Der Schwur der Klinge - Kelly McCullough - E-Book
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Der Schwur der Klinge E-Book

Kelly McCullough

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Beschreibung

Neun Jahre sind vergangen, seit Namara, die Göttin der Gerechtigkeit, getötet und ihr Tempel zerstört wurde. In ihrem Orden war Aral Königsmörder ein hochrangiger Assassine, ein Werkzeug des Rechts, eine Klinge Namaras. Und er vermisst den Ruhm und den Nervenkitzel, die mit der Erfüllung seiner Aufgabe einhergingen. Die Geister der Vergangenheit verfolgen ihn — im wahrsten Sinne des Wortes. Als der Geist der Göttin ihm im Traum erscheint und Gerechtigkeit fordert, trommelt Aral seine ehemaligen Klingen-Kameraden zusammen. Denn nur gemeinsam können sie Namara rächen, und ihr Gegner ist kein geringerer als der Sohn des Himmels, Hohepriester der elf Königreiche ...

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

1

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Epilog

Danksagung

Anhang

Über den Autor

Kelly McCullough wuchs als Sohn freilaufender Hippies auf. Später besuchte er die Schauspielschule und arbeitete als Improvisationskünstler. Diese Kombination bereitete ihn bestens auf seine gegenwärtige Karriere als Autor und Katzenhüter vor. Er lebt in den USA mit seiner Frau Laura. Kelly besteigt gerne Berge, fährt Rad und genießt ansonsten seine Rolle als selbstheizender Katzensessel.

Kelly McCullough

Der Schwur der Klinge

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Meier

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Kelly McCulloughTitel der amerikanischen Originalausgabe: »Darkened Blade«Originalverlag: Ace Books, published by The Berkley Publishing GroupAll rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Uwe Voehl, Bad SalzuflenTitelillustration: © Hrvoje BeslicUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3040-3

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Laura, meinen strahlenden Stern.

1

Ich spreche zu den Toten. Normalerweise antworten sie nicht.

Normalerweise …

Dieses Mal war es anders.

Neun Jahre sind seit dem Tod Namaras und der Zerstörung des Tempels ins Land gezogen. Neun Jahre, in denen meine wenigen überlebenden Klingenkameraden von den Kräften des Erzpredigers, den man den Sohn des Himmels nennt, gejagt und schikaniert wurden. Neun Jahre voller Tod und Düsternis und Rückzug. Und doch habe ich erst vor kurzer Zeit die Wahrheit über den Sturz meiner Göttin und den Untergang ihres Tempels erfahren …

Meine Göttin wurde von Gleichgestellten ermordet, weil sie das Verbrechen begangen hatte, sich mehr um die Gerechtigkeit zu sorgen als um die Sicherheit und Behaglichkeit jener, die das Reich des Himmels bewohnen.

Einst waren wir Assassinen, Mörder im Dienste der Gerechtigkeit, die Magie und Schwert benutzten, um jenen hohen Herren der elf Königreiche den Tod zu bringen, die der Ansicht waren, sie stünden über dem Gesetz. Wo Höfe und Gerichte die Großen nicht belangten, da taten wir es. Und dafür hassten sie uns. Uns und unsere schattenhaften Begleiter, die elementaren Kreaturen der Dunkelheit, bekannt als Finsterlinge, die uns verbergen und vervollständigen.

Wir wussten um den Hass der Mächtigen und um ihre Furcht, und wir begrüßten beides, denn es war ein Zeichen dafür, dass niemand sich der Gerechtigkeit zu entziehen vermochte. Was wir nicht wussten, war, dass auch die Götter sich fürchteten, denn Namara hatte die Schwerter, die sie uns gab, zu einem Werkzeug geformt, das sogar die Machthaber des Himmels töten konnte, und das war der wahre Grund für unseren Niedergang. Nun wusste ich es, aber was sollte ich mit diesem Wissen anfangen? Das ist die Frage, die mich veranlasst hatte, die Toten anzurufen. Das ist die Frage, die mir eine Antwort geliefert hatte.

Vielleicht.

Die Taverne hieß Greifenkopf, ein Ort, den ich so gut kannte wie die dunkleren Teile meiner eigenen Seele. Es war auch der Ort, an dem ich die tiefsten Tiefen der Verzweiflung ausgelotet und mich nach Kräften darum bemüht hatte, mich in das Grab zu saufen, in dem schon so viele meiner Kameraden gelandet waren. Aber dieses Mal war es anders. Keiner der üblichen Gäste war hier, nicht einmal Jerik, der Wirt, der zu den wenigen echten Freunden gehörte, die ich auf der Welt hatte.

Nein, heute Nacht wurde der Greifenkopf von den Toten bevölkert. Als ich zur Tür hereinkam, war die erste Person, die ich erblickte, Alinthide Giftmischerin, die ich als Junge von ferne geliebt hatte und die bei dem Versuch, einen König zu töten, ihr Leben verloren hatte. Sie nickte mir zu, aber sie sprach kein Wort, sondern deutete nur auf einen leeren Tisch an der rückwärtigen Wand. Das war mein gewohnter Platz und der einzige Tisch, der nicht vollständig von Gefallenen besetzt war. Die meisten der mir näheren Toten waren Klingen und Priester – Leute, die ich in meiner Jugend im Tempel kennengelernt hatte.

Aber nicht alle. An einem anderen Tisch saßen zwei Könige, die durch mein Schwert gefallen waren und meinen Namen für immer von Aral Brandarzon in Aral Königsmörder verwandelt hatten, den Namen, unter dem die Welt mich nun kannte. Sie warfen mir hasserfüllte Blicke zu, Ashvik und sein Bastard-Halbbruder Thauvik. Und sie waren nicht allein. Nea Sjensdor saß bei ihnen, Sieglerin und Präzeptorin der Hand des Himmels – jenes Magierordens, der meinen Tempel zerstört hatte – und eine weitere Person, die ich getötet hatte. Da waren noch mehr, und der Gastraum des Greifenkopf sah einerseits exakt so aus, wie er sollte, schien sich aber andererseits Hunderte von Tischen weit auszudehnen.

All meine Toten waren hier. Diejenigen, die ich geliebt hatte. Diejenigen, die ich gehasst hatte. Und die, die mir gar nichts bedeutet hatten. Mich jenen zu stellen war vielleicht am schwersten, denn über die Jahre waren viele durch meine Hand gestorben, die meisten nur deswegen, weil sie mir den Weg zu jenen, die ich hatte töten müssen, versperrt hatten. Ich werde gar nicht versuchen, Entschuldigungen für ihren Tod zu finden. Nicht hier, und nicht, wenn ich – sobald meine Zeit gekommen ist – vor die Hohen Richter trete. Ich tat, was ich zu jener Zeit als richtig erachtet hatte, und ich werde den Preis bezahlen, wenn er fällig wird.

Langsam schritt ich durch die Reihen der schweigenden Toten, näherte mich dem Platz, der auf mich wartete. Nur zwei Stühle standen dort, obwohl der Tisch Platz genug für fünf bot. Auch das stimmte mit meinen Erfahrungen überein, denn einst hatte ich den Greifenkopf als Dienststube benutzt und meine Geschäfte von diesem Tisch aus geführt. Ein Stuhl war für mich, der andere für meinen Klienten, wer immer es auch sein mochte.

Nun hielt ich inne und sah mich nach meinem Schatten um und damit nach meinem Vertrauten Triss. Denn Klingen sind auch Zauberer und darauf angewiesen, dass ihre düsteren Gefährten die Gabe ihrer Magie bündeln. Mein Finsterling nimmt die Gestalt eines aus Schatten geschaffenen Drachen an, wenn er sich nicht in dem meinen verbirgt. Aber da und dort hatte ich keinen Schatten, obwohl ich durch die Verbindung zwischen unseren Seelen spürte, dass er am Leben war. Ich vermisste ihn schmerzlich, denn ich liebte Triss mehr als mich selbst und vertraute in allen Dingen auf seinen Rat.

Dennoch zog ich den Stuhl vom Tisch ab und setzte mich. Als ich aufblickte, war ich nicht länger allein. Die Größte unter meinen Toten war gekommen. Namara. Meine Göttin.

»Hallo Aral, ich habe lange darauf gewartet, mit dir zu sprechen.«

Wenn ich ihr zu ihren Lebzeiten begegnet war, hatte sie gewöhnlich die Gestalt einer großen Steinstatue mit sechs Armen und einer Haut wie Granit angenommen. Heute jedoch erschien sie in der Größe und Form einer wunderschönen Frau in einem scharlachroten Kleid. Der einzig sichtbare Hinweis auf ihre Göttlichkeit waren ihre sechs Arme, aber ich hätte sie auch ohne sie erkannt, denn ihr Abbild hatte sich für alle Zeiten in meine Seele eingebrannt.

»Du bist tot«, sagte ich und wünschte mir erneut, Triss stünde mir zur Seite.

Namara neigte kaum erkennbar den Kopf. »Das bin ich.«

»Die Toten kehren nicht zurück.« Die Worte fielen matt und hart zugleich.

