Tatort Teufelsauge - Jan Flieger - E-Book

Tatort Teufelsauge E-Book

Jan Flieger

4,5

Beschreibung

Hauptmann Kellermann, der stellvertretende Leiter der Morduntersuchungskommission, weiß sich anfangs keinen Rat. Am „Teufelsauge“, einem abgelegenen dunklen Tümpel im Wald, haben spielende Jungen die Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens entdeckt. Routiniert laufen die Ermittlungen an. Zugleich stellt sich heraus, dass das Mädchen als vermisst gemeldet worden war. Trotzdem gestaltet sich die Suche nach dem Täter so kompliziert, wie es sich Hauptmann Kellermann schon am Teufelsauge gedacht hat. Zumal die Obduktion der Toten für die Kriminalisten auch noch eine Überraschung bringt … INHALT: Der Schmerz Der Tatort Der Vater Die Tante Die MUK Die Nacht Schaaf Die Freundin Der anonyme Anruf Sechs Verdächtige Zechendorf und König Ruprecht Regen Angst Weiße Flecke Windig Die Freundin Die Sintflut Das scharfe Auge Der Morgen Der Bluff LESEPROBE: »Du wolltest die Akte Ruprecht?«, fragte Fichtel. »Danke«, sagte Kellermann. Ruprecht ... Kellermann sah die Akte ein, den Stand der Ermittlung. Ruprecht ... Der nun geständige Ruprecht ... Lagerist, Lagerleiter und dann Aufkäufer für Obst und Gemüse und Speisekartoffeln beim Betriebsteil I des volkseigenen Großhandelsbetriebes, dort tätig von Mai bis Oktober, wenn in den Gärten geerntet wird, auch sonnabends, sonntags, wenn die Kleingärtner mit Körben oder Handwagen kommen, um ihre Angebote zu machen. Ruprecht — Besitzer eines Shiguli, eines grünen, eines Bungalows, eines Kontos in Höhe von fünfzigtausend Mark, einer Wohnung mit einer teuren, sehr teuren Einrichtung. Die Frau besaß sogar einen Nerz. Der Lebensstandard eines Aufkäufers? Kellermann las sich fest, las die Vernehmungsprotokolle, las, wie man Reichtum erwarb, immer wieder überrascht, wie einfach es war, wenn die Aufsicht fehlte und die Menschen nicht wachsam waren oder gleichgültig. Ruprecht ging täglich zur Bank, hob einen Bargeldbetrag ab, damit er die Produkte seiner Kunden sofort bezahlen konnte. In der Hauptsaison waren das zwanzigtausend Mark.

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Impressum

Jan Flieger

Tatort Teufelsauge

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-487-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog

»Mein schauerndes Gebein deckt kalter Schweiß. Was fürcht' ich denn? Mich selbst?«

Shakespeare, Richard der Dritte

Regentropfen schlugen an die Scheiben des Ladas, dichter und dichter.

Der Mann am Lenkrad fröstelte. Das neben ihm sitzende Mädchen sah er nicht mehr an, und sein Hass auf sie schien zuzunehmen mit jedem Meter, den er weiterfuhr. Leer lag die Straße, die durch den Wald führte, vor und hinter ihm. Es war Mittag.

Der Mann drosselte das Tempo und blinkte, als er den Waldweg sah.

»Was«, fragte das Mädchen, »willst du am Teufelsauge?«

Der Mann schwieg. Die Gestalt, die ihm entgegenkam auf der Straße, dort, wo sie sich nach links krümmte, nahm er beim Einbiegen in den Waldweg nicht mehr wahr.

1. Teil

Der Schmerz

Er spürte den Schmerz in Wellen.

Und den Wellen folgte eine Leere in seinem Gehirn, die keine anderen Gedanken zuließ.

Hauptmann Kellermann griff nun doch zur Tablette, die ihm die Zahnärztin gegeben hatte. Er musste den Schlussbericht in der Mordsache Flügel beenden! Er musste es heute tun, denn der Staatsanwalt wartete bereits.

