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Einst kämpfte Aral, die legendäre Klinge von Namara, im Namen der Gerechtigkeit, stets begleitet von seinem Vertrauten, dem lebenden Schatten Triss. Doch nun schlagen sich die beiden mit Gaunereien durch, immer im Dunkeln verborgen. Eines Tages heuert eine rätselhafte Frau Aral an. Er soll eine geheime Nachricht überbringen. Doch wie sich herausstellt, ist der Auftrag eine Täuschung, denn er führt ihn zu einer geheimen Zusammenkunft, die sich zum Ziel gemacht hat, das Reich in einen Krieg zu stürzen.
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Seitenzahl: 527
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
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Epilog
Anhang
Begriffe und Personen
Kalender
Wochentage
Danksagung
Kelly McCullough wuchs als Sohn freilaufender Hippies auf. Später besuchte er die Schauspielschule und arbeitete als Improvisationskünstler. Diese Kombination bereitete ihn bestens auf seine gegenwärtige Karriere als Autor und Katzenhüter vor. Er lebt in den USA mit seiner Frau Laura. Kelly besteigt gerne Berge, fährt Rad und genießt ansonsten seine Rolle als selbstheizender Katzensessel.
Kelly McCullough
Roman
Aus dem amerikanischenEnglisch von Frauke Meier
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2011 by Kelly McCullough
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Broken Blade«
Originalverlag: Ace Books, published by The Berkley Publishing Group
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, a member of Penguin Group (USA) Inc
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat: Ruggero Leò
Titelillustration: © Jan Ditlev Christensen
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-2656-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Laura,für immer und ewig
Ärger trägt ein rotes Kleid, so lautete mein erster Gedanke, als das Mädchen den Greifenkopf betrat. Der zweite besagte, dass das Kleid ihr nicht so gut passte, wie es sich für das Mädchen einer Dame geziemte. Es war für jemanden geschneidert worden, der größere Brüste und breitere Hüften hatte als seine derzeitige Trägerin. Nicht dass sie schlecht darin ausgesehen hätte. Die Verpackung passte nur nicht so ganz, aber der Inhalt des Pakets machte die Präsentation mehr als wett.
Das schlecht sitzende Kleid stellte jedenfalls ein Rätsel dar. Rot war die neueste Mode der Bediensteten der großen Häuser von Tien, und wenn eine durchschnittliche Herzogin auch keine gesprungene Tasse darum geben würde, ob die Kleidung ihrer Bediensteten passte oder nicht, kümmerte es sie doch ganz enorm, wenn deren Aussehen ein schlechtes Licht auf sie selbst werfen würde. Diese Mode war noch zu jung für die Weitergabe gebrauchter Kleider, was bedeutete, dass dieses Kleid nicht dem Mädchen gehören konnte, das es derzeit trug.
Das schöne Kind drehte sich in meine Richtung und marschierte quer durch den Raum, ohne das schmutzige Stroh, das im Greifen den Boden des Gastraums bedeckte, auch nur eines Blickes zu würdigen. Jerik, der Eigentümer der Taverne, wechselte es, ob es nun nötig war oder nicht, einmal pro Jahr, sehr zum Ärger der Ratten und ihrer exotischeren magischen Spielgefährten, den Schleichern und Tässchen. Addierte ich die Gleichgültigkeit gegenüber all den scheußlichen Dingen im Stroh zu ihrer Schrittlänge und ihrem Gesichtsausdruck dazu, musste ich meine Meinung revidieren, das war kein »Mädchen«, das war eine Frau, wenn auch eine sehr junge.
»Bist du der Löhner?«, fragte sie, als sie meinen Tisch erreicht hatte. Dabei beugte sie sich zu mir herab, umrahmt von dem einzigen Licht im ganzen Raum, das einer düsteren und arg verschrammten Magierlampe in Form eines Lüsters entstammte.
»Ich bin ein Löhner, und ich bin frei, falls Ihr einen braucht.« Ein Schattenlöhner, eine freischaffende Allzweckwaffe der Unterwelt – wie tief war ich doch seit den alten Tagen gefallen.
»Man sagte mir, ich solle Ausschau halten nach Aral …«
Sie zog das Wort in die Länge, bis es beinahe wie eine Frage klang, so als hoffte sie, ich würde ihr ein bisschen mehr liefern als meinen Vornamen, eine Taktik, die ich aus ausuferndem persönlichen Gebrauch kannte, und eine, deren Opfer ich nicht werden wollte. Aber wenn ich auch weiterhin in der Lage sein wollte, meine Zeche zu bezahlen, brauchte ich Arbeit, also nickte ich.
»Aral ist ein Name, auf den ich reagiere. Unter anderen. Wozu braucht Ihr einen Löhner?«
»Finden wir doch erst einmal heraus, ob du der Richtige für die Aufgabe bist, die mir vorschwebt.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Schatten sich langsam nach links bewegte, als wollte er einen genaueren Blick auf die junge Frau werfen. Ich beugte mich in die gleiche Richtung, um die Bewegungen des Schattens zu tarnen, und stieß dabei unbeabsichtigt mit dem Ellbogen meine Whiskeyflasche vom Tisch. Sie schlug mit leisem Krachen im Stroh auf, brach aber nicht entzwei. Nicht dass das noch etwas ausgemacht hätte. Ich hatte den letzten Rest ihres Inhalts bereits vor zwanzig Minuten getrunken. Was auch der Grund sein könnte, warum ich sie nun umgestoßen hatte.
»Kleinen Augenblick bitte«, sagte ich und bückte mich, um die Flasche aus dem modernden Stroh zu ziehen.
Verborgen hinter dem Tisch nahm ich die Gelegenheit wahr, Triss mit der linken Hand ein scharfes »Nein« zu signalisieren. Ich konnte es mir nicht leisten, dass irgendjemand merkte, wie sich mein Schatten aus eigenem Antrieb bewegte, nicht, solange ein Preis auf unsere Köpfe ausgesetzt war – eigentlich waren es sogar mehrere Preise, denn es gab mehr als nur eine Partei, die ein Interesse an uns hatte. Und sogar in der dunkelsten Ecke gab es in dieser schäbigen Taverne immer noch genug Licht, damit ein geschultes Auge einen potentiell verhängnisvollen Zusammenhang herstellen konnte.
Im Stillen verfluchte ich meinen Schattenvertrauten, als ich die Flasche wieder auf den Tisch stellte. Hör mit dem verdammten Scheiß auf, Triss! Aber das war nur ein Ausdruck meines Missmuts. Solange ich die Worte nicht laut aussprach, konnte Triss mich nicht hören, und täte ich es, könnte ich mir genauso gut gleich selbst die Kehle durchschneiden und der Sache ein Ende machen. Der Finsterling hörte auf, sich zu rühren, aber ob das an meinem Handsignal lag oder nur daran, dass er inzwischen genug gesehen hatte, wusste ich nicht.
Aber jetzt nahm ich die Frau meinerseits ein wenig näher in Augenschein. Triss zog nie etwas so Offensichtliches ab, ohne dafür einen verdammt guten Grund zu haben, immerhin stellte er den vorsichtigen Teil unserer Partnerschaft dar. Außerdem, wie bereits zuvor bemerkt, die Dame war einer genaueren Betrachtung schon ganz aus sich heraus mehr als würdig.
Groß war sie für eine Frau, vielleicht sogar genauso groß wie ich mit meinen eins achtzig, und ihr Körperbau und ihre Muskulatur passten eher zum Kriegeradel von Zhan als zu der Zofe, für die ihr Kleid sie ausgeben sollte. Ihr Haar war einige Schattierungen dunkler als mein mittelbraunes und doppelt so lang, geflochten zu einem prachtvollen Zopf, der kurz über ihrer Hüfte endete. Ihre Augen waren ebenfalls dunkel, aber die genaue Farbe konnte ich in dem trüben Licht, der eigentliche Anlass, warum ich Gast des Greifen geworden war, nicht erkennen. So oder so, die Schwertschwielen auf der Innenseite ihres linken Daumens waren viel verräterischer als alles andere.
Damit entpuppte sich das Kleid endgültig als Maskerade. Viel eher gehörte es ihrem Mädchen als ihr selbst. Was mich zu einer interessanten Frage führte: Warum hatte sie, wenn sie wirklich irgendeine unbedeutende Adlige war, nicht einfach ihre Schneiderin beauftragt, ihr ein passendes Kleid anzufertigen? Aber diese Frage war eher ein Ausdruck nichtsnutziger Neugier und kaum von ernsthafter Bedeutung. Mich interessierte nicht, woher ich meine Aufträge bekam. Nicht mehr. Nicht, wenn sie gut genug bezahlt wurden, sodass ich meine Rechnungen begleichen konnte. Außerdem wusste jeder in diesem Gewerbe, dass unsere Auftraggeber nie die Wahrheit sagten.
Sinn und Zweck bei der Beauftragung eines Löhners war ganz einfach, dass wir zu niemandem gehören und keinem Rechenschaft ablegen müssen. Ein Sonnenseitenlöhner kann Euch im Bedarfsfalle eine gestohlene Halskette wiederbeschaffen, ohne unbequeme Fragen derart zu stellen, wie Ihr sie von den Wachen zu erwarten habt, da diese dem Gesetz und dem Herzog von Tien verpflichtet sind. Fragen wie: Woher habt Ihr die Kette überhaupt? Oder: Wie kommt es, dass sie der Kette so sehr ähnelt, die im letzten Jahr von jemand anderem als gestohlen gemeldet wurde?
