Sein Sohn tat ihm jetzt schon leid. „Hoffentlich gerät er dann besser. Aber wie der Großvater, so der Enkel. Manchmal muss eben eine Generation übersprungen werden!“ Ludwig brach in Lachen aus, und die beiden Frauen taten es ihm gleich. Es versetzte Max einen Stich ins Herz, als er sah, dass Marie nicht nur aus Höflichkeit mitlachte. „Ja, Vater.“ flüsterte er.

2.KAPITEL

ZUHAUSE

“20. März 1846, Berlin”

Alles war verschwommen. Maries Augen brannten, sie konnte gar nicht mehr richtig sehen, hinter ihrer Stirn pochte es, sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, aber an dem Kloß in ihrem Hals schien einfach Nichts vorbeizukommen.

Wie lang genau sie schon weinte, wusste Marie nicht, wahrscheinlich waren es Stunden, die sich wie Tage anfühlten- eine Ewigkeit. Aber wie sehr sie es auch versuchte, die Tränen zurückzuhalten und sich zusammenzureißen, sie konnten nicht aufhören, zu weinen. Aber das konnte keiner von ihr erwarten, in der Situation, in der sie sich befand, wäre wohl jeder verzweifelt.

Natürlich hatte sie gewusst, dass der Tag irgendwann kommen würde, an dem sie Abschied von ihrer Mutter nehmen müsste. Der Tod gehörte zum Leben dazu, das hatte sie schon als Kind gelernt, aber jetzt, wo ihre Mutter wirklich um Sterben lag, konnte Marie ihre Gefühle nicht mehr mit einer plausiblen Erklärung beiseiteschieben.

Aber irgendwie hatte sie in den letzten Tagen noch die Fassade einer starken Frau aufrechterhalten können, obwohl sie innerlich zerbrochen war.

Es war schrecklich, wenn die eigene Mutter starb, und man die letzten Jahre weit weg mit seiner neuen Familie verbracht hatte. In dem Moment, in dem sie die Nachricht bekommen hatte, hatte Marie direkt ein schlechtes Gewissen bekommen. Für sie war klar gewesen: Sie musste nach Berlin fahren. Um ihre Mutter noch einmal zu sehen, um ihr zu sagen, dass sie sie liebte. Und auch, um sich zu entschuldigen, dass sie sie im Stich gelassen hatte.

Genauso fühlte es sich nämlich an. Marie hatte ihren Ehemann nicht lang überreden müssen. Gemeinsam hatten sie sich auf den Weg gemacht und waren nur wenige Tage später in Berlin angekommen. In Maries altem zuhause.

Hier hatte sie das erste Mal mit den Tränen gerungen. In den folgenden Tagen hatte Marie viel nachgedacht. Darüber, wie es gewesen wäre, wenn sie geblieben wäre.