Sternschnuppen fängt man nicht - Jan Flieger - E-Book

Sternschnuppen fängt man nicht E-Book

Jan Flieger

4,8

Beschreibung

Ein Matrose, der auf einem Raketenschnellboot der Volksmarine dient, bekommt einen Abschiedsbrief von seinem Mädchen. Mareike, so heißt das Mädchen, das er liebt, schreibt ihm, dass er sie vergessen solle und dass sie ihren Polterabend mit einem anderen feiern wird. Doch das will sich Brinkmann nicht gefallen lassen. Er bittet um außerplanmäßigen Urlaub und begibt sich auf die lange Reise von der Küste bis zu Mareike und zu diesem Polterabend. Fast verpasst er den Termin, aber dann steht er in dem Saal, wo der Polterabend schon im Gange ist, sieht Mareike und sieht den anderen … Sternschnuppen aber fängt man nicht, heißt es. INHALT: Das Boot Mareike Zehn Meter Ostsee unter der Eisenhaut Mädchen Brinkmann Beutelfahrt Das Geisterschiff Der Anker Das Rätsel Mareike Schwere See Mann über Bord Rügen Der Brief Fingerloos Polterabend Ankunft LESEPROBE: Da war diese Nacht im Winter auf dem Boot, mitten auf der Ostsee. Weniger hatte befohlen: «Anker auf.» Aber der Spill zum Einhieven der Ankerkette fiel aus. Nachdem alles versucht worden war, mussten am Ende die Kräftigsten auf die Back, um den Anker mit den Händen hochzuhieven. Die Maschinen waren gestoppt. Das Boot schaukelte wild. Auf der Back war es glatt, der Schneeregen machte die Arbeit zum Wagnis. Weniger sah in Brinkmanns verzerrtes Gesicht. Er zog, zog mit blutenden Händen, immer wieder, als ob ihn die Kräfte nicht verlassen würden. Aber sie verließen ihn anscheinend auch nicht, er hatte Bärenkräfte. Sie mussten ihn hochbekommen, den Anker, mit einem pendelnden Anker konnten sie die Fahrt nicht fortsetzen. Er würde sich in der Schiffsschraube verfangen oder im Ruder. So zogen sie und zogen. Zentimeter um Zentimeter zogen sie den Anker hinauf. «Machen Sie eine Pause, Genosse Brinkmann», sagte Weniger wieder, aber der winkte ab, keuchend, mit verschwitztem Haar. Der Schneeregen lief ihm über das Gesicht. «Es geht noch, Genosse Kapitänleutnant. Ich bin solche Arbeiten gewohnt.» Stolz schwang in seiner Stimme mit, und man sah, dass er es nicht tat, um einem Vorgesetzten zu gefallen. Schulter an Schulter zog er mit Old Marx. Auf einmal hob Old Marx die rechte Hand, spreizte zwei Finger. Und grinste. Was für eine Mannschaft! Der keuchende Brinkmann ... Und wieder zehn Zentimeter! Fünf!

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Impressum

Jan Flieger

Sternschnuppen fängt man nicht

ISBN 978-3-86394-496-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Meinem Sohn Tim

Ich danke dem Institut für Jugendforschung, insbesondere Frau Dr. Uta Schlegel, für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch und für die Genehmigung, Zitate aus der Publikation „Junge Frauen von heute. Wie sie sind — was sie wollen“ verwenden zu dürfen.

Jan Flieger

Prolog

Wie viel Muscheln am Strand, so viel Schmerzen bietet die Liebe.

Ovid: «Liebeskunst»

Schwere Wellen wälzen sich gegen die Insel. Gischt springt auf an ihrem Ufer. Tief drinnen in der Bucht verrinnt das Wasser mit kleinen aufgeregten Wellen und schlägt an die Pier und die Eisenhaut der Boote.