Die Antworten auf die Fragen, die wir hier auf der Schattenseite nicht stellen, liefern noch mehr Anlass zur Sorge. Warum wünscht Ihr, dass ich das stehle? Was ist in der Kiste, dass sie unbedingt um vier Uhr am Morgen zu einem Platz am Hafen gebracht werden muss? Wie kommt es, dass Taurik Langmesser seinen Anteil an Eurem kleinen Geschäft nicht erhalten hat? Was haben die Euch getan, dass Ihr sie verprügeln lassen wollt? Oder, wenn es sich um einen schwarzen Löhner handelt: Warum wollt Ihr ihn tot sehen? Manchmal lieferte der Auftraggeber von sich aus eine Antwort, aber die entsprach nur im seltensten Fall der Wahrheit. Nicht dass das irgendetwas ausgemacht hätte. Meist will ich so oder so nichts weiter wissen. Das ist ein Grund, warum ich Löhner geworden bin. Einen Löhner muss das alles nicht kümmern.
Nichtsdestotrotz interessierten mich ein paar kleine Narben, dort, wo der Hals meiner potentiellen neuen Auftraggeberin in die rechte Schulter überging, aber das war nur müßige Neugierde. Während ich sie studierte, tat sie das Gleiche mit mir. Der kleinen Falte zwischen ihren Brauen nach zu schließen, war sie nicht sonderlich begeistert von dem, was sie sah. Sie war nicht die Erste, die solch ein Urteil fällte, und sie würde nicht die Letzte sein.
»Also«, fragte sie einen Moment später, »was für eine Art Löhner bist du?«
»Ich? Ich bin natürlich ein Schattenlöhner, aber auf keinen Fall ein schwarzer. Ich gehe Risiken ein, wenn der Preis stimmt, und das Gesetz kümmert mich nicht, aber ich lösche niemanden aus für Euch. Oder für irgendjemanden anders.«
Mit dem blutigen Gewerbe hatte ich abgeschlossen. Triss und ich hatten unseren Anteil an Seelen zu den Hohen Richtern und dem Großen Rad der Wiedergeburt geschickt. Mehr als nur unseren gerechten Anteil.
Nun nickte sie, die Falte aber blieb. »Ich suche keinen Auftragsmörder, nur einen Boten für eine prekäre Lieferung.«
Das hörte sich gut an und war, wenn es denn stimmte, vermutlich auch der Grund, warum sie unter den vielen Schattenlöhnern von Tien gerade mich gewählt hatte. Kurierdienste und ihr enger Verwandter namens Schmuggel brachten mir den größten Teil meiner Erträge ein. Schattenseite, aber keine tiefe Finsternis. Nur wenige Löhner konnten sich im Hinblick auf verschwiegene Botengänge eines besseren Rufes rühmen als ich, aber ich hatte ja auch Triss. Das war ein Vorzug, dessen sich nicht mehr als zwanzig Leute auf der ganzen Welt rühmen konnten.
»Wie viel bietet Ihr mir?«, fragte ich.
»Willst du nicht erst wissen, was du wo zu tun hast?« Zum ersten Mal, seit sie zur Tür hereingekommen war, schien meine Dame im roten Kleid ein wenig aus dem Tritt zu geraten.
»Eigentlich nicht, jedenfalls nicht, bevor ich weiß, dass die Sache es wert ist, mir irgendwelche Geheimnisse zu Gemüte zu führen. Die bergen stets ihre eigenen Risiken.«
Sie zog ein kleines, aber volles Seidentäschchen aus den Tiefen ihres Schnürleibs hervor und ließ es auf den Tisch fallen, wo es klappernd mit der Öffnung zu mir aufprallte. Ich ergriff es und machte es auf. Es war voller Zhani-Silberriels, noch warm vom Kontakt zu ihrer Haut, die einen schwachen Lavendelduft verströmten. Keine Unsumme, aber auch kein schlechtes Geld, wenn der Auftrag in Ordnung war.
Ich legte den Beutel zurück auf den Tisch. »Ist das schon alles im Voraus oder nur die Hälfte, und die andere Hälfte gibt es später? Oder wollt Ihr mir damit nur zeigen, was ich erhalte, wenn ich Euch einen Beweis für die erfolgreiche Besorgung liefere?«
»Das ist ein Drittel, den Rest bekommst du, sobald ich einen Beweis für die Auslieferung habe.«
»Also ist es gefährlich?«, hakte ich nach.
Das musste es wohl sein, wenn sie bereit war, so hoch zu gehen, ehe wir auch nur mit dem Feilschen begonnen hatten. Gefahr war mir nur recht. Je schlechter die Chancen standen, desto besser die Bezahlung und desto geringer der Arbeitsaufwand. Und sollte einen unterwegs jemand kaltmachen, nun, dann war man endgültig aus dem Geschaft raus. Von den Toten erwartete niemand mehr irgendetwas.
Meiner Frage begegnete sie mit einem Achselzucken. Dann warf sie den nach vorn gerutschten Zopf über ihre Schulter. »Es wird nur gefährlich, wenn etwas schiefgeht.« Sie kniff die Augen zusammen. »Lehnst du es grundsätzlich ab, jemanden zu töten, oder stört es dich nur, wenn dies der Zweck des Auftrags ist?«
»Ich versuche, wann immer es möglich ist, zu vermeiden, jemanden auszulöschen, aber ich habe der Möglichkeit nicht abgeschworen.« Mein Schatten setzte sich erneut in Bewegung, also folgte ich ihm notgedrungen, dieses Mal, indem ich mich zurücklehnte und dabei glücklicherweise nichts vom Tisch stieß.
Verdammt, Triss, hör auf, hier herumzutänzeln. Er hatte sich nur ein wenig gerührt, aber auch ein halber Zoll war ein halber Zoll zu viel. Viel zu viele Leute wollten meinen Kopf an das Verrätertor genagelt oder in einem Glas Reiswein an den Sohn des Himmels geschickt wissen. Um von dem kleinen Paartanz mit meinem Schatten abzulenken, winkte ich der Frau zu, sie möge sich auf den freien Platz am Tisch setzen.
»Ich würde Euch ja einen Trunk anbieten, aber …« Bekümmert schüttelte ich die leere Flasche – Kyles Fünfzehnjähriger, ein vergleichsweise kostspieliger Aveni-Whiskey, den ich stets bevorzugte, wenn ich es mir leisten konnte. Die Flasche schepperte leer und verströmte einen Hauch von Torf und Honig. »Wenn Ihr also nicht selbst eine Runde spendieren wollt, bleibt Ihr wohl auf dem Trockenen, während Ihr mir erzählt, was ich für Euch tun soll, Madame …?«
Ich sprach sie mit dem Höflichkeitstitel der Hausdame einer Herzogin an in der Hoffnung, sie dazu zu verleiten, etwas mehr zu offenbaren, aber sie ignorierte den Köder und schüttelte nur ungeduldig den Kopf.
»Nenn mich Maylien.« Noch immer wollte sie sich nicht setzen. »Du übernimmst den Auftrag also?« Sie lächelte ein selbstgefälliges kleines Lächeln.
Das erweckte in mir den Wunsch, sie einfach platt abzuweisen. Dummerweise wäre meine Börse ebenso platt, würde ich sie ihrer Wege schicken. Wollte ich weiter das gute Zeug trinken, musste ich arbeiten. Und ich wollte weiter das gute Zeug trinken. Das war eines der wenigen verbliebenen Dinge in meinem Leben, die mir etwas Freude bereiteten.
»Sagen wir, ich bin offen für den Gedanken«, entgegnete ich. »Der Lohn scheint angemessen für manches, unangemessen für anderes.«
»Ohne eine Sicherheit kann ich nicht mehr offenbaren … die Zusicherung deines Stillschweigens wäre das Mindeste.«
Ich zog eine Braue hoch und musterte sie. »Da Ihr genug über meine Reputation in Erfahrung bringen konntet, um mich hier zu finden, dürftet Ihr auch wissen, dass ich nicht über meine Auftraggeber rede. Nicht einmal über die Angebote, die ich erhalte.«
»Darf ich davon ausgehen, dass dies einem Ehrenwort gleichkommt?«
»Wenn Ihr es wünscht; warum Ihr aber bereit seid, dem Wort eines Löhners aus dem Schattengewerbe zu vertrauen, ist mir ein Rätsel.«
Sie lächelte wie eine Frau, die ein Geheimnis wahrte. »Bei den meisten Löhnern täte ich das nicht, doch ich habe Grund zu glauben, dass ich auf dein Wort vertrauen kann. Hast du je von Baronin Marchon gehört?«
Es kostete mich Mühe, bei der Erwähnung dieses Namens nicht zusammenzuzucken, vergeblich, so fürchte ich, denn mein Schatten zuckte um einen guten Zoll zur Seite. Selbstverständlich hatte ich von Marchon gehört, aber ich bezweifelte, dass das auch für die Person zutreffen konnte, die zu werden ich beschlossen hatte. Während ich Triss und seine plötzliche Neigung zu abrupten Bewegungen und Schreckensreaktionen im Stillen verwünschte, leimte ich mir einen verwirrten Ausdruck ins Gesicht und schüttelte den Kopf, eine Geste, die dazu führte, dass die Welt um mich herum auf und ab hüpfte und sich sonderbar verzerrte – eine nicht ausschließlich unangenehme Nebenwirkung der leeren Flasche.