»Nein, das tun wir nicht.«

»Und wie …?«

»Ich war eine Göttin, Aral. Ich genieße gewisse Vorzüge.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du trägst mich in deinem Herzen. Solange es schlägt, wird ein winziger Teil von mir bestehen bleiben. Als ich erkannte, dass ich sterben würde, habe ich Maßnahmen ergriffen, um dafür zu sorgen, dass das, was mir am wichtigsten war, über meinen Tod hinaus weiterleben kann.«

»Ich … was erwartest du von mir?«

»Nur, was ich immer von dir erwartet habe. Gerechtigkeit.«

»Bist du deswegen hier? Um mir zu sagen, dass du … was? … von mir willst? Dass ich Gerechtigkeit übe?«

»Ja.«

Plötzlich empfand ich quälende Wut. »Warum jetzt? Warum nicht, als ich zutiefst verzweifelt und halbtot war, weil ich mich jeden Abend bewusstlos gesoffen habe?«

»Weil ich tot bin. Ich bin nicht wirklich hier, Aral. Ich existiere jetzt nur noch in deinem Herzen und den Herzen derer, die mir einst gedient haben und mir vielleicht wieder folgen werden. Ich spreche nicht von jenseits des Grabes zu dir, ich spreche aus ihm heraus. Ich konnte nicht zu dir gelangen, solange du selbst mich nicht gerufen hast. Nur dadurch, dass du dem Pfad gefolgt bist, den ich mir für dich gewünscht habe, bist du wieder zu einem Mann geworden, der meine Botschaft empfangen kann.«

»Und deine Botschaft lautet, ich soll nach Gerechtigkeit streben?«

»Das und nicht mehr.«

»Und wie?«, schrie ich. »Ich weiß nicht, was ich tue. Ich wünsche mir Gerechtigkeit, aber ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll.«

»Hier«, sagte sie, streckte einen Arm aus und legte mir die Handfläche über dem Herzen auf die Brust. Die Berührung brannte.

»Das ist keine Antwort.«

»Das ist alles, was es an Antworten geben kann oder je gegeben hat. Du hast den Pfad gefunden. Folge ihm.«

»Aber ich sehe ihn nicht.«

»Ich habe ihn auch nicht gesehen. Nach Gerechtigkeit zu streben heißt, im Schatten zu wandeln. An manchen Tagen reißen sie auf, und du kannst genau erkennen, wohin du deinen Fuß setzen musst. An anderen verdichten sie sich, und du könntest vom Weg abkommen, was einen hohen Preis an Blut und Seelen fordern mag. Wisse, dass derzeit, für eine kurze Weile, deine Füße exakt dort sind, wo sie sein müssen. Das ist alles, was ich dir mitgeben kann.« Sie begann zu verblassen.

»Warte! Werde ich dich wiedersehen?«

»Ich habe meine Botschaft überbracht.«

»Das ist keine Antwort.«

»Es ist die einzige, die ich habe. Nun lass mich dir ein Geschenk zum Abschied überreichen.«

Sie öffnete eine ihrer Hände, und eine Kaskade aus Efikbohnen rieselte heraus. Mit Schrecken betrachtete ich sie, wartete darauf, dass die Gier nach der Droge erneut einsetzte, der Hunger, der allmählich meine Seele verzehrte. Aber ich fühlte nichts.

»Ich … ich will sie nicht.«

»Als du durch den Rauch gegangen bist, hast du deinen Körper für eine Weile verlassen und mit ihm seine Bedürfnisse. Das hat die körperliche Begierde auf eine Weise durchbrochen, wie es nur die Macht eines Gottes vermag. Was die Schwelende Flamme begonnen hat, kann ich nun an diesem Ort und zu dieser Zeit beenden und die Wunde schließen, die die Kitsune geöffnet hat.« Inzwischen war sie kaum noch mehr als ein Gespenst.

»Wird das vorhalten?«, fragte ich, denn ich sehnte mich verzweifelt danach zu glauben, dass es das täte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Macht ist gebrochen, also liegt es an dir. So, wie es immer war.«

»Und der Alkohol …« Ich brachte es nicht fertig, die Frage zu Ende zu stellen.

»Der war mir nie geweiht. Diesen Dämon musst du allein bezwingen.«

Allein.

*

Ich fuhr in meinem Bett im Roch und Diamant hoch und rang um Atem.

Was war denn da gerade los?, fragte Triss in meinem Geist, und seine mentale Stimme klang nuschelig und verwirrt, ganz so, als erhebe er sich gerade aus einem tiefen, verwunschenen Schlaf. Ich hatte einen seltsamen Traum …

»Aral?« Das war Siri, die neben mir erwachte. »Was …?« Ihre Stimme verlor sich, als sie die Haut über meinem Herzen berührte.

Ich blickte an mir herab. Gut erkennbar im Licht des Vormittags prangte ein Mal auf meiner Brust – beinahe wie eine alte Brandnarbe. Es hatte die Form einer Hand mit sechs Fingern.

Ich spreche zu den Toten. Zu meinen gefallenen Brüdern. Den Leuten, die ich ungerechtfertigt getötet hatte und deren Vergebung ich in den dunkelsten Stunden der Nacht erflehe. Vor allem aber zu meiner Göttin. Normalerweise antworten sie nicht.

Ich glaube, es ist auch besser so.

*

Das Roch und Diamant war ein Musterbeispiel für die Architektur in der Stadt an der Mauer. Das Erdgeschoss war sechzehn Fuß breit und sechzig lang, eine Form, die durch die Natur des gigantischen, magischen Banns bestimmt wurde, der das Gebiet des Sylvani-Reichs von den Menschenkönigreichen des Nordens trennt. Der Bann hatte die Form einer acht Fuß hohen und acht Fuß breiten Mauer, die die Magie der Ersten in einem perfekten Halbkreis einschloss und an der Küste des großen Ozeans im Osten endete. Sie war Tausende von Meilen lang und diente als einzige Straße in der seltsamsten Stadt der Welt – einer Stadt, tausend Meilen lang und gerade vierzig Fuß breit.

Die Götter hatten die Mauer als eine Art Gefängnis für die Ersten erschaffen, und sie hatten sie mit gewissen magischen Eigenschaften ausgestattet. Nichts konnte auf der Mauer erbaut werden oder auch nur dort verweilen. Stand man auf der Mauerkrone still, so musste man bald erkennen, dass man langsam und unerbittlich auf den nächsten Rand zuglitt. Auch vermochte nichts die Mauer zu durchbrechen oder auch nur zu schädigen. Und auf exakt sechzehn Fuß zu beiden Seiten war der Boden so hart wie Granit, perfekt geeignet als Basis für das Fundament der ganzen Stadt. Auf weiteren hundert Metern jenseits dieser sechzehn Fuß sah der Boden zwar normal aus, verhielt sich aber beinahe wie Treibsand. Löcher füllten sich von selbst, Bäume gleich welcher Größe schlugen keine ausreichenden Wurzeln und fielen nach kurzer Zeit einfach um. Und jeden Versuch, ein Gebäude zu errichten, erwartete das gleiche Schicksal. Dieses Gebiet nannte man die Brache.

Die Mauer war ein bizarrer Ort für eine Stadt, aber diese Schnittstelle zwischen den Ländern der Menschen und dem älteren Sylvani-Reich bot Möglichkeiten, wie sie nirgendwo sonst auf der Welt zu finden waren.

Mein Mentor in der Kindheit, Kelos Todgänger, hatte einmal aus einer uralten Ballade zitiert, die diesen Ort beschrieb, und nun, da ich vorübergehend an der Mauer lebte, hatte ich seine Worte wieder im Ohr: »Eine fünftausend Meilen lange Steinschlange windet sich um das Reich und trägt eine Stadt auf ihrem Rücken. In ihrem Inneren birgt sie die älteste und mächtigste Zivilisation der Welt, ein träumendes Land der Dekadenz und der Korruption, beherrscht von uralten, in Ungnade gefallenen Unsterblichen. Schön und schrecklich waren sie in den machtvollen Tagen ihrer Jugend, schön und schrecklich sind sie noch immer, doch nun sind sie auch ruiniert und ihrer Macht beraubt – nur mehr verfallene Überreste jener Welt, die einmal war, auf alle Zeiten gefangen im Inneren einer Mauer, die von den Göttern erbaut wurde.«

Die Bedingungen der Magie verhinderten, dass die Stadt hinaus auf die Brache oder über die Mauer wuchs, und das über Jahrhunderte gewachsene Gedränge ließ keine seitliche Ausbreitung mehr zu. Folglich kletterten die erfolgreicheren Bauten in die Höhe. Das Roch war da keine Ausnahme und verfügte über mehrere Türme, die sechs oder sieben Stockwerke hoch waren – mehr würde die Bauten zu windanfällig machen, denn es gab keine Möglichkeit, die Gebäude im Boden zu verankern.

Wir acht hatten uns Zimmer im höchsten der Türme genommen, um dort zu beratschlagen, wie es weitergehen sollte. Vier von uns waren Menschen und ehemalige Klingen; ich, Siri, Faran und Kelos, der Verräter. Vier waren Finsterlinge. Triss, Kyrissa, Ssithra und Malthiss. Die erste und drängendste Frage, der wir uns widmen mussten, betraf Kelos.