Die beiden Männer in der Kommandantenkammer des Raketenschnellbootes sind das leichte Schwojen gewohnt. Sie sitzen sich auf engstem Raum gegenüber, Weniger, der Kapitänleutnant, und Brinkmann, der Stabsmatrose.

Der Kapitänleutnant zieht die Brauen hoch. «Sie wollen Ihr Mädchen vom Polterabend wegholen, den es nicht mit Ihnen, sondern mit einem anderen feiern will. Aber Sie waren nur drei Kurzurlaube mit ihr zusammen. Welches Recht haben Sie da auf das Mädchen?»

«Ich liebe sie.»

«Aber sie liebt Sie offensichtlich nicht.»

«Ich muss zu ihr», antwortet Brinkmann. «Sie ist kein Mädchen, das mit einem Partner spielt. Es muss etwas geschehen sein, was ich mir nicht erklären kann.»

Weniger reibt sich das Kinn. «Das ist schwer zu begreifen.»

Brinkmanns Gesicht zuckt, als er sagt: «Knochenhauer würde für mich von seinem Kurzurlaub zurücktreten.»

Weniger blickt erstaunt. «Knochenhauer? Der mich seit Wochen drängt, dass er unbedingt in Urlaub fahren muss?»

Brinkmann nickt. «In diesem Fall ...»

Welcher Offizier der Flottille hat je vor einer solchen Entscheidung gestanden? denkt Weniger. Welches Wagnis gehe ich ein, wenn ich Brinkmanns Vorhaben billige? Er trägt die Uniform, und die Verantwortung für sein Tun liegt auch bei mir. Sein Mädchen hat einen anderen. Wie wird er reagieren, dieser harte Bursche, der schon als Mann zur Armee kam, im Gegensatz zu vielen anderen, die erst an Bord Männer wurden? Aber die Liebe schafft Ausnahmesituationen, löst in den Menschen etwas aus, das unter anderen Voraussetzungen nicht möglich ist. Und die Augen Brinkmanns, diese bittenden und zugleich fordernden Augen. Augen, in denen ein leidenschaftlicher Wille brennt. Darf ich ihn enttäuschen, diesen Brinkmann?

Die Entscheidung fällt Weniger schwer. Billigt er das Vorhaben, bürgt er zugleich für diesen Mann.

Der Kapitänleutnant starrt auf die Glasplatte des kleinen Tisches, um den Augen Brinkmanns auszuweichen. Wenn er aufsieht, muss er auf Brinkmanns Frage antworten.

«Wann ist der Polterabend?», will er wissen.

Brinkmann reicht ihm den Brief, und Weniger liest:

Lieber Heiko!

Du musst mich vergessen. Ich habe mich endgültig entschieden. Ich feiere am Freitag meinen Polterabend, mit einem anderen. Verzeih mir ...

Mareike

Der Kapitänleutnant gibt den Brief zurück. Wieder weicht er Brinkmanns Augen aus. Fieberhaft überlegt er. Morgen ist Mittwoch. Um sieben stechen wir in See, und Donnerstag sind wir zurück. Dann könnte Brinkmann fahren, und er ist bei dem Mädchen Mareike, noch ehe der Polterabend beginnt. Wenn er so fest an dieses Mädchen glaubt, muss für ihn eine Hoffnung bestehen. Aber kommt er erst an, wenn der Polterabend schon gefeiert wird? Und muss er begreifen, dass sein Mädchen nur mit ihm gespielt hat? Der Gedanke, dass etwas nicht Voraussehbares geschehen könnte, ist quälend.

Aber lasse ich mich nicht von einer dunklen Ahnung schrecken? denkt Weniger. Vertraue ich nicht Brinkmann im schlimmsten Sturm das Boot an? Und bei wichtigen Entscheidungen im persönlichen Leben vertraue ich ihm nicht?

Wenigers Blick gleitet zu dem Stabsmatrosen. Dessen Gesicht wirkt wie aus Stein gehauen.

«Donnerstag nach Dienst fahren Sie los», sagt er plötzlich. «Und viel Glück.»

