Die Klinge von Namara - Kelly McCullough - E-Book
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Die Klinge von Namara E-Book

Kelly McCullough

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Beschreibung

Aral Königsmörder war früher ein Tempel-Assassine. Sein Orden wurde zerschlagen und nun ist auf ihn ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Daher verdingt er sich möglichst unauffällig als Dieb. Eines Tages eilt er zwei Fremden zu Hilfe, die in einer Taverne in Bedrängnis geraten und gerät dadurch unfreiwillig in einem Krieg um ein magisches Artefakt. Was ihm mehr Aufmerksamkeit beschert, als gut für jemanden ist, dessen Gesicht landesweit auf rund 10.000 Steckbriefen zu sehen ist ...

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Seitenzahl: 528

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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Epilog

Anhang

Begriffe und Personen

Währung

Kalender

Wochentage

Danksagung

Über den Autor

Kelly McCullough wuchs als Sohn freilaufender Hippies auf. Später besuchte er die Schauspielschule und arbeitete als Improvisationskünstler. Diese Kombination bereitete ihn bestens auf seine gegenwärtige Karriere als Autor und Katzenhüter vor. Er lebt in den USA mit seiner Frau Laura. Kelly besteigt gerne Berge, fährt Rad und genießt ansonsten seine Rolle als selbstheizender Katzensessel.

Kelly McCullough

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Frauke Meier

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2012 by Kelly McCullough

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Bared Blade«

Originalverlag: Ace Books, published by The Berkley Publishing Group

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, a member of Penguin Group (USA) Inc

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat: Ruggero Leò

Titelillustration: © Hrvoje Beslic

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-4575-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Laura,den hellen Stern im Zentrummeines Universums.

1

Jede Geschichte muss irgendwo beginnen, auch wenn sie das selten am Anfang tut. In diese bin ich geraten, als sie in mein Büro spazierte. Ich hatte noch zwei Schlückchen guten Aveni-Whiskeys in meinem Glas, als die Frau in den Gastraum des Greifenkopfs marschierte. Eigentlich waren es zwei Frauen … oder, na ja, das ist kompliziert. Ich glaubte damals, es wären zwei, also bleiben wir vorerst dabei – zwei Frauen betraten die Taverne. Meine Taverne.

Die Örtlichkeit, in der ich arbeite, war nach dem Schädel benannt worden, den der Eigentümer hinter die Theke genagelt hatte. Jerik hatte früher Monster gejagt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Gewildert, um genau zu sein, aber das ist nicht die Art Wilderei, die einen hinter Gitter bringen kann, denn die königlichen Wildhüter wollen die verdammten Viecher auch nicht haben. Als das Ding hinter seinem Tresen ihm beinahe den Kopf abgebissen hätte, setzte er sich zur Ruhe. Was den Greifen an Eleganz fehlt, machen sie mit ihrem Charakter mehr als wett. Jeder von ihnen ist gefährlich, und die meisten werden von der Krone gesucht. Ein Umfeld, in das mein stummer Partner, auch wenn den niemand zu sehen bekommt, und ich hervorragend hineinpassen.

Dieser Tage nennt man mich Aral oder Schattenlöhner. Das eine ist mein Name, wenn auch nicht so, wie er auf den Haftbefehlen und Steckbriefen zu lesen ist. Das andere ist mein neuer Broterwerb. Ich bin zu einem Löhner im Schattengewerbe geworden, einem Problemlöser, der sich um Dinge kümmert, auf die man nur ungern die Aufmerksamkeit des Gesetzes lenken möchte.

Jeder, der mich noch aus früherer Zeit kannte, hätte darin einen gewaltigen Schritt abwärts gesehen. Allerdings nur, wenn ihm der vorangegangene Schritt entgangen wäre, die Stufe, auf der meine Welt vernichtet worden war. Ich mag nicht mehr ansatzweise der Mann sein, der ich einmal war, aber ich bin definitiv besser als das Wrack, das ich noch vor einem Jahr gewesen bin. Manchmal scheint es sogar, als könnte ich die Kluft überbrücken und wieder in Berührung mit meinem alten Selbst kommen. Da gibt es ein paar Eigenschaften, die ich gern zur künftigen Nutzung wiedererlangen würde.

Inzwischen aber arbeitete ich vom Greifen aus, einfach aus dem Grund, weil dies die Art Taverne ist, die Leute mit schattengewerblichen Problemen anzieht. Na ja, deswegen, und weil mein Partner, Triss, die Atmosphäre mag – im Greifen ist es immer dunkel, und er lebt in den Schatten. Buchstäblich.

Er ist ein Finsterling, eine Kreatur aus lebendiger Dunkelheit und ein Legat jener Tage vor meinem Niedergang. Triss ist mein Partner, mein Freund, mein Vertrauter. Ja, ich war einmal ein Zauberer. Ein Zauberer und etwas, das manche als Assassinen bezeichnen würden, auch wenn ich den Begriff nicht schätze. Ich habe nie jemanden für Geld getötet.

Aber zurück zu den Frauen. Ich gab mir große Mühe, dafür zu sorgen, dass meinem zweiten Trunk kein dritter folgte – diesem Pfad war ich schon früher bis ganz nach unten gefolgt. Die Glocke zur achten Stunde hatte gerade geläutet, als die zwei den Greifen betraten und für einen Moment das rotgoldene Licht der westwärts wandernden Sonne ausblendeten. Alle Türen und Fenster standen offen, um die hochsommerliche Hitze zu lindern, was mich auf einen Stuhl neben der Feuerstelle vertrieben hatte. Es war ein ideales Plätzchen, von dem aus ich Vorder- und Hintertür im Auge behalten und mich so weit wie möglich im Schatten verbergen konnte.

Die erste Frau kam rasch herein und trat sogleich zur Seite, raus aus dem hellen Licht, und stellte sich mit dem Rücken zur Wand auf, während sie darauf wartete, dass sich ihre Augen an die Düsternis im Inneren der Taverne gewöhnten. In Verbindung mit der Art, wie die Frau sich bewegte – geschmeidig und lautlos –, wie sie mitten in dem schmutzigen Stroh, das den Boden bedeckte, auf den Fußballen balancierte, genügte mir das, um sie als geschulte Mörderin irgendeiner Art abzustempeln. Ob sie eine Jägerin war, eine Söldnerin, eine schwarze Löhnerin oder irgendetwas Exotischeres, konnte ich allerdings ohne die eingehende Betrachtung, der ich sie von da an unterzog, noch nicht erkennen.

Sie war groß und breitschultrig, gebaut wie ein Bauernmädchen oder eine Soldatin. Breite Hüften, große Brüste und dicke Muskeln, die sich zusammen mit einigen interessanten, wenn auch unbedeutenden Narben über ihre Arme zogen. Sie hatte schwarzes Haar und dunkle Augen, was in Tien recht alltäglich war, und eine goldbraune Hautfarbe, was nicht der Norm entsprach.

Ihre Kleidung war ebenfalls fremdartig. Eine enge, grüne Hose und darunter kniehohe, braune Wanderstiefel, dazu eine Art ärmelloser, kurzer Tunika von rostroter Farbe. Darüber trug sie eine schwere Lederweste, die ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte – viel zu warm für dieses Wetter. Auch kam die Weste einer Körperpanzerung näher als einem normalen Kleidungsstück, wenn auch wohl nicht so nahe, wie sie es sich gewünscht hätte, so ich nicht sehr weit mit meiner Annahme danebenlag. Ihre Haltung verlangte nach einem Kettenhemd oder vielleicht nach einer Plattenpanzerung. Dort, wo andere vielleicht Dolche getragen hätten, hatte sie zwei kurze Ruten mit eisernen Spitzen. Eine interessante Wahl.

Die Frau, die ihr Augenblicke später folgte, war klein und schlank, hatte so ziemlich gar keine Brüste oder Hüften, die in irgendeiner Weise der Rede wert gewesen wären, und die strammen, sehnigen Muskeln einer Tänzerin oder Akrobatin. Vom Stil her glich ihre Kleidung der der größeren Frau, doch trug sie Blau und Grau anstelle von Grün und Braun. Sie ging auf direktem Wege durch den Gastraum zu dem kleinen Tisch in der Mitte, schnell und ohne das Zögern, das man von einer Person erwarten sollte, die gerade aus dem Hellen ins Dunkle getreten war. Und dabei stolperte sie nicht einmal über den herrenlosen Stuhl, den irgendjemand mitten im Weg zwischen den Tischen hatte stehen lassen. Sie umrundete ihn gewandt, obgleich es schien, als würde sie ihn überhaupt nicht sehen.

Als sie den Tisch erreicht hatte, setzte sie sich so, dass sie die Vordertür im Auge behalten konnte, und fing an, müßig mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Mit ihrem Tänzerinnenkörper und dieser nervösen Energie erinnerte sie mich an meine Assassinenkollegin und einstige Geliebte Jax. Sehr. Das allein hätte vollkommen gereicht, meine Aufmerksamkeit zu fesseln, auch ohne den plötzlichen Druck, den Triss auf meinen Rücken ausübte, als er heraufglitt, um über meine rechte Schulter seinerseits einen Blick auf die beiden Frauen zu werfen. Überraschend – normalerweise ist er an Fremden nicht so interessiert. Kaum saß die Frau, da durchquerte auch die andere den Raum, um sich zu ihr zu gesellen.

