Der Serienmörder, den man nicht stellte - Jan Flieger - E-Book

Der Serienmörder, den man nicht stellte E-Book

Jan Flieger

4,9

Beschreibung

Über die Dunkelziffer der nicht entdeckten Serienmörder in Deutschland gibt es nur Vermutungen. So auch über die Zeit unmittelbar vor der Wende und in der danach. Ein Mann fährt mit seinem Brummi herum in den neuen Bundesländern, ein Mann, der als Serienkiller junge Tramperinnen tötet und dann tief in den Wäldern vergräbt. So gelten die Toten nur als vermisst. Und die Herren der Mordkommission sind sowieso ausgelastet, sie haben Tote genug, so auch ein Opfer im Wagen der Geisterbahn eines Rummels. Bis hoch an die Ostsee treibt sie die Jagd nach dem Mörder. Aber das Morden des Serienkillers geht weiter, nur die Abstände zwischen seinen Taten werden kürzer. Der Chef der Mörderjäger hat zwar eine dunkle Ahnung von seiner Existenz, aber keine Opfer. Doch ausgerechnet er muss seinen Hut nehmen. Was aber geschieht, wenn das Monster nie gefasst wird? Wahrheit und Fiktion in einem "underground crime" der besonderen Art, mit einem Ende, das gewiss schockt, weil die Leserin oder der Leser es so nicht erwarten.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

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Epilog

Danksagung

Jan Flieger

E-Books von Jan Flieger

Impressum

Jan Flieger

Der Serienmörder, den man nicht stellte

ISBN 978-3-95655-947-1 (E–Book)

ISBN 978-3-95655-946-4 (Buch)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

© 2018 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E–Mail: verlag@edition–digital.de Internet: https://www.edition–digital.de

Er lag wie ein Toter in der Wanne.

Mit starrem Gesicht.

Starr wie die Gesichter junger Frauen, die in verborgenen Gräbern lagen, als Futter für die Maden.

Ungesühnt.

Auszug

Prolog

Der Mann vernahm hinter dem geblümten Vorhang ihr angstvolles Schluchzen, dort, wo sie auf der Schlafliege lag, hinter den Sitzen seines Brummis, und er war erfüllt von einer wilden Vorfreude auf das, was bald geschehen würde mit diesem gefesselten und geknebelten jungen, so aufreizenden Ding, das im normalen Leben mit ihm spielen, ihn demütigen und ihren Fuß in seinen Nacken pressen würde.

Nun aber war er es, der sie beherrschte, nun hatte sich sein Leben verändert, nun gab es die Jagd nach jungen Frauen, am liebsten Kindfrauen, die er sich einfach nahm, wann immer es ging. Und er wollte es wieder und wieder spüren, dieses Gefühl der Macht, der Dominanz und Kontrolle über sie, das immer stärker wurde von Mal zu Mal.

Heute ist es die Sechste, dachte er, und nun die Dritte in diesem Land, das sich DDR nannte und so stolz war auf seine guten Mordkommissionen. Ihm aber waren auch diese Polizisten nicht gewachsen, in ihm hatten sie ihren Meister gefunden! Zwei junge Frauen hatte er schon in ihrem Land getötet und immer an anderen Orten vergraben, wo nie einer ihre Leichen finden würde. Eine hatte er sich zuvor in Bochum gegriffen, eine in Hamburg, eine in Essen; der Spaten und der Sauzahn zum raschen Auflockern des Waldbodens lagen im Wagen, sehr gut gereinigt nach jedem Gebrauch. Er war ein Jäger geworden, denn das Vergewaltigen und Töten war ein Vergnügen, ein einmaliges, und er tat es immer wieder, er, ein scheinbar ganz normaler Mensch, ein unbescholtener Bürger, der in einer festen, ehelichen Beziehung mit Hilde lebte und sonntags in die Kirche ging. Nie würde jemand ihm das zutrauen, was er nun tat und wie aus einem inneren, nicht löschbaren Zwang heraus.

Er vernahm ihr Wimmern stärker.

Das gefiel ihm.

Er erlaubte es ihr.

Es erhöhte seinen Reiz.