«Danke», erwidert Brinkmann leise, als er die Kammer verlässt. Er wendet sich nicht um, steigt den schmalen Niedergang hinauf.

Das Boot

1. Kapitel

Die Alarmklingel schrillt den Mittwochmorgen ein. Das Raketenschnellboot erzittert im Rhythmus der Dieselmotoren.

Noch liegt es an der Pier wie auch die anderen drei schmalen Boote, die dem des Kapitänleutnants Weniger gleichen. Grau liegen sie im Wasser, mit vier Hangars für die Raketen, mit den vollautomatischen Artilleriewaffen auf der Back und dem Heck, mit dem Mast und der Antenne zur Seeraumbeobachtung und der dickbäuchigen Feuerleitantenne für die beiden Universalgeschütze.

Der Kapitänleutnant steht auf der Außenbrücke, seinem Hauptbefehlsstand, und beobachtet die Männer in den dunkelorangenen Kampfanzügen. Eingeholt sind die Leinen und Fender, und die Alarmklingel schrillt nun den dreißigsekundigen Dauerton.

«Beide Außenmaschinen voraus, Ruder mittschiffs», befiehlt Weniger.

Das Boot nimmt Fahrt auf.

Brinkmann, der als Rudergast neben ihm auf der Brücke steht, dreht das Handrad der Ruderanlage. Als er sieht, dass der Ruderanlagenzeiger auf Null weist, bestätigt er die Ausführung des Befehls.

«Alle Maschinen voraus. Ruder hart Backbord», ruft Weniger.

Brinkmann dreht das Handrad, und das Boot folgt seiner Hand.

Dieter Knochenhauer, Motorengast, auch scherzhaft «Knüppelgast» genannt, der neben Brinkmann im Stahlrohrsitz hockt, kuppelt die Maschinen ein. Er ist der einzige, der auf der Außenbrücke sitzen kann, die anderen müssen stehen, Stunden, Tage, bei Wind und See.

Das Boot gleitet im schmalen Fahrwasser weiter, das von Tonnen begrenzt wird. Möwen überfliegen das Achterdeck mit schrillen Schreien, entschwinden dem Blick als weiße Schatten über dem schwarzen Wasser. Der Atem des Meeres wird stärker, und sie fahren ihm entgegen. Die Lust zu fahren kann eine Sucht sein, eine gewaltige Sucht, und Weniger ist von dieser Sucht gepackt und auch manch anderer auf dem Boot.

Weiß schäumt das Wasser auf am Bug. Der Wind ist scharf, riecht nach Salz und Fischen. Der herbe Duft des Meeres wird immer stärker.

Wie wird die See heute sein? Sie zeigt sich jeden Tag anders. Niemand kann ihre Gesichter zählen, und wenn er ein Leben lang zur See führe. Das weiß Weniger, das wissen seine Männer. Alle.

2. Kapitel

Auf der offenen See vor ihnen liegt ein seltsamer Glanz, als ob Tausende Sterne unter der Oberfläche funkeln, ein Glanz, der langsam schwindet, je näher sie den dunklen Wolken kommen, die der Wind dem Boot entgegentreibt.

Und der Wind lässt auch die Wellen wachsen, höher und höher. Das Boot fährt geradeaus, hinein in die See, immer weiter, und Weniger weiß mit einem Blick auf die Wellen und hoch zu den Wolken, dass sie eine schwere See bekommen werden. Es kann eine «Beutelfahrt» werden, wie sie seine Männer nennen, eine harte Fahrt.

Immer wieder beobachtet er unauffällig Brinkmann. Die Bewegungen des Matrosen sind ruhig, keiner kann ahnen, wie schnell sein Herz schlägt, wenn er an den Freitag denkt, an den Polterabend.

Brinkmann ...