Wie ihre Kameradin trug die kleine Tänzerin das schwarze Haar kurz – es reichte an den Seiten und hinten gerade bis zu ihrem Kragen – und mit Ponyfransen. Ihre Haut war dunkler als die der größeren Frau, für Tien aber immer noch auffallend hell, und ihre Augen waren von einem erschreckend fahlen Blau. Wirklich, sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Jax, und doch war da irgendetwas an ihrer Haltung, das mich an die weichen Lippen erinnerte, die geflüsterten Worte … Ich schüttelte den Kopf. Diese Zeit war lange vorbei. Konzentrier dich auf das Jetzt und die Frau vor deiner Nase. So, wie die Frau immer wieder Schultern und Hals kreisen ließ, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie der schweren Weste mehr abgewinnen konnte als die größere Frau, auch wenn ich vermutete, dass ihre Gründe in scharfem Kontrast zu denen ihrer Freundin standen.

Oder sollte ich vielleicht Leibwächterin sagen? Denn so stufte ich sie zunächst ein. Eine fremde Adlige und ihre Aufpasserin. Was bedeutete, dass ich sie gefahrlos ignorieren konnte. Und das versuchte ich dann auch, wirklich. Aber Triss lugte mir immer noch über die Schulter, und ich stellte fest, dass auch ich den Blick nicht von den beiden lösen konnte. Oh, ich starrte sie nicht offensichtlich an – die Priester, die mich aufgezogen hatten, hatten mich Besseres gelehrt. Aber ich beobachtete sie so eingehend, wie ich in der alten Zeit jede mir von meiner Göttin zugewiesene Zielperson beobachtet hatte.

Das lag natürlich zum großen Teil an Triss. Was Triss interessierte, das interessierte auch mich. Er ist alles, was mir von meinem alten Selbst geblieben ist, und in jener Zeit musste er den größten Teil seiner Zeit in meinem Schatten verborgen zubringen und so tun, als gäbe es ihn gar nicht. Als der Herrscher des Himmels unsere Göttin ermordet und seinen Hohepriester angewiesen hatte, unseren Tempel bis auf die Grundmauern niederzubrennen, um anschließend unseren ganzen Orden mit einem Bann zu belegen, hatte das unser gesellschaftliches Leben ein bisschen eingeengt.

Und es war keine Hilfe, dass die Göttin Namara sich und ihre Anhänger bei den säkularen Herrschern der Welt zutiefst unbeliebt gemacht hatte. Dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit unter Königen ebenso galt wie unter den Gemeinen ist nicht das passende Rezept, um sich besagte Könige geneigt zu machen. Ganz im Gegenteil. Aber so war einst mein Leben gewesen: Ich war eine Klinge der Namara, die das starre Auge der Gerechtigkeit jenen überbrachte, die zu mächtig waren, um vor Gericht gestellt zu werden.

Unschuldige martern? Angriffskriege einfädeln? Sich den Weg zum Thron freimorden? Namara hätte mich oder einen meiner Kameraden geschickt, um ein paar Worte an den Verantwortlichen zu richten. Meist »Ruhe in Frieden«. Manchmal auch »Schmor in der Hölle«. Jedenfalls sorgten wir für eine unmittelbare Befragung durch die Vertreter der Gerechtigkeit, verbunden mit der einmaligen Gelegenheit, auf dem Rad der Wiedergeburten mitzufahren. Darum warfen uns manche in einen Topf mit gedungenen Mördern, meist Leute, die mit einem schlechten Gewissen und einem hochtrabenden Titel ausgestattet waren – König, General, Sohn des Himmels …

Aber jene Zeit war vorbei, untergegangen mit dem Tempel, begraben mit der Göttin oder einfach versteckt in den Schatten wie Triss und ich. Versteckt oder verloren. Dieser Tage fiel es mir schwer, den Unterschied zwischen diesen beiden Dingen zu benennen. Einst war ich eine Klinge der Namara und kannte meinen Daseinszweck, glaubte unerschütterlich daran.

Jetzt? Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, ich kann mehr sein als nur ein Löhner, zumindest hoffe ich es. Aber ist es überhaupt möglich, Klinge zu sein, wenn keine Göttin mehr da ist? Der Gerechtigkeit zu dienen, wenn doch ihr Avatar von der Bildfläche verschwunden war? Das waren die Fragen, die ich mir in jüngster Zeit immer wieder stellte. Aber nun, da Namara fort war, gab es niemanden mehr, der sie mir hätte beantworten können, außer mir selbst. Und wer wollte schon auf das Wort eines Schattenlöhners vertrauen? Ich seufzte und versuchte erneut, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Der Greif strotzt nur so vor dunklen Ecken und geheimnisvollen Gerüchen, und sogar an Sommertagen, wenn der Sonnenschein zu den Türen und Fenstern hereindrang, schien er sich eher an die Nacht zu klammern. Diese Schattenaffinität gestattete Triss eine beträchlich größere Bewegungsfreiheit, die er nun dazu nutzte, die beiden Frauen von seinem Plätzchen an der Wand hinter mir eingehend zu studieren.

Die große Frau hatte kurz am Tresen Zwischenstation gemacht, um eine Bestellung aufzugeben, und sich dann im rechten Winkel zu ihrer nervösen Begleiterin an den Tisch gesetzt, was bedeutete, dass keine von ihnen beide Türen beobachten konnte. Vermessen oder närrisch – schwer zu sagen. Sie teilten sich eine Flasche Wein, wobei das Öffnen und Einschenken der Größeren zufiel, während sie darauf warteten, dass unser Wirt Jerik jemanden mit der Spezialität des Hauses – frittierte Fleischbrocken ungenannter Herkunft und leicht lädiertes Gemüse auf einem Bett aus braunem Reis – zu ihnen schickte.

Sie taten weiter nichts, sie aßen und tranken auf völlig zwanglose Art, und doch war etwas an ihnen, das meine Aufmerksamkeit fesselte, und es war nicht nur die Tatsache, dass die Kleinere mich an Jax erinnerte. Etwas stimmte nicht mit ihrer Körpersprache, und ich konnte mir einfach nicht erklären, was es war. Doch wie irritierend das auch für mich war, ich hätte es vergessen, wäre Triss nicht ebenso fasziniert von den beiden gewesen.

Das einzig wirklich Auffällige an ihnen war, dass sie so still waren. Sie sprachen kaum miteinander, und wenn sie es taten, bewegten sie kaum die Lippen und redeten so leise, dass ich von meinem Platz aus kein Wort verstehen konnte, obwohl die Taverne relativ leer war. Auch bewegten sie sich mit einer zeitweiligen tänzerischen Grazie, wenngleich ich bis dahin kein Muster darin hatte erkennen können. Eine Weile glaubte ich, sie könnten ein Paar sein, aber ihre Interaktion passte nicht so recht dazu, also kehrte ich zu meiner ursprünglichen Vermutung zurück.

Als sie mit dem Essen fertig waren, war die Sonne zu Bett gegangen, was bedeutete, dass der Greif allmählich erwachte und die nächtlichen Gäste hereinströmten. Irgendwann bestellte ich mir einen weiteren Kyles, nur um einen Grund zu haben, in der Bar zu bleiben und die Frauen im Auge zu behalten. Natürlich spürte ich Triss’ Missbilligung, doch ich verwässerte den Whiskey dermaßen, dass er kaum Wirkung zeigen konnte.

Nach Sonnenuntergang dauerte es nicht mehr lange, bis der Ärger losging. Boquin, ein junger Schattenleutnant – in der Hierarchie der Bande, die den Greifen zu ihrem Territorium zählte ungefähr an dritter Position – stolperte zur Tür herein und hielt beinahe unmittelbar auf den Tisch mit den beiden Frauen zu.

»Wie viel?«, fragte er in barschem Ton.

»Wofür?«, gab die Größere der beiden zurück und sprach zum ersten Mal laut genug, dass ich sie verstehen konnte.

Ihre Stimme klang tief und süß, sanfter, als ich nach ihrem Erscheinungsbild vermutet hätte, und ihren Worten haftete nur eine kaum wahrnehmbare Spur eines fremden Akzents an – Kvanas, möglicherweise, aber genau konnte ich ihn nicht einordnen. Ihre Begleiterin erstarrte derweil. Zum ersten Mal an diesem Abend sah ich, wie die kleinere Frau stillhielt.

»Ihr zwei zusammen in einem der Zimmer oben«, antwortete Boquin. »Ihr gefallt mir. Wie viel?«

Ich weiß nicht, ob er das ernst meinte oder ob er die Frauen nur ärgern wollte, aber das war auch nicht so wichtig. Was immer dahinter steckte, es sah ganz so aus, als würde die Situation eskalieren. Die Große ließ die Hände sinken und legte sie auf ihre Kampfruten, während die Kleine eine Hand in ihre Weste schob und dann wieder erstarrte. Auf eine gefährliche Art. Diese fokussierte, bedrohliche Aura erinnerte mich noch mehr an Jax. Was war los mit diesen beiden Frauen?