Was anfangen mit dem Verräter, der den Tempel Namaras an den Sohn des Himmels verraten hatte? Die Frage schien nicht schwer zu beantworten zu sein. Der Mann hatte gewiss den Tod verdient, und nicht einer von uns hätte ihn nicht töten wollen. Aber er steckte voller Geheimnisse. Geheimnisse, die wir unbedingt kennen mussten, um bereit zu sein für das, was auf uns zukam. Besonders, falls wir gegen den Sohn des Himmels antreten würden.

Und bei all unseren Erwägungen war der Umstand, dass Kelos Siri und mich mehr oder weniger großgezogen hatte, noch gar nicht einbezogen. Eine Klinge tritt ungefähr im Alter von vier oder fünf in den Tempel ein. Ich habe vage, schattenhafte Erinnerungen an den Mann, der mich gezeugt hatte, dachte ich aber an einen Vater, so stellte ich mir Kelos Todgänger vor. Ihn liebte ich so sehr, wie ich ihn hasste, und Siri erging es genauso.

Außerdem mussten wir auch an Malthiss denken. Kelos zu töten hieße, auch seinen Vertrauten zu töten, denn der Tod einer Hälfte der Vertrautenbindung forderte auch das Leben des anderen. Inwieweit war Malthiss mitschuldig an den Verbrechen seines Partners? Hatte Kelos seinen Vertrauten vielleicht gezwungen, sich an dem Verrat zu beteiligen? Hatte er ihn überzeugt? Oder hatten sie diesen Weg gemeinsam beschritten?

Es war ein einziges Durcheinander, und dabei war das nicht einmal unser größtes Problem. Das war der Himmelssohn.

»Namara will, dass ihr den Sohn des Himmels zur Strecke bringt.« Kelos erhob sich von seinem Thron auf dem Erkerfenster und fing an, in unserem kleinen Salon auf und ab zu gehen. Er war ein großer, einäugiger Mann mit einer alten, ledernen Augenklappe, muskelbepackt, die Haut überzogen mit Narben und tätowierten Schlangenwindungen. Sein Vertrauter nahm die Gestalt eines Schattenbasilisken an und lag derzeit nahezu unsichtbar zwischen den Tätowierungen. »Das war die Botschaft, die Namaras Besuch übermittelt hat. Ist das nicht offensichtlich?«

Allmählich wünschte ich mir, ich hätte die Weisheit besessen, meinen Traum für mich zu behalten. Aber Siri hatte eine Erklärung für die frische Verbrennung über meinem Herzen gefordert. Und was immer auch aus dem Tempel geworden war, Siri war die Letzte von uns, die je den Titel der Ersten Klinge Namaras tragen würde – und sie war mir in unserem Orden immer noch übergeordnet. Wenn sie eine Frage stellte, hörte eine alte, innere Pflichttreue in mir einen Befehl.

»Nein«, entgegnete ich. »Das ist nicht offensichtlich. Jedenfalls nicht für mich, und mir wurde erklärt, ich solle meinem eigenen Herzen folgen, in dieser und in allen anderen Angelegenheiten. Sie hat mich auch gewarnt, wie leicht es ist, vom Pfad der Gerechtigkeit abzuweichen und welch hohen Preis das fordern würde. Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob der Traum irgendetwas anderes als ein Wunschtraum war.«

»Einer, der eine Brandnarbe auf deiner Brust hinterlassen hat?«, fragte Siri, die neben dem Feuer saß, milde.

Rauchfahnen waberten vom Feuer zu ihr hinüber, wickelten sich um ihren Körper und glitten dann zurück, um durch den Kamin zu entschwinden. Noch mehr Rauch schlängelte sich durch den langen, dicken Zopf, der ihr auf den Rücken fiel. Anstelle eines Hemds trug sie eine enge Weste, die den Blick auf die kohlrabenschwarze Haut an ihren Schultern freigab. Nicht minder gut zu sehen war der frische Stumpf ihres linken Arms, der gleich unter dem Ellbogen endete. Ihre Vertraute, Kyrissa, war kein Wesen reinen Schattens mehr, sondern trug Federn aus Rauch an den Flügeln und den Windungen ihres Leibes.

»Vorübergehend … und nur vielleicht.« Ich öffnete mein Hemd, um die glatte Haut über meinem Herzen zu entblößen. Der Abdruck war verschwunden. »Siehst du jetzt eine Narbe?«

»Nein, aber am Morgen war sie da. Triss und Kyrissa können das bezeugen.«

Triss nickte und flüsterte in meinem Geist: Tut mir leid, aber in dem Punkt muss ich Siri zustimmen.

»Nun«, sagte Kelos, »das Wort der Ersten Klinge reicht mir voll und ganz.«

Ich schüttelte den Kopf. »Selbst, wenn der Traum real war und Namara von irgendwo jenseits des Todes zu mir gesprochen hat, heißt das nicht, dass ich nach so langer Zeit hinter dem Sohn des Himmels herhetzen soll. Sie sagte, ich sei bereits auf dem rechten Pfad und solle der Gerechtigkeit folgen. Das könnte ebenso gut eine Warnung gewesen sein, nicht gegen ihn vorzugehen.«

»Was könnte gerechter sein, als den Mann zu töten, der den Tempel zerstört hat?«, ereiferte sich Kelos.

»Wisst ihr«, meldete sich Faran zum ersten Mal seit Stunden zu Wort. »So ganz unrecht hat er nicht.«

Ich erschrak – Faran stimmte Kelos zu? Das wäre mal was ganz Neues. Ich drehte mich um und sah meine Schülerin an. Sie war inzwischen größer als damals, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war, eher eine junge Frau als ein Mädchen, und wunderschön auf eine harte, kalte Art. Ihr Haar war lang und brünett, der Teint etwas fahler als der meiner tiefbraunen Haut. Eine böse Narbe schlängelte sich von ihrer Stirn über die Wange, Folge einer Wunde, die sie beinahe ein Auge gekostet hätte – eine Narbe, die sich gerade leuchtend rot färbte vor kaum unterdrücktem Zorn.

»Diejenigen, die den Tempel zerstört haben, verdienen es zu sterben.« Faran erhob sich und zog ihre Schwerter – Schwerter der Göttin, die einst einer verräterischen Klinge mit Namen Parsi gehört hatten. »Ich glaube, wir sollten einfach mit dem hier anfangen.« Sie bohrte Kelos die Spitze eines ihrer Schwerter unterhalb des Kehlkopfs in die Haut.

Kelos zuckte mit den Schultern, blieb aber darüber hinaus regungslos. »Ich habe es bestimmt verdient, und ich werde dich nicht aufhalten.«

Farans Arm war absolut ruhig, aber ein Tropfen Blut löste sich aus Kelos’ Hals und rann gemächlich an der Klinge des Schwerts entlang zu ihrer Hand. In der Luft lag eine Spannung wie in dem Moment, bevor ein Blitz einen stürmischen Himmel aufreißt. Beim Untergang des Tempels war sie ein Kind von neun Jahren gewesen, hinausgeworfen in die Welt und gezwungen, sich ihren eigenen Weg zu bahnen. Keiner von uns hatte mehr gelitten als sie.

»Und?«, fragte sie einige Herzschläge später. »Will mich keiner von euch zurückpfeifen?«

»Nein«, sagte ich tonlos.

»Nein?« Sie drehte den Kopf zu mir um, senkte das Schwert aber kein bisschen.

»Nein. Du kennst alle Argumente gegen seine Tötung ebenso gut wie die, die dafür sprechen. Bist du jetzt noch nicht überzeugt, wird sich daran auch nichts mehr ändern, wenn ich dich auffordere, deine Meinung zu überdenken. Die Göttin hat mir gesagt, ich solle Gerechtigkeit suchen. Das Gleiche sage ich dir.«

Ich wartete darauf, dass der Blitz zuschlug, vage erleichtert, dass nicht ich derjenige wäre, der diese Entscheidung treffen musste. Der rote Blutstropfen rann an dem Schwert herab, bis er schließlich den ovalen Lapislazuli in der Parierstange erreicht hatte – Namaras allsehendes Auge. Dort blieb er für einen Moment hängen, ehe er wie eine blutige Träne zu Boden fiel.

Faran murmelte eine Verwünschung, zog die Klinge fort und hob sie hoch, weit weg von Kelos’ Kehle. Dann rammte sie sie in die Scheide auf ihrem Rücken, machte kehrt und stolzierte schweigend zur Tür hinaus.

»Interessante Taktik, Aral.« Kelos zog eine Braue hoch. »Ich wusste nicht, ob sie es tun würde oder nicht.«

»Und mir war es egal«, entgegnete ich. »Was sie betrifft, bist du von nun an auf dich selbst gestellt.« Und damit folgte ich Faran.

2

Die Toten sollten tot bleiben.

Nach dem Untergang des Tempels hatte ich sechs Jahre lang geglaubt, Kelos wäre bei der Verteidigung unserer Göttin und unserer Leute gestorben. Dann fand ich heraus, was wirklich geschehen war. Und dass er noch lebte. Ich wünschte, er wäre nicht von den Toten auferstanden.