Kaiserwetter, dachte er.

Immer gebrauchte er dieses Wort vor einer Tat, ohne es auszusprechen. Sie würde verschwunden sein, von einer Stunde zur anderen, und sie würden in diesem Land denken, sie hätte in Ungarn gewiss die grüne Grenze überschritten. Es war einfach eine wirklich gute Zeit für ihn.

Winsele du nur hinter dem Vorhang, dachte er, wenn wir halten, komme ich über dich, danach wirst du tot sein.

Mausetot, frohlockte er.

Und auch die so eifrige Polizei dieses kleinen Staates DDR wird mich nicht finden, denn die Leichen entdeckt sie nie.

Mich gibt es für sie als Mörder ja nicht, wird es nie geben, denn ich bin der unsichtbare Tod, und meine Opfer gelten nur als vermisst, belasten nicht ihre Statistik der Morde.

Sein Brummi mit dem grauen Fahrerhaus jagte weiter, ein Brummi, der ein wenig kleiner, dafür aber wendiger war als seine großen, plumpen Kollegen, und der sich gut für Fahrten in kleine Orte eignete und das Abstellen in Parkbuchten an Waldrändern. Er war sein eigenes Unternehmen, sein eigener Chef, und Hilde organisierte die Frachten wie ein echter Dispatcher, und sie war gut, sie war im Beschaffen von Fahrten sozusagen ein Genie, in dieser Hinsicht bewunderte er sie, denn Arbeit hatte er immer.

Der fünfunddreißigjährige, ein wenig stämmige, mittelgroße Mann hatte ein volles, pickliges Gesicht mit hellen blauen Augen, und er war ein Kraftpaket, ein Mann, der fest zupacken und schwere Lasten ohne Mühe schleppen konnte. Als gutaussehend aber würde man ihn nicht bezeichnen können, eher das Gegenteil wohl, da war er ehrlich zu sich selbst.

Seine Jeansjacke war in die Jahre gekommen, aber bei seinen Fahrten trug er sie immer, seit eh und je, als ob sie an seinem Körper einmal zerfallen sollte.

Was er beruflich tat, war recht geheimnisvoll, fuhr er doch mit seinem Brummi verplombte Kisten mit Bauteilen im Auftrag verschiedener Firmen in diese DDR, die dort wohl in spezieller Einzelfertigung zusammengebaut wurden, da sie nicht am Fließband und für viele sichtbar entstehen sollten. Er brachte verplombte Kisten in kleinere DDR-Betriebe, mehr musste er nicht wissen und wollte es auch nicht, nur dass dieses so gefürchtete MfS in diesem Handel mitspielte. So besaß er einen Sonderausweis, der ihn vor Kontrollen in dieser DDR schützte. Sein Job war ein toller Job, einen besseren hatte er vorher nie gehabt. Was wollte er mehr?

Jede Dienstreise in diesen kleinen Staat wollte er aber nun auch nutzen, um seine Lust zu stillen, und der Nervenkitzel war noch größer als in seinem eigenen Land. Sein Trieb, der nach neuen jungen Frauen rief, war nahezu unstillbar geworden. Er würde sich sozusagen durch das Leben töten, doch er tat es nur, wenn er es mit absoluter Sicherheit tun konnte und sie ihn nicht stellen würden, nur dann. Er erzwang das Töten nicht, er wartete einfach ab, bis sich die perfekte Gelegenheit ergab, und nutzte sie, mal tötete er so in dem einen deutschen Staat, mal in dem anderen. Er war, wenn man es genau besah, praktisch unsichtbar, denn er kam aus dem Nichts und er verschwand im Nichts.

Weit hinter Plauen fand er, abseits von der Straße, eine gute Parkbucht. Das Adrenalin jagte durch seine Adern, und er zog alle Vorhänge hinter den Scheiben zu, dann nahm er sie. Sie ließ alles mit sich geschehen, diese kleine, aufreizend freche Schlampe, die als Tramperin ein wenig naserümpfend zu ihm in den Laster gestiegen war. Sicher hatte sie an sein Westgeld gedacht und dafür über sein Gesicht hinweggesehen.