»Warum verschwindest du nicht, ehe jemand verletzt wird?«, schlug die Große vor.

Das war eine Herausforderung, und Boquin nahm sie an und schlug seine leichte Jacke zurück, sodass das Heft eines schweren Kurzschwerts zum Vorschein kam. Noch ruhte seine Hand nicht auf der Klinge, doch die Geste war eindeutig.

Normalerweise hätte diese Situation bei mir den Impuls auslösen müssen, mich tiefer in den Schatten zurückzuziehen und abzuwarten, was weiter geschah. Immerhin hatte ich nichts damit zu tun. Es war nicht mein Problem. Ganz zu schweigen davon, dass das, was nun kommen mochte, durchaus geeignet sein könnte zu offenbaren, was immer an diesen Frauen bei mir das Gefühl nährte, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmte.

Dennoch hatte ich noch nicht einmal meinen Stuhl zurückgeschoben, als Triss’ Stimme an meinem Ohr flüsterte: »Hilf ihnen.«

Da er geradezu unglaublich vorsichtig war und sich außer in einem Notfall niemals aus seiner Deckung wagte, war ich schon auf den Füßen und hatte den halben Weg zu den Frauen hinter mir, ehe ich Gelegenheit hatte, meine Meinung zu ändern. Oder, genauer, ehe ich mir eine Meinung hatte bilden können. Und da war es dann natürlich längst zu spät. Boquin war auf mein Herannahen aufmerksam geworden – wahrscheinlich hatte ich seinen Blick durch meine abrupte Reaktion auf mich gezogen.

Er drehte sich um und bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. »Gehören die zwei zu dir, Löhner?«

Ich nickte, regte mich darüber hinaus aber nicht, und so hing die Sache für einen Moment zwischen uns in der Luft. Beinahe konnte ich hören, wie Boquin meinen Ruf gegen den möglichen Gesichtsverlust abwog, den er riskierte, wenn er nun einlenkte. Ich hatte keinen bedeutenden Namen, jedenfalls nicht als Aral, der Löhner – keine wichtigen Kerben in meinem Schwertgriff, keine Reputation als Vollstrecker, wohl aber eine, die besagte, dass ich noch keinen Kampf verloren und nie den Schwanz eingezogen hatte. Meinem Ruf zufolge erledigte ich meine Arbeit still und leise, ohne große Kosten zu verursachen. Sein Entschluss stand, das sah ich in seinen Augen, auf der Kippe, doch am Ende traf er die richtige Entscheidung.

Er zuckte mit den Schultern und verbarg sein Schwert wieder unter der Jacke. »Dann halt sie künftig an der kurzen Leine.«

Wieder nickte ich. Dann schnappte ich mir einen Stuhl und schob ihn zum Tisch der Frauen. Dort setzte ich mich mit dem Rücken zum Tresen und zur Küchentür, was mir durch Mark und Bein ging, aber mir blieb keine große Wahl.

»Ich erinnere mich nicht, dich eingeladen zu haben, bei uns Platz zu nehmen«, beschied mir die Größere, und ich versuchte erneut, ihren Akzent einzuordnen.

Ihre Begleiterin saß immer noch still und regungslos da, hatte aber die Hand wieder aus der Weste gezogen. Die Veränderung in ihrem Gebaren passte nicht zu meiner ursprünglichen Annahme, es würde sich um eine Adlige nebst Aufpasserin handeln, aber bisher war mir auch nichts Besseres eingefallen, und die Frau lieferte mir keine weiteren Hinweise.

»Ich habe nicht vor, lange zu bleiben, nur lange genug, dass Boquin nicht glaubt, ich hätte ihn nur zum Spaß in den Schwanz gekniffen.« Ich sprach so leise, wie die beiden Frauen es zuvor getan hatten, denn ich wollte nicht, dass Boquin oder seine Kumpane mich hören konnten. »Mein Name ist Aral.«

»Stal«, sagte die Große widerstrebend und erst nach einer langen Denkpause, sprach allerdings ebenfalls sehr leise. »Und wir haben deine Hilfe bei diesem kleinen Problem nicht gebraucht.« Ihre Freundin ignorierte mich. Oder tat zumindest so.

»Eigentlich schon.« Etwas an der Behauptung, sie hätten bei diesem Problem keine Hilfe benötigt, sorgte dafür, dass sich meine Löhnerohren aufrichteten, und ich beschloss, noch darauf zurückzukommen. »Boquin ist Leutnant bei den Pflasterläufern und die Personifizierung diverser schlechter Nachrichten.«

»Was soll das sein, eine tienisische Gossenbande?« Sie schüttelte den Kopf. »Mit dem wären wir schon fertig geworden.«

»Physisch vermutlich schon – Ihr seht aus wie jemand, der weiß, wie man diese kanjuresischen Kampfruten benutzt, die Ihr am Körper tragt. Aber Ihr wäret nicht mit ihm fertig geworden, ohne ihn ernsthaft zu verletzen oder zu töten. Und das hätte Euch eine ganze Welt der Schmerzen eingebracht, hättet Ihr dann versucht, den Greifen zu verlassen. Seine Pflasterläuferfreunde wären über Euch hergefallen, ehe Ihr fünfzig Fuß weit gekommen wäret.«

»Mit dem Gossendreck wären wir auch mühelos fertig geworden.« Spott machte sich in ihrem Ton bemerkbar, als hätte sie sich einen Eindruck von mir verschafft und mich für minderbemittelt befunden. »Auch in großer Zahl.«

»Werdet Ihr auch mit einem Armbrustbolzen im Nacken fertig? Denn das ist die Art, wie sie vorgegangen wären, hätten sie miterleben müssen, dass Ihr Boquin allzu leicht überwältigt. Das sind gemeine Bastarde, und sie sind nicht dumm. So hättet Ihr Eurem Boss keinen Gefallen getan.«

»Meinem Boss?« Verwirrung spiegelte sich in ihrem Gesicht.

Zur Betonung meiner Worte blickte ich die kleinere Frau an und überlegte, warum sie wohl bisher noch gar nichts zu der Konversation beigetragen hatte. Sie jedoch starrte nur weiter an mir vorbei, als wäre ihr meine Gegenwart nur am Rande bewusst.

»Du denkst, ich arbeite für Hera …« Aber was immer sie sagen wollte, sie brachte den Satz nicht zu Ende.

Stattdessen sprang sie auf, zog die Ruten aus dem Gürtel und wirbelte zur Tür herum. Beinahe im gleichen Moment stolzierte ein großer Mann in der Uniform eines Eliteleutnants in die Gaststube, dicht gefolgt von seinem Steinhund. Vorgefertigte Banne umgaben die beiden mit einem Netzwerk aus buntem Licht, als würde sich ein Regenbogen in den Tautropfen auf einem Spinnennetz spiegeln – wunderschön und tödlich für jene, die die Augen besaßen, sie zu sehen. Die Augen eines Magiers.

Die kleinere Frau, Hera, trat ihren Stuhl um und wandelte die Bewegung wie bei einem Flickflack um. Ich hingegen kreiselte in der vagen Absicht, durch die Küche zu verschwinden, von meinem Stuhl hoch. Doch kaum hatte ich mich in die passende Richtung gedreht, da kam ein Krongardist herein – einer von vielleicht einem Dutzend, die nun durch die diversen Türen und Fenster eindrangen.

Plötzlich erlebte ich einen dieser kurzen Momente vollkommener Klarheit von der Art, wie sie sich bisweilen in einem gerade einsetzenden Chaos einzustellen pflegten. Mir wurde bewusst, dass ich meinen Satz vom Stuhl in einen trunkenen Sturz umwandeln und nur hoffen konnte, dass der Gardist hinter jemand anderem her war – sehr wahrscheinlich Stal und Hera, auch wenn Boquin und ein Dutzend anderer Missetäter der einen oder anderen Couleur weitere mögliche Zielpersonen hätten sein können. Durchaus wahrscheinlich sogar, bedachte ich die Anzahl der Soldaten: gerade ein Dutzend Gardisten und ein Eliteoffizier. Wären sie meinetwegen gekommen, dann wären sie besser gerüstet gewesen.

Spielte ich den Betrunkenen und suchten sie jemand anderen hier, so hatte ich eine hervorragende Chance, nur ein bisschen aufgemischt und anschließend wie ein zu kleiner Fisch zurückgeworfen zu werden. Immerhin waren die Steckbriefe auf meinen Namen nicht mit einem Bild versehen – ein letztes Geschenk meiner Göttin, wenn Ihr so wollt. Sollte ich jedoch falsch liegen, und sie waren doch meinetwegen hier, dann wäre mein Kopf nächste Woche um diese Zeit längst über das Verrätertor genagelt worden.

Triss’ geflüsterte Worte »Hilf ihnen« kamen mir wieder in den Sinn. Ich wusste immer noch nicht, warum mein bester Freund solch ein Interesse an diesen Frauen zeigte, aber dass er es tat, reichte mir vorerst. Also machte ich kehrt, entfernte mich vom Tresen und näherte mich dem Leutnant mit seinem Steinhund. Ich war nur leicht bewaffnet, lediglich Dolche, aber mir blieb keine Wahl. Der Magieroffizier der Elite mit seinem Steinhund und seinem Netzwerk aus machtvollen Bannen stellte eine größere Gefahr dar als all die anderen Soldaten zusammen.