Ich stieg unseren Turm hinauf bis zur obersten Etage, die aus einer achteckigen Dachterrasse mit einer niedrigen Holzumrandung bestand. Die Sonne war längst untergegangen, aber der Mond war mehr als hell genug für Augen, die es gewohnt waren, in der Dunkelheit zu sehen. Die Mauer zog sich weit nach Osten und Westen, beleuchtet von Magierlampen und Öllaternen, die sich über die ganze Länge verteilten. Sie erinnerte an einen phosphoreszierenden Aal aus den Tiefen des Ozeans.

»Als Leiche war er mir lieber«, murmelte ich.

»Es ist nie zu spät …«, erklang Farans Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und suchte den tieferen Schatten, der mir offenbar entgangen war, als ich das Dach betreten hatte. Ich fand ihn an einer Wandecke, nicht weit von der Treppe entfernt. Zumindest glaubte ich das – eine ummantelte Klinge ist so gut wie unsichtbar, besonders bei Nacht. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete schweigend. Einen Moment später schrumpfte der Schatten und nahm wieder Ssithras Phönixgestalt an. Zugleich kam Faran zum Vorschein, die im Schneidersitz auf dem Boden saß und ihren Rücken an die Bretter lehnte.

Sie reckte das Kinn vor. »Es ist wirklich nicht zu spät, weißt du. Ich könnte einfach wieder runtergehen und ihn sofort töten. Oder … du gehst.«

»Das würde das Problem nicht lösen.«

»Es würde es beenden.«

»Nein, es würde nur Kelos’ Leben beenden. Es würde den Untergang des Tempels oder den Tod Namaras oder irgendeines seiner Gräuel nicht ungeschehen machen.«

Und es würde deine Erinnerungen an den Mann, der er war, bevor er diese Dinge getan hat, nicht enden lassen, bemerkte Triss leise in meinem Geist. Dieser Mann ist bereits tot, und mit ihm ist auch ein Teil von dir gestorben.

Das auch.

Faran erhob sich und baute sich vor mir auf. Ihre Augen waren auf einer Höhe mit meinen. »Und wie lautet also die Lektion?«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Du hast mich doch als deine Schülerin angenommen, oder?«

Ich nickte.

»Also, dann lehre mich. Wie erträgst du es, ihn am Leben zu lassen, nach allem, was er verbrochen hat? Wie kann das richtig sein? Namaras Klingen sind dazu da, jene zu bestrafen, die der Gerechtigkeit andernfalls entgehen würden. Jene, die durch Macht davor geschützt sind, die Folgen ihres Handelns zu tragen. Trifft das etwa nicht auf Kelos zu?«

»Namaras Klingen sind Vergangenheit.«

»Du weichst mir aus, Aral, und das auch noch ziemlich ungeschickt. Du bist immer noch hier, und der Geist der Göttin hat dir persönlich gesagt, dass du Gerechtigkeit üben sollst, dass du weiter dem Pfad folgen sollst, auf den sie dich geführt hat.«

»Ich habe keine Antwort darauf.« Ich wandte Faran den Rücken zu und starrte hinaus in die Dunkelheit. »Ich will ihn nicht töten.«

»Vor nicht einmal zwei Minuten hast du gesagt, als Leiche sei er dir lieber gewesen.«

Ich nickte. »Das stimmt. Aber die Leiche, als die er mir lieber war, war die eines Märtyrers im Dienste unserer Göttin, nicht die des Verräters an ihr. Dieses Schiff ist gesunken. Und nun will er, dass ich ihn töte. Er glaubt, dass er es verdient, für seinen Verrat zu sterben.«

Faran legte mir eine Hand auf die Schulter und drehte mich zu sich herum. »Da hat er nicht unrecht.«

»Richtig, das hat er nicht. Aber was nützt uns sein Tod? Er will für seine Missetaten sterben, aber er bereut sie nicht. Unter den gleichen Umständen würde er morgen wieder genau das Gleiche tun. Er hat damals geglaubt und er glaubt es heute noch, dass Namara dadurch, dass sie den Menschen Hoffnung geschenkt hat, lediglich den Druck vermindert hat, der sonst das ganze korrupte Regentschaftssystem zerstört hätte. Liegt er da so falsch?«

»Ich weiß es nicht.« Faran seufzte. »In den verlorenen Jahren habe ich mich mit Spionage und Auftragsdiebstahl durchgeschlagen. Ich habe eine Menge Korruption in der herrschenden Klasse gesehen, und ich habe nichts dagegen getan, weil: Hey, meine Göttin ist tot, und es ist verdammt noch mal nicht mehr meine Aufgabe, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Dann bin ich dir begegnet, und du hast mir gezeigt, dass an dieser ganzen Gerechtigkeitsgeschichte vielleicht doch etwas dran ist, auch ohne dass Namara uns den Weg zeigt. Aber ich sehe das nicht so klar vor mir wie du. Ist das System so korrupt, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, es niederzubrennen und von vorn anzufangen? Oder ist es wichtiger, dass wir fortfahren, einzelne Missstände zu beseitigen?«

»Das ist die eigentliche Frage, nicht wahr?«, warf Triss ein. »Die Frage, über die wir alle uns den Kopf zerbrechen, ohne wirklich darüber zu sprechen. Töten wir Kelos wegen dem, was er Namara angetan hat, oder unterstützen wir seinen Plan und gehen gegen den Sohn des Himmels vor?«

»Auch das ist eine zu starke Vereinfachung«, grollte ich. »Entspricht die Exekution des Sohns des Himmels der Gerechtigkeit, die durchzusetzen wir aufgezogen wurden, oder ist das vielmehr Rache? Er ist im Grunde die leibhaftige Ungerechtigkeit, die aufgrund von Macht ungestraft bleibt. Wenn es je einen Mann gegeben hat, der es verdient hat, durch das Schwert einer Klinge zu sterben, dann ist es der Sohn des Himmels. Allein ihn zu töten, würde zweifellos dem alten Ideal dienen.«

»Aber da ist noch die Sache mit den Auferstandenen«, wandte Faran ein.

Ich nickte und ging auf und ab. Der Sohn war mehr als nur ein Priester, er war ein Rapportomant – eine ganz besondere Art von Magieanwender, ein Mann, der über die Vertrautengabe verfügte, aber kein magisches Talent besaß, und sein Vertrauter … da lag der Hund begraben. Sein Vertrauter war ein Todeselementarwesen, eine Abart der Auferstandenen. Die Auferstandenen waren in ihren faulenden Leibern und der geistlosen Gier nach dem Fleisch der Lebenden leicht zu erkennen. Aber es gab Möglichkeiten, diesen Verfall monatelang oder sogar jahrelang aufzuhalten, wenn man nur bereit war, genug frisches Blut zu vergießen.

In der Gestalt der verborgenen Auferstandenen hauste die Fluchvariante des Sohns in den Körpern von Tausenden von Edelleuten und Priestern in allen elf Königreichen, vielleicht gar in zehntausenden. Sie badeten im Blut der Lebenden, um ihren untoten Zustand zu verheimlichen, und durch sie hatte der Sohn des Himmels im Grunde uneingeschränkte Macht über einen großen Teil des Ostens. Jeden einzelnen Auferstandenen zu töten wäre nicht minder gerecht, als den Sohn selbst zu töten, aber alle auf einmal … das war eine ganz andere Geschichte. Was wird aus einer Zivilisation, wenn man ihr die Herrschaftsstruktur entreißt? Vernichteten wir die Auferstandenen, so vernichteten wir womöglich auch die Königreiche selbst. War das einen solch hohen Preis wert?

Kelos glaubte, aus der Asche der alten Strukturen würde sich eine neue, gerechtere Gesellschaft erheben, sodass am Ende all die unvermeidlichen Bürgerkriege, das Plündern und Brandschatzen und das Blutvergießen nicht umsonst gewesen wären. Aber seine Vorstellung von Gerechtigkeit hatte zum Tod von Namara und dem größten Teil der Ordensmitglieder geführt, meiner Brüder und Schwestern, und das war ein zu hoher Preis gewesen.

Nuriko Schattenfüchsin, seine irgendeinmal Geliebte und irgendeinmal Feindin, die ihn auf den Pfad geführt hatte, den er nun beschritt, hatte sogar noch radikalere Pläne als er. Sie glaubte nicht an Regentschaft gleich welcher Art. Ihrer Meinung nach führte nur die vollständige Zerstörung von Herrschaftssystemen zu einer neuen und besseren Welt. Ihr Plan hatte vorgesehen, das System zu vernichten und für den Rest ihres Lebens dafür zu sorgen, dass sich kein neues entwickelte. Dafür war sie bereit, einen Blutzoll zu zahlen, dessen Umfang ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.