»Gehört diese Marchon zum Stadtadel? Oder zum Landadel?«, fragte ich.
»Eher Letzteres, aber sie unterhält ein großes Haus – ein riesiges Anwesen auf der Nordseite der Stadt, gleich neben der königlichen Domäne. Dorthin muss die Lieferung erfolgen.«
Ich kannte den Ort gut. Das Anwesen Marchon hatte einst die letzte Mätresse des alten Königs beherbergt, die jüngere Schwester des damaligen Barons Marchon. Nicht weniger als dreimal war ich heimlich in das Haus eingedrungen in der Hoffnung, eine ruhige Minute allein mit dem König verbringen zu können.
»Das ist eine Gegend, die in Schattenkreisen einen hässlichen Ruf innehat. Heftige Sicherheitsvorkehrungen auf allen Anwesen, dazu unregelmäßige Patrouillen der Krongarde auf den Straßen«, kommentierte ich.
Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Elite in der Nähe ein geheimes Kapitelhaus hatte und in den meisten Nächten Wachen durch den Park streiften, aber das durfte ich ganz bestimmt nicht wissen, umso weniger, wie ich an ihnen vorbeikommen konnte.
Ich schob den Beutel zurück zu ihr. »Ich fürchte, Ihr werdet euch einen anderen Löhner suchen müssen.«
In einem recht überzeugenden und ziemlich bezaubernden Ausdruck der Besorgnis biss sie sich auf die Lippe. Ich fragte mich, wie oft sie das wohl geübt hatte.
»Was wäre, wenn ich dir mehr Geld biete?«, fragte sie. »Ich glaube, ich kann noch einmal die Hälfte drauflegen, wenn es notwendig ist.«
Ich hatte gerade den Mund aufgeklappt, um nein zu sagen, als ich spürte, dass etwas an meinem ganzen Rücken zupfte, beinahe so, als würde man sich ein schweißgetränktes Hemd vom Leib schälen. Triss schon wieder, nun aber um mir klarzumachen, dass er aus irgendeinem Grund wollte, dass ich diesen Auftrag übernahm. Für mich roch das nach Ärger, und mir gefiel auch nicht, wie Triss mich bedrängte, aber ich brauchte das Geld wirklich, also beschloss ich, Maylien ein wenig anzustupsen, um zu sehen, wie sie reagierte.
»Die Hälfte drauf könnte reichen«, erklärte ich ihr. »Aber habt bitte Nachsicht, und wartet hier einen Moment auf mich, wäret Ihr so freundlich? Ich habe eine dringende Angelegenheit zu erledigen.« Ich schaute kurz zur Hintertür und dem Schild, das den Weg zum Abtritt wies, ehe ich ihr einen Blick zuwarf, der ungefähr besagte: Was soll ich machen?
Dies war unter den gegebenen Umständen ein recht unanständiges Ersuchen, und sie hätte mit Recht Anstoß nehmen können, doch es gab in der Tat etwas, worum ich mich in aller Stille kümmern musste. Außerdem, sollte sie Anstoß nehmen und ihrer Wege gehen, hätte sich mein Dilemma hinsichtlich der Frage, ob ich den Auftrag übernehmen sollte, von selbst erledigt.
Ehe sie antworten oder irgendetwas tun konnte, das über ein ärgerliches Erröten hinausgegangen wäre, stemmte ich mich auf die Füße, entbot ihr eine dilletantische Kaufmannsverneigung – es wäre ganz und gar nicht hilfreich gewesen, hätte ich ihr die Version des hohen Hofes von Zhan geliefert. Außerdem hatte ich im Laufe der letzten drei oder vier Stunden genug Whiskey getrunken, sodass ich vielleicht gar nicht mehr in der Lage gewesen wäre, eine formellere Verbeugung als eben diese hinzulegen.
»Bin so schnell ich kann zurück, gnä’ Frau.«
Auf dem Hof flackerten einige Laternen, gefüllt mit dem billigsten Öl, das für Geld zu erwerben war. Auf den Pflastersteinen bestand keinerlei Feuergefahr und damit auch keine Notwendigkeit für eine Magierlampe, was bedeutete, dass es dort draußen so dunkel war wie im Herzen des alten Königs Ashvik. Einige der gehobeneren Viertel konnten es sich leisten, die Hauptstraßen bei Nacht mit Magierlampen zu beleuchten, aber die Stolprer waren weit davon entfernt, als gehoben bezeichnet zu werden. In Nächten wie diesen, wenn der Mond seinem Nadir nahe war, gerieten sogar Augen, die die Dunkelheit so gewohnt waren wie meine, in Schwierigkeiten, und Jeriks Lampen lieferten gerade genug Licht, den Weg zum Abtritt zu finden.
Ich schlüpfte hinein und tauschte so den Gestank einer Art von Scheiße gegen den einer anderen Art aus. Hätte ich die Wahl gehabt, ich hätte Hof und Pferd vorgezogen; aber ich benötigte Privatsphäre. Ich zog die Tür hinter mir zu und verkeilte sie mit einem kleinen Messer, das ich aus einer Scheide an meinem linken Handgelenk gezogen hatte. Hier drin war das Licht besser als im Hof, Licht, verbreitet von einer allmählich nachlassenden Magierlampe, die an der Decke festgenagelt war – zweifellos vom Nachtmarkt –, trotzdem kostspielig. Ich nehme an, Jerik hatte diese teure Variante gewählt, weil ihm nicht gefiel, was passierte, wenn Trunkenbolde die Löcher nicht mehr finden konnten, weshalb er ihnen so viel Hilfe wir nur möglich zuteil- werden ließ.
Gestreng musterte ich meinen nun viel deutlicheren Schatten und herrschte ihn an: »Was führst du im Schilde?«
Obwohl meine Arme regungslos an meinem Körper herabhingen, hoben sich die des Schattens, breiteten sich aus, bis sie aussahen wie Schwingen, während seine Beine zu etwas verschmolzen, was viel länger und schmaler war. Zählte man dann noch dazu, wie Kopf und Hals gleichermaßen flacher und länger wurden, ergab sich die Form einer Kreatur, die nicht einmal mehr entfernt menschlich aussah. Um genau zu sein, könnte ich es Euch nicht verübeln, wenn Ihr annehmen würdet, ausgehend allein von der Form und den Bewegungsabläufen meines Schattens, ich hätte mich in einen ziemlich kleinen und äußerst aufgewühlten Drachen verwandelt.
Mein Schatten, um genau zu sein, der Finsterling, der in meinem Schatten hauste, legte den Kopf schief, und aus seinem Maul schoss ein schmaler Schatten in Form einer gespaltenen Zunge hervor, um meine Wange zu lecken. Das war Triss.
»Ich will, dass du den Auftrag annimmst«, sagte er.
Ich spreche von ihm als »er«, weil Triss in meinem Schatten lebt, und ich bin ein Mann. Zutreffender wäre vermutlich, »es« zu sagen, denn welchen Geschlechts kann ein Schatten schon sein? Seine Stimme, die an Rauch und Sirup gemahnte, untermauerte noch die Doppeldeutigkeit, bewegte sie sich doch mittig zwischen Tenor und Kontralto.
»Warum?«, fragte ich ihn.
»Weil du pleite und gelangweilt bist, und wenn du arbeitest, säufst du nicht so viel.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kaufe ich dir nicht ab, Triss. Das war bei dem letzten Dutzend Angeboten nicht anders, aber keines davon hat dich veranlasst, so aus der Deckung zu kommen, wie du es gerade getan hast. Das ist gefährlich. Was, wenn dich jemand gesehen hat?«
Triss bäumte sich auf. »Seit wann interessiert es dich, ob etwas gefährlich ist? Ich kann die Gelegenheiten gar nicht zählen, zu denen uns deine leichtsinnige Haltung hinsichtlich der Aufträge, die wir in den letzten fünf Jahren übernommen haben, beinahe umgebracht hätte!«
»Das ist was anderes. In Erfüllung der Pflicht den Tod zu finden, ist ein Risiko, das einzugehen ich von jeher bereit war. Mitten in einer Taverne in die Mangel genommen und ans Verrätertor genagelt zu werden oder dem Sohn des Himmels zur Belustigung zu dienen ist ein Tod für verdammte Dilettanten! Willst du, dass unser Vermächtnis so aussieht?«
»Im Gegensatz zu was?«, konterte Triss und flatterte aufgeregt mit den Schwingen. »Dazu, bei der Auslieferung eines gestohlenen Gemäldes an den Käufer getötet zu werden? Du willst doch nicht ernsthaft die Gefahren der vergangenen fünf Jahre mit dem Risiko vergleichen, im Zuge einer Mission im Namen der Göttin zu Tode zu kommen. Würde uns jemand an den König von Zhan verhökern oder an den so genannten Sohn des Himmels, dann würden wir wenigstens für das Sterben, was wir gelebt haben. Damals, vor dem Untergang des Tempels, war das, was wir getan haben, von Bedeutung. Wir haben einem höheren Zweck gedient, nicht nur dem bloßen Gelderwerb.«
»Für den Fall, dass es dir nicht aufgefallen ist, Triss, die Göttin ist tot, ermordet von ihren himmlischen Kollegen, und die meisten ihrer Diener sind ihr ins Jenseits gefolgt. Der Sohn des Himmels hat unseren ganzen Orden geächtet. Nichts, was wir tun, hat noch irgendeine Bedeutung, und daran wird sich auch nichts ändern. Die verfickten Götter persönlich haben es über ihr menschliches Sprachrohr offiziell so verfügt.«
»Möge er von innen verfaulen«, geiferte Triss.