Ich sah, wie er den rechten Arm schüttelte, woraufhin ein goldener Reif magischer Materie von seiner Schulter in seine Hand glitt – wie es aussah eine Art Fangzauber und zugleich einer seiner vorgefertigten Banne. Eine knappe Bewegung aus dem Handgelenk, und ein goldenes Band peitschte in Stals Richtung. Gut. Wenn er sie fesselte, war er vielleicht lange genug abgelenkt, dass ich mich anschleichen konnte und … Beim Blut der Göttin!

Statt sich von dem Band fangen zu lassen, tauchte Stal unter dem Schlingenbann hinweg und stürzte sich im gleichen Zug im Stil eine Fechterin mit der Rute als Verlängerung des ausgestreckten rechten Arms auf den Eliteleutnant. Noch weitaus erschreckender aber war, wie sie mit der Linken die zweite Rute hochbrachte und dazu benutzte, das Band einzufangen. Sie wickelte die Fangleine ein halbes Dutzend Male um die Spitze der Rute, zog sie runter und hinter ihren Rücken und brachte so den Leutnant ausreichend aus dem Gleichgewicht, sodass er direkt auf die erste Rute stürzte. Die eiserne Spitze erwischte ihn an den freien Rippen. Das hörbare Krachen gebrochener Knochen begleitete das Geschehen.

Jetzt griff sein Steinhund an, und wahrscheinlich hätte er ihr den halben Arm abgebissen, hätte ihn nicht eine enorme, magische Energie direkt an der Brust erwischt und ihn halb herumgeworfen. Ein zweiter Energiestoß traf ihn an der Schulter und schleuderte seinen über tausend Pfund schweren Leib gleich links von der Tür gegen die Mauer. Steinsplitter verteilten sich um ihn herum. Die Wand zerfiel in einem Durcheinander aus geborstenen Planken und Putz, und ich sah mich rasch nach dem Ursprung der Explosion um. Hera.

Sie hielt ein paar kurze, hölzerne Zauberstäbe in den Händen. Sie hatten ein Heft wie Dolche, und genauso hielt sie sie auch. Beide glühten in meinem Magierblick in einem intensiven Grün, und ich fragte mich, was in ihre Herstellung eingeflossen war. Trotzdem ließ ich mich nicht von meinem wichtigsten Zielobjekt ablenken – der Leutnant. Er war immer noch am Leben, und das bedeutete, dass er auch immer noch eine Gefahr darstellte.

Im Zuge der nächsten ungefähr zwei Sekunden ließ sich Stal die Fangleine, die sie erhascht hatte, über die Schulter fallen. Dann begann sie, sich im Kreis zu drehen und setzte ihren Körper ein wie eine Spule, um das Band aufzuwickeln und den Leutnant zu sich heranzuziehen, ehe sie ihm mit der rechten Rute die Kehle zerquetschte. Sie war beängstigend schnell und hatte ihr Manöver schon abgeschlossen, ehe der Eliteoffizier auch nur damit anfangen konnte, seine Banne zu entflechten. Irgendwo draußen zuckte und gurgelte der Steinhund, als sein eigenes Leben im Einklang mit dem seines Herrn entfleuchte.

Plötzlich ließ sich Stal auf den Boden fallen. Mir blieb ein Augenblick Zeit, um mich zu fragen, warum, ehe ein blauer Lichtstrahl die Stelle passierte, an der sie gerade noch gestanden hatte. Etwa so dick wie mein Oberschenkel, war er durch die Tür hinter ihr eingedrungen und bohrte nun ein Loch in den Staub und die Trümmer der eingestürzten Wand. Außerdem bohrte er ein Loch in Boquin und den Pfosten, an den er sich gelehnt hatte, den Kerl, der von seiner Position aus auf der anderen Seite des Tisches saß sowie einen unbekannten Trinker nahe der Feuerstelle und die Feuerstelle selbst.

Einen Moment später stürmte ein zweiter Steinhund durch die Trümmer, die der erste hinterlassen hatte, und ein dritter kam zur Vordertür herein. Panik griff um sich, als alle, auch der größte Teil der Krongardisten, versuchten, irgendwohin zu flüchten. Ein besonders cleverer Schattenmann nahm sich die Zeit, sein Hemd über den Magierlichtkandelaber zu werfen und den so oder so nur mäßig beleuchteten Raum in nahezu vollkommene Schwärze zu stürzen. Ich überließ den zweiten Eliteoffizier an der Hintertür Hera und ihrer Freundin und widmete mich dem, der zur Vordertür hereinkam.

Vermittels Körperrotation verschwand ich unter dem nächsten, leeren Tisch und sammelte dabei nur die Götter wissen was an Ungeziefer aus dem Stroh am Boden ein. Eine merkwürdige Vorgehensweise, könnte man meinen, aber eine, die auf dem lebenslangen Bemühen beruhte, zu verbergen, was ich war. In Dunkelheit und Chaos bot mir der Tisch eine großzügige Deckung, als ich Triss bat, mich in seine Finsternis zu hüllen. In einer Welt, in der Banne für jeden Magierblick hell aufleuchteten, gab es keine echte Unsichtbarkeit, jedenfalls nicht vor anderen Magiern. Triss und seine Finsterlingsverwandten sind jedoch imstande, einen sehr wirkungsvollen Ersatz zu bieten.

Triss ist ein Teil meines Schattens, aber davon abgesehen ist er auch eine Kreatur elementarer Finsternis. Während der Tisch und der Wahnsinn um uns herum uns vor den meisten Augen schützen sollten, glitt er vom Boden herauf, um mich mit einer dünnen Lage kondensierter Finsternis zu umgeben wie mit einer zweiten Haut, geschaffen aus eisiger Seide. Aber das Kältegefühl dauerte nur einen Moment an, während er sich zu einer Wolke ummantelnder Nacht ausdehnte.

Es war ein bisschen, als wäre man in dichten Rauch gehüllt. Niemand konnte mich sehen, und ich konnte niemanden sehen. Aber das ist kein so großes Problem, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Priester, die mich zu einer Waffe in Händen einer inzwischen toten Göttin erzogen hatten, hatten mich auch von frühester Kindheit an gelehrt, mich sicher in vollständiger Finsternis zu bewegen. Mehr noch, wenn ich auch auf konventionelle Art nichts sehen kann, während ich ummantelt bin, so kann ich mir doch die Sinne meines Vertrauten ausleihen.

Triss verfügt über eine Art 360-Grad-Nichtsehen, das mehr auf Strukturen und Abstufungen von Licht und Dunkelheit ausgerichtet ist als auf die Formen und Farben, die im menschlichen Sehen eine dominante Rolle spielen. Das ist eine ganz andere Art zu sehen, und ich hatte jahrelang üben müssen, um dieser Wahrnehmung überhaupt einen Sinn abzuringen, ganz zu schweigen davon, sie effektiv zu nutzen.

Als ich nun unter dem Tisch hervorglitt, lieferte mir das Nichtsehen eine Art wirren Ausblick auf turbulente Bewegungsabläufe. Krongardisten versuchten, die Ausgänge für die Masse der Schattengestalten zu versperren, die voller Panik zu fliehen versuchten. Ich konzentrierte mich auf den Abschnitt des Gastraums nahe der Vordertür, wo ich den dritten Steinhund zuletzt gesehen hatte. Er war nicht schwer auszumachen, nicht bei dem großen Kreis leeren Raums, von dem er umgeben war. Sogar in der Dunkelheit und vor Angst halb verrückt hielten sich die Leute von ihm fern. Und wer wollte es ihnen auch vorwerfen?

Steinhunde sind ganz einfach beängstigend. Stellt Euch eine dieser mächtigen Statuen vor, wie man sie vor größeren Tempelbauten findet. Ihr wisst schon: so groß wie ein kleines Pferd, breite Brust, breite Schultern, ein Kopf, der eher an einen Löwen als an einen Hund erinnert. Und jetzt stellt euch vor, eines von diesen Dingern erwacht zum Leben und mustert Euch wie seine nächste Mahlzeit. Dann macht Euch bewusst, dass die Dinger durch Erde und Gestein schwimmen können wie Fische im Wasser, und rechnet noch die wie auch immer geartetete Schutzmagie hinzu, mit der sein Zaubererkumpan ihn umgeben hat, und brrr … einfach nur brrr.

Dieser bewegte sich schnell, stürmte auf Hera und Stal zu. Ich ließ ihn passieren und verfolgte seinen Weg zurück auf der Suche nach seinem Herrn. Meinem Empfinden nach hatte ich keine andere Wahl. Keine der Waffen, die ich bei mir hatte, war geeignet, mehr zu tun als den Steinhund zu reizen, denn als Zauberer bin ich bestenfalls mittelmäßig. Gäbe ich mich zu erkennen, hätte er mich schon in Stücke gerissen, ehe ich seine äußere Schutzschicht auch nur angekratzt hätte. Nein, meine einzige Chance, den Hund aus der Gleichung zu streichen, war, seinen Herrn zu erledigen.