Ich wusste nicht, was ich glauben sollte, aber ich wusste verdammt genau, dass die Exekution des Sohns des Himmels ein Blutbad von unfassbaren Ausmaßen hervorbringen würde. Für jeden Auferstandenen, der mit ihm stürbe, würden zig, vielleicht sogar Hunderte Unschuldiger in dem Chaos fallen, das die wandelnden Toten zurücklassen würden. Wenn mich die Last meiner Toten schon jetzt niederdrückte, was wäre dann wohl, wenn ihre Zahl in die Hunderte ginge …

»Ich weiß nicht, was zu tun ist, Faran. Es war alles so viel einfacher, als die Göttin mir gesagt hat, wohin ich gehen und wen ich töten sollte. Die Verantwortung hat bei ihr gelegen. Ich hasse es, derjenige zu sein, der die Entscheidung treffen muss.«

»Würdest du zu diesem Leben zurückkehren wollen …? Wenn du könntest?« Farans Ton war sanft, ihre Miene mitfühlend, aber die Frage war so scharf wie ein Messer, und sie bohrte sich direkt in den Schmerz hinein, der mir so bleiern auf dem Magen lag.

Ich wollte so verzweifelt ja sagen. Aber … »Nein. Ich habe zu viel von den Grautönen des Lebens gesehen, um je zu dieser Art von Gewissheit zurückkehren zu wollen. Auch jetzt, da ich weiß, dass Namara selbst nicht sicher war … Nein, ich mache mir etwas vor, wenn ich sage, die Verantwortung hätte bei ihr gelegen. Meine Taten waren von jeher mein, und irgendwo tief im Inneren habe ich das auch immer gewusst. Wenn also die Verantwortung für meine Taten bei mir liegt, dann auch die Wahl. Ich könnte nicht mehr zum Werkzeug in der Hand eines anderen werden, und wenn mein Seelenheil davon abhinge.«

»Dann hör auf, dich von Kelos manipulieren zu lassen.«

Ihr Verstand ist so scharf wie ihre Klingen, dachte Triss zu mir. Seit wir sie kennengelernt haben, ist sie enorm gereift.

Ich lachte ergrimmt. »Das würde mir erheblich leichter fallen, wenn ich wüsste, in welche Richtung er mich verbiegen will, und ob was immer er von mir will falsch wäre. Denn die Kehrseite des Problems mit den Auferstandenen ist, dass auch die Entscheidung, den Sohn des Himmels leben zu lassen, schwerwiegende Folgen nach sich ziehen wird. Für wie viel Böses, das von oder für ihn getan wird, werde ich verantwortlich sein, wenn ich mich weigere, seinem Leben ein Ende zu setzen?«

Das war die Frage, die mir das Gefühl vermittelte, ich trüge haufenweise scharfe Glasscherben in meiner Brust.

Triss erhob sich und schlang mir die Schwingen um die Schultern. »Manchmal kommst du an einen Ort, an dem es keine richtige Entscheidung gibt und alle Wege ins Verderben führen.«

»Und dann?«, flüsterte ich.

»Dann musst du dennoch deinen Pfad wählen«, sagte Triss.

»Aber ich weiß nicht, wie …«

Da trat Faran zu mir und ergriff meine Hände. »Doch, das tust du. Du weißt es.«

»Wenn das stimmt, kann ich es nicht erkennen.«

»Das liegt daran, dass du die Sache aus dem falschen Blickwinkel betrachtest. Die Frage lautet nicht, was sollst du tun. Sie lautet: Wer willst du sein?«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du kannst nicht alle Folgen deiner Handlungen kontrollieren, du kannst nur die Taten selbst kontrollieren. Wenn du morgen sterben müsstest, wie würdest du in Erinnerung bleiben wollen?« Sie legte mir eine Hand auf die Brust, genau dort, wo die Göttin mich berührt hatte. »Wer bist du? Da drin.«

Ich dachte an die Entscheidungen zurück, die ich in den letzten Jahren getroffen hatte, während ich aus der Gosse zurück war, an Dinge, auf die ich stolz war, an Misserfolge …

Ich holte tief Luft. »Ich fürchte, ich werde dem Sohn des Himmels entgegentreten müssen.«

Faran nickte, fragte aber: »Warum?«

»Ich bin ein als Mensch getarnter Monsterjäger. Dazu wurde ich ausgebildet. Das ist, was ich bin. Womöglich macht mich das auch irgendwie zu einem Monster. Aber selbst dann wäre ich nur ein Monster, dessen Aufgabe es ist, größere Monster vom Angesicht der Welt zu tilgen. Ich kann vielleicht nicht verhindern, dass dort, wo ich ein altes Monster vernichte, neue auftauchen, aber dadurch darf ich mich nicht davon abhalten lassen.«

Den Sohn des Himmels zur Strecke bringen zu wollen, war eine beängstigende Entscheidung, aber sie fühlte sich in diesem Moment und in meinem Herzen, das unter Farans Hand schlug, richtig an. Ich legte meine Hand über ihre. »Wie bist du so weise geworden, mein junges Monst… meine Schülerin?« Tölpelhaft korrigierte ich meine Wortwahl, als mir bewusst wurde, dass der Spitzname, den ich ihr verpasst hatte, in diesem Gespräch ein ganz anderes Gewicht bekam.

Sie grinste. »Das ist die Stelle, an der ich sagen soll, dass ich einen guten Lehrer hatte, richtig?« Sie zog ihre Hand unter meiner hervor, beugte sich vor und küsste mich sehr sanft auf die Wange. »Was zutrifft, und ein guter Mensch ist er auch, aber ein Monster ist er nicht.« Damit machte sie kehrt und ging zurück zur Treppe.

»Danke«, sagte ich, als sie bereits die Stufen hinabstieg.

Sie nickte mir zu, antwortete aber nicht.

»Was ist mit Kelos?«, wollte Triss wissen.

»Ich weiß es nicht. Aber das ist jetzt nicht mehr so bedeutsam.«

»Wie das?«

»Wenn ich vorhabe, den Sohn des Himmels zu vernichten, kann Kelos mir helfen – niemand könnte es besser. Aber selbst mit aller Hilfe der ganzen Welt bleibt das ein schweres Unterfangen. Die Aussicht, dass einer von uns den Versuch, gegen den Sohn vorzugehen, überleben wird, ist nicht sehr groß. Umso schlechter ist sie, dass wir beide überleben.«

Triss schnaubte. »Was du meinst, ist, dass du hoffst, du kannst die Entscheidung so lange hinausschieben, bis sie nicht mehr dein Problem ist.«

»Oder bis sie gar kein Problem mehr ist. Ist das so falsch?«

»Nein. Wenn wir gegen den Sohn des Himmels antreten, brauchen wir jede Hilfe, die wir kriegen können, und manchmal ist der Feind meines Feindes gerade recht, um dir zu helfen, die Sache zu Ende zu bringen.«

Ich hatte meine Entscheidung getroffen, jedenfalls dachte ich es, und ich hoffte verzweifelt, dass es die richtige war. Aber irgendwo, verborgen in meinem Hinterkopf, wurde eine Stimme nicht müde zu sagen: Aber welchen Preis wird es fordern, wenn du dich geirrt hast?

*

Ich weiß Ironie zu schätzen wie andere auch, ich wünschte nur, sie wäre nicht gar so schneidend, wenn man selbst in ihr Visier gerät.

»Auf keinen Fall.« Ich schlug die Handfläche auf den Tisch. »Ich will mit dieser Frau nichts zu tun haben.« Faran war bereits hinausgestürmt, während Siri stumm hinter mir hockte und eine Art kalten Zorn verströmte.

Kelos hatte eine sture Miene aufgesetzt. »Spiel jetzt nicht das Weichei, Aral. Wir brauchen Verbündete, und ich kann mir niemanden vorstellen, der besser geeignet wäre. Rede wenigstens mit ihr. Wir haben immerhin einen gemeinsamen Feind.«

»Ja, und sie gehört dazu.«

Kelos verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Siri beugte sich vor und legte mir die Hand auf die Schulter. Was mich an die erinnerte, die sie verloren hatte – ein Preis, den sie bereitwillig bezahlt hatte, um einem größeren Übel Einhalt zu gebieten.

Ich seufzte. »Also schön, ich rede mit ihr, aber ich kann nicht versprechen, dass ich sie nicht töte, wenn wir fertig sind.«

Kelos grinste. »Soll mir recht sein. Könnt ihr eine Einigung erzielen, treiben wir die Dinge auf die eine Weise voran, tötest du sie, tun wir es auf eine andere Weise. Auf jeden Fall stürzen wir den Feind ins Chaos. Ich sage ihr, dass du gleich bei ihr bist.«

Er ging zur Treppe und hinunter in den Schankraum.

