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Norwegen Ende 1942. Aus England kommend, wo er eine extrem harte Spezialausbildung durchlaufen hat, kehrt der Norweger mit dem Decknamen Gudersen per Fallschirm zurück in sein Heimatland. Dort soll er eine Widerstandgruppe gegen die Deutschen führen. Auf keinen Fall darf ihnen Gudersen in die Hände fallen … Auf der anderen Seite versucht Obersturmführer Hempel im Hauptquartier der Gestapo in Oslo mit aller Härte, englische Agenten und norwegische Widerstandskämpfer auszuschalten. Besonders stört ihn der Funker hier in Oslo, der meistens nachts zu hören ist und dessen Code sie nicht entschlüsseln können. Hempel will ihn fassen. Er soll ihn zu seiner Widerstandsgruppe führen. Ein tödliches Duell hat begonnen … Jan Flieger hat seinem spannend geschriebenen Buch einen Prolog mit einigen treffenden Sätzen von Ernest Hemingway aus dessen Buch „In einen anderen Land“ vorangestellt: „Sie werden uns nicht bekommen“, sagte ich. „Weil du zu tapfer bist. Dem Tapferen passiert nichts.“ „Sterben tut er auch.“ „Aber nur einmal.“ „Ich weiß nicht. Wer sagt das?“ „Der Feigling stirbt tausend Tode, der Mutige nur einen.“ INHALT: Prolog Die Flucht Kristine Die Jagd Die Insel Die Folter Der Tod Der Fjord Epilog LESEPROBE: Hempel spürte die Schulter Röbels, der dicht neben ihm stand und dessen Augen hervorzuquellen schienen. Er trat einen kleinen Schritt zurück. »Die Koordinaten noch einmal!«, befahl er. Aber die Peilautos schwiegen. »Der Sender ist weg, Obersturmführer.« Hempel schlug mit der Faust auf die Messtischplatte. »Es war eine andere Frequenz wie vor drei Tagen, Obersturmführer. Er hatte schon gesendet, ehe wir ihn entdeckt haben.« Hempel nickte. Frequenz 10980 Kilohertz, dachte er. Aber gestern 10112! Und da haben wir ihn erst ausgemacht, als seine letzten Zahlenkolonnen begannen. Ein verflucht listiger Fuchs. Die starre Spannung in den Gesichtern der sechs Männer war gewichen. »Pause«, befahl Hempel. »Nur die Kontrollempfänger bleiben dran.« »Jawohl, Obersturmführer.« Röbel schlug die Hacken zusammen. Die Männer erhoben sich. Sie reckten sich, einer beugte sich nach vorn und ließ den Oberkörper pendeln. Das Kreuzfeuer der Peilgeräte hatte sie alle müde gemacht. Hempel stand immer noch vor der Karte. Dreimal ergab die Verlängerung der Peillinie ein ähnliches Dreieck, aber schon morgen würde sie ein anderes ergeben, das ahnte Hempel. Dieser eine Sender war schwer zu orten, unendlich schwer. Wie leicht fassten sie oft Funker, die für die Briten arbeiteten.
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Seitenzahl: 180
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Jan Flieger
Der Tod kam in der Mittsommernacht
ISBN 978-3-86394-479-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1988 im Militärverlag der DDR, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern
Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
»Sie werden uns nicht bekommen«, sagte ich. »Weil du zu tapfer bist. Dem Tapferen passiert nichts.« »Sterben tut er auch.« »Aber nur einmal.« »Ich weiß nicht. Wer sagt das?« »Der Feigling stirbt tausend Tode, der Mutige nur einen.«
Ernest Hemingway: In einem andern Land
Es waren die letzten Stunden des 3. Dezember 1942. Noch vor den Bombern, die in fünf Minuten aufsteigen würden, um nach Deutschland zu fliegen, hatte ein einzelnes Flugzeug das englische Festland verlassen.
Colonel Backer blickte dem Flugzeug nach, das im Dunkel der Nacht entschwand. Unser Geheimdienst schickt einen seiner besten »Zöglinge« auf die Reise, dachte er. Der Norweger mit dem Decknamen Gudersen wird über seiner Heimat abspringen. Dieser Mann hatte ihn ungewöhnlich stark an seinen gefallenen Sohn erinnert ...