Später packte er ihren Hals mit beiden Händen, wobei seine Daumen mit aller Gewalt auf ihren Kehlkopf drückten. Ihre Augen traten hervor, und ein Zucken fuhr durch ihren Körper, so, als ob sie eine Delinquentin wäre auf dem Elektrischen Stuhl. Er spürte das heftige Strampeln ihrer Beine, und bei allem genoss er die Macht, die er besaß, die unumschränkte, die einmalige Macht über Leben und Tod, es war ein Gefühl, nach dem er wohl immer einen heftigen Drang verspüren würde. Tief beugte er sich zu ihr herab, sehr tief, um ihrem Gesicht sehr nahe zu sein.

Ihre Augen standen offen, als sie tot war.

Später hob er ihr „Grab“ aus, tief genug, dass selbst größere Tiere die Tote nicht erreichen würden. Endlich konnte er sein „Werk“, wie er es nannte, beenden, erschöpft, aber froh, unendlich froh. Und zugleich stolz, war er doch die Allmacht in Person, der lustvoll Strafende, ein Gott. Vielleicht würde er bald wieder ein weiteres von diesen jungen Dingern aufgabeln, aber er wollte nichts über das Knie brechen, er hatte alle Zeit der Welt, und sein Jagdrevier war das ganze Land. Er durfte nur nicht auffallen, nie zu schnell fahren, keinen Streit haben, sich nirgendwo einmischen, dann würde alles gut sein, immer.

1

Ein Wagen der Mörderjäger Leipzigs jagte auf der Landstraße dahin, immer dann, wenn er in einer Kurve lag, ermöglichte das Licht der Scheinwerfer einen Blick in die Landschaft, die flach, endlos und öde wirkte.

Missmutig blickte Peter Landschreiber hinaus, als Tropfen heftig an die Scheiben prallten. Der schlanke, achtunddreißigjährige, große Mann mit den sehr blauen, ruhig blickenden Augen in dem schmalen Gesicht und dem aschblonden, stets nach links gelegten Haar, schien nicht gut gelaunt zu sein.

Jonas Kinnigkeit, der den Wagen fuhr, kaute auf seiner Unterlippe, dachte er doch an den Montagabend, stand wieder am Rand der Straße, sah die Menschen an sich vorbeiziehen, einen endlosen, die Breite der Straße einnehmenden Strom, hörte den gewaltigen, immer wiederkehrenden Aufschrei, der jeden mitriss wie ein Sog: „Wir sind das Volk“.

Das kantige Gesicht des knapp dreißigjährigen Kinnigkeit mit den dunklen Augen und dem blauschwarzen Haar hätte nahezu maskenhaft gewirkt, wenn da nicht diese gleichmäßig kauende Bewegung gewesen wäre, die einfach kein Ende nahm. Was bahnt sich da an? dachte er. Wohin führt dieser Prozess, der immer stärker zu werden scheint und sich offenbar nicht mehr beherrschen lässt? Der Staat DDR stand vor dem Abgrund, das war ihm bewusst. Was aber kam dann? Es war unvorstellbar. Sie aber würden ihre Arbeit eifrig weitermachen, bis zum letzten Tag, und sie durften sich dabei nicht ablenken lassen, dazu war sie zu wichtig.

Aber wenn er an die Zukunft dachte, erfüllte ihn ein beängstigendes Gefühl, das er so nie zuvor gespürt hatte in seinem Leben.

Links und rechts der Straße standen Apfelbäume, zwischen denen in unregelmäßigen Abständen hohe Pappeln aufragten.

Die Scheibenwischer hatten nun Mühe mit dem immer stärker werdenden Regen.

Kinnigkeit stöhnte auf, aber sein Stöhnen galt nicht dem Regen, und Landschreiber wusste das, er hielt die Arme über der Brust verschränkt und die Augen geschlossen.

Eine halbe Stunde werden wir wohl noch brauchen, dachte er.

Ein Hase huschte über den Weg, vom Licht geblendet verharrte er, um dann, Haken schlagend, in das Dunkel zu huschen.

Kinnigkeit hielt das Lenkrad mit der rechten Hand und kaute auf den Knöcheln seiner linken.