Als er mit seiner Zunge vorsichtig die frische Wunde in seinem Kiefer berührte, hörte er in der Stille des Raumes nur seinen eigenen Atem.

Er presste die Zähne aufeinander und saß mit unbewegtem Gesicht an seinem Schreibtisch, so wie ihn alle kannten in seiner Dienststelle, ihn, den stellvertretenden Leiter der Morduntersuchungskommission, diesen vierzigjährigen, eins sechsundachtzig großen und sehr schlanken Mann mit den lebhaften graublauen Augen in dem schmalen langen Gesicht, mit dem kurz geschnittenen aschblonden Haar und dem immer korrekt sitzenden Binder.

Kellermann war froh, dass Fichtel, der ihm sonst gegenübersaß, nicht im Raum war. Der Schmerz bohrte im Kiefer weiter, wurde nur dumpfer. Ich werde, dachte er, wenn der Schmerz anhält, zu Bullesbach gehen und ihn für heute um eine Beurlaubung bitten. Er hatte das Gefühl, die rechte Wange sei stark geschwollen und der Mund eine einzige Wunde.

Er griff zum Telefonhörer, ließ die Hand aber wieder sinken und begann, ohne dass ihm bewusst wurde, was er tat, die Bleistifte und Kulis so zu ordnen, dass ihre Spitzen nebeneinanderlagen. Er liebte keine Unordnung, jede Büroklammer, jeder Bleistift, jeder Notizzettel hatte seinen Platz auf dem Schreibtisch, konnte nur dort und nirgendwo anders liegen. Die gleiche Ordnung herrschte in den Fächern seines Schreibtisches und seiner Schränke. Er konnte mit geschlossenen Augen nach einem Schriftstück greifen, das er suchte. Auch seine Uhr regulierte er immer so, dass sie auf die Sekunde genau ging. Ein Spaßvogel hatte ihm den Spitznamen »Preuße« gegeben und dabei wohl auch an Kellermanns Vornamen Fritz gedacht. Kellermann mochte keine Spitznamen und schon gar nicht diesen. Der Schmerz bohrte noch immer, er verging nicht.

Kellermann wusste, Bullesbach würde ihn gehen lassen, wenn er ihn darum bat, da eine solche Bitte Ausnahme war. Kellermann konnte, und er hatte das oft genug bewiesen, achtzehn Stunden am Tag arbeiten, eine Woche lang oder auch länger. Wenn es ein Fall erforderte, konnte er arbeiten, ohne spürbar müde zu werden, und sein ganzes Denken, seine ganzen Empfindungen waren auf den Fall gerichtet.

Erneut griff er zum Telefon, um Bullesbach anzurufen, aber noch ehe er wählen konnte, kam ein Anruf.

Es war Bullesbach.

»Einsatz, Fritz. Eine Tote in der Nähe von Kranek. An so einem Tümpel, den die Leute hier das Teufelsauge nennen.«

Kellermann schnellte hoch, und mechanisch erfolgte beinahe jede Bewegung: der Gang zum Panzerschrank, der Griff zum Halfter, die Kontrolle der Waffe. Der gleiche Anruf erreichte jetzt die anderen, die zum Fundort der Leiche fahren würden.

Kellermann verließ den Raum und betrat das Zimmer Bullesbachs, ohne anzuklopfen. Bullesbach stand im grauen Mantel vor dem Schreibtisch, ein Mann um die Fünfzig, mittelgroß und von massiger Gestalt, der auf dem Kopf nur noch einen Kranz von Haaren trug. Ein von ihm oft zitierter Satz lautete: Ein Kamel müsse vierzehn Tage auskommen ohne einen Schluck Wasser, ein Kriminalist die gleiche Zeit ohne Schlaf. Nach diesem Grundsatz lebte Bullesbach. Schon immer.

Fuchs, der Kriminaltechniker, betrat hinter Kellermann den Raum.

»Los!«, sagte Bullesbach.

Ganz dumpf spürte Kellermann den Schmerz, als sie den Raum verließen.