Einen Elitehauptmann, der gerade in diesem Moment zur Tür hereinkam. Ich zog ein langes Messer aus der Scheide an meinem Gürtel und huschte so schnell ich nur konnte, ohne irgendwelche verräterischen Geräusche zu erzeugen, auf ihn zu. In der dunklen Taverne war ich praktisch unsichtbar, und solange diese Leute wirklich wegen Stal und Hera gekommen waren, waren sie auch nicht darauf gefasst, nach mir und meinesgleichen Ausschau zu halten. Aber die Elite war wirklich sehr, sehr gut. Mehr als eine Chance würde ich nicht bekommen, also musste ich sie nutzen. Ich kam von vorn auf ihn zu, weil das schneller ging, und ich hatte ihn fast erreicht, als der Hauptmann die rechte Hand hob, auf den dunklen Leuchter deutete und einen Lichtzauber wirkte.

Der Raum explodierte förmlich vor Helligkeit, als die alten, verblassten Magierlampen, die Jerik aus zweiter Hand erworben hatte, plötzlich so grell aufleuchteten, dass es in den Augen schmerzte. Der Blick des Hauptmanns flackerte über die Dunkelheit, die mich umgab, und verharrte. Er wusste, dass ich hier war.

Irgendwo hinter mir schrie Stal.

2

Finsterlingstarnung hat ihre Vor- und Nachteile. Der größte Vorteil? Bei Dunkelheit ist man im Wesentlichen unsichtbar. Der größte Nachteil? Der blinde Fleck. An einem hellen Ort – wie dem, zu dem der Gastraum des Greifen gerade geworden war – wirkt die Finsterlingshülle aus Dunkelheit wie ein großes, wanderndes Loch im Blickfeld eines jeden, der gerade hinschaute. Eine Lücke, eine Leerstelle.

Den meisten Leuten würde das kaum auffallen, wenn es nur schnell genug wieder verschwand, und wenn sie es doch wahrnehmen, dann tun sie es meist als Symptom zu großer Mengen Alkohol oder beginnender Kopfschmerzen ab. Aber für die Leute, die darauf geschult waren nach Finsterlingen und den Klingen in ihrer Begleitung Ausschau zu halten, Leute, wie dieser Elitehauptmann, den ich gerade zu töten versuchte, ist das ein eindeutiger Hinweis, dass einer der meinen nah ist. In diesem Fall zu nah.

Der Hauptmann war gut, und er war schnell. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk jagte er, kaum, dass er mich bemerkt hatte, einen Wirrwarr tief purpurner Magie los. Doch da war ich schon in seine Deckung vorgedrungen. Ich riss das Messer hoch und trieb es unter seinen Rippen in seinen Körper und sein Herz, ehe ich es mit einer Drehbewegung wieder herauszog. Heißes Blut folgte dem Stahl und bildete einen scharfen Kontrast zu der Eiseskälte, die mein Rückgrat umklammerte, als der sich bereits auflösende Zauber des Hauptmanns über meinen Rücken peitschte.

Triss kreischte vor Schmerz, und die untere Hälfte meines Körpers machte sich wirkungsvoll von dannen, als ich plötzlich jegliches Gefühl unterhalb der Leibesmitte verlor und zusammenbrach. Ein Stiefel erwischte mich an den Rippen, als jemand beim Sturm auf die vorübergehend unbewachte Tür über mich stolperte. Ich rollte mich weg, hoffte, mich in Sicherheit bringen zu können, ehe irgendjemand Zeit hatte, darüber nachzudenken, was da gerade passiert war. Da erst fiel mir auf, dass ich meinen Schatten verloren hatte. Genauer gesagt, dass er nun wieder weiter nichts darstellte als einen dunklen Umriss am Boden.

Ich wusste nicht, was der Bann Triss angetan hatte, ich wusste nur, dass er noch lebte, denn sonst täte ich es auch nicht mehr. So sehr seine Abwesenheit mich schreckte, ich hatte keine Zeit, in diesem Punkt irgendetwas zu unternehmen, wenn ich wollte, dass wir die nächsten paar Minuten überlebten. Ich war halb gelähmt, ausgeliefert und verwundbar, und das, obwohl ich nur die ersterbenden Nachwirkungen des Elitebannes hatte erdulden müssen. Was hätte wohl die volle Ladung bewirkt? Schaudernd schob ich den Gedanken beiseite. Ich musste in Deckung gehen. Mühselig zog ich mich auf die nächste Zuflucht zu – das schattige Plätzchen unter einem nahen Tisch – und schwitzte unterwegs ohne Unterlass Eiswasser.

Aus der Nähe war das schmutzige Stroh auf dem Boden noch widerlicher, der Gestank schlimmer als jemals zuvor, außerdem wimmelte es nur so vor Tausendfüßern und Tässchen. Nicht, dass ich gerade das erste Mal auf dem Boden des Greifen geendet hätte, ich war nur zum ersten Mal nüchtern dabei. Ich hatte es gerade unter den Tisch geschafft, als das Gefühl in meinem Unterleib allmählich zurückkehrte. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu fluchen, denn ich fürchtete, würde ich einmal damit anfangen, könnte ich nicht mehr aufhören. Es fühlte sich an, als hätten zehntausend winzige Wichtel beschlossen, mich als Zielscheibe für ihre winzigen Bogen zu verwenden und mich mit brennenden Pfeilen zu beschießen. Falls Ihr je mit heißen Nadeln gestochen wurdet, dann kennt Ihr das Gefühl. Ja, ich kenne es. Nein, ich will nicht darüber reden.

Aber mit dem Schmerz kam die Fähigkeit wieder, mich zu bewegen, und so gern ich einfach hier unten liegen geblieben wäre, bis die Qual ein Ende hatte, ich musste nach meinem Vertrauten sehen.

»Triss!«, zischte ich und stemmte mich widerwillig auf Hände und Knie. »Alles in Ordnung mit dir?«

Mein Schatten bewegte sich unter mir, bis er aussah, als gehörte er einem kleinen Drachen – Triss bevorzugte diese Gestalt. Der Drache nickte kurz, sagte aber nichts und ließ sich einen Moment später wieder in meinen eigenen Schatten fallen. Das bereitete mir nun ernsthafte Sorgen – normalerweise ist er besonnener, und dies war ein Fall, in dem Worte die Botschaft weitaus leiser hätten übermitteln können – aber er hatte genickt, und ich konnte es mir immer noch nicht leisten, einfach an Ort und Stelle zu verharren.

Ich musste herausfinden, was aus Hera und Stal geworden war, ihnen helfen, sollten sie noch am Leben sein, und die Flucht ergreifen, wenn dies nicht der Fall war. Ich umfasste die Tischkante, zog mich hinauf und sah mich im Raum um. Verglichen mit dem Chaos, das noch vor ein paar Minuten geherrscht hatte, ging es im Greifen nun regelrecht friedlich zu. Drei tote Elitesoldaten und zwei Steinhunde lagen zusammen mit einem Dutzend anderer Opfer des Geschehens auf dem schmutzigen Boden. Die Krone würde zutiefst unzufrieden sein – es dauerte Jahre, einen Elitesoldaten heranzuziehen, und es gab nicht viele von ihnen.

Stal war am Boden und rührte sich nicht, war aber vermutlich noch am Leben, nach dem Licht der Heilmagie zu schließen, die Hera gerade an ihrer gefallenen Kameradin anwandte. Beinahe alle anderen Beteiligten zu beiden Seiten des Konflikts waren geflohen. Als ich auf die beiden Frauen zustolperte, fiel mir ein nicht verschüttetes Getränk am Rande eines Tisches auf – ein Schnapsglas, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, die zweifellos einen brutalen Alkoholgehalt hatte. Reis-Wein oder einer seiner Verwandten.

Ich dachte ernsthaft darüber nach, es hinunterzuspülen. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Sache besser oder schlimmer macht, deshalb ergriff ich es und hob es an meine Lippen. Auf die Beine zu kommen war so anstrengend gewesen, dass ich zitterte und schwitzte. Ich brauchte diesen Trunk.

Das Zeug war herb und warm und außerdem der billigste Stoff, den man sich vorstellen kann, und ging runter wie ein Schuss flüssiger Seide – glatt und weich und ach so besänftigend. Nicht ganz so wirkungsvoll wie eine heiße Tasse Efik oder auch nur ein paar der frischen, gerösteten Bohnen, aus denen das Wundergebräu hergestellt wurde, aber von der Klingendroge der Wahl hatte ich mich schon vor langer Zeit abgewandt. Beinahe gegen meinen Willen dachte ich an all die Flaschen hinter dem Tresen, drehte mich sogar halb zu ihnen um. Aber ich wusste, was es mit mir machen würde, sollte ich diesem Impuls folgen, also zwang ich mich, stattdessen zu den Frauen zu gehen.