Der Colonel hörte das Dröhnen der Bomber. Gudersen fliegt in die Hölle, dachte er. Wenn ihn die Deutschen fassen, gibt es kein Entrinnen ...
Es waren die Augen gewesen, ihr ungewöhnlich helles Blau. Solange er im Ausbildungszentrum Beaulieu der Abteilung für Sonderoperationen wirkte und wichtige Geheimoperationen vorbereitet hatte, war es gerade dieser Mann, von dessen Einsatz er sich viel versprach, da Gudersen, von tödlichem Hass getrieben, zu jedem Auftrag bereit schien, den er vom Führungszentrum in der Baker Street über Funk erhalten würde.
Der Mann atmete keuchend. Aber er hetzte weiter, den Bergen entgegen. Er wusste nicht, wie lange er gelaufen war und in welcher Gegend Norwegens er sich befand, doch er hatte die SS im Nacken und ihre Bluthunde.
Es regnete. Der Regen löschte die Spur, aber er erschwerte auch die Sicht und machte den Weg gefährlich glatt.
Immer wieder rutschte Brukovic aus. Der Weg führte ihn durch ein Tal, in dem zwei Wasserfälle in die Tiefe stürzten.
Weiter! Nur weiter!
Brukovic war den Deutschen bei dem Überfall auf den Munitionstransport vor Sarajevo in die Hände gefallen. Sie hatten ihn in ein norwegisches KZ gebracht. Doch das KZ durfte für ihn nicht das Ende sein! Er musste kämpfen! Und wenn er es nicht in seiner Heimat tun konnte, dann in Norwegen, Seite an Seite mit Norwegern. So hatte er von Anfang an nur an Flucht gedacht. Immer. Ihm, Saban Brukovic, musste die Flucht gelingen! Mit der gleichen Härte, wie er in Jugoslawien gegen die Faschisten gekämpft hatte, wollte er es auch hier tun. Im Lager hatte er Kommunisten getroffen, Sozialdemokraten und Männer, die beiden in politischer Hinsicht nicht nahestanden, aber doch mit ihnen gemeinsam gegen die Faschisten kämpften. Von ihnen hatte er die Sprache des Landes gelernt. Er musste es schaffen! Nur keinen Tod, bei dem man wehrlos in den Lauf einer Waffe blickte!
Und wieder bergauf. Ein glitschiger kleiner Weg schlängelte sich den Berg hinauf, führte zwischen Birkenstämmen hindurch. Zwei Höfe lagen in der Tiefe, Holzhäuser, auf deren Dächern Gras wuchs.
Weiter, Saban Brukovic! Noch konnten die Bluthunde folgen und plötzlich herausstürzen aus dem Dunst.
Der Weg schlängelte sich durch Fichten bergauf. Brukovic lief wie eine Maschine, im gleichen Rhythmus trommelten seine Füße auf den Boden.
Berge, Täler, Fichten, Wasserfälle und Regen ...
Brukovic lehnte sich an einen Fichtenstamm, presste die Lippen an das Holz. Wasser lief ihm in den Mund. Er blickte sich um, lauschte.
Aber er hörte nur das Plätschern des Regens.
Da sah er den Hund, einen schwarzen riesigen Schäferhund, er war wohl der einzige, der ihm gefolgt war. Der Hund bellte nicht, er hetzte hechelnd auf Brukovic zu. Mit einem gewaltigen Sprung wollte er sich auf ihn werfen, da traf ihn Brukovics Faust auf die Nase. Das Tier stürzte zu Boden, blieb reglos liegen.
Wie hat der Hund im Regen meine Spur gefunden? dachte Brukovic. Er wich vom Weg ab und lief zwischen den Fichten weiter und durch ein Dickicht.
Bohrender Hunger quälte ihn. Am Rand eines Baches sah er die schmale Stelle, durch die das Wasser hinabschoss in ein Felsbecken. Ein Fisch! Ein zweiter! Ein dritter! Brukovic lauerte, packte zu, schlug den Kopf der Forelle an einen Stein, bis das Tier reglos in seiner Hand lag. Hungrig biss er hinein, spuckte aus, fluchte, aß weiter.