Ich warf die Hände in die Luft. »Es gibt keinen höheren Zweck mehr, es gibt nur noch dich und mich und unsere Bezahlung. Und darum sollten wir uns besser auf unsere Professionalität besinnen, denn etwas anderes haben wir verdammt noch mal nicht mehr. Und aus eben diesem Grunde möchte ich nicht wegen solcher Fehler, derer sich ein jämmerlicher Dilettant schuldig machen würde, zu Tode kommen.«
Triss ließ die Schwingen sacken. »Tot ist tot, Aral. Wie ist dabei kaum von Bedeutung.« Ehe ich etwas dazu sagen konnte, schrumpfte Triss kurz zusammen – seine Version eines Schulterzuckens. »Aber es tut mir leid, dass ich so hektisch war. Ich wollte nicht, dass das so offensichtlich passiert. Es ist nur, dass diese Maylien mehr ist, als sie zu sein vorgibt, vielleicht sogar viel mehr. Das hat mich neugierig gemacht.«
Seufzend nahm ich sein Friedensangebot an. »Mir tut es auch leid, Triss. Ich weiß, für dich ist das schwerer; du musst dich in meinem Schatten verstecken und so tun, als gäbe es dich gar nicht.« Mit Triss zu streiten war mir zuwider, denn er bedeutete mir viel mehr als die Arbeit und war das, was mir geblieben war. Seine Freundschaft und seine Zuneigung sorgten dafür, dass ich mich immer wieder aufraffte und weitermachte, auch wenn ich keinen Sinn mehr darin erkennen konnte. »Wenn du willst, dass ich den Auftrag übernehme, dann tue ich das.«
»Danke.«
»Dann gehe ich jetzt und sage es Maylien.« Ich griff nach dem Dolch, mit dem ich die Tür verkeilt hatte.
»Es ist nicht richtig«, sagte Triss mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. »Was die Götter mit uns gemacht haben, mit dem ganzen Orden. Ihre Ächtung ist so falsch wie der Sohn des Himmels, auch wenn er der Führer der großen Kirche der elf Königreiche ist. Es sollte uns freistehen, uns wieder den Pflichten zu widmen, die uns die Göttin auferlegt hat. Ich werde das nie anders sehen. Warum dann du?«
Ich wandte mich ab von einer Gewissheit, die ich nicht länger ertragen konnte. »Weil sich das starre Auge der Gerechtigkeit geschlossen hat, Triss. Die Göttin ist in ihr Grab gefahren, und der Rest des Himmels und all seine Priester sind gegen uns.«
»Wenn die Götter die Taten des Sohns des Himmels wirklich gutheißen, dann handeln auch sie falsch. Du hast nichts getan, was solch eine Ächtung rechtfertigen würde. Ich habe nichts getan, was solch eine Ächtung rechtfertigen würde. Keine der Klingen und keiner der Finsterlinge, die sie begleitet haben, hat irgendetwas getan, was nicht notwendig und angemessen gewesen wäre.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass über jedem von uns ein religiöses Todesurteil hängt. Dass wir Freiwild für jeden sind, der es vollziehen will. Oder daran, dass der Herrscher des Himmels selbst derjenige war, der unsere Göttin niedergestreckt hat.«
Triss faltete traurig die Flügel zusammen. »Wenn dir dein Leben so viel wert wäre, dann hättest du nicht angefangen, so zu trinken, wie du es tust.«
Ich wollte widersprechen, aber was immer ich auch gesagt hätte, es würde seine Worte nicht weniger richtig erscheinen lassen. In diesem Moment krachte von außen etwas gegen die Tür.
Im nächsten Moment rappelte der Griff. »Was zur Hölle ist mit dieser Tür los?«, lallte eine Stimme.
»Nichts«, antwortete ich. »Bin gleich fertig.«
Triss verwandelte sich wieder in einen meinem Schatten ähnliche Form, und einen Augenblick später trat ich in die Nacht hinaus und tat so, als müsste ich noch die Knöpfe meiner Hose verschließen. Im Grunde war ich froh über die Störung und auch darüber, nun einen Grund zu haben, in den Gastraum zurückzukehren. Sollte Maylien noch nicht gegangen sein, so war sie inzwischen sicher schon ungeduldig über mein langes Fernbleiben.
»Also?«, fragte sie, als ich an den Tisch zurückkam. Ihre Lippen waren angespannt, ihr Ton eisig. »Sind deine Geschäfte zu deiner Zufriedenheit verlaufen?«
»Fast wie es sich gehört«, entgegnete ich. »Es tut mir leid, aber das war ein äußerst dringlicher Vorgang.«
Sie schnaubte, und dann, zu meiner großen Überraschung, lächelte sie. »Ich nehme an, wir alle haben es gelegentlich etwas eilig. Aber nun, da das erledigt ist, was sagst du zu meinem Angebot?«
»Ist es ein kleines Paket?« Zwar hatte ich die Absicht, den Auftrag anzunehmen, doch nicht, ehe ich alle notwendigen Informationen hatte.
»Zwei Bögen zusammengefaltetes Pergament.«
»Wohin muss es geliefert werden?«
»Auf der Rückseite des Gebäudes gibt es einen großen Balkon im zweiten Stock des Hauses. Du wirst neben einem der Fenster warten – ich werde dir sagen, neben welchem. Dort wirst du die Person treffen, für die die Botschaft bestimmt ist. Und mehr musst du nicht wissen, bis du dem Auftrag zugestimmt hast.«
Ich hätte sie nach wie vor lieber abgewiesen, aber ich hatte Triss mein Wort gegeben. Außerdem war der Lohn gut, und Triss hatte recht – ich war gelangweilt und außerdem pleite.
»Zwei Bedingungen habe ich noch.« Ich tippte auf den Beutel, der noch genau da lag, wo ich ihn zurückgelassen hatte. »Verdoppelt meinen Lohn und sagt mir, wo Ihr dieses Kleid her habt.«
»Das Erste betrachte als erledigt.« Sie griff in ihren Schnürleib und zog einen zweiten, identischen Beutel hervor und dazu zwei Bögen fest zusammengefalteten und versiegelten Pergaments. Langsam fragte ich mich, welche anderen Schätze sie dort noch verbergen mochte. »Das Paket muss morgen Nacht ausgeliefert werden, fünf Minuten nach dem Zehn-Uhr-Glockenschlag. Warte neben dem fünften Fenster von rechts auf dem Balkon auf der Rückseite des Hauses. Der Empfänger wird dort sein.«
»Am Stadthaus derer zu Marchon?« Ich wollte sicher sein, dass wir uns auch richtig verstanden hatten.
Sie nickte und erhob sich mit einem Lächeln.
»Und das Kleid?«
»Nun, das habe ich natürlich gestohlen.« Damit machte sie kehrt und ging von dannen.
Maylien war kaum zur Vordertür hinausgegangen, da schlüpfte schon Jerik hinter seinem Tresen hervor und kam auf mich zu. Er war ein großer Mann, ausgestattet mit einem dicken Narbengewebe, dort, wo sein linkes Auge und etwa die Hälfte seiner Kopfhaut hätten sein sollen. Erkundigte sich jemand danach, pflegte er auf den Greifenschädel zu zeigen, der hinter dem Tresen hing, und zu erzählen: »Den anderen hat es schlimmer erwischt. Hab seine jämmerliche Visage an die Wand genagelt.«
»Arbeit?«, fragte er mich.
»Sieht so aus.«
»Dann kannst du ja zahlen.«
Ich warf ihm einen der Beutel zu. »Nimm eine Hälfte für meine Zimmerrechnung, die andere für die Bar. Das sollte reichen, um für beides ein Stück weit im Voraus zu zahlen.«
Jerik warf einen Blick in den kleinen Beutel und lächelte. »Das wird es. Soll ich dir eine neue Flasche Kyles holen?«, erkundigte er sich und schnappte sich derweil die leere.
Nur zu gern hätte ich ja gesagt, und vielleicht hätte ich es auch getan, wäre da nicht dieser leichte Druck gewesen, der murmelnd überall dort über meinen Rücken glitt, wo mein Schatten auf meinem Körper ruhte, ein Gefühl, als würden Dutzende Tausendfüßer zornig von meinen Hüften zu den Schultern und wieder zurück stapfen. Bedauernd schüttelte ich den Kopf.