Regen rann in kleinen Bächen an den Scheiben herunter und der Scheibenwischer bekam die Scheibe kaum noch klar.

Die erste Runde fängt nicht gut an, dachte Landschreiber, und in einer Woche soll mein Urlaub beginnen, mit Heide und Tim, der lang ersehnte und schon zweimal verschobene, denn Rügen wartete, die Kreideküste, das Sammeln von großen Hühnergöttern.

Kinnigkeit starrte gebannt auf den glitzernden Asphalt, auf dem im Licht der Scheinwerfer die Wassertropfen tanzten, dichter und dichter. Und der Lichtkegel erfasste ein Reh, das mit einem gewaltigen Satz erschrocken in den Büschen verschwand.

Ein Fahrzeug fuhr, ohne abzublenden, so nahe an ihnen vorbei, dass Kinnigkeit fürchtete, die Seitenwand würde sie streifen.

Nach einer Weile blickte Landschreiber auf die Uhr, und er wusste: Bald würden sie, irgendwo in der Nähe von Sternhausen, in die starren Augen einer Toten sehen …

2

Stunden später …

Es war Nacht, als sie vom Tatort zurückfuhren, eine regennasse, unfreundliche Dunkelheit umgab sie.

Das Bild der Toten im Straßengraben verdrängte nun jeden anderen Gedanken. Die Tote würde Landschreiber in der Pathologie wiedersehen.

Wassertropfen liefen ihnen am Hals hinunter und den Rücken hinab.

Wer war diese brutal getötete junge Frau im roten Anorak?

Eine Tote ohne Ausweis?

Ohne Tasche?

Ohne Geld?

Lichter des Gegenverkehrs schossen auf sie zu.

Der Regen wurde immer stärker, und das Licht der Scheinwerfer durchdrang ihn kaum, denn wie eine Wand schien er vor dem Wagen zu stehen.

„Zigarette?“, fragte Landschreiber und riss eine neue Packung auf.

Kinnigkeit winkte ab, und ein wenig gedankenverloren blickte er Landschreiber dabei an, der steckte die Zigarette in den Mund, doch er brannte sie nicht an.

Kinnigkeit starrte geradeaus und kaute weiter auf seiner Unterlippe, und erst jetzt spürte er die nasse Kleidung, denn lange schon hatten sie sich im Regen bewegt.

Landschreiber schüttelte sich, denn er dachte an die starren Augen der Toten.

Schweigen war angesagt.

Stille.

Nur der Regen trommelte auf das Blechdach, ausdauernd, wild, ein ekliger Regen, der zur Stimmung der beiden Männer passte, die noch nichts von einem Mann wussten, der als Serienmörder durch ihr Land fuhr und der all ihre bisherigen Mörder, die sie je gejagt hatten, in den Schatten stellte. Aber dazu mussten sie erst seine Witterung aufgenommen haben, bis jetzt hatten sie keine, nicht die geringste, denn er vergrub seine Opfer dort, wo sie nicht zu finden waren.

Er war unsichtbar.

Und er war der Tod selbst.

3

Als Landschreiber seine Wohnung betrat, war er verwundert, Heide noch in der Küche zu sehen.

„Du bist noch auf?“, fragte er, noch ehe er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn drückte, eine Geste, zu der er sich noch immer nicht zwingen musste, auch nach vielen Jahren der Ehe, und er vernahm: „Mein Schatz, du vergisst manchmal, was in so einem Haushalt alles anfällt. Ich musste die Bügelwäsche endlich aufarbeiten. Ich habe diese schöne Arbeit schon lange vor mir hergeschoben. Ich dachte auch, du kommst eher. Du bist ja ganz durchgeweicht?“

Müde winkte er ab. „Wir können uns das Wetter ja nicht aussuchen.“

Sie hob die Augenbrauen. „Sag bloß, ein neuer Fall?“

Landschreiber brummte ein unwilliges „Ja“.

Er verspürte keine Lust zum Reden, er ging ins Badezimmer, ließ Wasser ein, entkleidete sich und streckte sich dann in der Wanne aus.