Er musste essen! Ohne Nahrung würde er nicht weiterkommen, das wusste er.
Er trank Wasser aus dem Bach, und die Kälte verursachte einen ziehenden Schmerz. Dann lief er über eine Wiese.
Kein Vogel war zu hören. Plötzlich erschrak Brukovic. Ein Geräusch lag in der Luft. Es war ein Schneehuhn, das vor ihm aufflatterte.
Der Wind wurde immer stärker. Sturmböen trieben den Mann vorwärts.
Das Land war fremdartig schön. Heideland folgte, dann ein Moor. Steil aufragende Felsen wechselten mit Blumenwiesen, nacktes Gestein mit Wald und flachem Weideland.
Ein Bergsee lag vor ihm. An einer Uferseite ragte ein Felsen bis über tausend Meter aus dem Wasser und spuckte in unterschiedlichen Höhen einen Wirbel von kleinen Wasserfällen aus. Hinter dem Felsen lagen schneebedeckte Berge.
Brukovic stöhnte auf. Erinnerungen kamen. Er dachte an den See in der Nähe des Lagers. Die SS hatte die Gefangenen auf die Eisschollen getrieben. Wie viele waren damals umgekommen? Brukovic dachte an Zatko, den Mann aus Zagreb, der eine Frau zu Hause hatte und drei Kinder.
Die SS-Männer hatten frierend und lachend am Ufer gestanden und keinen aus dem Wasser gelassen. »Schwimmt!«, riefen sie, »dann wird euch warm. Schwimmt, ihr Hunde, schwimmt.«
Weiter! dachte Brukovic.
Brukovic kletterte über Felsen. Er beobachtete, wie im See Lachsforellen nach Mücken sprangen. Der See wurde gespeist von Bächen, die von den Gletschern herabplätscherten.
Später folgte eine Schlucht.
Und wieder stand Brukovic an einem Wasserfall, hörte sein dröhnendes Rauschen. Tief unten lag das Tal, aus dem er gekommen war.
Brukovic hetzte weiter. Seine Beine bewegten sich mechanisch, es war, als liefe ein Traum ab.
Was hatte dieser SS-Mann gesagt, der Krause hieß, damals, in der ersten Stunde im Lager? »Hier kommst du nicht mehr raus, du Hund! Stirb schnell! Das Lager ist nur dein langsamer Tod.«
Aber es war besser, in diesen Bergen zu verhungern als im Lager, wo die Demütigungen nicht enden wollten.
Brukovic fröstelte. Er musste einen Unterschlupf finden für die Nacht, eine Höhle, einen Schuppen, aber er sah nichts außer Bäumen und Bergen. Später erblickte er die Sterne über sich und den Mond, der sehr hell war. Morgen wird ein besserer Tag sein, hoffte Brukovic, morgen musste er auf Menschen treffen. Er besaß nichts, kein Messer, kein Streichholz, nur seine Hände. Durst quälte ihn.
Was wusste er von diesem Land der Fjorde, in das er hineinfloh, immer tiefer? Vieles wusste er von Olav, von dem er auch die Sprache erlernt hatte, manches von Sigurd.
Terboven, der Henker, regierte dieses Land. Er war eingesetzt worden als deutscher Reichskommissar. Doch überall im Land kämpften Männer und Frauen gegen den Faschismus. Brukovic musste sich einer Widerstandsgruppe anschließen, und er würde auf Norweger treffen, würde mit ihnen zusammen kämpfen, ob sie durch das illegale ZK der Kommunistischen Partei gelenkt wurden oder von England aus. Er musste sie nur finden. Wenn er nach Trondheim gelangte, zu Olavs Frau, fand er sie gewiss.
Dann sah er den einsamen Hof, der mitten in den Bergen lag. Er sah Schafe, die die Köpfe zu ihm hinwandten.