Der Tatort

Der Wagen bog in einen Waldweg ein, fuhr an Polizisten vorbei und bog dann ab in einen anderen Weg, der völlig verschlammt war, sodass sie bis zu den Knöcheln versanken, als sie ausstiegen und zu Fuß weitergingen.

Vor ihnen lag der Tümpel. Er war nicht groß, voll schwarzen Wassers. Kellermann verstand, warum er im Volksmund das Teufelsauge hieß.

An beiden Seiten des Tümpels standen hohe Buchen, doch an seinem Ende begann eine lange schmale Wiese, die wie eine Schneise wirkte. Eigentlich war es keine Wiese, sondern ein riesiges Brennnesselmeer.

Noch nie hatte Kellermann so viele Brennnesseln gesehen, sie standen wie ein schier undurchdringliches Dickicht, und der Wind bewegte sie leicht. In das Dickicht hinein führte ein schmaler Pfad.

Ein Funkwagenführer begrüßte sie, gab Bullesbach schnell und ein wenig überhastet einen kurzen Bericht. Keine Zeugen also. Nur zwei Jungen gab es, die diesen Pfad geschlagen und dabei im Brennnesselfeld die Tote entdeckt hatten.

Bullesbach nickte wortlos.

»Du kannst anfangen, Herbert«, sagte er zu Fuchs.

»Ihr habt sie also gefunden«, sagte Bullesbach dann zu dem größeren der beiden Jungen, der sehr blond war und sie aus blauen Augen ohne Furcht musterte. Er mochte acht Jahre alt sein, höchstens neun, und war sehr kräftig gebaut.

»Ja«, sagte der Junge.

»Wir wollten eine Höhle bauen«, ergänzte der kleinere und blickte zu dem Kriminaltechniker, der seine Arbeit begonnen hatte.

Bullesbach watete durch die Brennnesseln, die neben dem Pfad standen, und als er auf einen großen Stein trat, konnte er auf die Tote herabsehen, ohne Fuchs bei seiner Arbeit zu stören. Minutenlang stand Bullesbach reglos.

»Jetzt du, Fritz«, sagte er zu Kellermann und stieg vom Stein herunter.

Nun trat Kellermann auf den Stein.

Die Tote trug Jeans, eine olivfarbene Studentenkutte und lag auf dem Rücken.

Kellermann sah in die offenen Augen der Toten, es waren große Augen, dunkelbraun, beinahe schwarz.

Immer wieder überraschte es ihn, dass dem ersten Blick in die Augen von Toten ein kurzes Erschrecken folgte, das er aber nie einem Kollegen eingestehen würde, selbst Bullesbach nicht, der ein Freund geworden war.

Diese Augen ...

Diese weit aufgerissenen, doch leeren Augen.

Die Augen, die als letztes in die des Gewaltverbrechers gestarrt hatten, schreckgeweitet, ehe sie starr wurden, ehe der Atem aussetzte, ehe das Dunkel kam.

Diese Augen ...

In der Stille, die nur durch ein leises Gemurmel unterbrochen wurde, vernahm Kellermann das Summen der Fliegen. Sie waren nicht zu verscheuchen, sie kamen immer aufs Neue zu der Toten zurück.

Einen Augenblick lang beobachtete Kellermann nur eine von ihnen, die über das Gesicht der Toten krabbelte. Das abstoßende Bild prägt sich ihm ein, und er wusste, dass es zu denen gehören würde, die nie wieder ganz verschwinden. Es gab Gewaltverbrechen, deren Opfer er nicht vergessen konnte, auch wenn sie den Täter lange schon gefunden hatten. Und gewiss würde es bei dieser Toten das gleiche sein.

Die Tote hatte die Figur seiner Tochter. Ein Schauer durchrann ihn, und seine Lippen wurden noch schmaler.

Die Fliege lief noch immer über das Gesicht der Toten, es war eine Fliege, die sehr grün schillerte, und sie schien Kellermann größer als andere zu sein.

Warum dachte er jetzt, an diesem Ort, an seine Tochter?

Ein so junges Mädchen, dachte er voll Grauen. Lange hatte es keinen solchen Fall mehr im Bezirk gegeben.