Der zweiundzwanzigjährige hellblonde Brinkmann mit dem schmalen und kantigen, sehr männlich wirkenden Gesicht, in dem das Auffallendste die großen Augen sind, blau und ruhig wie die See beim «Entenpott». Brinkmann ist sehr schlank und über einsachtzig groß. Er besitzt die schnellste Auffassungsgabe von allen auf dem Boot und hat keinen Spitznamen, was wohl auch an dem Respekt liegt, den ihm alle entgegenbringen, seit sie seinen Beruf kennen, der gewiss ungewöhnlich ist und Mut erfordert, einen nicht alltäglichen Mut. Der Zweiundzwanzigjährige baut hohe Schornsteine und Fernsehtürme.

Brinkmann hat das Handrad losgelassen. Die Selbststeueranlage hält das Boot auf dem einmal eingestellten Kurs.

Jetzt wird er an sein Mädchen denken, überlegt Weniger, an diese Mareike, die den bitteren Brief geschrieben hat, der einen Mann wie ein Schlag treffen muss.

Mareike

1. Kapitel

«Da zieht was auf», hört Brinkmann Knochenhauer sagen. Doch er blickt weiter auf das Meer und die weißen Schaumkämme, will kein Gespräch.

«Mach dein Schott dicht», knurrt er, als Knochenhauer wieder beginnen will.

«Mannomann», erwidert der, schweigt aber dann.

Brinkmann blickt weiter geradeaus.

Und plötzlich ist sie da, die Erinnerung, beginnt dort, wo er zum ersten Mal auf Mareike traf ...

Zuerst sah er nur das lange braune Haar, das dem Mädchen über die Schultern fiel. Brinkmann mochte lange Haare, er sah eigentlich immer jungen Frauen mit langen Haaren nach. Das Mädchen war gut gebaut, trug die Jeans hauteng und eine rote Bluse, die in der Sonne zu leuchten schien. Sie lief in der gleichen Richtung wie er, und er folgte ihr und grübelte, wie sie wohl aussehen würde.

Das Mädchen musste vor sich hinträumen, denn zweimal wurde sie angerempelt, einmal von einer dicken Frau mit einem Einkaufsbeutel und einmal von einem Mann. Aber Schuld hatte das Mädchen, denn sie ging einfach geradeaus, wich keinem aus, der ihr entgegenkam.

Wer weiß, was sie hat, dachte Brinkmann. Vielleicht träumt sie auch bloß ...

Er überlegte, ob er sie überholen sollte, doch dann würde er vor ihr hergehen, und das wollte er nicht. Irgendwie war es schön, hinter ihr herzulaufen. Von vorn kam wieder ein Mann, der das Mädchen anrempelte. Und dann ging alles so schnell. Er beobachtete, wie das Mädchen, ohne nach rechts und links zu blicken, auf die Straße getreten war. Er sah den Fußgängerüberweg, sah den heranrasenden roten Skoda, hörte das Kreischen von Reifen auf dem Pflaster, und er schnellte nach vorn, packte das Mädchen, riss es zurück, hörte Schreie, nahm das an ihm vorbeirasende Auto nur als Schatten wahr.

Noch immer hielt er das Mädchen im Arm, das erst jetzt zu begreifen schien, was geschehen war.

«Das war knapp», sagte sie, und ihre Stimme zitterte.

Sie hatte braune Augen, lange, strahlenförmige Wimpern und trug das Haar in der Mitte gescheitelt.

«Geträumt?», fragte Brinkmann vorsichtig.

Sie nickte.

Sie standen am Rand des Bürgersteigs und waren schnell von Menschen umringt.

«Ich habe die Autonummer», rief ein Mann eifrig.

«Ach, lassen Sie», erwiderte das Mädchen. «Es war ja meine Schuld.»

«Ihre?», fragte der Mann. «Das ist ein Fußgängerüberweg!»

«Diese Autofahrer», schimpfte jemand.

Noch immer sah Brinkmann das Mädchen an, konnte seine Augen nicht von ihr lösen. Schönheit war wohl einschüchternd.

«Was ist denn?», fragte das Mädchen.