Brukovic spürte, dass er am Ende seiner Kraft war. Er taumelte nur noch und blickte starr auf die Tür des Holzhauses. Er klopfte und lehnte sich dabei so an die Tür, dass er polternd in den Raum fiel, als von innen geöffnet wurde. Ehe er sich erheben konnte, packten ihn die kräftigen Hände eines großen, breitschultrigen Mannes und trugen ihn zu einem Stuhl.
Minutenlang saß Brukovic wie benommen.
Der Mann vor ihm blickte ihn mit ernsten Augen an, Augen, zu denen man Vertrauen haben konnte. Er hatte ein hageres Gesicht, das eingerahmt wurde von einem rotblonden Bart.
Auf dem Tisch brannte ein Talglicht. Eine mit Blumen bemalte Uhr tickte an der Wand. In der Fensterecke standen ein Spinnrad und ein Webstuhl.
»Ich bin ...«, wollte Brukovic beginnen.
»Ich sehe es«, erwiderte der Mann. Er schritt zum Fenster und wandte Brukovic den Rücken zu.
»Ich gebe Ihnen Kleidung«, sagte er dann. »Sie können hier wieder Kräfte sammeln. Selten kommen Deutsche hoch. Beinahe nie!«
»Danke.«
Der Mann wandte sich wieder um. »Wir können versuchen, Sie nach Schweden zu bringen. Über die Berge. Dann gibt es noch die See und die Flucht nach England.«
»Danke«, sagte Brukovic noch einmal. »Ich will nicht weg, ich will kämpfen.«
»Sie waren Soldat?«
»Partisan.«
»In welchem Land?«
»In Jugoslawien.«
Der Mann nickte. »Ich heiße Myran«, sagte er. »Von eurem Kampf haben wir gehört.«
Brukovic nannte seinen Namen.
»Birger«, fügte der Mann plötzlich hinzu und streckte Brukovic die Hand hin.
»Saban«, sagte Brukovic.
Der Händedruck des Mannes war fest.
Sie warteten im Erdgeschoss des Hauses in der Drammensveien in Oslo, sieben Männer und eine Frau, eine norwegische Widerstandsgruppe, sechs Norweger, eine Norwegerin und ein Deutscher, der Rechenbach hieß, Hartmut Rechenbach, und der unter dem Decknamen Thorleif kämpfte. Sie warteten mit entsicherten Pistolen, denn noch immer lief die Razzia. Sie betraf nicht diesen Stadtteil, und doch war jede Kontrolle auf der Straße eine tödliche Gefahr.
Kein Wort fiel im Raum.
Autos jagten in rasender Fahrt vorbei, Sirenen schrillten. Rechenbach blickte zu Gudersen, der mit unbewegtem Gesicht im Sessel kauerte, aber bei Gefahr wie ein Panther hochschnellen konnte. Bei ihm flossen die Informationen von einer Vielzahl von Informanten zusammen, die sogar Zugang zu deutschen Stäben und zu Geheimarchiven haben mussten, denn die Anschläge, die sie durchführten, waren gezielt, trafen Werke, Eisenbahnzüge mit Erz oder Munition, Militärkolonnen und Quislinge, die Anhänger des faschistischen Statthalters in Norwegen. Und Gudersen wusste, wenn ein deutsches U-Boot die norwegische Küste angelaufen hatte, und anscheinend wusste er auch, wann es diese Küste wieder verließ. Seine Informanten waren über das Land verstreut, bis hoch zum Nordkap, saßen in Bergen, Narvik, überall.
Gudersen ...
Und Rechenbach dachte wieder an die Nacht, in der er auf Gudersen gestoßen war. Er selbst war noch Angehöriger der Wehrmacht gewesen, lebte aber schon mit der Sorge, dass die Gestapo ihn zu beobachten begann, weil Gefangene geflohen waren, als er Wache hatte. Die Razzia vor seiner Flucht ...
Es ist der 2. Februar 1943. Wieder und wieder unterbricht die britische Rundfunkstation BBC ihre Sendungen, um die Meldung vom sowjetischen Sieg bei Stalingrad bekannt zu geben, immer neue Einzelheiten werden gemeldet. Sechseinhalb Monate hatte die gigantische Schlacht in den Steppen an Wolga und Don gedauert, vom 17. Juli 1942 bis zum heutigen Tag.