Er ging zu Bullesbach zurück, neben dem nun der Staatsanwalt stand, der Körner hieß, ein kleiner, grauhaariger Mann mit einer randlosen Brille, dessen Alter man schwer schätzen und mit dem man gut zusammenarbeiten konnte.

Nun stand Bärlach, der Gerichtsmediziner, auf dem Stein.

»Das ist sie«, knurrte Bullesbach.

»Ja«, bestätigte Kellermann. »Heute bringt die Zeitung ihr Foto.«

Auch er hatte sofort, als er die Augen der Toten sah, an Marie Ampler gedacht.

Marie Ampler ...

Was wussten sie von diesem Mädchen?

Am 28. August war eine alte Frau im Revier in der Südstadt erschienen, weil ihre Nichte die ganze Nacht lang weggeblieben war. Ihre Nichte, hatte sie dort angegeben, wohne bei ihr und besuche die Oberschule, arbeite aber zurzeit für vierzehn Tage in der Bücherei. Man rief daraufhin Maries Vater in Gera an. Er meinte, dass die Tante übertreibe. Man solle abwarten, denn am 31. August sei Marie gewiss zurück. Auch die Überprüfung der Freundinnen und Freunde ergab keine Spur, und als sogar die Fahndung nichts erbracht hatte, keinen Hinweis, obwohl die Personenbeschreibung der Vermissten in Umlauf gegeben worden war, musste Bullesbach zum Leiter der K.

Bullesbach blickte finster, und er wirkte mit den Händen in den Taschen seines grauen Sommermantels wie ein Standbild. Auch Kellermann hielt die Hände am Tatort immer in den Taschen des Mantels oder der Jacke, seitdem einmal im Spurenprotokoll seine eigene Fingerspur mit aufgeführt und er dadurch die Zielscheibe des kameradschaftlichen Spottes geworden war.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit erwürgt«, sagte Doktor Bärlach, der Gerichtsmediziner.

»Der Täter hat bestimmt nicht geglaubt, dass je einer dieses Dickicht betritt«, bemerkte Bullesbach. »Es schien ihm ein sicheres Versteck zu sein.«

Kellermann nickte.

Der verfluchte Regen, dachte er dabei. Tagelang Regen.

Jede Spur wird gelöscht sein, jede.

Einen Fingerabdruck?

Ein Haar, das uns reichen würde, um Geschlecht und Blutgruppe zu bestimmen?

Ein Hautpartikel?

Eine mikrokleine Blutmenge?

Oder Fasern von Kleidung?

Der Abdruck einer Sohle?

Aber der Regen hatte alles weggespült, und die beiden Jungen hatten mögliche Spuren am Tatort zerstört.

Bullesbach dachte wohl das gleiche. Er fluchte leise vor sich hin, er ahnte ebenso wie Kellermann, was ihnen bevorstand bei der Aufklärung. Der Regen war ihr schlimmster Feind, dieser Regen, den Kellermann, soweit er sich erinnern konnte, in solch anhaltender Stärke jahrelang nicht erlebt hatte.

»Keine Schleifspur«, sagte Fuchs, »aber niedergetretene Brennnesseln, die nicht von den Jungen stammen, zeigen, dass der Täter aus der Richtung des Weges gekommen ist.«

»Dann hat er sie tot hierher getragen«, sagte Kellermann.

Bullesbach nickte.

Sie wussten beide von der Leiterin der Bibliothek, in der die Tote in den Ferien gearbeitet hatte, dass Marie am 27. August gegen zwölf Uhr den Anruf eines Mannes erhalten hatte und sich dann bei der Leiterin für eine Stunde hatte beurlauben lassen. Nur für eine Stunde, denn um dreizehn Uhr war eine Aussprache mit ihr angesetzt gewesen, zu der sie hätte unbedingt zurück sein müssen. Also hatte sie den Mann gekannt und geglaubt, dass sie pünktlich zurück sein würde. War dieser Mann der Täter?

Bullesbach schwieg. Er runzelte die Stirn.

»Die Obduktion wird uns Genaueres bringen«, sagte er.