«Ach, nichts», sagte Brinkmann. «Ich begleite dich ein Stück.»

«Hast du die gleiche Richtung?», fragte das Mädchen.

«Wo musst du hin?»

«In die Goethestraße.»

Brinkmann nickte schnell. «Da kann ich auch lang», sagte er, obwohl es ein gewaltiger Umweg war.

Ein Stück gingen sie schweigend.

Der Schreck muss ihr noch in den Gliedern stecken, dachte er.

Doch plötzlich klang ihre Stimme wieder völlig ruhig, ja beinahe ein wenig spöttisch. «Ich geb ein Eis aus, Herr Lebensretter.»

«Nicht meine Kragenweite», winkte Brinkmann ab.

«Ich würde gern was Gutes tun», schlug sie vor. «Ich kann dir auch ein Schnitzel braten. Ihr sollt ja immer Hunger haben.»

«Guter Vorschlag», knurrte Brinkmann, der sofort erlöst wurde von dem quälenden Problem, wie er sie näher kennenlernen konnte. Er war ein Sonntagskind.

Dankbar sah er sie an.

«Aber das bedeutet nichts weiter», erwiderte sie schnell, als sie seinen Blick bemerkte. «Ich habe nur eine Stunde Zeit.»

2. Kapitel

«Wir sind hier allein», sagte sie, als sie in der Wohnung standen. «Ich wohne nicht in dieser Stadt. Das ist die Wohnung meiner Tante. Sie kommt am Dienstag aus dem Krankenhaus, und ich schaffe nur noch etwas Ordnung.»

Er sah zu, wie sie in der Küche hantierte und das Schnitzel klopfte und panierte.

«Ich habe es für mich gekauft», sagte sie, «aber ich mag nicht. Nun dient es einem guten Zweck.»

«Bist du morgen noch da?», fragte er ein wenig später, als er das Schnitzel aß.

Sie nickte. «Morgen fahre ich noch einmal ins Krankenhaus und dann nach Hause.»

Er kaute schweigend weiter.

«Wo wohnst du?», fragte er dann.

«Da muss ich lange fahren», antwortete sie. Offensichtlich war sie nicht daran interessiert, ihm ihre Adresse zu geben. Das ärgerte ihn.

«Weißt du», warf er kauend ein, «wenn du heute nichts vorhast, könnten wir in die Disco gehen.»

Sie lächelte. «Wie willst du denn da Karten bekommen?»

«Ich bekomme welche», erwiderte er. «Ich kenne jemanden, der verkauft die Karten unter der Hand für zehn Mark.»

«Deshalb kriegt man nie welche», spottete sie.

«Na ja», erklärte Brinkmann. «Ich bekomme sie für den normalen Preis.»

Sie schwieg. «Ein Bier habe ich nicht», sagte sie dann. «Nur etwas Apfelsaft.»

Brinkmann schmunzelte. «Besser als gar nichts. Bleibt’s bei der Disco?»

Sie wiegte den Kopf. «Eigentlich wollte ich sauber machen.»

«Das kannst du doch jetzt», erwiderte er schnell, weil er spürte, dass nun der kritische Augenblick gekommen war. «Ich helfe dir auch.»

Sie nahm seinen Teller und spülte ihn ab. Sie sieht wirklich toll aus, dachte Brinkmann. Sie hat traumhafte Rundungen. Wer von den Mannen im Zwölfmanndeck würde ihm diese Bekanntschaft glauben? Das musste ja wie ein Märchen klingen, wenn er die Geschichte erzählte.

«Na gut», hörte er sie sagen. Doch sie wandte sich nicht um bei ihren Worten.

Brinkmann machte die Freude ganz heiß. Mann, war er ein Glückspilz! Auf dem Weg vom Bahnhof ein solches Mädchen zu finden! Das war ein Superglück!

3. Kapitel

Die Disco.

In der Disco mit Mareike.

Im himmlischen Lärm himmlisch entrückt sein nur mit ihr. Das Fieber der Disco, für Brinkmann selten genug, seitdem er die Uniform trug.