»Tue ich das Richtige, Siri? Ich meine, wir reden hier immerhin von der verdammten Sieglerin des Himmels.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich schon. Aber ich würde Jax nicht in diesen Teil der Geschichte einweihen, wenn wir sie mit ins Boot holen.«

Schon der Gedanke machte mich schaudern. Die Sieglerin war der Kopf der Hand des Himmels, der persönlichen magischen Sturmtruppen des Sohns – ebenjener Leute, die Jax mehr als nur halb zu Tode gefoltert hatten, als sie nach dem Untergang des Tempels in Gefangenschaft geraten war. Offen gestanden gab es eine ganze Reihe von Dingen, die ich Jax gegenüber lieber nicht erwähnen wollte. Beispielsweise, wie Siri ihre Hand verloren hatte. Jax war meine Exverlobte und eine der Handvoll überlebender Klingen, und der Gedanke, ihr das bizarre magische Kuddelmuddel meiner kurzen und unerwarteten Ehe mit Siri erklären zu müssen oder die blutige, aber einvernehmliche Scheidung, mit der sie geendet hatte …

Triss war Kelos zur Treppe gefolgt. Nun sah er sich in einer fragenden Haltung zu mir um.

»Schon gut, ich komme.« Als ich die Treppe erreicht hatte, gab er seine Drachengestalt auf und schlüpfte zurück in meinen Schatten.

Der Gastraum war so gut wie leer, was hier zu dieser frühen Abendstunde höchst ungewöhnlich war. Die einzigen Ortsansässigen im Raum gehörten dem Personal des Wirtshauses an, und auch die sahen nicht gerade beglückt aus, hier zu sein. Ich verübelte es ihnen nicht, dass sie angesichts der Neuankömmlinge am liebsten das Weite gesucht hätten, handelte es sich doch um ein halbes Dutzend Angehörige der Hand des Himmels, Priester und Zauberer der tödlichsten und fanatischsten Sorte. Ich wäre selbst am liebsten davongelaufen.

Sie hatten ihre Uniformen abgelegt und trugen nun weite, dunkle Hosen und Hemden, deren Schnitt dem Stil der Steppenreiter der Kvanas entsprach. Aber sie konnten niemanden zum Narren halten. Alles an ihnen schrie ihre wahre Identität hinaus, von den harten, kalten Mienen bis hin zu ihrer militärischen Haltung und den vielen Waffen, die in den abgenutzten Scheiden an Hüften und Schultern steckten oder aus ihren Stiefelschäften ragten. Lange Pferdeschwänze, gebunden mit den rituellen Knoten ihres Ordens, räumten schließlich auch noch die letzten Zweifel aus, jedenfalls für alle, die wussten, wonach sie Ausschau zu halten hatten. Und dann waren da auch noch die Stürme.

Jeder der sechs befand sich in Begleitung eines sturmgeflügelten Vertrauten. Die Stürme waren Elementarwesen der Luft, die eine Myriade verschiedener Gestalten annehmen konnten, alles von durchsichtigen Riesenkristallen bis hin zu Rädern aus goldenen Flammen oder abstrakten Farbwirbeln. Ihre einzige Gemeinsamkeit untereinander war, dass sie auf Wolkenschwingen reisten.

Die unverkennbare Anführerin der Gruppe wurde von einem strammen Bündel aus Farben und tentakelförmigen Luftschlangen begleitet, das mich an einen Oktopus erinnerte, der versuchte, sich in einem leuchtend bunten Korallenriff zu tarnen. Sie hatte an einem kleinen Tisch, nicht weit von der Treppe entfernt, Platz genommen und saß dort, als hätte sie einen Stock verschluckt, ganz so, als besetze sie eine Bank in der ersten Reihe des Haupttempels der Himmelsdomäne. Ihr Gefolge verteilte sich in einer lockeren Postenkette im Raum, sodass sie jeden Eingang im Auge behalten und sich gegenseitig im Fall eines Angriffs decken konnten. Ihre Vorgehensweise musste ich anerkennen, auch wenn ich ihre bloße Existenz beklagte.

Kelos, ganz er selbst, hatte sich für einen Barhocker am Tresen entschieden und kehrte nahezu jedem den Rücken zu, beinahe so, als wollte er die anderen Anwesenden herausfordern, ihm ein Messer hineinzurammen. So verlockend die Idee mir dann und wann auch erschien, ich ignorierte ihn und näherte mich stattdessen der Frau am Tisch. Ein zweiter Blick verfeinerte meinen ersten Eindruck. Sie war absolut uralt und ihr Haar weiß, nicht blond, wie ich zunächst gedacht hatte, und die Runzeln in ihrem Gesicht waren tief und zahlreich.

Wäre sie keine Magierin, hätte ich ihr Alter auf etwa achtzig geschätzt, aber ihr Leben war an das ihres Vertrauten gebunden, und Stürme wurden wie Finsterlinge mehrere Hundert Jahre alt. Da sie so sehr gealtert war, musste sie mindestens dreihundert sein, möglicherweise aber auch schon sechshundert.

»Ich bin fünfhundertachtunddreißig Jahre alt«, verkündete sie in einem spröden, aber auch mehr als nur halb amüsierten Tonfall. »Außerdem lese ich keine Gedanken, sondern Gesichter, und darin bin ich sehr geübt. Mein Name ist Toragana, und ich trage diesen Ring zum zweiten Mal.«

Sie wedelte mit der rechten Hand, an deren Daumen die Insignien ihres Amtes prangten. »Nach hundertneunzig Jahren Ruhestand in friedvoller Einsiedelei wurde ich zurückgezerrt in die Position der Leiterin meines Ordens, und ich bin darüber keineswegs erfreut. Nun nimm Platz. Wir haben viel zu besprechen, und die Zeit ist knapp. Der Sohn würde uns alle töten, wüsste er, dass ich mit dir rede. Außerdem bin ich alt und wütend und könnte jederzeit einem Schlaganfall erliegen.«

Ich unterdrückte ein Grinsen und setzte mich zu ihr. Trotz all der Last der Geschichte und des Blutes, die unsere beiden Orden trennte, ertappte ich mich dabei, die Frau instinktiv zu mögen. »Wütend?«, hakte ich nach.

»Sogar außergewöhnlich wütend. Vor allem auf Corik Ohnevater. Erstens, weil er es nicht hingekriegt hat, dem Fluch vor fünfzig Jahren ordnungsgemäß zu unterliegen und mir damit den Ärger zu ersparen, etwas gegen seine fortgesetzte Regentschaft als Sohn des Himmels unternehmen zu müssen. Zweitens, weil er auf seinem Thron so miserable Arbeit abliefert, dass ich gezwungen bin, etwas zu unternehmen. Drittens, weil er so ein unmenschliches Monster ist, dass ich mir Unterstützung suchen muss, um etwas zu unternehmen. Und, ehe du dich dieses neugierigen Tons befleißigst und ›Vor allem?‹ fragst, ich bin auch wütend auf mich selbst, weil ich mich in meiner Einsiedelei versteckt und die Gelegenheit verpasst habe, den Dreckskerl einfach umzubringen, ehe er zu mächtig wurde.«

Ich mag sie, informierte mich Triss einigermaßen verwirrt.

Ich auch. Und nun verkniff ich mir das Grinsen nicht mehr. »Also wisst Ihr, was er ist …« Mit einem abgehackten Wink mit der Hand brachte sie mich zum Schweigen.

»Ja. Und ich kenne seine ganze Geschichte, konnte aber nichts mit den Informationen anfangen, weil er den Großteil der Kurie in einen Haufen untoter Sklaven verwandelt hat.« Sie seufzte. »Ich gestehe, in manchen Fällen ist das eine echte Verbesserung, dennoch verkompliziert es die ganze Geschichte. Die Einzigen, die ich in dieser Angelegenheit aufstellen kann, sind gewisse Angehörige meines Ordens und dieser Idiot Devin Nachtklinge.«

Ich erschrak, als ich den Namen meines ehemals besten Freundes hörte, nun Anführer der Klingen, die nach dem Untergang des Tempels zum Sohn des Himmels übergelaufen waren. Kelos hatte ihn als Schachfigur benutzt, und er hasste mich bis aufs Blut.

Sie nickte, als sie meine Reaktion bemerkte. »Ein übler Kerl, korrupt, dümmlich auf eine clevere Art und verdammt feige dazu. Von dir spricht er in höchsten Tönen, was Grund genug für mich gewesen wäre, mich anderswo umzuschauen, wäre da nicht die Tatsache, dass er dich offensichtlich hasst und es ihn peinigt, dass er so über deine Fähigkeiten denkt.«

»Dann hat er Euch geschickt?«

»Nein. Ich habe mich geschickt. Devin – Gott helfe uns – leitet einen der fünf Zweige der Himmlischen Mächte auf der Erde. Ich leite einen weiteren. Gemeinsam sollten wir imstande sein, den Sohn des Himmels vom Thron zu stoßen. Aber nicht nur, dass Devin ein Feigling ist, seine verräterischen Klingen sind auch durch schreckliche Eide gebunden, die sie daran hindern, direkt gegen den Sohn des Himmels vorzugehen, und mein Orden ist nur noch ein Schatten dessen, was er einst war. Wofür ich Coriks Namen für die nächsten fünftausend Generationen verfluche.« Sie spuckte auf den Boden.