Bullesbach blickte zu Boden.

»Fahr du zu ihrem Vater, Fritz«, bestimmte er dann.

Kellermann nickte wortlos. Immer wählte Bullesbach ihn aus für solche Besuche.

Der Schmerz, der im Kiefer zu wühlen schien, hatte wieder stärker begonnen.

Der Vater

Auf der Straße nach Gera stöhnte Kellermann mehrmals auf, denn immer wieder, wenn er schneller fahren wollte, behinderten ihn Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Er fluchte leise,als er in Gera ankam und auf die Uhr sah: einen ganzen Nachmittag würde ihn dieser Besuch kosten.

Das Werk fand er schnell, schon der erste Mann, den er fragte, beschrieb den Weg so genau, dass er nur zehn Minuten benötigte.

»Kollege Ampler hat eine Beratung«, sagte die Sekretärin.

»Ich habe angerufen«, antwortete Kellermann.

»Herr Kellermann?«, fragte die Frau.

»Ja«, erwiderte Kellermann.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Sie können Ihren Mantel in den Schrank hängen. Wir konnten die Beratung nicht mehr absetzen.«

»Danke«, sagte Kellermann. Er behielt den Mantel an. Er saß und wartete, während die Sekretärin wieder zu schreiben begann.

„Sagen Sie ihm bitte, dass ich da bin«, sagte Kellermann mit unbewegtem Gesicht.

Die Frau hob die Augenbrauen.

»Kollege Ampler wünscht bei einer Beratung nicht gestört zu werden.«

»Dann machen Sie eine Ausnahme«, erwiderte Kellermann mit einem Blick auf die Uhr und sah stirnrunzelnd der Sekretärin nach, die die gepolsterte Tür öffnete und sie dann hinter sich schloss.

Eine Minute verging. Die Tür wurde aufgerissen und zwei Männer in weißen Kitteln gingen an Kellermann vorbei, denen ein dritter Mann folgte, der Kellermann flüchtig ansah und grüßte.

»Bitte«, sagte die Sekretärin.

Kellermann betrat den Raum, in dem der Zigarettenrauch wie eine Wand zu stehen schien.

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte der kleine, untersetzte Mann, der Kellermann die Hand entgegenstreckte und unsicher lächelte.

»Haben Sie meine Tochter gefunden?«

Kellermann setzte sich schweigend.

»Es war nicht gut, sie zur Tante zu geben, wissen Sie«, sagte der Mann. »Die Tante kann sie wohl nicht zügeln.«

Er hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste.

»Aber auch wir, meine Frau und ich, haben es nicht gekonnt. Es ist meine zweite Frau, wissen Sie. Sie ist wesentlich jünger als Maries Mutter. Marie hätte meine neue Ehe zerstört, wenn sie weiter mit uns gelebt hätte ... Das wollte ich nicht.«

Kellermann schwieg noch immer.

»Es war ihr eigener Wunsch«, fuhr der Mann fort, »zur Tante zu ziehen. Sie hat uns lange bedrängt. Ich hatte viel Mühe mit der Umschulung. Sie werden verstehen, ich ...«

»Sie ist tot«, sagte Kellermann.

Die Augen des Vaters weiteten sich, und mit der rechten Hand griff er sich an den Binder.

»Wir haben sie heute gefunden«, sagte Kellermann. »Ich bin sofort gekommen.«

»Tot?«, sagte der Mann leise.

Kellermann nickte.

Der Mann griff hastig zur Zigarettenschachtel, schob sie wieder weg. Dann strich er sich mit der linken Hand über den Kopf, immer wieder.

»Das ist nicht wahr«, stammelte er.

»Doch«, sagte Kellermann. Das Wort klang hart, härter, als er es beabsichtigt hatte.

Kellermann wartete, er sagte nichts mehr.

Der Mann brauchte Minuten, um sich zu fassen, und als das Telefon surrte, griff er nicht zum Hörer.