»Nicht heute Nacht, fürchte ich. Die Arbeit ruft.«
Jerik zuckte beiläufig mit den Schultern und machte kehrt. Mit der Trinkerei mochte es für heute genug sein, aber er wusste, ich würde zurückkommen, sobald die Arbeit erledigt war. Zum zweiten Mal binnen einer Stunde huschte ich durch die Hintertür hinaus in die Dunkelheit des Hofes. Dieses Mal ging ich in den Stall und die Leiter hinauf, die zum Speicher und dem kleinen Zimmer führte, das ich während der letzten beiden Jahre gemietet hatte.
Dort oben gab es kein Licht, nur den muffig-staubigen Geruch des Heus aus dem letzten Sommer und eine beinahe vollkommene Finsternis. Wegen des Heus war es zu gefährlich, eine Laterne unbeaufsichtigt brennen zu lassen, und Jerik würde gewiss keine kostspielige Magierlampe an mich vergeuden. Nicht dass mich das gestört hätte. Die Tempelpriester hatten mich, seit ich mit vier Jahren in den Orden aufgenommen worden war, gelehrt, im Dunkeln zu agieren.
Obwohl ich allein war und in Anbetracht des Mangels an Licht nicht einmal hätte gesehen werden können, fummelte ich mit großem Getue an meinem Schlüssel herum, als ich an der Tür anlangte. Die Priester hatten mich auch gelehrt, meine Rolle zu leben, eine Lektion, die sich für meine Arbeit als Löhner als ebenso nützlich erwiesen hatte wie für mein ehemaliges Handwerk.
Während ich mit dem Schlüssel an der Tür kratzte, tat Triss die eigentliche Arbeit. Im Dunkeln vollends unsichtbar, kletterte er um mich herum und umhüllte meinen Körper, umgab mich mit einer beinahe transparenten Schicht puren Schattens wie mit einer rauchigen, zweiten Haut. Es war ein bisschen so, als würde man in eiskalte Seide gewickelt werden. Dann verlängerte er den Teil von sich, der meine rechte Hand umgab, bohrte einen Tentakel gehärteten Schattens in das Schlüsselloch. Durch unsere temporär gemeinsamen Sinne fühlte/schmeckte ich das Gesperre und die Magie, die es hielt, als er die Verlängerung herumdrehte, um die Verriegelung zu lösen.
Die Tür öffnete sich mit kaum hörbarem Klicken, und ich glitt in den noch düsteren Raum und zog sie hinter mir zu. Das Schloss dieser Tür war weitaus besser, als es der Raum gebot. Ein Durkotherzeugnis und verdammt teuer, aber ich schätzte meine Privatsphäre sehr.
Ich reckte den Arm hoch und berührte mit einer schattenverhüllten Hand die kleine Steinkugel, die über der Tür angebracht war – ihre Magie zeigte sich dem Magiesichtigen als blassgrüner Funke. Das milderte den Bann der Finsternis über der winzigen, aber sehr hellen Magierlampe, die meinen Raum erleuchtete. Die Tür zu schließen, ehe ich meine Magie anwandte, entsprang eher der Gewohnheit lebenslanger Übung als einer ernsten Sorge, ich könnte hier und jetzt entdeckt werden.
Langgezogen, wie er jetzt war, tönte Triss meine Haut nicht stärker, als es ein paar Stunden in der Mittagsstunde vermocht hätten. Wer jedoch gelernt hatte, genau hinzusehen, hätte vielleicht bemerkt, dass ich, während ich in meinen Schatten gekleidet war, keinen solchen warf, selbst im hellsten Lichtschein nicht. Zu meinem Glück waren derart geschulte Individuen außerordentlich selten.
Die kleine Magierlampe offenbarte einen schmalen Raum unter einer tiefreichenden Dachschräge. Meine Pritsche verbarg sich in der Ecke, wo das steile Dach auf den rohen Dielenboden traf. Die einzigen anderen Möbelstücke waren ein niedriger Tisch und, gleich daneben, eine kleine Truhe, die zugleich als Sitzbank diente. Ein ramponierter, arg fleckiger Teppich sorgte dafür, dass nicht der kleinste Schimmer des magischen Lichts durch die Ritzen zwischen den Dielen in den darunterliegenden Stall dringen konnte.
Von der Form abgesehen unterschied sich der Raum kaum von der Zelle, die die Priester mir vor all diesen Jahren in den Tempelanlagen zugewiesen hatten. Na ja, es war die Form und die Tatsache, dass meine alte Zelle nun unter hundert Tonnen Schutt begraben lag, umgeben von endlosen Morgen unfruchtbaren Landes unter einer Saat aus Salz, ausgebracht von den Streitmächten des Himmelssohns. Ich verdrängte den Gedanken, wenn auch nicht, ohne schmerzhaft zu bedauern, dass ich Jeriks Angebot, mir eine neue Flasche zu bringen, ausgeschlagen hatte.
Triss drückte mich in einer Art von Ganzkörperumarmung, ehe er sich auf dem Boden entspannte, seine übernatürlichen Sinne mitnahm und mir wieder so etwas wie einen Schatten gab. Auch wenn besagter Schatten eigentlich zu einem kleinen Drachen gehören sollte.
»Danke, dass du den Auftrag angenommen hast«, sagte Triss.
Ich zuckte mit den Schultern, kniete nieder und strich mit dem Finger um seinen Unterkiefer – wie stets war ich fasziniert von den Schuppen und dem warmen, lebendigen Fleisch dort, wo meine Augen nichts als einen Schatten auf einem fadenscheinigen Teppich erkennen konnten. Sogar in dieser Gestalt hatte er eine gewisse Substanz. »Du bist alles, was mir geblieben ist, und du wolltest, dass ich es tue. Wie hätte ich dir das abschlagen können?«
Der Drachenschatten zog verlegen den Kopf ein. »Ich hatte befürchtet, ihre Lügen und ihr Versuch, ihre Magie vor dir zu verbergen, könnten dich dazu veranlassen, sie abzuweisen.«
»Magie?« Ich schloss die Augen und rieb mir einen endlosen Moment lang die Lider. »Das hast du vorhin nicht erwähnt. Du hast nur gesagt, Maylien wäre mehr, als sie zu sein scheint. Vielleicht solltest du langsam ein bisschen mehr ins Detail gehen.«
»Ich weiß, dass sie keine sichtbaren Banne an sich hatte, und ich konnte keinen Vertrauten entdecken, aber als sie sich anfangs über dich gebeugt hat und ihr Schatten auf mich gefallen ist, hat er nach der Magiergabe geschmeckt – einer Gabe, die erst kürzlich benutzt wurde, anderenfalls hätte ich es nicht gemerkt.« Nachdenklich legte er den Kopf schief. »Wahrscheinlich hat ihr Vertrauter draußen auf sie gewartet, allerdings wäre es auch möglich, dass sie sich mit einem geringeren Geist verbündet hat, der ganz einfach unsichtbar war.«
Ich unterdrückte das Bedürfnis, Triss anzuknurren. Für eine Nacht hatten wir genug gestritten. »Nun, wenn sie Magierin und adlig ist, dann wäre es kein Wunder, wenn sie ihren Vertrauten verstecken würde, was immer er sein mag.« Vielleicht etwas, dass Wunden in Schultern schlägt, wenn es dort thront? Womöglich ein Falke oder ein Adler? Aber das war im Grunde nicht wichtig. »Die Zhani zeigen sich nicht gerade erfreut, wenn Angehörige des hohen Adels Magie wirken. Sie behaupten, das würde das ganze Herausforderungssystem zur Nachfolgeregelung infrage stellen.« Was es auch tat, und das könnte auch erklären, warum sie verkleidet zu mir gekommen war.
Ich setzte mich auf meine Truhe und wünschte mir, ich hätte einen Trunk zur Hand. Das Letzte, was ich wollte, war, in die höfische Politik von Zhan verwickelt zu werden … aufs Neue. Ich trug noch immer die Narben am Bein und den Preis auf meinem Kopf vom letzten Mal, damals, vor einer Dekade. Bekümmert massierte ich mir die Schläfen.
»Triss …«
»Ich weiß. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber du wirst den Auftrag doch nicht jetzt noch ablehnen, oder?«
»Nein. Ich habe ihr Geld genommen, und schließlich gehe ich grundsätzlich nicht davon aus, dass mir ein Auftraggeber die Wahrheit erzählt. Du andererseits …« Ich seufzte. »Wenn du das nächste Mal Magie im Schatten von irgendjemandem schmeckst, dann gib mir unauffällig einen Wink, dann reden wir vorher darüber.« Wir wussten beide, dass er das bereits dieses Mal hätte tun müssen, aber ich ging nicht weiter darauf ein – er kann recht eigensinnig sein, wenn er will, und er ist vermutlich der Klügere von uns beiden. »Kein Geruckel mehr, als hätte dir jemand einen Becher Schattenameisen in die Schattenhose geschüttet, ja? Damit siehst du nur aus wie ein nervöser Anfänger.«
»Ich … du … ich habe nicht … Hmpf.«
Triss ergoss sich wieder in die Form meines Schattens, hob die Schattenhände an die Schattenohren, dass sie aussahen wie ein Geweih, und wackelte dann einfach mit den Fingern vor mir, womit das Gespräch wirkungsvoll beendet war. Schon kapiert. Ich grinste und machte mich auf, das Licht wieder abzudecken. Ich brauchte dringend anständige zehn oder zwölf Stunden Schlaf, wollte ich die magischen Brunnen wieder auffüllen und für die morgige Lieferung auf der Höhe sein.