Aber der Jubel unter der Bevölkerung in Oslo bleibt an diesem Tage gedämpft, denn noch immer läuft die Razzia, und sie bedeutet Geiselnahme, Verhaftung, Tod. Keiner weiß, wen es treffen wird.
Systematisch kämmen Gestapo, Wehrmacht und SS-Verbände die Häuser und alle Keller durch.
Der Gefreite Rechenbach folgt Strohberg, dem Mann mit dem EK I und der Nahkampfspange, dem Parteigenossen Strohberg, der die Tür zu einem Hinterhof aufstößt und plötzlich die Waffe hochreißt, mit dem Kolben zuschlägt und dann keuchend vor einem am Boden liegenden Mann steht, der offenbar bereits eine Schussverletzung an der Schulter hat.
Blitzschnell tastet Strohberg den Mann ab und hält mit triumphierendem Lächeln eine Pistole in der Hand, eine Waffe der englischen Armee.
»Wir haben einen«, keucht er. »Wir! Hartmut, wir!«
Rechenbach starrt auf den Bewusstlosen, und die Gedanken überschlagen sich. Vor ihm liegt ein norwegischer Widerstandskämpfer! Und er selbst will zum norwegischen Widerstand, schon lange. Aber es ist ihm bisher nicht geglückt. Er hat keinen Kontakt gefunden, seitdem seine Einheit nach Norwegen verlegt worden ist.
»Was guckst du so komisch«, knurrt Strohberg. »Was ist los?«
Rechenbach winkt ab. »Nichts ist los! Gar nichts!«
»Wir müssen ihn tragen und brauchen einen Mann zur Sicherung«, sagt Strohberg. »Denk an die Heckenschützen. Warte du. Ich hole Verstärkung.«
Eifrig läuft er los.
Da schlägt der Mann am Boden die Augen auf. Was für ein ungewöhnlich helles Blau, denkt Rechenbach.
Die Hand des Mannes fährt unter die Jacke, aber sie findet die Waffe nicht.
Wenn wir ihn abliefern, ist er ein toter Mann, denkt Rechenbach. Aber auch ich bin bald ein toter Mann, wenn die Gestapo weiter forscht. Jählings fasst er einen Entschluss, über dessen Gefährlichkeit er sich völlig im Klaren ist.
»Ich will zu euch«, sagt er schnell und ist froh, dass er die Sprache dieses Landes erlernt hat. Der Norweger mustert ihn überrascht.
»Sie?«, fragt er hastig.
»Ich bin Kommunist«, erwidert Rechenbach, aber er weiß nicht, ob das dem Mann als Erklärung genügt.
Auf der Stirn des Norwegers steht eine steile Falte.
»Wenn Sie wissen, wie wir beide hier untertauchen können, sind Sie frei«, sagt Rechenbach.
»Gut«, stößt der Mann zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Kommen Sie!«
Er hat sich erhoben, taumelt ein paar Schritte, aber läuft dann schnell vor Rechenbach her. Sie hasten über Höfe und hören Trillerpfeifen. Da stößt der Norweger eine Haustür auf, läuft die Stufen hinab in einen Keller. Rechenbach spürt, wie der Mann nach seiner Hand greift und ihn im Dunklen weiterzieht. Dann tastet er den Boden ab, hebt eine Stahlplatte hoch und steigt hinab in das Dunkel.
Rechenbach folgt ihm. Muffig riecht es und dumpf. Der Geruch verstärkt sich noch, als der Norweger die Platte über ihnen wieder in die alte Stellung gebracht hat.
»Hier haben sie uns noch nie gefunden«, flüstert der Norweger. Eine Taschenlampe blitzt kurz auf, die offensichtlich schon bereitgelegen hat, und Rechenbach sieht sich in einem kleinen, engen Raum, dem sich ein Gang anschließt.