Hera saß im Schneidersitz am Boden, das Gesicht von mir abgewandt, und hielt Stals Kopf in ihrem Schoß. Sie wirkte irgendwelche komplizierten Banne einer Heilmagie, die weit über meine dürftige Ausbildung auf diesem Gebiet hinausging. Die Details dieser Banne waren jedoch nicht annähernd so interessant wie die Tatsache, dass, während sie sie schuf, nirgendwo ein Vertrauter in Sicht war. Ich hatte sie und ihre Freundin den ganzen Abend genau beobachtet, und ich hatte nie auch nur einen vagen Hinweis auf einen Vertrauten wahrgenommen. Und das tat ich auch jetzt nicht. Die offenkundige Lösung des Rätsels lautete, dass sie mit einem Luftgeist wie beispielsweise einem Qamasiin oder einer anderen unsichtbaren Kreatur verbunden war. Aber schon jetzt kam mir der Verdacht, dass es da noch eine ganz andere Erklärung geben mochte.

Ich tat einen weiteren, unhörbaren Schritt auf sie zu, als sich Stals Augen flackernd öffneten und ihr Blick dem meinen begegnete. Obwohl Stal weder die Lippen bewegte noch sich anderweitig rührte, sah ich, dass Hera plötzlich sehr still wurde. Sofort hielt ich inne. Sie konnte nicht wissen, dass ich hier war, und doch wusste sie es. Mit langsamen, zielstrebigen Bewegungen öffnete ich die Hände und streckte sie zu beiden Seiten aus, die Handflächen den beiden Frauen zugewandt, um ihnen zu zeigen, dass sie leer waren. Wenn ich recht hatte, bewegte ich mich auf einem enorm gefährlichen Terrain, wenn nicht, würde ich schlimmstenfalls wie ein Idiot dastehen.

»Ich bin nicht euer Feind«, sagte ich leise. »Es gibt keinen Grund, das Blutvergießen wieder aufleben zu lassen.«

Auch wenn sie weiter in die Gegenrichtung blickte, drehte sich Hera nun halb in meine Richtung und streckte den rechten Arm aus. In der Lücke zwischen Ellbogen und Brustkorb sah ich die Spitzen ihrer Kampfzauberstäbe. Mit der Hand, die meinen Augen verborgen blieb, richtete sie sie direkt auf meinen Oberkörper. Derweil ließ mich Stal nicht aus den Augen.

»Kannst du mir einen guten Grund nennen, warum ich das nicht benutzen soll?«, fragte Hera, immer noch abgewandt. Ihre Stimme hörte sich angespannt an, und die Worte klangen abgehackt.

»Ich habe diesen dritten Elitesoldaten getötet, den Hauptmann. Hätte ich das nicht getan, wäre deine Paargefährtin jetzt tot, und du ebenso … Dyade.«

Hera nickte. »Also weißt du, wer ich bin.«

»Ja.« Obwohl ich bis zu diesem Moment nicht sicher gewesen war.

»Umso mehr ein Grund, dich zu töten.« Dieses Mal ertönte die Stimme von Stals Lippen.

Aber es war das gleiche Wesen, das zu mir sprach, die Dyade. Zwei Körper, zwei Gehirne, eine Kreatur. Ein einzelnes Wesen mit drei verschiedenen Geistern und Persönlichkeiten. Stal, Hera, die Partikel und ihre Fusion, die beherrschende Wesenheit, gebildet aus ihren vereinten Seelen – zusammen waren sie eine Dyade und so weit von der Vertrautenpartnerschaft, wie Triss und ich sie kannten, entfernt, wie es weiter gar nicht mehr möglich war. Auf persönlicher Ebene hatte ich den Gedanken an Dyaden stets als ein wenig schaurig empfunden, und nun ertappte ich mich dabei mich zu fragen, wie ich nur eine von ihnen mit Jax hatte vergleichen können. Andererseits waren da die gefallenen Elitesoldaten zu bedenken. Ihre Tödlichkeit konnte ich nicht bestreiten, und gerade in diesem Augenblick, in dem Triss so isoliert von mir war, beneidete ich sie beinahe um die Fähigkeit, die Gedanken der jeweils anderen lesen zu können.

»Willst du nicht die Flucht ergreifen oder wenigstens versuchen, mich zu überzeugen, dich nicht zu töten?«, fragte die Hera-Hälfte der Dyade, als sich das Schweigen zwischen uns in die Länge zu ziehen drohte.

»Nein«, entgegnete ich. »Das muss ich nicht. Hättet ihr es auf mein Leben abgesehen, so hättet ihr bereits angegriffen. Da ihr das nicht getan habt …« Ich senkte ein wenig den Kopf, um anzudeuten, dass sie immer noch am Zug war.

Die Dyade gab aus beiden Kehlen ein vages Knurren von sich, nickte aber mit Heras Kopf. »Stal hat einen harten Treffer von einem der Steinhunde einstecken müssen. Er hat ihr ein halbes Dutzend Rippen gebrochen, und sie ist kaum imstande zu gehen. Unter diesen Umständen zettele ich lieber keinen Kampf gegen jemanden an, der einen Elitesoldaten töten kann. Nicht, wenn ich nicht dazu gezwungen bin. Statt in die Berge zu flüchten, redest du immer noch mit mir, was darauf hindeutet, dass du den Elitesoldaten nicht aus purem Glück, sondern durch echtes Können ausgeschaltet hast. Und darauf, dass du an einer Art Allianz interessiert bist. Was hast du anzubieten?«

»Das ist die Frage, nicht wahr?« Ich wünschte nur, ich würde die Antwort kennen – aber das hier war Triss’ Spiel, nicht meines, und er gab keinen Ton von sich. »Aber es ist eine, von der ich denke, wir sollten sie lieber anderenorts diskutieren, meint ihr nicht? Da wo es sicherer ist.«

In erster Linie versuchte ich Zeit zu schinden, aber deswegen war der Vorschlag nicht weniger vernünftig. Die Krongardisten hatten sich klugerweise in alle Winde zerstreut, als ihre Eliteoffiziere gefallen waren, aber sie waren gute Soldaten, und sie würden so schnell wie möglich mit Verstärkung zurückkehren. Im Geist kalkulierte ich kurz die Rundreise von den Stolprern zu dem Zollhaus am Hafen, dem nächsten Ort, an dem sich vermutlich ein oder zwei Eliteangehörige aufhielten – mehr als eine halbe Stunde, aber nicht viel mehr. Wollten sie in voller Stärke angreifen, so hatten wir vielleicht eineinhalb Stunden – die Zeit, die jene Elitesoldaten brauchen würden, um eine Botschaft an den Palast zu schicken und weitere Truppen anzufordern – aber mehr gewiss nicht.

»Hast du einen bestimmten Ort im Sinn?«, fragte Hera. »Und ist er in der Nähe? Ich glaube nicht, dass Stal einem größeren Marsch gewachsen ist.« Die zweite Frage und die nachfolgenden Worte klangen anders, eher, als hätte ein ganz normaler Mensch gesprochen, und ich nahm an, dass dieses Mal Hera mit mir geredet hatte, nicht die Fusion.

»Ich tue, was immer notwendig ist«, sagte Stal, doch so entschlossen sie auch klang, mir fiel auf, dass ihr das Atmen Mühe bereitete.

»Ich habe nicht weit von hier eine Reserve«, sagte ich. Eigentlich waren es mehrere, was den Gedanken, eine davon preiszugeben, etwas weniger beängstigend erscheinen ließ. Nachdem mein Interesse am Leben durch die Ereignisse des vergangenen Frühjahrs doch noch einmal aufgeflackert war, hatte ich die alte Gewohnheit wieder aufgenommen, vorausschauend und unter Einbeziehung diverser Eventualitäten, zu agieren. »Dort dürften wir sicher sein, zumindest für eine Weile.«

»Bring mich hin«, sagte Hera nun wieder in dem abgehackten Stil der Fusion.

Ehe ich Stal die Hand reichen konnte, stemmte sich die Dyade hoch und nutzte dabei ihre beiden Leiber in perfekter Kombination. Durch ihre Kooperation wirkte es wie ein sorgsam choreographierter Tanz, als die verletzte Frau auf die Beine kam. Und nun wurde mir klar, was es mir den ganzen Abend so schwer gemacht hatte, die beiden Frauen zu ignorieren: die inhumane Koordination.

Wann immer die beiden miteinander interagiert hatten, beispielsweise ein Glas Wein über den Tisch geschoben, hatten sie es ohne die überflüssigen Bewegungen oder die minimalen Korrekturen getan, die normalen Menschen unter vergleichbaren Umständen zu eigen waren. Das verriet mir, dass sie nie gelernt hatten, sich als gewöhnliche Menschen auszugeben. Und das wiederum bedeutete, dass die beiden mit größter Wahrscheinlichkeit außerhalb des Rahmens ihrer normalen Pflichten und ihrer Ausbildung handelten.