»Wie sehr ich auch in Bezug auf den Sohn des Himmels mit Euch übereinstimme, es fällt mir doch schwer, allzu viel Sympathie für Euch aufzubringen nach dem, was Euer Orden dem meinen angetan hat.«

Für einen Moment presste sie die Lippen zusammen, nickte aber. »Ich kann deine Position verstehen. Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich sie überwiegend teile?«

»Ich … was?« Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Dieser Angriff hat mehr als die Hälfte der aktiven Mitglieder meines Ordens das Leben gekostet und unsere Kommandostruktur vollkommen zerstört. Und das war keineswegs unbeabsichtigt. Der Sohn des Himmels kann keine Magier umwandeln, ohne sich dabei selbst zu entlarven, und das bedeutet, dass die Hand des Himmels stets der Teil der Kirchenmächte war, den er am wenigsten unter Kontrolle hatte. Seit er das Amt übernommen hat, hat er systematisch unsere mächtigsten und unabhängigsten Mitglieder in die riskantesten Situationen gebracht, und das Tempo, mit dem er das getan hat, hat in jüngster Zeit dramatisch zugenommen.

Sieben Siegler sind in den letzten zehn Jahren gestorben. Zwei beim Untergang deines Tempels, wobei ich Taral mitzähle, der das Amt gerade eine Stunde innehatte. Einer fiel einer schlecht geplanten Mission in Aven zum Opfer. Eine andere hast du vor zwei Jahren in dem Kloster außerhalb von Tavan zusammen mit über dreißig Angehörigen der Hand getötet. Eine verschwand kurz danach, niemand weiß, wohin. Einer fiel in der Schlacht unter der Treppe im Zuge des Konflikts wegen Sylvaras’ Schlüssel. Sein Nachfolger wurde drei Wochen später wegen Hochverrats hingerichtet. Nur zum Vergleich: In den dreihundert Jahren davor haben wir gerade drei Siegler verloren. Zählt man halb ausgebildete Novizen und Greise wie mich nicht mit, dann hat der Orden heute noch ein Fünftel der Mitglieder, die er vor dem Untergang deines Tempels hatte.«

Sie hämmerte die Faust auf den Tisch. »Der Sohn hat viel mehr von uns getötet als ihr Klingen es je geschafft habt. Nach dem Tod der letzten Sieglerin gab es nur noch drei Offiziere, die ein bedeutendes Kommando innerhalb des Ordens innehatten, und keiner davon fühlte sich der Übernahme des Amts gewachsen – weshalb sie an mich herangetreten sind. Im Vertrauen und bevor ich den Ring übergestreift habe, haben mir die drei erzählt, dass sie die Übernahme des Amts als Todesurteil betrachteten. Sie alle waren bereit, ihr Leben zu opfern, um den Orden zu retten, aber keiner von ihnen glaubte, dass er irgendetwas erreichen könnte.«

»Und Ihr denkt, Ihr könnt es?«, fragte ich.

»Ich weiß es ehrlich nicht. Aber ich musste es versuchen. Darum bin ich hier. Der Sohn des Himmels hat das hier zu etwas herabgewürdigt, das kaum noch mehr ist als glänzender Tand.« Sie nahm den Ring ab und warf ihn mir zu.

Ich fing ihn auf. Als ich die Hand öffnete, um ihn zu betrachten, fühlte ich, dass etwas fehlte. »Was ist aus der Magie geworden …?«

Ich hielt ihn vor mein Auge und blickte durch das Rund Toragana an. Ich hatte den Ring der Sieglerin schon einmal gehalten. Zwei davon sogar, und jeder hatte in meinem Magierblick hell geleuchtet, erfüllt von unzähligen Bannen. Von anderen Zaubern abgesehen waren sie auch Schlüssel, oder waren Schlüssel gewesen, die jeden der vielen Banne zu öffnen vermochten, welche den großen Tempel der Himmelsdomäne schützten.

»Vor zwei Jahren hat sich jemand in das Schlafzimmer des Sohns des Himmels geschlichen.« Toragana bedachte mich mit einem vielsagenden Blick.

»Tatsächlich?«, fragte ich mit betont ausdrucksloser Miene.

»Tatsächlich. Allerdings hat sich die Geschichte über die oberen Ränge des Tempels hinaus nie weit herumgesprochen. Der Eindringling hat zwei Schwerter deiner Göttin in das Kopfbrett des Betts gerammt, in dem der Sohn des Himmels lag, kaum einen Zoll über seinem Gesicht. Als der Sohn erwachte, hat er sich beim Aufsetzen das Gesicht über den Wangenknochen an ihnen aufgeschlitzt. Diese Wunden sind nie verheilt.«

»Faszinierend«, kommentierte ich.

»Ach, hör doch auf. Kelos war derjenige, der wegen dieser Sache geächtet wurde. Er verlor seine Position als Leiter des Himmelsschattens an Devin und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt – was einer der Gründe ist, warum ich ihn erwählt habe. Aber er hat mir bereits erzählt, wer tatsächlich das Gesicht des Sohns gezeichnet hat und wie und warum. Zugleich hat er mir gesagt, dass du derjenige bist, mit dem ich reden muss, wenn ich will, dass deine Leute uns im Kampf gegen den Sohn des Himmels unterstützen.«

»Ich? Nicht Siri?« Toragana nickte, und ich sah mich über die Schulter zu Kelos um, der uns nach wie vor geflissentlich ignorierte, und fragte mich, was er wohl im Schilde führte. »Interessant.«

»Schau, mich kümmern eure Interna nicht. Mir geht es darum, meinen Orden und meine Religion vor diesem halb auferstandenen Monster zu retten, das derzeit an ihrer Spitze sitzt, koste es, was es wolle. Wenn sein Sturz erfordert, dass ich mit den eingeschworenen Feinden der Hand zusammenarbeiten und den größten Krieg seit tausend Jahren anzetteln muss, nun, dann beabsichtige ich, genau das zu tun. Meine Pflicht gegenüber Shan gebietet es mir.«

»Glaubt Ihr, den Sohn zu töten bedeutet Krieg?« Ich fürchtete, dass es so war, aber ich wollte hören, wie die Sieglerin darüber dachte.

Toragana nickte mit erbitterter Miene. »Mindestens ein halbes Dutzend Bürgerkriege werden ausbrechen. Wie sollte es auch anders sein? Corik Ohnevater kontrolliert die meisten Herrscherhäuser des Ostens. Wenn die alten Regenten fallen, werden die frei gewordenen Sitze eine rege Nachfrage hervorbringen, wie sie die elf Königreiche noch nie erlebt haben. Heuchler werden sich erheben, Kriege zur Ablenkung angezettelt und blutige Kreuzzüge geführt, um mehr versteckte Untote aufzuspüren. Das gefällt mir nicht, aber ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein halb auferstandenes Monster auf dem Thron der Himmelsdomäne sitzt.«

Triss zischte leise in meinem Geist. Meinst du, sie hat recht?

Ich weiß es nicht, antwortete ich, obwohl ich befürchtete, dass sie recht hatte. »Wie habt Ihr von der wahren Natur des Sohns erfahren?«

»Nachdem du ihm diese beiden Schnittwunden in den Wangen hinterlassen hast, ist der Sohn ein bisschen übergeschnappt – paranoid und rachsüchtig. Er hat jede Wache, die sich in jener Nacht in einem Umkreis von hundert Metern zu seinen Räumlichkeiten aufgehalten hat, exekutieren lassen. Von da an hat er der Hand, dem Schatten und jenen Angehörigen des Schwerts, die zugleich Magier sind, jeglichen Zugang zum innersten Tempel abgeschnitten.

Er hat den Zutritt zunächst auf ein paar wenige beschränkt, auferstandene Sklaven innerhalb der Priesterhierarchie und dem militärischen Orden. Aber das hat auch seine Möglichkeiten, seine Wünsche durchzusetzen, beschränkt. Also hat er immer mehr Auferstandene erschaffen. Ihre wahre Natur zu verbergen erfordert enorme Mengen an Blut. Zu viel, um es vor jemandem mit meinen Verbindungen und meinem Werdegang innerhalb der Kirche zu verheimlichen. Hinzu kamen die Informationen, die ich aus Devin herausgepresst habe. Das reichte mir, um die Wahrheit zu erkennen.«

»Und da habt Ihr beschlossen, Euch an mich zu wenden.«

»Nun ja, ursprünglich an Kelos, aber, ja. Werdet Ihr mir helfen, gegen den Himmelssohn in den Krieg zu ziehen?«

Ich holte tief Luft, während ich eine Entscheidung darüber traf, welche Antwort ich ihr erteilen wollte. Das war der Moment, in dem ein gewaltiger Felsbrocken geradewegs auf Schulterhöhe durch die der Brache zugewandte Wand des Roch und Diamant krachte. Er flog geradewegs über den Tisch hinweg, an dem Toragana und ich einander gegenübersaßen und durchschlug die Wand auf der anderen Seite. Nur ein paar Zoll weiter rechts oder links, und er hätte mindestens einen von uns getötet.