»Wir kriechen weiter hinein«, flüstert der Norweger. »Dann kommt die Kanalisation.«
Rechenbachs Herz klopft heftig. Wenn sie mich töten? denkt er. Wenn sie mich für einen Gestapospitzel halten? Welche Sicherheit biete ich ihnen? Mein Ehrenwort? Das Ehrenwort eines Deutschen?
Seine Hände krampfen sich um die Waffe. Aber sie würde ihn vor einem Schlag aus dem Dunkel nicht schützen. Doch wie hätte er sonst handeln können? Dieser Mann wäre im Hauptquartier der Gestapo gelandet, unter barbarischen Martern gestorben. Vielleicht ist dieser Mann im Dunkel, dessen Atem er hört, selbst ein Kommunist? Nur, wird er ihm vertrauen? Was gilt in dieser Zeit? Das Leben eines Menschen wird ausgeblasen wie das Licht einer Kerze. Ein Mensch bedeutet nichts.
Über sich hört er dumpfe Schritte.
Die Stimme des Norwegers: »Kommen Sie tiefer hinein!«
Rechenbach folgt ihm, aber sein Herz schlägt heftiger.
Wenn ihn dieser Mann hier nicht tötet, können es seine Gefährten tun. Jeder Deutsche ist ihr Todfeind, also auch er. Aber er hat diesem Mann das Leben gerettet. Wenn sie ihm glauben, werden sie ihn auf die Probe stellen, das ahnt er, werden ihn beobachten bei der ersten Aktion, wenn er auf ihre Feinde schießen muss, die seine Landsleute sind. Doch er hofft, dass es SS-Männer sind.
Die dumpfen Schritte über ihm verklingen, werden leiser und leiser.
Das Gesicht Strohbergs hätte er sehen mögen, als er ihn und den verwundeten Norweger nicht mehr fand.
Vielleicht denken sie auch, der Norweger habe ihn überrumpelt? Es gab rätselhafte Todesfälle in diesem Land. Als deutscher Wehrmachtangehöriger lebte man gefährlich. In jedem Augenblick konnte einen die Kugel treffen, ohne dass man den Schützen sah. Der Widerstandskampf war gut organisiert in diesem Land.
Die Stille!
Die absolute Stille!
Nur der Atem des Fremden vor ihm.
Und sein eigener.
Was aber wird der Fremde tun?
Rechenbach denkt an ein Messer. Er würde die Klinge im Dunkel nicht kommen sehen, wenn sie zu ihm hinschnellte. Ihn fröstelte.
Sein Schlucken dröhnt in seinen Ohren.
Er hockt wie in einem Grab.
Ist der Fremde überhaupt noch da?
Er presst seinen Rücken an die kalten, muffigen Steine, wobei er die Waffe vor seiner Brust hält.
Wie lange hockt er schon hier?
Die Zeit scheint stillzustehen.
Es gilt nur noch das Dunkel.
Und diese Stille.
Diese fürchterliche Stille.
»Es geschieht Ihnen nichts«, hört er den anderen leise sagen.
Spürt er meine Unruhe? denkt Rechenbach und behält noch immer die Waffe in Brusthöhe. Doch seine Hände zittern. Er senkt die Waffe.
»Wir müssen Sie prüfen«, fährt der Mann im Dunkel fort.
»Ich weiß«, antwortet Rechenbach. Er atmet wieder ruhiger.
»Wir können erst nachts heraus«, hört er.
Rechenbach nickt.
»Ist es schlimm mit der Wunde?«, fragt er leise, um die Stille wieder zu brechen.
»Nein!«, kommt es aus dem Dunkel. »Nein, nur ein Streifschuss.«
Dann schweigen sie.
Rechenbach schreckte aus seinen Erinnerungen auf, hörte vor dem Haus das Quietschen von Autobremsen. Er blickte Gudersen an, der aus seinem Sessel hochgeschnellt und zum Fenster getreten war. Gudersen winkte ab. Ein Lieferwagen hatte scharf gebremst, weil ein Kind vor das Auto gelaufen war.
Gudersens Lippen wirkten schmal.