Ich hatte noch nicht viel mit Dyaden zu tun gehabt; so wenig, wie meiner Erinnerung nach auch jede andere Klinge. Kodamia war ein so viel besserer und humaner betriebener Laden als all die Länder in der Umgebung, was auch bedeutete, dass es sich der Aufmerksamkeit meiner Göttin weitgehend entzogen hatte. Ich war im Laufe der Jahre einigen von ihnen begegnet, meist, wenn ich getarnt an einem der diversen Höfe des Ostens gearbeitet hatte. Kadesh, die Kvanas, Zhan …

Die Dyaden, die mir unter solchen Umständen begegnet waren – überwiegend Spione, Horcher im diplomatischen Dienst – waren mir vollkommen normal erschienen, es sei denn, sie hatten sich absichtlich entschlossen, ihre fremdartige Natur zu unterstreichen. Offensichtlich hatten Hera und Stal die wie auch immer geartete Agentenschule, in der jene anderen ausgebildet worden waren, nicht durchlaufen. Ein interessanter Punkt. Ebenso wie die Tatsache, dass sie vergleichsweise jung waren – beide nicht viel älter als fünfundzwanzig –, beinahe eine Dekade jünger als alle anderen Dyaden, die ich je getroffen hatte. Ich fragte mich, was es wohl zu bedeuten hatte, dass diese beiden so weit weg von ihrem Zuhause waren.

»Kommt«, sagte ich und deutete mit einem Nicken auf die Hintertür. »Auf diesem Weg haben wir größere Chancen, nicht gesehen zu werden, und ich muss unterwegs noch kurz einen Zwischenstopp einlegen.«

»Wozu?«, fragte Hera argwöhnisch.

»Meine Ausrüstung. Ich habe eine Kammer über dem Stall gemietet … oder ich hatte, bis heute.« Ich machte mich auf den Weg. Entweder sie vertrauten und folgten mir, oder eben nicht. Was immer passieren würde, ich musste mein Zeug holen und von hier verschwinden, ehe die Gardisten in Angriffsstärke zurückkehrten. »Dieser Ort ist verbrannt. Nach dieser Geschichte werde ich eine ganze Weile nicht mehr zurückkommen können. Vielleicht nie mehr. Nicht, nachdem drei Elitesoldaten getötet worden sind und Berichte über verbrecherische Dyaden kursieren, die die Nachbarschaft aufmischen. Dafür haben mich zu viele Leute mit euch gesehen.«

Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, am Leben und in einem Stück zu bleiben, dass mir dergleichen bis zu diesem Moment gar nicht in den Sinn gekommen war. Aber es stimmte, und diese Erkenntnis schmerzte mich. Der Greifenkopf war eine Absteige übelster Sorte und lag mitten im Herzen von Tiens heruntergekommenstem Elendsviertel, doch nichts von all dem änderte etwas an der Tatsache, dass er mir mehr als sechs Jahre lang ein Zuhause geboten hatte – länger als jeder andere Ort mit Ausnahme des Tempels der Namara. Ich würde ihn vermissen.

Bedauernd sah ich mich um, als ich zur Hintertür hinausschlüpfte. Bei der vorangegangenen Stampede durch die Ausgänge hatte jemand eine der billigen Öllampen umgeworfen, die üblicherweise den Hof erleuchteten. Sie war auf einem dreckigen Haufen benutzten Strohs aus den Ställen gelandet, und nun sorgten Flammen für einen hellen, wenn auch flackernden Lichtschein, in dem mein Schatten wild über die Wand hinter mir tanzte. Verstohlen warf ich einen Blick auf das Spektakel in der Hoffnung, dort einen visuellen Beweis dafür zu entdecken, dass Triss wieder bei mir war. Den erhielt ich nicht, dafür aber drückte etwas kurz meine Schulter, und ich war sicher, dass es weder Hera noch Stal gewesen waren.

Die Dyade folgte mir in sicherer Entfernung. Sie hatten sich arrangiert, sodass der Stal-Partikel sich mit dem Großteil seines Gewichts auf sein kleineres Gegenstück stützen konnte. Die Ruten hatte sie inzwischen weggesteckt, aber nun hielt Stal einen von Heras Kampfzauberstäben in der rechten Hand, während Hera den anderen in der linken trug. Beide hatten die Stäbe umgedreht, sodass sie nun weitgegend unauffällig an ihren Handgelenken ruhten, aber als ich mich zu den Ställen umwandte, ließ Hera ihren wieder vorschnellen und zeigte mit der Spitze locker in meine Richtung.

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, dich aus den Augen zu lassen«, sagte sie.

»Tja, entweder das, oder ihr werdet dieses Ding da benutzen müssen«, sagte ich über die Schulter, ohne im Schritt innezuhalten. »Meine Ausrüstung ist oben auf dem Heuboden, und ich werde jetzt da reingehen und sie holen.«

»Ich könnte mit dir gehen …«

»Aber Stal nicht, nicht die Leiter hinauf. Außerdem will ich nicht, dass ihr mich begleitet. Es gibt dort Schutzvorkehrungen, die ich erst entschärfen muss, und dabei möchte ich nicht beobachtet werden.« Wichtiger noch, ich wollte mit Triss reden, und dafür musste ich ungestört sein.

»Aber ich weiß nicht, was du bist!« Dieses Mal erklang die Stimme aus beiden Kehlen, und der zweite Zauberstab wurde gedreht und auf mich gerichtet. »Du hast einen Eliteangehörigen getötet, und das ist keine gewöhnliche Tat für einen Löhner. Du bist zumindest ein Magier und weitaus mehr, als du zu sein scheinst. Das macht dich zu einer potentiellen Gefahr.«

»Oder zu einem potentiellen Verbündeten. Es ist eure Entscheidung, wozu Ihr mich macht. Aber wenn ihr nicht vorhabt, mich umzubringen, dann bleibt hier. Ich bin gleich wieder zurück.«

Da mir keine magische Energie durch die Tür zum Stall hinein folgte, musste ich davon ausgehen, dass sie sich entschieden hatten, unsere Protoallianz fortzusetzen. Ich hastete zu der Leiter und die Sprossen hinauf – die Zeit wurde immer kostbarer, und ich hatte einiges zu erledigen.

»Triss?«, fragte ich, als ich die Tür zu meiner kleinen Kammer erreicht hatte.

»Hier.« In der Dunkelheit konnte ich meinen Schattengefährten nicht sehen, aber etwas an seinem Tonfall verriet mir, dass er wieder seine Drachengestalt angenommen hatte.

»Wie sieht der Plan mit den Dyaden aus?«, fragte ich ihn.

»Es gibt keinen.« Triss hörte sich ein wenig verlegen an.

Ich stöhnte. »Warum überrascht mich das nicht? Hast du wenigstens gewusst, was sie sind, als du mich aufgefordert hast, ihnen zu helfen?«

»Nein, ich wusste nur, dass sie sich nicht wie menschliche Wesen bewegen und in Schwierigkeiten sind. Sie waren hier fremd und ganz allein in Tien, genau wie wir es gewesen sind, als wir nach dem Tod der Göttin hergekommen sind. Sie brauchten Hilfe. Was musste ich da noch mehr wissen?«

Ich schlug leicht mit dem Kopf an die Tür.

»Du hast gesagt, Namara ist tot und du wärest nun ein Mann ohne Volk, ohne Heimat und ohne Lebenszweck«, sagte Triss. »Du wärest nun keine echte Klinge mehr. Aber du hast auch gesagt, du hoffst, dass du in dieser Welt immer noch Gutes tun kannst. Hier hast du die Gelegenheit, genau das zu tun.«

»Na ja, schon, aber …«

»Nichts aber. Du hast mir gesagt, das wäre der Pfad, den du beschreiten willst, und ich sollte dir helfen, nicht von diesem Weg abzukommen. Betrachte es also als Hilfe.«

Irgendwie war ich gerade dabei, einen Streit mit meinem eigenen Schatten zu verlieren. Wieder einmal. »Später werden du und ich uns darüber unterhalten müssen, was Hilfe genau bedeutet.«

»Aber jetzt ist dafür keine Zeit«, verkündete Triss und zwar nach meinem Gefühl recht selbstgefällig.

»Nein, wenn du also einfach …« Aber ich konnte bereits spüren, wie er an meinen Beinen heraufglitt und mich in eine zweite Haut aus kühlem Schatten hüllte.

Einen Moment später überließ er mir seinen Willen. Mit Hilfe des Teils meiner selbst, den Triss mir vorübergehend zur Verfügung stellte, berührte ich das Schloss und schob einen Schattententakel in das Schlüsselloch. Von außen sah das Schloss ganz gewöhnlich aus, ganz wie ein primitiver Mechanismus von der Art, wie man sie im Stall eines heruntergekommenen Gasthauses erwarten sollte, aber es war mehr, als es zu sein schien. Viel mehr.

Der innere Mechanismus war ein Durkoth-Produkt, wenn auch nicht das Beste, nicht einmal das Beste von dem, was sie an Menschen veräußerten. Die wirklich guten Produkte der Schmiede der Andersartigen konnte ich mir nicht mal im Traum leisten. Was ich aber konnte und getan hatte, war, Banne hinzuzufügen, ersonnen von den Priestern der Namara, um den Durkoth-Mechanismus zu verstärken und zu verbessern. Für einen Eindringling wäre es entschieden einfacher, die dicke Eichentür zu zerschmettern, als das Schloss aufzubrechen.