Endlich!

Der Lärm der Musik, der herrliche Lärm, durchsetzt mit grell wechselnden farbigen Lichteffekten. In Smaragd, in Hell, in Dunkel, unter Schummer und Flimmer der pausenlos dröhnende Sound. Alles schüttelte man ab, jede Angst, jede Sorge. Der Diskoraum war eine Welt für sich, eine Welt, die in sich geschlossen war. Weit weg war die Sprache der Armee. Eine andere Sprache hörte man hier. Da machte man sich an, flippte mächtig aus, da war alles urst und fetzte manches ein, da standen Tussys auf ihrem Typ, Macker auf ihren Miezen, da klinkte man sich aus, war kolossal cool, hörte poppige Scheiben, hatte Bock auf ein Bier.

Die braunen Augen des Mädchen wirkten nun dunkel, beinahe schwarz. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, verbargen es, gaben es wieder frei. Und doch hätte er gerne mit ihr gesprochen, einfach so. Zum ersten Mal begriff er, dass Sprechen hier nicht möglich war, das Sinnliche war gefragt, das Körperliche. Das Äußere trat in den Vordergrund, der Habitus, die Gebärde.

Er hatte alles vergessen, sah nicht wie sonst zu denen, die sich als Typ in Szene setzen wollten, je origineller, je ausgefallener, um so besser: die Selbstdarstellung, die den Einzelnen über andere erhob und sie zu Nachahmern machte, zu Bewunderern. Autoritätssymbole eigener Art entstanden. Wer im Alltag ein Versager war, konnte hier eine Rolle spielen, beachtet werden wie nie.

Sonst war Brinkmann auf der Tanzfläche mit sich selbst beschäftigt, ob bei hartem Rock oder gemütvoller Schnulze.

Aber heute war es anders.

Er wollte in die Augen dieses Mädchens sehen, nur in diese braunen Augen. Er war dem Mädchen Mareike so nah, aber doch so weit entfernt.

«Wollen wir gehen?», fragte Mareike plötzlich.

Er nickte sofort.

Er war froh. Nur mit diesem Mädchen gehen, einfach in die Nacht hinein, einfach so. Er war eifersüchtig auf jeden, der Mareike ansah. Ich habe mich verliebt, dachte er, ich habe mich so verliebt wie noch nie in meinem Leben, und ich weiß nicht einmal, ob sie mich auch mag.

Draußen wollte er sie küssen, doch sie schob seinen Kopf mit zwei Fingern zurück, die sie auf seine Lippen legte.

Er unterwarf sich dieser Geste beinahe demütig, war wie verzaubert.

Sie gingen nebeneinander her, doch ihre Schultern berührten sich, und er bemerkte, dass sie dieser Berührung nicht auswich, ja, sie gleichsam zu wünschen schien.

«Du magst keine Disco?», fragte er.

«Doch», antwortete sie. «Aber nicht heute. Ich bin mitgegangen, weil du es dir gewünscht hast.»

«Es gibt auch bessere Discos», sagte er, «ich weiß, die bieten nicht nur Unterhaltung, sondern geben Anregungen, Denkanstöße und so. Aber die hier ist nicht so. Nur — ich bekomme die Karten, Mareike.»

Sie lächelte. «Der Discjockey bringt den Abend einfach so über die Runden. Man merkt, dass er es nur für Geld tut.»

Sie sieht unheimlich begehrenswert aus, dachte er, als er sie wieder ansah, aber ich werde keine Chancen bei ihr haben, denn am Montag muss ich zur Truppe zurück.

«Was machst du beruflich, wenn du nicht bei der Fahne bist?», fragte sie plötzlich.

«Ich baue Schornsteine.»

«Was machst du?»

«Ich baue sehr hohe Schornsteine.»

Sie blickte ihn mit großen Augen an, und ihre Finger berührten seinen Arm. «Wie hoch?»