»Als wir Sie anriefen«, sagte Kellermann, »und Ihnen mitteilten, dass die Tante uns besucht hatte, weil Ihre Tochter nicht nach Hause gekommen war, meinten Sie, es wären ja noch Ferien und am ersten Schultag sei sie zurück.«

»Ja«, sagte der Mann leise. »Wer denkt denn an so etwas ...«

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Kellermann.

»Alles, was Sie wollen«, antwortete der Mann müde, »alles ...«

»Die Namen ihrer Freunde, ihrer Freundinnen, Herr Ampler.«

Der Mann begann zu stammeln.

»Ich habe mich nie um ihre Freundinnen ... und Freunde ...«

»Sie kennen sie nicht?«

»Nein, wie ... Wissen Sie, da fehlt mir einfach die Zeit. Und Marie war auch so kühl, so kalt nach dem Tode ihrer Mutter, so verschlossen. Meine zweite Frau und ich, wir haben uns alle Mühe gegeben, das können Sie uns glauben, aber verstanden haben wir sie nicht mehr. Sie war wie eine Fremde in unserem Hause. Sie kam und ging, wann sie wollte. Aber so sind sie alle in diesem Alter.«

»Nicht alle«, sagte Kellermann.

Der Mann saß mit gesenktem Kopf.

»Ich könnte nicht einen Namen nennen ... Sie war in Bansin in unserem Bungalow im Mai. In der Ferienwoche, wissen Sie, zusammen mit einer Freundin. Aber den Namen ...«

»Sie wissen nicht, wie die Freundin heißt?«

»Nein. Wir wollten drei Tage später nachkommen. Aber dann wurde mein Sohn krank. Wir haben noch einen kleinen Jungen bekommen, wissen Sie ... Marie ist direkt von ihrer Tante aus an die See gefahren. Nein, sie ist getrampt, obwohl ich es ihr verboten hatte. Das ist für sie ein Sport, ein Abenteuer ... Sie ...«

»Hat sie einen festen Freund?«, fragte Kellermann.

»Sie hat nie einen Jungen mitgebracht. Aber sie hatte keinen festen Freund. Ich glaube, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Sie sagte immer über die Jungen ihres Alters, dass sie nur Hohlköpfe wären und Schwätzer. Ihre eigenen Worte, wissen Sie. Sie wollte einen gestandenen Mann.«

»Einen gestandenen Mann?«, wiederholte Kellermann fragend.

»Er sollte schon etwas erreicht haben. Sie ging auch nie in die Disco. Kinder, sagte sie, sind dort. Sie wirkte wie zwanzig.«

Der Mann blickte kurz hoch, aber senkte den Kopf wieder.

»Wie wenig weiß man eigentlich über ... über die eigene Tochter. Man lebt nebeneinanderher.«

Der Mann presste die geballten Fäuste vor die Augen, und seine Schultern zuckten. Als er den Kopf hob und seine Hände auf den Knien lagen, waren die Augen rot gerändert.

»Aber wer tut so etwas?«

»Sie müssen nachdenken«, sagte Kellermann. »Der kleinste Hinweis kann uns weiterhelfen.«

Der Mann schüttelte hilflos den Kopf.

»Der Tod der Mutter hat einen anderen Menschen aus ihr gemacht, einen fremden. Glauben Sie mir, ich habe mir Mühe gegeben, besonders dann, als meine zweite Frau kam. Wir haben ihr beide immer wieder die Hand gereicht, aber sie blieb unzugänglich.«

Der Mann zitterte erneut.

»Wie ein Stein ...«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Ich ... Mit dieser Jugend komme ich nicht klar ...«

»Rufen Sie mich an«, unterbrach ihn Kellermann und schrieb seine Telefonnummer auf ein Blatt, das er aus seinem Notizblock riss.

Er ergänzte die Telefonnummer durch eine weitere. »Meine private«, sagte er. »Sie können anrufen, wann immer Sie wollen. Lassen Sie sich durch keine Uhrzeit schrecken. Wenn es um einen Mord geht, sind wir im Dienst, rund um die Uhr. Immer.«

Der Mann presste die Handflächen an die Schläfen. »Ich bin der Vater und kann Ihnen nicht helfen, ich ...«

»Sie müssen«, entgegnete Kellermann. »Jeder Brief kann eine Spur sein, jedes Foto. Kann ich Maries Zimmer sehen?«

»Aber ja«, sagte der Mann hastig. »Wir können sofort fahren.«

»Danke«, sagte Kellermann.