Triss umfing mich mit einem Mantel aus Dunkelheit, als ich rückwärts von meinem Stuhl zu Boden glitt. So, wie wir es Tausende von Malen geübt hatten, übergab mir Triss die Kontrolle über seine Sinne und seine Substanz, als ich wieder auf die Füße sprang. Mein Blick auf die Welt veränderte sich, als mein eigenes Sehvermögen seine Bedeutung einbüßte und ich die Dinge durch Triss’ Finstersicht wahrnahm. Farben schwanden dahin, Strukturen und die Art, wie sie das Licht reflektierten oder absorbierten traten in den Vordergrund, Schatten bekamen eine Tiefe und Bedeutsamkeit, die alles übertraf, das zu beschreiben ich auch nur hoffen kann …

Als ich meine Schwerter zog, strömte bereits eine zerlumpte Horde Auferstandener aus dem unteren Stockwerk über die Haupttreppe in den Gastraum.

Der Sohn des Himmels war uns zuvorgekommen.

3

Tod oder Gerechtigkeit?

Manchmal, wenn ich ganz besonders ehrlich zu mir selbst bin, dann frage ich mich, welchen Impulsen ich tatsächlich diene. Der Erinnerung an meine Göttin? Oder der Finsternis des Grabes? Ich habe mich stets bemüht, nur die zu töten, deren Tod die Göttin Gerechtigkeit von mir gefordert hat, aber wie weit reichen diese Anweisungen der Gerechtigkeit?

Ashvik war mein Erster, König von Zhan und so unverkennbar ein Fall für die Gerechtigkeit des Schwertes, wie man es sich nur wünschen konnte. Aber er war nicht der Letzte. Viele waren seit jenem Tag durch meine Hand gestorben. Einige hatten ihren Tod ebenso eindeutig verdient wie Ashvik den seinen. Einige hatten sich zwischen mir und meiner rechtmäßigen Beute aufgebaut. Andere … andere waren einfach zu nahe ans Geschehen geraten.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir ihr Tod kein Vergnügen bereitet hatte, dass ich sie lieber verschont hätte. Es gibt nicht viele Freuden im Leben, die sich mit der messen können, in dem, was man tut, der Beste auf der ganzen Welt zu sein. Es gefällt mir nicht, für den Tod einiger Gegner verantwortlich zu sein, die es nicht verdient haben, aber der Schlagabtausch, das Zusammenspiel aus Stahl, Magie und dem Wissen, dass der weniger Begabte den ultimativen Preis wird bezahlen müssen … das ist eine ganz andere Geschichte. Die freudige Erregung zu leugnen, die mich erfasste, als ich meine Schwerter zog und mich bereitmachte, durch die Reihen der Auferstandenen zu waten, hieße zu leugnen, wer ich bin.

Zu gern würde ich glauben, dass ich anders empfunden hätte, wären meine Gegner lebende, atmende Menschen mit eigenem Willen gewesen. Allzu gern würde ich das glauben.

Aber ich tue es nicht.

Die Hand erwartete die Auferstandenen am Kopf der Treppe mit Bannen und Stahl und den Miniaturblitzen ihrer Vertrauten. Köpfe fielen, faulende Haut wurde spröde und verbrannte. Zwanzig Auferstandene fielen schon in den ersten paar Sekunden. Aber immer mehr kamen die Treppe herauf. Ohne in ihren gefallenen Kameraden mehr zu erkennen als Hindernisse auf ihrem Weg, rauschten sie zu Hunderten herbei. Die bloße Masse untoten Fleisches drängte die Hand wieder und wieder zurück und schuf einen Brückenkopf.

Kelos hatte sich im selben Moment wie ich ummantelt, aber anhand der Leichen, die er hinter sich zurückließ, war es leicht, den Weg nachvollzuziehen, den er quer durch den Raum in meine Richtung nahm. Die Schwerter Namaras gehören zu den wirkungsvollsten Werkzeugen im Kampf gegen die Untoten. Sogar jetzt, nach dem Tod der Göttin, dient dieser Teil ihrer Magie dem geeigneten Schwertführer. Aber dann rauschte die nächste Woge der Auferstandenen auf die Sieglerin und mich zu, und ich verlor Kelos und seine Schwerter aus den Augen. Ehe der Tod uns ereilte, krachte ein weiterer Felsbrocken durch die Wirtschaft.

Er tötete einen Soldaten der Hand und riss ein Dutzend Auferstandene in rottende Fetzen – nicht, dass ihnen das irgendetwas auszumachen schien. Der Tod des Zaubererpriesters erfasste auch seinen Sturmvertrauten, und ein gewaltiges Donnern erschütterte das Wirtshaus, als der Himmel um einen der seinen trauerte. Zwar sah ich es nicht, aber ich wusste, dass sich über uns bereits die Wolken formierten – Vorboten des Regens und der Winde, die bald über uns hereinbrechen würden.

Die Sieglerin zog ein Paar kurze, ledergebundene Ruten aus ihrem Gürtel, die an kurze Axtgriffe gemahnten. Sie überkreuzte sie vor ihrem Gesicht und riss sie herab und hinaus, als würde sie mit zwei Peitschen zugleich schlagen. Gleißende Blitze schossen hervor und grillten die ganze vordere Reihe der heranstürmenden Horde, aber noch immer strömten weitere Tote hinter ihnen heran. Sie schlug erneut zu, doch die Auferstandenen wurden mehr und mehr. Ich glitt zur Seite, um mich einiger Untoter anzunehmen, die am Rande der aus Peitschenblitzen geschaffenen Todeszone vorbeigeschlüpft waren.

Toragana war eine der vollendetsten magischen Kriegerinnen, die mir je begegnet waren, aber obwohl ich ihr zur Seite stand, wurden wir immer weiter zurückgetrieben, bis wir uns eingezwängt in einer Ecke der großen Gaststube wiederfanden. Damit blieb der Beginn der Wendeltreppe zu den Quartieren weiter oben ungedeckt, und mehr und mehr Auferstandene schwärmten die Stufen empor. Ich hatte weder die Zeit noch den Atem, mir mehr als flüchtige Sorgen darüber zu machen, was das für Faran und Siri bedeutete.

In regelmäßigen Abständen schleuderte der Apparat außerhalb des Hauses neue Steinbrocken durch das Gasthaus. Größtenteils töteten sie ruhelose Tote, aber ich hatte gerade wieder einen von ihnen geköpft – die sicherste Methode dafür zu sorgen, dass dies ihre letzte Auferstehung bleiben würde –, da verwandelte ein Glückstreffer die Beine der Sieglerin in eine blutige Masse aus zermalmtem Fleisch und gesplitterten Knochen. Sie fiel mir vor die Füße, das Gesicht nach oben gewandt, und ihre Augen schienen irgendwie den Schatten zu durchdringen, der mich vor meinen Feinden verbarg.

»Du musst Corik ein Ende machen. Er entweiht die Welt durch seine bloße Existenz.« Nun hustete sie, und Blut trat über ihre Lippen. »Tu, was mir nicht gelang«, flüsterte sie und war tot. Donnerschläge hallten wieder und wieder durch die Luft, während ein mächtiger Wind an dem Wirtshaus rüttelte.

Obwohl ich Toragana gerade erst kennengelernt hatte, empfand ich einen stechenden Schmerz – trauerte um eine Freundschaft, die mit der Zeit hätte entstehen können. Ich wollte bleiben und ihre Mörder bezahlen lassen, aber sie hatte recht. Die Auferstandenen mochten an diesem Ort fallen wie herbstliches Laub im Nordwind, und doch würde ihre Zahl kein Ende nehmen, und ihr finaler Tod schien sie nicht zu kümmern. Bliebe ich noch länger, würde ich sterben, so sicher, wie die Sieglerin gestorben war.

Ein Blick in den Raum bestätigte die Ausweglosigkeit der Situation. Mit einer Ausnahme waren alle Angehörigen der Hand tot oder gefangen, ebenso wie das Personal des Wirtshauses. Ich konnte mich nicht mit Kelos absprechen, oder mit Siri und Faran – umso weniger, da beide nicht einmal heruntergekommen waren, um sich an dem Kampf zu beteiligen, sondern sich dort oben den Toten stellen mussten; jedenfalls waren sie nicht zu entdecken.

Das Gebäude selbst stand nach all den Felsen, die sich ihren Weg durch die Mauern freigeschlagen hatten, kurz vor dem Zusammenbruch. Schon jetzt knarrte und schwankte es in dem zunehmenden Sturm. Stürzte es ein, würde es jeden, der noch darin war, in den Tod reißen.

Mittels einer höchst kontrollierten manischen Fuchtelei schuf ich eine vorübergehende Lücke im Kampfgeschehen und jagte eine Explosion aus Magie hinein – unsichtbar für das sterbliche Auge, aber zugleich ein traditionelles Signal unter jenen, die über den Magierblick verfügten. Mit den Farben meines Ordens, Rosa und Orange, formte es einen gleißend hellen Pfeil. Dieser zeigte zunächst auf die Seite des Wirtshauses, welche der Mauer des Sylvain zugewandt war, glitt dann durch eines der Löcher hinaus und schoss anschließend parallel zu der magischen Mauerkrone in Richtung Meer davon. Ich hoffte, meine Kameraden hatten ihn gesehen, aber ich wartete nicht, um es herauszufinden. Ich hackte mir den Weg zum nächsten Fenster frei, schwang mich hinaus und ließ mich auf die Mauer fallen.