«Der letzte war einhundertzwanzig Meter hoch.»

In ihren Augen zuckte ein Funken Bewunderung auf, sodass er von sich aus weitersprach. «So ein Betonschornstein wächst jeden Tag um zwei Meter fünfzig. Da kommst du schnell in schwindelerregende Höhen, stehst bei starkem Wind auf einem wackligen Gerüst.»

«Ihr baut auch im Winter Schornsteine?»

«Denkst du, im Winter können wir uns in die Baubuden setzen? Wir betonieren auch bei Schneesturm. Der treibt einem die Flocken ins Gesicht, und du siehst kaum was und denkst, der Wind fegt dich vom Gerüst. Wenn der Beton anrollt, müssen wir ran, ob es hagelt, stürmt oder schneit. Er ist vorgewärmt auf über zwanzig Grad. Da wirst du zum Künstler. Und die Maße des Betonschafts müssen auf den Zentimeter stimmen. Das mach mal.»

«Und du hast da oben keine Angst? Wie kommt ihr überhaupt hoch?»

«Über Leitern. Manchmal über dreißig ineinander gesteckte Leitern. Fünf Meter sind die lang. Nicht mehr.»

Sie lachte und hängte sich bei ihm ein. «Das geht in eure Beine?» Er spürte ihre Finger auf seinem Arm, und die Berührung elektrisierte ihn, aber er war vorsichtig genug, sich nicht zu einer voreiligen Zärtlichkeit verleiten zu lassen.

«Wir sind eine prima Truppe», fuhr er fort. «Eine Schornsteinbauertruppe.»

Vorsichtig berührte er ihre Hand, die auf seinem Arm ruhte. Nichts veränderte sich in ihrem Gesicht, auch als er sie zu streicheln begann.

«Ich möchte keinen anderen Beruf», sagte er. «Jeder Bau ist anders, weißt du, bringt neue Probleme, ist eine neue Herausforderung. So was brauche ich.»

«Auch bei Mädchen?», fragte sie schnell.

Er begriff die Frage nicht, obwohl er sich bemühte, ihren Gedanken zu folgen. Aber sicher hielt sie ihn für einen, der seine Mädchen wie die Handtücher wechselte.

«Ich bin für feste Sachen», sagte er.

Sie löste sich von ihm und blickte nach oben. Erst jetzt sah er, dass der Himmel voller Sterne war. Sie deutete in eine Richtung. «Der große Wagen.»

Er nickte. Er kannte keine Sternbilder und wollte diese Unkenntnis nicht zeigen.

«Die Kassiopeia», hörte er dann.

«Ach ja», sagte er und blickte mit gerunzelter Stirn nach oben. Wie lange wollte sie ihm noch Sterne zeigen?

Dann gingen sie weiter, Hand in Hand.

4. Kapitel

«Du siehst mich so seltsam an?»

«Seltsam?», fragte er.

«Ja.»

Seine Kehle war trocken.

Sie war ganz nahe an ihn herangetreten. Ihre Augen, dachte er, blicken immer ernst, groß und ernst, das ist es wohl, was sie so einschüchternd macht?

Plötzlich lagen ihre Hände auf seinen Schultern und ihr Kopf an seiner Brust. Er wagte nicht, sich zu rühren, aber er umschlang sie. Der Lärm der Straße drang zu ihnen herauf, schwoll an, verebbte wieder.

Vorsichtig hob er ihren Kopf, doch als er in ihr Gesicht blickte, sah er, dass sie die Augen geschlossen hielt. Er begann ihre Augenlider zu küssen und spürte ihre Wimpern auf seinen Lippen wie eine Zärtlichkeit. Er wusste nicht, ob es eine Zärtlichkeit sein sollte, sie war ein Mädchen, das er schwer verstehen konnte.

Sie löste sich wieder von ihm, aber dann streiften ihre Lippen die seinen. Es war ein einziger Augenblick, doch empfand er ihn als wunderbar. Diese Berührung ihrer Lippen war mehr als ein langer, intensiver Kuss.