Der Mann erhob sich.

»Kommen Sie bitte, Herr ...«

Kellermann nannte seinen Familiennamen.

»Herr Kellermann«, murmelte der Mann. »Maries Zimmer bewohnt jetzt mein Sohn. Aber ihre Sachen sind noch drin, weil sie manchmal kam.«

»Hm«, brummte Kellermann und ertappte sich erneut dabei, dass er eine Angewohnheit Bullesbachs annahm. Es war ein kleines Zimmer mit einem großen Fenster, unter dem ein blaues Kinderbett stand. Eingerichtet war der Raum mit den Teilen einer Schrankwand, die alle Wände des Raumes verdeckten. Es waren helle Möbel mit vielen Fächern, und die Fächer waren gefüllt mit Spielzeug.

Über der Tür hingen zwei Bilder von Gauguin, die Kellermann kannte, weil auch er den Maler mochte. Neben dem Fenster sah er einen kleinen Schreibtisch.

Kellermann entdeckte in einem Fach des Schreibtisches, als er ihn durchsuchte, ein Fotoalbum.

»Darf ich?«

Der Mann nickte. »Sehen Sie sich alles an.«

Aber Kellermann durchforschte zunächst alle Fächer des Schreibtisches, ehe er seine Aufmerksamkeit dem Album schenkte.

Er untersuchte Fach für Fach, doch er fand kein Tagebuch, wie er gehofft hatte, keinen Brief.

Dann blätterte er in dem Fotoalbum, sah Kinderbilder Marie Amplers, dann Bilder als Pionier und als junges Mädchen. Aber er entdeckte keinen Freund. Nichts deutete hin auf einen Freund ...

Die Tante

»Nichts«, knurrte Bullesbach, als Kellermann sich aus Gera zurückmeldete. »Es gibt keinen Zeugen, Fritz. Aber es gibt Abdrücke von Handschuhen im Zimmer des Mädchens.«

»Was?«, entfuhr es Kellermann.

»Ja«, knurrte Bullesbach. »Offenbar wurde vom Täter versucht, jede Fingerspur zu verwischen. Dazu trug er Handschuhe. Er muss etwas gesucht haben. Dann haben wir noch die Fingerspuren der Tante und die von Marie Ampler im Spurenprotokoll.«

»Und diese Tante?«

»Sie weiß nichts. Fichtel war bei ihr. Und wie steht es bei dir, Fritz?«

Kellermann gab einen kurzen Bericht.

»Ich möchte mir ihr Zimmer ansehen«, sagte Kellermann. »Wird das möglich sein? Sind die Techniker endgültig raus?«

Bullesbach nickte. »Sieh es dir an«, sagte er.

Als Kellermann hinaufstieg in den vierten Stock zur Wohnung der Tante Marie Amplers, folgte er nur seinem Instinkt. Man konnte einen Zeugen befragen, so, wie es Fichtel getan hatte, der versicherte, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Es konnte sein, dass sich nichts Neues ergab. Es war aber auch möglich, dass eine Nuance, die anders war als bei der ersten Befragung, die Untersuchung weiterbrachte.

Vielleicht ging er deshalb selbst zu der alten Frau, die Kitzbach hieß. Emma Luise Monika Kitzbach. So verstaubt ist ihr Gehirn wie ihre Wohnung, hatte Fichtel gesagt. Aber Fichtel war manchmal sehr schnell in seinem Urteil, ein Heißsporn, den man zügeln musste. Doch er war gut in der Arbeit, und wenn Kellermann einen Täter zusammen mit Fichtel verhörte, wurde es gefährlich für einen solchen Mann.

Kellermann stand vor der Wohnungstür.

»Kitzbach« las er auf dem großen blank geputzten Messingschild, »Adolf Kitzbach«.