Spät am Nachmittag stand ich auf, und während ich darauf wartete, dass die Sonne unterging, schlug ich die Zeit tot, indem ich abwechselnd mit Triss Schattenfechten spielte oder tat, als würde ich ein Buch lesen, das ich mir aus Ismere »geborgt« hatte, einer Leihbücherei, gegründet von einem reichen Handelsherrn. Es war irgendeine alberne Abenteuergeschichte, die im längst zerstörten Reich der Nekromanten spielte, das einst am Nordrand der Magierwüstenei gelegen hatte. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Stattdessen kreisten meine Gedanken um Maylien und die Frage, ob sie tatsächlich eine Magierin war und was für ein Spiel sie wirklich spielte, und so glitten mir die Worte einfach nur durch den Kopf, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vage bekam ich mit, dass im letzten Kapitel etwas über die Methoden zur Stärkung der diversen Rassen ruheloser Toter geschrieben stand, aber das war auch schon alles.
Als die Sonne endlich eine Handbreit über dem Horizont hing, klappte ich erleichtert das Buch zu und eilte wieder hinauf in meine kleine Kammer. Dort wickelte sich Triss um mich, und wir öffneten das magische Schloss, mit dem ich meine Truhe abzusperren pflegte – noch so ein Durkotherzeugnis. Die Schmiede der Andersartigen waren die Besten der ganzen Welt, allerdings konnte ich mir kaum ihre billigsten Stücke leisten.
Der Truhe entnahm ich ein Paar übereinstimmender, ramponierter Kurzschwerter, gerade, zweischneidige Klinge mit schlichter Parierstange und für die Nachtarbeit geschwärztem Stahl. Anständige Handwerksarbeit, aber nicht gerade kunstvoll und nicht annähernd so gut wie die beiden Krummschwerter aus dem Tempel, die sie ersetzen mussten. Ich kontrollierte ihren Sitz in der doppelten Rückenscheide, die ich mir als Ersatz für die Scheide aus Tempelbeständen angefertigt hatte, bei der die Waffen auf Schulterhöhe gezogen wurden, wohingegen die Ersatzscheide mir gestattete, sie auf Hüfthöhe zu ziehen. Dann legte ich alles auf meine Pritsche.
Als Nächstes kam die Arbeitskleidung, die ich im Vorübergehen anlegte. Zuerst das Hemd, dann eine Hose, oben recht weit geschnitten, die ich in die weichen, kniehohen Stiefel steckte, alles in unauffälligen Grautönen gehalten – Sachen, wie sie ein gewöhnlicher Zhanibauer tragen mochte. Durch bloßes Pressen der Orispflanze erhielt man eine billige, einfach anzuwendende Farbe, immer vorausgesetzt, man wollte sie nicht so stark konzentrieren, dass sie ein echtes Schwarz hervorbrachte.
Nun kam ein schwerer Gürtel mit einem kurzen, schlichten Dolch an die Reihe, gefolgt von meinem breiten, flachen Trickbeutel. Dann der Schwertgurt mit all seinen Riemen und den geschwärzten Stahlringen zum Anbringen weiterer Gegenstände – die vorerst allerdings leer bleiben mussten. Zum Schluss zog ich noch einen dunkelgrünen, fleckigen Poncho hervor. Er roch nach alter Wolle und Flohkraut und war lang genug, die Hefte meiner Schwerter zu verdecken. Das Ganze krönte ich mit einem Wanderhut, um das Bild komplett zu machen.
Von der dem Fenster gegenüberliegenden Wand aus sah mir Triss schweigend zu, zufrieden damit, an dem Ort zu hocken, an den die westwärts sinkende Sonne ihn geworfen hatte, wenn er auch seine Drachenform beibehalten hatte. Als ich angezogen war, blieb mir nur noch eines zu tun, ehe wir aufbrechen konnten – den Brief lesen. Ich traute Maylien nicht, und selbst wenn ich es getan hätte, hätte ich mich nicht unwissender als unbedingt nötig auf die vor mir liegende Aufgabe gestürzt. Ich legte das zusammengefaltete Pergament auf den kleinen Tisch und zog einen sechs Zoll langen Streifen biegsamen Kupfers aus meinem Trickbeutel.
»Triss, könntest du mir behilflich sein?«
Der kleine Drache glitt an der Wand herab und über meinen Schatten zu meinen Füßen, wo er sich sammelte, ehe er an meinem Körper emporwanderte und sich fest an meine Haut presste. Für diese Art der Arbeit brauchte ich enorm viel Kontrolle, also unterwarf Triss seinen Willen meinem eigenen und versetzte seinen Geist in eine Art Wachtraumzustand, in dem er unser gemeinsames Vorgehen verfolgen, aber nicht steuern konnte. Sein physisches Ich – sofern man einem Schatten dergleichen attestieren wollte – folgte nun meinem Befehl, eine notwendige Bedingung für den größten Teil der höheren Magie, die von einem einzelnen Willen dirigiert werden musste.
Magier und Vertrauter sind wie Schwertkämpfer und Schwert. Der Schwertkämpfer holt aus, aber das Schwert tut den tödlichen Schlag. Das Rohmaterial der Magie, das Nima, liefert der Magier, Macht, hervorgebracht durch den Brunnen seiner Seele, doch ohne einen Vertrauten, der eine Möglichkeit bietet, diese Macht zu konzentrieren und ihrem Ziel zuzuführen, passiert schlicht gar nichts.
Ich schickte den Teil von mir, der temporär ein Objekt animierter Finsternis war, hinaus, umschloss das dünne Metallwerkzeug mit Schatten und lud es mit Magie auf. Unter meiner magischen Wahrnehmung fing das Kupfer an, hellblau zu glühen. Dann führte ich es unter den Rand des Siegels an dem Brief. Mit Triss’ Sinnen konnte ich Farbe und Bienen und Terpentin in dem Wachs des Siegels schmecken, aber keine verborgene Magie, was die Dinge erheblich vereinfachte. Mit einem kleinen Energieblitz trennte ich das Siegel vom Pergament, ohne dabei eines von beiden zu beschädigen.
Bedauerlicherweise hatte Maylien, oder wer immer die Botschaft gefertigt hatte, die Möglichkeit des Siegelhebens einkalkuliert – immerhin eine der einfachsten Anwendungen grauer Magie. Die Seiten sahen so leer aus, als kämen sie direkt vom Schreibwarenhändler. Damit wurde es erheblich schwieriger, die Nachricht aufzudecken. Es gab locker ein Dutzend magischer Möglichkeiten, Schriften zu verschleiern, angefangen mit einem einfachen Tarnzauber bis hin zu einem auf Zerstörung abzielenden Seelenschlüssel, doch die meisten hätten auf dem Papier ein sichtbares magisches Leuchten zurücklassen müssen. Der falsche Zauber konnte das, was ich sehen wollte, ebenso leicht fortwischen wie offenbaren, und ich wusste nicht genug über die hier vorliegende Magie, um die richtige Vorgehensweise zu bestimmen. Zeit, eine zweite Meinung einzuholen.
Ich entließ den Willen meines Vertrauten aus meiner Gewalt und tippte auf die Pergamentbögen. »Triss, was hältst du davon?«
Er glitt von meinen Schultern herab auf den Tisch und schrumpfte zu einem Drachenschatten, der von der Nase bis zum Schwanz vielleicht zehn Zoll maß. Als ich mit der Hand zwischen Pergament und Licht hin- und herstrich, breitete er seine Schwingen aus und flog im Gleichklang mit meinen Bewegungen über die Bögen. Dann landete er neben der Botschaft und ließ wieder und wieder die Zunge vorschnellen, bis er jeden einzelnen Zoll gekostet hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Nicht nur, dass ich nicht sagen kann, wie die Worte möglicherweise vor neugierigen Blicken abgeschirmt werden, ich bin nicht einmal sicher, dass es sich hier um einen echten, lesbaren Brief handelt. Entweder der Zauber ist zu ausgefuchst, zu stark oder zu abwesend, um ihn zu entschlüsseln.«
»Das dachte ich auch, und es gefällt mir nicht. Nicht im Mindesten. Das ist eine Magie, die in keinem Verhältnis zur Aufgabe steht und einen erheblich höheren Preis hat als ich. Andererseits, wenn Maylien eine Magierin ist, dann wäre es möglich, dass sie sie selbst erzeugt hat.«
Triss zuckte mit den Schultern. »Möglich, aber unwahrscheinlich. Das ist die Arbeit eines Spezialisten, und ich kann mir keine Adlige vorstellen, die es auf sich nimmt, die notwendigen Studien hinter sich zu bringen. Ich wünschte, ich könnte das Serass oder Malthiss oder einem der anderen älteren Finsterlinge zeigen. Die wüssten vielleicht mehr, und besonders Serass hätte die Herausforderung willkommen geheißen. Aber sie sind alle in die große Schwärze eingegangen, als der Tempel gefallen ist.« Seine Schwingen sackten herab.