Rechenbach hielt die Pistole in der Hand. Es war ein gutes Gefühl, in einer solchen Situation eine Waffe zu besitzen. Sein Blick galt den Gefährten. Sie hatten ihn auf die Probe gestellt, nicht nur einmal, sie hatten ihn dort eingesetzt, wo er auf Deutsche treffen und auch töten musste. Aber es war jedes Mal die SS gewesen. Das Töten war ihm so nicht schwergefallen.
Immer waren ihm die Blicke Gudersens aufgefallen, bei jedem Mal, Gudersen, der die Gruppe führte seit dem Dezember des vergangenen Jahres, eine bürgerliche Widerstandsgruppe, in der es einen Kommunisten gab - Oddbjörn.
Gudersen hatte sich wieder gesetzt.
Rechenbach sah sich im Raum um.
Da saßen sie, die ihm von den Einsätzen vertraut waren und von denen er nur den Decknamen kannte, da saß Oddbjörn, der Kommunist, da Olaf Kristaver, der Sozialdemokrat, da Myran Amt, der Parteilose, da Wilfred Jensen, ein Mann der bürgerlichen Zentrumspartei, Henrik Gudersen, der ehemalige Berufsoffizier und Sohn eines Reeders. Und da saß auch Kristine, die blonde Kristine, Kristine Skaret. Einen Augenblick lang blickte er in ihre blauen Augen, die sehr groß waren und die sie niederschlug, als sie seinen Blick wahrnahm.
Aber immer war es ihm erschienen in den Tagen und Wochen, die zurücklagen, als ob auch ihm ihre Blicke galten. Ein seltsames Gefühl erfüllte ihn, gegen das er sich wehren wollte, ohne dass es ihm gelang.
Kristine ...
Ihre Augen sahen fest und klar unter den feinen, schwarzen Wimpern hervor. Kristine hatte die zarte, kindliche Gestalt eines fünfzehnjährigen Mädchens. Sie war Krankenpflegerin gewesen, ehe sie sich einer Widerstandsgruppe anschloss, hatte einen der wenigen Berufe gelernt, in dem die Frauen dieses Landes arbeiten konnten.
Sie warteten weiter.
Dann hörten sie ein leises Klopfen.
»Es ist vorbei«, sagte Gudersen. Er winkte, und sie setzten sich um den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.
Gudersen begann. »Wir müssen senden, die Situation zwingt uns. Und wir haben keinen Funker mehr.«
Er blickte Rechenbach an. »Du warst Amateurfunker, Thorleif?«
»Ja«, antwortete Rechenbach.
Gudersen nickte. »Fühlst du dich imstande, Sprüche abzusetzen und zu empfangen?«
Rechenbach nickte überrascht. Diese Frage war ein ungeheuerer Vertrauensbeweis.
»Wir brauchen einen zweiten Funker hier in Oslo. Und wenn wir ihn nicht aus England bekommen, müssen wir ihn uns selbst ausbilden. Traust du dir das zu?«
Rechenbach nickte. »Wer wird es sein?«, fragte er.
Gudersen blickte Kristine Skaret an.
Rechenbach saß einen Augenblick lang starr.
»Ist etwas?«, fragte Gudersen schnell.
»Nein, nein«, antwortete Rechenbach. »Es ist nichts.«
Kristines Gesicht hatte eine zarte Röte überzogen.
»Frauen sollen oft bessere Funker sein als Männer«, sagte Gudersen. »Sie sollen eine leichte Hand beim Funken haben. Das hat man mir in England erzählt. Traust du dir das zu, Kristine?«
»Ich werde es versuchen«, erwiderte Kristine leise.
»Gut«, erklärte Gudersen. »Ich nehme euch beide aus den nächsten Einsätzen heraus. Ohne Funker sind wir aufgeschmissen. Sie werden in England denken, die Deutschen haben uns gefasst, weil sie uns immer vergeblich rufen. Alles Weitere mache ich mit den beiden aus. Ich komme jetzt zu unserer nächsten Aktion ...«
Als Obersturmführer Hempel im Hauptquartier der Gestapo in Oslo das Zimmer des Sturmbannführers verließ, schnellte sein Arm hoch. Sein letzter Blick galt dem Bild Himmlers.