Er dachte an die Flasche, die er mitgebracht hatte.

«Weißt du, was ich unterwegs gekauft habe?»

Sie sah ihn fragend an.

«Whisky. Echten. Ich dachte, heute trinkst du sie mit einem Kumpel aus.»

«Wäre das besser gewesen?»

«Um Gottes willen», wehrte er ab.

«Dann trinken wir sie», sagte sie plötzlich.

«Du trinkst Whisky?»

«Warum soll eine Frau keinen trinken?»

«Da hast du recht», erwiderte er und holte die Flasche.

Als er in das Zimmer zurückkam, standen zwei Gläser auf dem Tisch, und er goss ein.

Sie hob das Glas, berührte seins und trank. Er sah sie an, während sie trank, er wollte irgendeine Unebenheit in ihrem Gesicht entdecken, doch er fand keine.

Sie setzte das Glas ab, und er sah, dass es leer war.

Er goss nach. «Ich will dich nicht betrunken machen», sagte er. «Du musst ja denken, ich ...»

Sie winkte ab. «Ich pass schon auf mich auf», erwiderte sie, und wieder trank sie so hastig, als könnte sie die Wirkung des Getränks nicht schnell genug spüren. So trinkt man, wenn man etwas vergessen will, dachte er.

Das ernste Braun ihrer Augen hatte sich verändert. Ihm schien, als ob sie ihn zärtlich anblickte.

«Du bist so still?», fragte sie.

Er lächelte hilflos.

Sie saßen in den riesigen Ohrensesseln der Tante wie ein Ehepaar in einem englischen Film, nur die Lady trug Jeans und der Lord die Uniform eines Obermatrosen der Volksmarine. Er musste lächeln, und sie fragte ihn nach dem Grund, und dann, als er ihr seine Gedanken erzählte, lachte sie.

Er bemerkte, dass bei ihr der Whisky zu wirken begann, aber auch ihn erfüllte eine Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, die ihn unbekümmert machte.

Sie wehrte ihn nicht ab, als er aufstand, sich auf die Lehne ihres Sessels setzte und sie küsste. Anfangs hielt sie nur still, doch dann schlang sie die Arme um ihn und zog ihn zu sich herab.

Sanft schob sie ihn wieder zurück.

«Mir ist heiß», sagte sie.

Ihre Bewegungen wirkten schwer, als ob Bleigewichte an ihren Armen hingen.

«Wollen wir duschen?», fragte sie.

Er sah sie verwundert an.

«Komm, Lebensretter», hörte er sie sagen.

Er sah zu, wie sie sich auszog.

«Duschst du in Uniform?», fragte sie kichernd.

«Nein», erwiderte er schnell, sich gleichfalls ausziehend.

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit.

5. Kapitel

Als sie im Wohnzimmer standen, noch immer nackt, küsste sie ihn wieder. Sie blickte an ihm herunter, und dann lachte sie.

Er spürte, wie Röte sein Gesicht überzog.

«Komm, mein Krieger», sagte sie und lief vor ihm her in ein Zimmer, in dem eine breite Liege stand.

«Hier habe ich als Kind in den Ferien oft gewohnt», sagte sie.

«Da haben wir uns vielleicht mal gesehen?», fragte er.

«Vielleicht.»

Sie knipste kein Licht an. Es war hell genug. Mondlicht fiel in das Zimmer.

Als sie auf der Couch lagen, umschlang sie ihn mit einer Heftigkeit, die ihn überraschte. Als er sie küsste, zerbiss sie seine Lippen. Wild warf sie sich hin und her unter ihm. Und einmal flüsterte sie ein Wort, es klang wie ein Name, wie ein Vorname: Klaus ... Er spürte, wie sie vor Erregung ihre Nägel in seinen Rücken krallte. Dann lagen sie schwer atmend nebeneinander. Sie war ihm ein Rätsel, dieses Mädchen.