Ich strich mit dem Finger von Triss’ Hals bis zum Schwanz über das Rückgrat des Schattens, aber ich hatte keine tröstenden Worte für meinen Vertrauten, wenn ich auch seinen Schmerz um den Verlust so vieler unserer Freunde und Kameraden teilte. Namen huschten durch meinen Geist. Meister Kelos, Devin, Sharl … inniglich verehrte Lehrer, enge Freunde, Geliebte, alle fort und ihre Schatten mit ihnen. Malthiss, Zass, Liess. Triss und ich waren praktisch die Letzten unserer Art. Mit uns würde eine vierhundertjährige Tradition ihr Ende finden.
Ich schob den Ärger und den Kummer vermutlich etwa das tausendste Mal beiseite, versiegelte den Brief wieder und steckte ihn zusammen mit dem Kupferstreifen in meinen Trickbeutel. Wir hatten einen Auftrag zu erledigen, und die Aussicht auf ein bisschen Remmidemmi bot vielleicht keinen Trost, aber doch ein wenig Ablenkung.
»Triss«, sagte ich.
»Ja.« Er blickte nicht einmal auf.
»Wir sollten uns auf den Weg machen.«
»Du hast recht.«
Er zerfloss zu meinem Schatten, und die Drachengestalt wich einem dunklen Spiegelbild von mir. Aber nur kurz. Einen Moment später glitt er seidig über meinen Körper und ummantelte mich von Kopf bis Fuß mit einer weichen Haut aus purer Dunkelheit. Kaum war er mit dieser Verwandlung fertig, begann er mit der nächsten. Dieses Mal dehnte er sich in alle Richtungen, und während er größer wurde, wurde er zugleich diffuser, wie Sahne, die zu feinem Schaum aufgeschlagen wurde. Als er seine Maximalgröße erreicht hatte, konnte ich ihn als physische Präsenz nicht mehr wahrnehmen.
Die Schwärze, die mich umgab, war vollkommen. Ich konnte nichts und niemanden sehen, und nichts und niemand konnte mich sehen. Selbst für Magiesichtige blieb ich unsichtbar, denn diese Wirkung ging nicht auf einen Zauber zurück, sondern war Teil von Triss’ natürlichen Eigenschaften.
Von draußen betrachtet mussten wir aussehen wie ein wanderndes, dunkles Loch im Blickfeld, eine Lücke, so wie die blinde Stelle, die sich manchmal bei Kopfschmerzen bemerkbar macht. Solange ich mich von hellem Licht fernhielt und von Orten, die aufzusuchen kein Schatten irgendein Recht hatte, konnten wir uns für das normale Auge weitgehend unsichtbar bewegen. Und solange ich keine Magie wirkte, waren wir auch für den Magiesichtigen nicht zu sehen. Das war der Grund, warum Schwertführer so selten von Standardmagie Gebrauch machten. Die magische Glut machte unseren größten Vorteil zunichte.
Es war keine richtige Unsichtbarkeit, aber es war so nahe dran wie nichts anderes und allem, was irgendein Magierorden vollbringen konnte, weit überlegen. Die Mächte der Vertrauten definierten und formten die Mächte ihrer Meister. Eine minderbegabte Kräuterhexe in Begleitung einer Schlange mochte mit Giften und Tränken eine Menge bewirken können, Dinge, die selbst einem Meistermagier nahezu unmöglich wären, sollte er zufällig an ein Feuerelementarwesen gebunden sein.
Ich stand im Dunkeln, bis Triss seinen Willen erneut dem meinen unterwarf, mir die Kontrolle über unsere gemeinsamen Handlungen überließ und mir gestattete, die Welt mit seinen Sinnen zu erfassen. Zwar hatte ich mein Augenlicht der Dunkelheit geopfert, doch bot Triss mir nun eine Art von Nichtsehen, das vielmehr auf Strukturen und das Wechselspiel zwischen Licht und Dunkelheit ausgerichtet war als auf die Formen und Farben, die so grundlegend für die menschliche Wahrnehmung waren.
Mit Triss’ Sinnen konnte ich das Lichtniveau im Raum beinahe wie eine physische Präsenz spüren, ein schmerzhafter Druck auf der Haut, der sich lichtete, als die Sonne am Horizont versank und Tien der Nacht überließ und all jenen, deren Arbeit Dunkelheit erforderte – den Einbrechern, den Schmugglern, den Nachtwächtern und mir.
Ich öffnete die Klappe über meinem Fenster und glitt hinaus auf den schmalen Sims. Kaum hatte ich die Klappe wieder geschlossen und magisch verriegelt, sprang ich, fing mich am Rand des geneigten Stalldachs ab und zog mich auf den First. Von See wehte ein frischer Frühlingswind herbei und machte mich schaudern, und für einen Moment sehnte ich mich nach einem warmen Getränk in der Taverne unter mir, doch diesen Gedanken verdrängte ich rasch. Bewegung würde mein Blut viel schneller erwärmen als jeder Whiskey und mir noch dazu am nächsten Morgen ein deutlich besseres Gefühl geben.
Als ich breitbeinig auf dem Dachfirst stand, machte ich rasch eine Reihe kurzer Dehnübungen, während ich die Erwartungen, die ich an die Wahrnehmung meiner Umgebung hatte, meinem verhüllten Zustand anpasste. Nun, da die so andere Sichtweise von Triss’ Nichtsehen mein visuelles Bild der Stadt verzerrte, musste ich mich umso mehr auf meine anderen Sinne verlassen können, und ich wollte, dass sie so gut wie möglich arbeiteten.
Die Geräusche auf der Straße unter mir lieferten mir Hinweise auf meine direkte Umgebung. Ein Stiefelscharren mochte von Pflastersteinen oder verdichteter Erde künden. Die Art, wie es nachhallte und sich ausbreitete, erzählte von schmalen Gassen versus breiteren Straßen oder gar offenen Plätzen. Das plötzliche Flattern von Vogelschwingen konnte mich vor der Ankunft eines anderen Wanderers im Schlotwald warnen – Strohdecker oder Einbrecher beispielsweise. Oder, weitaus gefährlicher, ein Ghul oder eine andere Art ruheloser Toter auf der Jagd. Die hielten sich zwar nur ungern im Freien auf, doch diese mondlose Nacht lieferte ihnen eine gute Gelegenheit, die Straßen heimzusuchen.
Gerüche boten noch einen ausführlicheren Plan der Stadt. Hier, im Herzen der Stolprer, überlagerte der Gestank schlecht gewarteter Abwasserkanäle die meisten anderen Gerüche. Unterwegs würde ich auf würzige Soßen stoßen, dazu ersonnen, den Geschmack überlagerten Fleisches zu übertünchen. Diese wiederum sollten bald den Parfümdüften der besser gestellten Händler weichen, die ihrerseits von den floralen Aromen der kunstvollen Gärten abgelöst wurden, die sich nur die wahrhaft Reichen leisten konnten.
Der Tastsinn war hier oben auf den Dächern nicht so wichtig, konnte aber entscheidend werden, wenn ich später in geschlossene Räume vordringen musste, also achtete ich darauf, mich auch auf die Botschaften einzustimmen, die mir Haut und Knochen schickten. Ich gab genau Acht, wie sich die abgerundeten Keramikschindeln durch die weichen Sohlen meiner Stiefel anfühlten, die Berührung der rauen Wolle des Ponchos, als sie über meine Handrücken streifte, die beißende Kälte der Seebrise auf meinen Wangen und an meinem Hals.
Erst als ich mich ganz und gar in Triss’ umhüllende Finsternis eingenistet hatte, machte ich mich schnellen Schritts auf den Weg durch den städtischen Schlotwald. Tien war alt und wild gewuchert, statt nach einem vorgegebenen Plan zu wachsen. An den meisten Stellen lagen die Dächer so dicht beieinander, dass ich auf der Schlotstraße einfacher vorankam als auf den gewundenen und vollgestopften Wegen weiter unten. Selbst die breite Schlucht über der Marktstraße, die das heruntergekommene Gewirr der Stolprer von dem schon viel ordentlicheren Viertel Färberhang trennte, konnte mich kaum bremsen.
Ich breitete einfach die Arme aus und überließ es Triss, mächtige, segelartige Schattenschwingen auszubilden. Dann rannte ich los und warf mich in die Luft, um einfach über den Abgrund hinwegzugleiten. Segelspringen war mehr als bloßes Springen, wenn auch weniger als echtes Fliegen, und es ließ sich durch Magie im Bedarfsfall oder wenn man sich keine Sorgen machen musste, entdeckt zu werden, noch in die Länge ziehen. Der einzige echte Nachteil dieser Methode bestand darin, dass an Triss einfach nicht genug dran war, mich zu umhüllen und Schwingen auszubilden. Für die kurzen Sekunden des Überflugs war ich vor neugierigen Augen nicht mehr geschützt.
Aber das schien mir ein geringer Preis zu sein, gemessen an der Freude, die die Erfahrung mit sich brachte. Ich fühlte mich dabei jedes Mal, als wäre ich wieder fünfzehn. Damals hatten Triss und ich uns häufig bei Nacht auf das Tempeldach geschlichen, nur um uns vom Rand zu stürzen und den langen, schwindelerregenden Gleitflug hinunter zum See zu machen. Als ich auf der anderen Seite der Marktstraße wieder landete, spürte ich für einen Moment einen Stich des Neids auf die Vögel. Die konnten sich an jedem Tag ihres Lebens so fühlen.