Sturmbannführer Schreder hatte in diesem Gespräch mehrmals wohlwollend genickt, denn mit Hempel, diesem hageren, blassgesichtigen Obersturmführer, in dessen Gesicht man nie eine andere Regung als kühle Sachlichkeit bemerken konnte, war der Erfolg gekommen. Hempel war ein guter Mann, einer der besten, den eine Gestapozentrale bekommen konnte. Er war auch ein guter Mann gewesen, als er noch in einer Mordkommission arbeitete. Hempel war ein Jagdhund, der beinahe ohne Schlaf arbeiten konnte. Die Vernichtung zweier Widerstandsgruppen und eine große Zahl gefasster englischer Agenten kamen auf sein Konto.
»Übrigens«, hatte der Sturmbannführer gesagt, »da ist ein Jugoslawe aus der Schutzhaft geflohen. Hier ist sein Foto und ein Schreiben mit näheren Angaben. Ein gefährlicher Mann.«
Hempel betrat sein Zimmer. Ehe er sich an seinen Schreibtisch setzte, ging er auf und ab. Vor der Karte Norwegens blieb er stehen, die mit buntköpfigen Stecknadeln übersät war, wobei die roten Nadeln Orte angaben, in denen Sprengungen erfolgt waren, die gelben Attentate auf Einzelpersonen, die grünen zerschlagene Widerstandsgruppen.
Wieder dachte er an den SOE-Funker des englischen Geheimdienstes, den er in einer halben Stunde erneut verhören würde. Er dachte an Holland. Dort hatte er einen SOE-Funker gefasst und ihn gezwungen, die Verbindung mit England aufrechtzuerhalten. So war ihnen eine Gruppe von Holländern nach der anderen in die Hände gefallen. Aber dieses Norwegen war ein gefährlicheres Land.
Noch immer sah er auf die Karte. Er hatte sich vorbereitet auf dieses Norwegen, ehe er hierher kam, hatte sich Literatur beschafft, wusste viel über dieses Land, zweiundsiebzig Prozent davon Fels und Geröll, tiefe, undurchdringliche Wälder, sieben Prozent Inseln, fünf Prozent Wasser, drei Prozent Ackerfläche. Und die Küste war endlos lang, voller Fjorde und Buchten. Und vor dieser Küste gab es unzählige Inseln, Verstecke genug für den Gegner. Dabei war es so klein, dieses Volk. Aber ein gewaltiger Hass schien es zu erfüllen, ein Hass, aufgestachelt vom Todfeind England.
Wenn wir hier erst ganz die Herren sind, besuche ich dieses Land, dachte Hempel, die riesigen Fjorde, eingerahmt von steilen Felsen, von Wiesen, Blumen, Obstbäumen, Wasserfällen, von Schnee und Eis, sind wunderschön. Man konnte Margeriten pflücken im Tal und nach einem Aufstieg im Schnee stehen. Und alles in Minuten. Er kannte vieles von diesem Land, aber nur durch die Jagd auf englische Agenten und norwegische Widerstandskämpfer. Er hatte Wasserfälle gesehen, von denen vier zu den zehn höchsten der Erde zählten. Es war ein herbes, aber unend- lieh schönes Land mit seinen lang gestreckten Tälern, seinen reißenden Bächen, Hochplateaus, Wäldern, Mooren, seinen Gletschern, Tropfsteinhöhlen, seinen Fichten, Kiefern, Birken, seinen Seevögeln, Ottern, Luchsen, Wölfen. Aber die gefährlichsten Wölfe waren die, denen er nachjagen musste, die Norweger, die Widerstand leisteten, obwohl doch ihr König geflohen war und die Regierung. Wie viele hatte er selbst zur Strecke gebracht? Wie viele würde er noch fassen?
Er dachte an den Funker, diesen Norweger, der noch immer nicht gestehen wollte und von dem sie ahnten, dass ihn die Engländer ausgebildet hatten.
Aber er würde gestehen, und wenn sie ihm jeden Knochen einzeln brachen! Und dann würden sie seine Gruppe fassen.
Dieses verfluchte Land, dessen Bevölkerung sich nicht unterwerfen wollte!