Nachdem ich den Schlüssel aus Schattenmaterie – den echten hatte ich schon vor langer Zeit zerstört – geformt und gehärtet hatte, schickte ich einen magischen Impuls durch das Schlüsselloch und drehte den Schlüssel. Die Tür glitt nach innen auf. Der Raum dahinter schien kaum der Mühe wert zu sein. Er war winzig, eingeklemmt unter der Dachschräge, dort, wo sie auf die Wand des Stalls traf. Es gab kaum genug Platz für die Pritsche und den niedrigen Tisch, dem einzigen Mobiliar, das ich besaß. Außerdem gab es noch eine kleine Truhe, die einerseits als Bank diente und andererseits als Lagerstätte für meine kostbareren Besitztümer.

Ich schloss und verriegelte die Tür hinter mir, ehe ich nach der abgedeckten Magierlampe griff, die auf dem Türsturz thronte. Abzuschließen war Zeitvergeudung, aber so lange dauerte es auch wieder nicht, und es fiel mir schwer, die Vorsichtsmaßnahmen beiseite zu schieben, die ich ein Leben lang gewohnt war. Mit einer knappen Berührung entfernte ich die Abdeckung, und ein intensiver und kostspieliger weißer Lichtschein breitete sich im Raum aus. Ein Mosaik aus abgetretenen Teppichen sorgte dafür, dass das Licht nicht durch die Ritzen im Boden in den Stall unter der Kammer vordringen konnte, und die Risse in den Wänden hatte ich schon vor langer Zeit geschlossen.

Nun ließ ich Triss frei, und er sank zu Boden und versorgte mich für einen Moment mit einem normalen Schatten, ehe er seine Drachenform annahm und sich im Raum ausbreitete. Während ich eine Messerspitze in die Halterung der Magierlampe schob, knackte Triss das magische Schloss an meiner Truhe und klappte den Deckel auf. Die Truhe würde ich vermissen, aber sie war so unhandlich, dass ich mit ihr nicht schnell genug würde vorankommen können.

Ich kippte die Truhe auf die Seite, sodass ihr Inhalt auf den Teppich purzelte, und zog mein Schwertgeschirr von dem Haufen. Das Gebilde aus Lederriemen und Stahlringen enthielt zwei Kurzschwerter in übereinstimmenden, rückwärtigen Hüftscheiden und etliche kleinere Scheiden für Messer und andere Werkzeuge des Klingenhandwerks.

Einen schweren Leinensack an einigen der Ringe zu befestigen war eine Arbeit von wenigen Augenblicken, ihn zu füllen ebenso. Ich warf meine besten Kleider hinein, ein paar haltbare Lebensmittel, eine Verpflegungsflasche Aveni-Whiskey – Kyles fünfzehn – und schließlich auch die Magierlampe, woraufhin der Raum wieder in tiefer Finsternis lag. Nun musste das Ding nur noch auf meinen Rücken, zusammen mit dem arg abgenutzten Trickbeutel und der Tasche mit dem wenigen Geld, dass ich derzeit besaß, und ich war marschbereit. Alles in allem dauerte es ungefähr fünf Minuten, und schon ging es wieder die Leiter hinunter.

Ich machte mir nicht die Mühe, die Tür wieder zu verriegeln. Das würde die Art von Besuchern, mit deren Erscheinen ich rechnete, sobald Zeugen mich mit den Dyaden in Verbindung gebracht hätten, so oder so nicht aufhalten können. Außerdem gab es immerhin eine winzige Chance, dass sich niemand das Schloss allzu genau ansehen würde, wenn er sich nicht damit herumplagen musste. Möglicherweise würde dann gar nicht auffallen, dass das Schloss nicht war, was es zu sein schien. Das wäre für mich am besten, denn dieses Schloss lieferte Hinweise darauf, was ich war. Hinweise, die jene, die über den Magierblick und die passende Ausbildung geboten, würden sehen können.

Beinahe war ich enttäuscht, als ich feststellte, dass die Dyade tatsächlich im Hof auf mich wartete. Da sie aber auch nicht sonderlich beglückt schienen, mich wiederzusehen, waren wir wohl quitt. Besonders Hera sah aus, als hätte sie gerade in ein verfaultes Brot gebissen, wie sie da stand und ärgerlich mit einem Zeh zappelte. Dass sie nicht geflohen waren, während ich außer Sichtweite war, verriet mir, dass die beiden, was immer sie sonst auch sein mochten, auf jeden Fall ziemlich verzweifelt waren. Sie brauchten mich. Und das war mehr als alles andere Grund für mich, ihnen zu helfen. Triss hatte recht gehabt. Meine Göttin mochte fort sein, aber ich war für alle Zeiten ihre Klinge, und auch, wenn ich nicht so genau wusste, was das in ihrer Abwesenheit für mich bedeutete, gehörte doch auf jeden Fall dazu, jenen zu helfen, die mich wirklich brauchten.

»Wohin?«, grunzte Stal.

»Folgt mir.« Ich ging zu dem kleinen Tor, das aus dem Hof hinaus und auf die Straße führte.

»Nicht, ehe du uns mehr über dich erzählt hast«, widersprach Hera.

»Wie wäre es damit?«, fragte ich, ohne meine Schritte zu verlangsamen. »Ich gehe. Und ich gehe jetzt, weil die verdammte Elite und ihre Untergebenen von der Krongarde in zehn Minuten, spätestens aber in einer halben Stunde über diesen Ort herfallen werden. Wenn ihr hier bleiben und auf sie warten wollt, bitte, es ist eure Entscheidung. Aber wenn ihr meine Hilfe wollt, dann kommt mit mir. Ihr habt die Wahl.«

Hera murmelte etwas in Gossenkodamisch, das ich nicht verstand, aber es hörte sich rüpelhaft an. Und dann folgten sie mir.

»Wir sind solch ein anmaßendes Verhalten nicht gewohnt«, beschied mir Stal.

Ich antwortete nicht, und ich hielt nicht inne. Ich hatte Adel jedwelcher Art nie sonderlich geschätzt, und ich würde für die Dyade keine Ausnahme machen, nur weil sie sich besser schlugen als der größte Teil dieses Haufens übler Gestalten.

In den Herrschaftshäusern Kodamias fanden sich Magiergabe und Vertrautengabe in verschiedenen Abstammungslinien, und ein Magier ohne einen Vertrauten war kein Magier. Der Mangel an anständigen Magiern zum Schutz des Stadtstaates hätte leicht zu dessen Untergang führen können.

Stattdessen hatte er sich zu einem von Kodamias größten Aktivposten entwickelt. Wie sich herausgestellt hatte, kam es nicht darauf an, einen Vertrauten zu haben, sondern darauf, eine Vertrautenbindung zu schaffen, eine Paarung, die geeignet war, als eine Art Linse zur Fokussierung der Magie zu wirken. Folglich wurden die Kinder der magiebegabten Zaubererkaste Kodamias mit den Kindern der Kriegerkaste verbunden, die über die Vertrautengabe geboten.

Weil beide Teile des Paares menschlich waren, war die Bindung fester als jede andere Magier-Vertrauten-Bindung auf der ganzen Welt. Zu fest für meine Verhältnisse. Die beiden wurden buchstäblich eins. Aber das ermöglichte es ihnen, zusammen mit der intensiven Ausbildung, Dinge zu vollbringen, von denen jede andere Magierschule nur träumen konnte.

Die Straßen der Stolprer waren still, ungewöhnlich leer und dunkel. Um diese Zeit in der Nacht konnte man normalerweise kaum zehn Meter weit gehen, ohne ein paar Halber-Riel-pro-Nummer-Huren abwehren zu müssen. Aber nun waren sogar die Bettler und andere Gossenheimer verschwunden. Neuigkeiten wie die, die besagte, dass drei Eliteoffiziere umgekommen waren, verbreiteten sich schnell in einem Viertel wie dem Stolprer.

An Wohnhäusern wie Tavernen waren die Fenster geschlossen, die Türen verbarrikadiert und alle Lichter gelöscht worden. Das einzige Licht stammte von den Sternen und dem Halbmond, aber deswegen fühlte ich mich kein bisschen weniger exponiert. Ich konnte die Augen spüren, die aus den Ritzen zwischen Fensterläden und durch diverse andere Löcher zu mir herauslugten. Ganz zu schweigen davon, dass der Lichtmangel den ruhelosen Toten ideale Jagdbedingungen bot. In der Kernstadt zeigten sie sich kaum, doch sollten welche in der Gegend sein, so würde diese tiefe Finsternis sie aus ihren Schlupflöchern locken.

Die Dyade zu einer meiner Reserven zu führen, statt einfach in einer Wolke aus Schatten zu verschwinden, kam mir immer dümmer vor. Wahrscheinlich zum dutzendsten Mal sah ich mich zu der sich abmühenden Stal um und überlegte, wie viel einfacher mein Leben doch wäre, würde ich jetzt, auf der Stelle, einfach verschwinden. Wäre da nicht der Teil von mir, der wusste, dass ich irgendwann wieder in den Spiegel blicken müsste, um mich zu rasieren, hätte ich es vielleicht sogar versucht. So aber seufzte ich nur.

»Was ist?«, fragte Hera in misstrauischem Ton. »Warum starrst du uns dauernd so an?«