Dieser Adolf, das wusste er, war vor zehn Jahren nach einer Operation der Prostata gestorben.

Unter dem Schild »Kitzbach« war ein kleines angebracht, auf dem der Name »Ampler« stand.

Das war eigentlich normal. Wer hätte das Schild sofort nach dem Bekanntwerden des Todes der Besitzerin des Namens abnehmen sollen? Trotzdem ergriff Kellermann ein eigenartiges Gefühl, als er den Namen las.

Er drückte auf den Klingelknopf.

Kellermann wies sich aus, als die Frau öffnete, eine zierliche Frau, die wohl dadurch noch gebrechlicher wirkte.

»Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen«, sagte Kellermann. »Ich ...«

Er sprach nicht weiter, weil er befürchtete, dass die Frau weinen würde.

»Es ist furchtbar«, sagte die Frau.

»Ja«, antwortete Kellermann.

Sie standen sich auf dem Flur der Wohnung gegenüber, aber die Frau schien ihn nicht weiter in ihr Wohnzimmer bitten zu wollen.

»Wir haben eine schwere Ermittlung vor uns«, sagte Kellermann. »Und Sie wollen uns doch helfen?«

Die Frau nickte. »Ich bin eine alte Frau.«

Sie schüttelte den Kopf, immer wieder.

»Ich kann es nicht fassen. Sie hatte keinen Freund, sie mochte überhaupt keine Männer. Sie hat immer gelesen. Manchmal hat sie sich noch abends ein Buch von einer Freundin geholt.«

»Kein Mann?«, fragte Kellermann.

»Wie bitte?«, fragt die Frau. »Ach so, nein, sie hat nie von einem Mann gesprochen. Und hier war auch keiner. Es ist gut, wenn sich ein junges Mädchen Zeit lässt.«

»Auch in den letzten drei Monaten haben Sie nichts beobachtet?«, fragte Kellermann.

»Nein«, sagte die Frau.

Sie trug die grauen Haare streng zurückgebunden zu einem Knoten. Ihre grauen müden Augen musterten Kellermann.

»Ich brühe Ihnen einen Kaffee«, sagte sie.

»Machen Sie sich keine Umstände«, erwiderte Kellermann. »Ich habe gerade einen getrunken.«

»Ja, ja«, sagte Frau Kitzbach. »Wenn Sie wollen, können Sie in das Zimmer gehen, wo sie gewohnt hat. Es ist das Zimmer neben dem Bad. Ich leg' mich wieder hin. Das Herz, wissen Sie ...«

»Danke«, sagte Kellermann.

Es war kein sehr großes Zimmer. Kellermann überflog es mit wachen Augen, so, wie er es immer tat, wenn er einen Tatort musterte und schnell das Wichtigste erfassen wollte.

Das erste, was ihm auffiel, war an der Wand neben dem Fenster ein großes brauner Bilderrahmen, der aber kein Bild enthielt, sondern, sicher mit Stecknadeln angeheftet, auf einer hellbraunen Stoffunterlage verschiedene Fotos. Sie waren nicht geordnet angebracht, sondern anscheinend nur so, wie sie die Besitzerin erworben hatte. Kellermann trat an diese »Wandzeitung«, wie Fichtel den Bilderrahmen und seinen Inhalt genannt hatte.

Ein farbiges Foto zeigte Marie Ampler zusammen mit einem anderen Mädchen auf einer Straße. Sie hielt ein Schild vor ihre Brust, auf dem »Stralsund« stand. Offenbar war das Foto aufgenommen worden beim Trampen.

Marie Ampler lachte und auch das andere Mädchen. Beide trugen die Jeans hauteng und die Haare sehr kurz.

Zwei Ansichtskarten sah man noch, eine aus einem Badeort an der See, von einer Karin unterschrieben. Es gab, wie schon Fichtel gesagt hatte, außer den Abdrücken keinen Hinweis auf einen Mann in ihrem Zimmer. Nicht einen. Aufgezweckt war noch die Ansicht eines Zimmers, offenbar ausgeschnitten aus einer Wohnungszeitschrift, und das Zeitungsfoto eines Babys.