Doch die Entspannung wollte sich nicht einstellen, zu viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die er nicht verdrängen konnte, und mit geschlossenen Augen lag er nun und dachte nach, als Heide das Bad betrat.

„Denkst du daran, Peter, dass wir in der nächsten Woche Urlaub haben?“ Die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören, denn zweimal hatten ungelöste Fälle alle Urlaubspläne zerstört, und sehr gründlich. So klang sein „Ja“ etwas schuldbewusst. Der Oberst, dachte er, wird mir kaum den Urlaub genehmigen, wenn diese neue Mordsache nicht vor dem Abschluss steht.

„Wir werden fahren“, sagte er leise, aber er öffnete nicht die Augen, er sah wieder die Tote im Straßengraben und er dachte an die Mutter der Ermordeten, die Kinnigkeit besuchen würde, er dachte an die Sektion, an die Messer der Pathologen, die eine Frau sezieren würden.

„Bei mir ging es heute wieder rund“, hörte er Heide sagen. „Es wurde kein Toilettenpapier angeliefert. Dreimal in einer Woche habe ich gemahnt. Kannst du dir vorstellen, was in meiner Kaufhalle los war?“

Er schlug die Augen nicht auf, nickte aber, um Interesse vorzutäuschen, denn alles Private schien unendlich klein und unwichtig, wenn er einen Mörder suchte, ja sogar nahezu lächerlich und bedeutungslos.

Er spürte ihre Hand auf seinem Haar, ehe sie das Bad verließ.

„Schlaf nicht ein“, mahnte sie lächelnd. „Man kann auch beim Baden ertrinken. Und ich stehe dann vielleicht unter Mordverdacht.“

Ein Hauch von ihrem Parfüm blieb im Raum.

Ein lockender Hauch.

Er aber fühlte sich ausgebrannt.

Schlaff.

Er lag wie ein Toter in der Wanne, mit starrem Gesicht. Starr wie die Gesichter junger Frauen, die in verborgenen Gräbern lagen, als Futter für die Maden, ungesühnt.

4

Der Mann gab weiter Gas und hielt eine Zigarette im Mundwinkel, deren Rauch ihm nicht in die Nase drang, da er den Kopf etwas schräg hielt, denn er mochte diese Art des Rauchens.

So gut wie kein Verkehr auf den Straßen, dachte er erfreut und hielt das Lenkrad mit der linken Hand und in der rechten die Zigarette. So genoss er die Fahrt durch das Vogtland, so wünschte er es sich immer, so konnte er an diese jungen Weibsbilder denken, immer wieder.

Die Dörfer, durch die er fuhr, kannte er nicht oder er hatte sich ihre Namen bei früheren Fahrten nicht einprägen können.

Ein Postamt lag an der Straße, eine Kirche, eine Tankstelle, dann ein Wald mit vielen Birken, zwischen den Bäumen glitzerte Wasser, irgendein kleiner See.

Endlich Schatten, eine Straße im Schatten, eine Straße, die an hohen Bäumen vorbeiführte, die sie flankierten.

Er brannte sich eine neue Zigarette an, nachdem er den Rest der letzten aus dem Fenster geworfen hatte, und er dachte an Hilde, sie würde gewiss neue Fuhren für ihn haben. Sie war die perfekte Frau und so anhänglich wie eine Hündin, das wiederum hatte seine Vor- und seine Nachteile, aber die Vorteile überwogen wohl, denn nie würde sie über ihn auch nur den Hauch einer Kritik verlauten lassen. Und wenn sie ihn wirklich einmal fassen sollten, würde sie gewiss ihren Gott für ihn noch um Verzeihung bitten, so war sie, diese Hilde.

Sein Leben war geordnet wie seine Fahrten.

Und nun die jungen Frauen.

Mehr brauchte er nicht.

Das waren die Säulen seiner Existenz.

Heute krieg ich wohl keine, dachte er, und er fuhr sofort langsamer, als er eine Geschwindigkeitsbegrenzung sah. Nicht auffallen! Die DDR war ein Ordnungsstaat, gegen eine Vorschrift sollte man nicht verstoßen, denn fiel man auf, wurde man sofort registriert, hatte eine Akte.