Mit Triss über die Dächer zu jagen war eine sonderbar zwiespältige Erfahrung, zugleich dual und singulär, vertraut und fremd, Finsterling und Mensch. In Augenblicken wie diesen, in denen mich mein Vertrauter umfing und überdeckte, waren wir eher ein als zwei Wesen, existierten in der Haut des jeweils anderen, wenn wir auch unser Bewusstsein nicht mit dem des anderen verschmolzen, wie es manch andere Vertraute mit ihren Gefährten taten.
Triss’ Kräfte wurden zu einer Verlängerung meines Willens, seine Sinne standen mir zur Verfügung, und dennoch gab es zwischen uns immer noch eine grundlegende Separation. Das lag nicht allein daran, dass Triss im Traum schwebte, während ich unsere vereinten Leiber kontrollierte. Die Finsterlinge gingen mit der Realität in einer Weise um, die dem menschlichen Erleben vollkommen fremd war. Selbst wenn Triss unsere Verschmelzung hellwach und bei vollem Bewusstsein hätte erleben können, gäbe es zwischen uns doch keinen gemeinsamen Verständigungsrahmen. Wollten wir unsere Gedanken teilen oder auch nur so einfache, abstrakte Vorstellungen, wie sie ein Mensch, dessen Vertrauter eine Katze war, mühelos hätte bewältigen können, würden wir stets auf die Sprache zurückgreifen müssen.
Auf unserem Weg durch die Stadt mussten wir noch zweimal eine zu breite Lücke überqueren, und ich durfte erneut für ein paar glanzvolle Sekunden ein Vogel sein. Beide Male überflogen wir Kanäle, die vom Fluss Zien ausstrebten. Der beinahe drei Meilen lange Weg führte uns fort von den Abscheulichkeiten der Stolprer an den Fuß des Sovannhügels und schließlich auf der Westseite hinauf in die sorgsam gefertigte unechte Wildnis der königlichen Domäne. Dort angelangt, mussten wir erstmals wieder auf den Boden zurückkehren.
Wir näherten uns über einen weiten Umweg dem Haus. Wäre ich bereit gewesen, mich von der Ostseite des Parks aus heranzupirschen, so hätten wir unserem Ziel viel näher kommen können, ehe wir gezwungen gewesen wären, den Schutz der Dächer hinter uns zu lassen, aber das hätte uns auch sehr nahe an dem geheimen Kapitelhaus vorbeigeführt, das die Kronelite in diesem Viertel unterhielt. Ich verspürte keine Neigung, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Alternativ hätte ich mich weiter im Verborgenen halten können, hätte ich mich durch die Kloake genähert, aber ich pflegte den Schnellweg durch die Scheiße zu meiden, soweit es mir nur irgend möglich war, und ich sah in diesem Fall keinen zwingenden Grund, davon abzurücken.
Der Weg durch den Park zum Marchon-Anwesen erschien mir beinahe kinderleicht und erforderte kaum mehr als die eine oder andere abrupte Erstarrung, wann immer eine Routinepatrouille des Weges kam. In diesem einen Punkt hatte mir der Tod meiner Göttin das Leben leichter gemacht, denn die meisten Leute glaubten, der Untergang ihres Tempels hätte die meinen ohne Ausnahme vernichtet oder in ein fernes Exil vertrieben. Das wiederum hatte dazu geführt, dass die Patrouillen gewisse Maßnahmen, die sie einst ergriffen hätten, in den vergangenen Jahren zunehmend vernachlässigt hatten.
Und warum auch nicht? Obgleich mich schon der Gedanke schmerzte. In den fünf Jahren seit dem Sturz des Tempels hatte ich nur einen anderen Schwertführer der Göttin lebend angetroffen, und Kaman war an ein Kreuz genagelt gewesen, sein Schatten zu seinen Füßen gepfählt. Als ich ihm anbot, ich könnte versuchen, ihn zu befreien, spuckte er mich an und verfluchte den Namen der Göttin, ehe er mich anflehte, seinem Leben ein Ende zu machen. Ich benutzte einen Pfeil aus der Entfernung und brachte die nächsten Monate damit zu, ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel mit der Elite zu spielen, die ihn dort aufgehängt hatte.
Eine zehn Fuß hohe Steinmauer umgab das Marchon-Anwesen. Die Mauer war viel zu lang, um wirkungsvoll zu schützen, aber die Eigner hatten getan, was sie konnten. Auf der Krone befanden sich scharfkantige Scherben von Keramikwaren, um menschliche Eindringlinge fernzuhalten, und trockene Mistelzweige zur Abwehr der ruhelosen Toten. Silbernägel wären Letzterem dienlicher gewesen, doch die wurden üblicherweise schneller gestohlen, als sie ersetzt werden konnten, sogar in einer Nachbarschaft wie dieser. Eisenspäne waren nicht ausgebracht worden, aber ich ging davon aus, dass ich am Landhaus der Marchons durchaus welche finden würde, denn dort stellten die Kreaturen wilder Magie eine ernstere Gefahr dar.
Unverletzt über die Mauer zu kommen kostete mich noch ein wenig mehr Nima, da ich einen kleinen Zauber benötigte, um mich vor den scharfen Kanten zu schützen. Die Baronin ließ freilaufende Hunde über das Gelände streifen, große, grausame Bestien, die sich bei der Jagd sowohl ihrer Augen als auch ihrer Nasen bedienten. Triss’ verhüllende Präsenz war in diesem Punkt keine Hilfe, aber mir begegneten nur vier von ihnen, und bei jedem Einzelnen erwies sich ein Maul voll Rotkehlcheneier, gefüllt mit Opiumpulver und Efik, als recht hilfreich. Als ich die letzte Portion ausgeteilt hatte, nahm ich mir vor, einen Teil des Lohns dazu zu nutzen, etwas mehr von diesen fein gemahlenen Pülverchen zu erwerben, die für die Herstellung nötig waren. Das schmale Messingkästchen, in dem ich sie aufbewahrte, war beinahe leer.
Wie die meisten freistehenden großen Häuser war auch das der Marchons mehr als nur zur Hälfte erbaut wie eine private Festung. Im Erdgeschoss zeigte das Gemäuer der Welt ein schmuckloses Kalksteinantlitz ohne jegliche Fenster. Eine dichte Reichsbuschrosenhecke wucherte als zusätzlicher Schutz dicht am Gebäude empor, und ihre Ranken reichten hinauf bis zum ersten Stockwerk. Den Aufstieg würde ich dank der Dornen in Blut bezahlen, und ich wünschte, ich dürfte es wagen, Magie zu nutzen, um sie zur Seite zu schieben, aber wenigstens machte der himmlische Duft der frischen Blüten das Leid ein wenig wett.
Der Balkon im zweiten Obergeschoss war breit und tief und ruhte auf vier dicken, marmorgefassten Säulen mit einer polierten Oberfläche. Kletterte ich eine davon empor, könnte ich den Rosen aus dem Wege gehen, aber dafür würde ich einen Überstand meistern müssen, der tiefer war als ich groß – das war die Mühe nicht wert. Umso weniger, da das dekorative Mauerwerk an der Hausecke mir so etwas wie eine halbe Leiter für meine Zwecke zur Verfügung stellte. Ich kletterte also an der Ecke hinauf und über die Rahmen der Fenster des ersten Obergeschosses weiter zum Rand des Balkons, wo ich mehrere Minuten lang regungslos verweilte, um den derzeitigen Stand der Dinge mit meinen Erinnerungen an frühere Besuche zu vergleichen.
Nun fand ich noch mehr Rosen, einige davon an einem Rankgerüst in der Mitte, wo sie vermutlich dazu dienten, in den brutalen Sommern von Tien einen Bereich des Balkons zu beschatten, der als Freiluftspeisezimmer genutzt wurde. Andere verteilten sich in Pflanztöpfen unterschiedlicher Größe auf dem Balkon. Dies waren sanftere Variationen der bösartigen Reichsbuschrose, aus der die Schutzhecke vor dem Haus bestand. Kombinierte man diese Rosen mit dem kleinen Hain aus dekorativen Orangenbäumen, die bis kurz unter den Balkon reichten, so schien es, als sähe man einen schwebenden Garten vor sich, der auf einem Meer aus Blüten dahinsegelte. Aber ich war nicht wegen der Aussicht gekommen, also glitt ich bald über das Geländer und ging zu dem kleinen Fenster, an dem ich den Empfänger der Botschaft treffen sollte.
Ich hatte gerade die Hand gehoben, um den Riegel zu kontrollieren, als die Balkontür hinter mir geöffnet wurde und sich Licht von dem Kronleuchter im Raum auf den Marmorboden ergoss. Rasch und leise tat ich drei lange Schritte und kauerte mich in dem tiefen Schatten hinter einem steinernen Pflanztopf zu Boden. Beinahe war ich erleichtert über die Störung. Bis dahin war der Auftrag viel zu einfach gewesen, um den Lohn zu rechtfertigen, der mir geboten wurde, auch wenn ein Löhner, der ohne Triss’ Hilfe auskommen musste, ihn vermutlich viel schwieriger gefunden hätte. Kombinierte man diesen Mangel an Mühe mit dem Übermaß an Magie, das auf den Brief verwendet worden war, erhielt man ein überaus misstrauenerregendes Paket.
Als ich es mir zum Warten bequem machte, gespannt dar