Und die war immer eine Gefahr. Und was für eine.

In dieser DDR, so hatte er mal gelesen, soll es einen Serientäter gegeben haben, sieben junge Frauen hatte er getötet, ehe sie ihn fassten. Und ausgerechnet eine junge Polizistin hatte ihn, als Lockvogel in Zivil, gestellt, war sozusagen als Köder auf der Straße gewesen.

5

Während der Mann auf die Straße starrte und auf den entgegenkommenden Verkehr, kam ihm sein letztes Opfer in den Sinn.

Was hatte er da für ein Glück gehabt!

Er hatte es ihr gegeben! Aber richtig!

Und er hatte seine Lust ausgelebt und dabei ihren Willen gebrochen.

Und wie!

Wieder ein Miststück, das stellvertretend für viele stand, die ihn gedemütigt hatten, oft genug, und es war unfassbar leicht, sie zu bekommen und auszulöschen.

Die Polizisten aber würden ihn nicht fassen., sie waren ihm nicht gewachsen, ob sie nun in dem einen Deutschland lebten oder in dem anderen, aber bis er so weit gekommen war, lag ein weiter Weg hinter ihm, ein quälender Weg, den er viel zu lange gegangen war, ohne sich zu wehren, ohne sich zu rächen.

Nun aber tat er es.

Ehe er Hilde kennengelernt hatte, war er ein Einzelgänger gewesen, schon seit der Kindheit, vereinsamt, fand keine Freunde, später keine Partnerin, nur sexuelle Versagenserlebnisse und Zurückweisungen bei Frauen, die belastend waren, schrecklich, erniedrigend, und die dann irgendwann begannen, nach Vergeltung zu rufen, nach Gewalt, Degradierung und Tod.

Durch ihn!

Durch seine Gewalt!

Durch seine unumschränkte Gewalt!

Das endgültige Besitzen einer Frau bis hin zu ihrem Tod.

Die Gewaltfantasien, die den Tod von jungen Frauen einbezogen, wuchsen in ihm, hatten aber kein Ventil gefunden, waren nur Tagträume geblieben. Dann aber gab es seine Flucht in die Ehe, zu Hilde, und er schien sich zu wandeln, wurde kontaktfähig, war höflich, diszipliniert. Hilde, die weit älter war als er, umsorgte ihn, aber eine wirkliche sexuelle Befriedigung fand er bei ihr nicht, er musste sich sogar zum Beischlaf zwingen.

Die Fantasien jedoch waren wiedergekehrt, waren wohl nur von ihm verdrängt worden. Hilde gegenüber hatte er sich immer verstellt, sie völlig getäuscht. Sie liebte ihn, er aber liebte sie nicht, er liebte nur ihr Geld, ihr Haus, den Familienanschluss, ein angesehener Mann zu sein in einer Dorfgemeinschaft, all das kannte er bisher nicht. Sie gab ihm das Geld für einen Brummi, er wurde sein eigener Chef, und Fahrten gab es genug. Und er war ihr zuliebe sogar in die Kirche eingetreten, nur gläubig war er nicht, saß in der Kirche als Fremdkörper, täuschte selbst den Pfarrer, der so klug schien. Die perfekte normative Fassade eben.

Dann aber, auf den Fahrten, waren die Gedanken im Fahrerhaus gekommen, wie er seine Fantasien verwirklichen könnte, es war ein langsamer Prozess gewesen, bis die Tötungsfantasien nach einer Realisierung riefen, nach echtem Tod, gewaltsamem Tod. Und täuschen konnte er sie alle, seine Tarnung würde seine Normalität sein, das begriff er, denn dumm war er nicht, durchaus nicht. Und immer weiter blieb er freundlich und höflich, hatte sogar sein Lächeln vor dem Spiegel geübt, aber für so manches junge, rotzfreche Ding würde er nun der Tod sein, der lebendige Tod.

Der strafende Tod!

Er las die Bücher des Marquis de Sade, las die Beschreibung der Tötung einer jungen Frau, nackt und gefesselt. Wie hatte doch dieser Autor geschrieben? „Sie hält den Atem an und starrt mit weit aufgerissenen Augen zu mir hoch. Ich spüre, wie ihr Herz rast.“

So erlebte er es nun in der Wirklichkeit, so, wie es der edle Marquis beschrieben hatte, in dessen Kellern seines Schlosses solche Taten geschehen sein sollen, Taten, die nun sein eigenes Leben bestimmen würden. Diese Mordfantasien nahmen von ihm Besitz, trieben ihn an, und er begriff, dass er jederzeit töten konnte, er verspürte einen Wiederholungsdrang, der wie ein geheimnisvoller Sog war, und er fühlte sich total fit, wach und energiegeladen, er würde sich nie in den Netzen der Polizei verfangen, da war er einfach zu schlau.

Täter wie ihn fing man nicht!

Hatte er doch gelesen, dass es genug Serienmörder in Deutschland gab, die man nie entdeckte. Eine Zahl weit über zwanzig seit 1945 spukte durch seinen Kopf. Zwölf Mordserien sollten in jedem Fall unerkannt geblieben sein nach dem Ende des Krieges. Oder waren es sogar mehr? Natürlich waren es mehr!

Männer wie er waren es gewesen.

Eben kluge Männer, die etwas wagten.

Er würde ihre Zahl erhöhen.

Gewiss.

Und er würde noch besser sein als sie.

Er würde der Beste sein.

Der Allerbeste!

Seine Brust wölbte sich.

Ein Serienmörder wäre ein gesellschaftlicher Albtraum, hatte er gelesen, und Deutschland würde dabei in Europa einen Spitzenplatz belegen.

Es gab also Männer wie ihn!

Er war nicht allein.

Da sah er den Streifenwagen mit Blaulicht hinter sich, der sehr rasch fuhr.

Was zum Geier lief hier ab?

Er zuckte zusammen und fühlte Panik in sich aufsteigen,

Schweiß trat auf seine Stirn und seine Gedanken rasten hin und her.

Hatte er sie nicht tief genug vergraben?

Hatte ihn doch einer gesehen?

Das Blaulicht kam näher und näher.

Ein Truck kam ihm entgegen und er musste achtgeben, dass sich ihre Fahrzeuge nicht streiften.

„Heilige Scheiße“, fluchte er, dann trat er auf die Bremse, blinkte, fuhr an die Seite, hielt.

Der Streifenwagen war dicht hinter ihm, er konnte die Gesichter der beiden Volkspolizisten sehen.

Sein Herz schlug immer heftiger.

Da raste der Streifenwagen an ihm vorbei.

Minutenlang saß er reglos, und nur langsam beruhigte er sich, und er hörte Hildes Stimme: „Gott verlässt einen nicht.“

Ha, ha, ha, dachte er, das gilt wohl auch für einen Serienkiller? Jetzt kamen sogar wieder zynische Gedanken, und so fragte er sich hämisch, ob die gelungenen Morde eine Art Karma waren.

Da grinste er schon wieder.

Ein Chevy rauschte vorbei, ein seltenes Fahrzeug in diesen östlichen Breitengraden.

Sein Grinsen wurde breiter.

Nichts und niemand konnte ihm etwas anhaben.

„Bleib immer ganz ruhig!“, mahnte er sich. “Diese Panik darf nie mehr über dich kommen!“

Er startete den Brummi wieder.

6

Landschreiber blickte auf sein Handgelenk. „Uhrenvergleich, Männer. Es ist elf Uhr fünfundvierzig. Das nächste Mal treffen wir uns um zwanzig Uhr dreißig.“

Die drei Männer nickten schweigend, und Landschreiber dachte an die Spuren unter den Fingernägeln der Toten, die bei der Obduktion entdeckt worden waren. Hatte sie ihre Nägel in den letzten Augenblicken ihres Lebens in einen Beifahrersitz gekrallt? Egal, auf welchem sie gesessen hatte, sie würden den Sitz finden, sie waren wie Bluthunde, wenn es eine Spur gab. Und nun gab es eine.

Schwerdtfeger stellte seine Uhr. „Unser erster Angriff entscheidet über deinen Urlaub, Peter“, gab er zu bedenken.